Meist sonnig - Andrea Kiewel - E-Book + Hörbuch

Meist sonnig Hörbuch

Andrea Kiewel

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Beschreibung

2020 hat uns viel abverlangt. Auch die beliebte TV-Moderatorin Andrea Kiewel hat die Zeit genutzt, um sich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben zurückzubesinnen. »Kiwi«, bekannt als stets gut gelaunte, farbenfrohe Moderatorin des »ZDF Fernsehgarten«, hat sich Gedanken gemacht über die Phänomene unserer Tage, die Zeit an sich und ihre persönlichen Prioritäten. Mal kritisch, mal humorvoll blickt Andrea Kiewel auf ihre Kindheit und Jugend in der DDR, ihre Anfänge im Fernsehgeschäft und ihre Arbeit für den ZDF-Dauerbrenner »Fernsehgarten«. Auch gewährt sie sehr persönliche Einblicke in ihre Einstellung zu aktuellen Geschehnissen, der Schnelllebigkeit von Social-Media-Inszenierungen und den Tücken moderner Kommunikation. Kurzweilig erzählt sie von ihrer Liebe zu Hunden und Büchern, von Ängsten und Freiheiten und ihr Leben in Tel Aviv – und davon, wie es ihr gelingt, auch in Krisenzeiten mit Optimismus und Leichtigkeit durchs Leben zu gehen. Ein Buch über die Kurven des Lebens und den Zauber neuer Anfänge.

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Zeit:5 Std. 32 min

Sprecher:Andrea Kiewel

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Für S.

Liebe Leserinnen und Leser,

der 14. Juli 2020 ist so sonnig, wie ein 14. Juli nur sein kann.

Dennoch ist mein Herz schwer. Nicht schwer im Sinne von schwer, sondern eher wehmütig. Obwohl der Tag strahlt, bin ich mir nicht sicher, ob es ein guter Tag wird. Ich bin in Berlin. Meine Visagistin Birgit schminkt mich im kleinen Konferenzraum eines Berliner Hotels. Sie trägt einen Mundschutz und tupft mir mit sehr ausgestrecktem Arm Make-up und Rouge auf die Wangen. Abstand halten und sich dennoch nahe sein, es ist, als versuche man, ernst zu bleiben, wenn man durchgekitzelt wird. 

Aber natürlich überrascht mich mein Leben, denn dieser 14. Juli wird ein wunderbar erfolgreicher Tag, weil plötzlich alles stimmt. Weil all die Menschen um mich herum respektvoll miteinander umgehen. Ich sitze auf einer staubigen Bordsteinkante in Berlin-Mitte, und dennoch fühlt es sich an, als würde ich fliegen. Auf der viel befahrenen Straße bremsen Autos ab, um einen Blick auf uns zu erhaschen. Meine Haare glänzen, die Hose passt wie angegossen, und der Fotograf Marcus Höhn sieht mich mit Augen, wie mich niemand jemals zuvor bei einem Fotoshooting sah. Ich sehe aus, als sei ich bei mir angekommen. Als hätte ich mich gefunden, ohne mich gesucht zu haben. Jedenfalls auf den Fotos, die Marcus von mir macht.

Darum geht es in diesem Buch. Um mein Leben. Und natürlich spielt die Liebe eine entscheidende Rolle, jene kapriziöse Freundin, die in meinem Leben ein und aus geht, als hätte sie einen Universalschlüssel zu meinem Herzen. Es geht um Beziehungen, Freunde und Freundinnen, Frauen, Männer, Jobs und Sex. Um Erfolge und Niederlagen. Um Kummer und Glück. Ich bin Tochter, Mutter, Freundin, Geliebte, Kollegin. Ich hadere jeden Tag mit mir, weil man Selbstbewusstsein nicht essen kann. Ich weiß nie, ob ich gut genug bin oder zu viel des Guten. Nur eines weiß ich mit der Gewissheit einer erwachsenen Frau: Ich liebe mein Leben. Genau so, wie es ist. Mit niemandem möchte ich tauschen. Ich will auch nichts rückgängig machen, aber wenn es nach mir ginge, könnte noch allerhand hinzukommen. 

Ich wuchs in der DDR auf, ich wollte Schwimmolympiasiegerin werden und moderiere die größte Open-Air-Unterhaltungsshow im deutschen Fernsehen. Meine Eltern sprechen wenig, ich kann nicht aufhören zu fragen. Und schon immer war Musik in meinem Leben. Vor allem klassische Musik. Ich wachte mit Mozart auf und ging mit Beethoven zu Bett. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Ansonsten ist vieles anders seit meiner Kindheit in Ostberlin.

Ich wünsche mir nichts mehr, liebe Leserinnen und Leser, als dass Sie beim Lesen meines Buches die flirrende Hitze des 14. Juli spüren können. Und die Sonne. Denn so ist mein Leben. Meist sonnig.

Willkommen in meiner Welt!

Herzlichst

Ihre Andrea Kiewel

Für mich soll’s rote Rosen regnen

Hildegard Knef

Müssten Sie sich anpreisen, verehrte Leserinnen und Leser, was fiele Ihnen zuallererst zu sich ein?

Okay, ich mache den Anfang. Also:

Ich bin groß und blond. Ich bin viel mehr gut als schlecht gelaunt. Man kann mich überall mit hinnehmen, mich interessiert alles – sogar Kakteen und Zierfische. Ich treffe nicht nur gern Menschen, ich suche regelrecht ihre Gesellschaft. Alleinsein gehört definitiv nicht zu meinen Stärken. Ich liebe gern. Ich bin süchtig nach Anfängen und Musik und Theater und Filmen und Sport. Ich reise gern, tendiere aber zum Heimwehhaben, bin neugierig, kann beinahe alle Geheimnisse für mich behalten, gebe gern ab, nur Teilen liegt mir nicht, schon gar nicht den Liebsten. Ich brauche weder Statussymbole noch Besitztümer, ich liebe Fußballspiele unter Flutlicht und weine bei Siegerehrungen.

Wenn ich das alles so aufschreibe und lese, komme ich nicht umhin festzustellen, dass ich gern mit mir befreundet wäre. Ehrlich. Ich bin eine gute Freundin. War ich schon immer. Was ich nicht immer konnte, war, mit mir zufrieden zu sein. Es fällt mir schwer, mir einzugestehen, dass an mir viel mehr richtig als falsch ist. Stets trage ich diese Angst in mir, entweder zu viel oder nicht genug zu sein. Es ist, als hätte ich Angst vor mir selbst. Aber es wird besser. Das hat mit meinem Umfeld zu tun, in dem es emanzipierte Frauen und kluge Männer gibt, es hat damit zu tun, dass ich mir den Luxus leiste, viel Zeit mit mir selbst zu verbringen und dadurch komplett auf andere Gedanken zu kommen. Es ist wirklich wahr: Wer es eilig hat, muss sich Zeit lassen. Wie oft habe ich schon geklagt, dass ich die fürs Kochen und Backen erforderliche Gelassenheit erst lernen musste? Aber ich lade gern an opulent gedeckte Tische. Nicht des Essens wegen. An diesen Tischen sitzen Menschen. Wer sind sie? Was treibt sie an? Was erfreut sie, was macht sie traurig? Das interessiert mich.

Ich lebe in einer Stadt. Ja, lebe, nicht wohne. Ich fühle mich lebendig inmitten von Licht, Gerüchen, Stimmen. Der Klang einer Stadt bei Tag und bei Nacht ist Musik in meinen Ohren. Jazz und Mozart liebe ich gleichermaßen. Müsste ich mich zwischen beiden entscheiden, wäre ich verloren.

Ich bin die meiste Zeit meines Lebens nicht gut in Beziehungen. Aber es gibt diese eine große Liebe in meinem Leben. Sie heißt Inspiration. Ich bin süchtig nach ihr. Sie ist die Frage auf alle Antworten. Ich habe eine Liaison mit Fragen. Als Kind sagte man mir: »Sei nicht so neugierig!« Wie macht man das, nicht neugierig zu sein? Mein Kind sagt mir übrigens dasselbe: »Mama, sei nicht so neugierig!«

Ist das Leben ein Kreisverkehr, und wenn man sich für keine Ausfahrt entscheiden kann, stellt man nach der dritten Runde fest: »Hier war ich schon.«?

Ich bin viele Runden und Umwege gefahren. Ich habe als Braut getanzt und auf Friedhöfen geweint. Aber irgendwann traf ich eine Entscheidung: Ich fahre Kurven. Mit Absicht. Meine Kurven heißen Berlin, Mainz, Frankfurt, Tel Aviv. Am Straßenrand dieser, meiner Kurven standen und stehen die wichtigsten Menschen in meinem Leben.  Sie alle verbindet eines: Sie inspirieren mich. Sie machen mich klüger, geduldiger, weniger egoistisch. Sie sind gütig und erlauben mir meine Fragen.

Seit ich mir gestatte, die Kurven in meinem Leben zu akzeptieren, erfahre ich mehr über mich. Anderen gefallen zu wollen oder so sein zu müssen, wie man es von mir erwartet, strengt mich viel mehr an als falsch abzubiegen. Jedenfalls an guten Tagen. Nein, ich stehe nicht vor dem Spiegel und finde mich unwiderstehlich. Aber ich finde Kinder toll. Große und kleine, laute und leise, schüchterne und vorlaute.

Womit wir bei der nächsten Frage wären – was für ein Kind war ich? Wie wollte ich als Erwachsene sein? Und bin ich es geworden?

Sie sind dran!

Heute war gestern schon morgen

Chima

Rechnen Sie, liebe Leserinnen und Leser, immer noch in D-Mark um? Oder sogar in DDR-Mark, so wie ich? Die Maß Bier auf dem Oktoberfest kostete zuletzt zwischen 10,80 Euro und 11,80 Euro. Oder – bei günstigem Kurs – 92 DDR-Mark. Die Miete meiner ersten Wohnung in Berlin-Treptow betrug nur achtzig DDR-Mark. Außentoilette. Hinterhof. Parterre. Und nein, ich habe sie nicht besetzt, weil sie keiner wollte. Ich bewarb mich für diese Wohnung. Ich kämpfte um sie. Und nur, weil ich ein kleines Baby hatte, bekam ich sie letztendlich. Und obwohl sie Wohnung hieß, war sie nicht sehr wohnlich.

Irgendwann und irgendwie erstand ich diese Bastmatten, die Ende der Achtzigerjahre dem spießigen Teppich den Todesstoß versetzten. Zwanzig Quadratmeter Bastglück. Krümelnd, fasernd, merkwürdig riechend, Hauptsache kein Teppich. Aller Dreck fiel durch das sehr großzügig zusammengewirkte Gewebe. Heute weiß ich, dass meine nicht enden wollenden Niesanfälle nicht auf Heuschnupfen im Winter, sondern auf eine erstklassige Hausstauballergie zurückzuführen waren. Dass meine extrem ordentliche Mama (das Wort »pingelig« wage ich, im Zusammenhang mit ihr, nicht zu verwenden, es kommt der Sache aber sehr, sehr nahe, verzeih, Mama) mich dennoch regelmäßig besuchte, zählt bis heute zu den unerklärlichen Wundern meiner Familie …

Stellen Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich vor, was wäre, wenn die Mauer vor dreißig Jahren nicht gefallen wäre? Wie lebten wir dann? Welche Musik hörten, welches Essen bevorzugten wir? Woran glaubten wir? Mir fallen zum Thema »Was wäre, wenn es die DDR noch gäbe?« tausend und mehr Fragen ein. Nach wie vor fühle ich einen Verlust, ohne etwas verloren zu haben. Nach wie vor spüre ich eine Grenze, obwohl die Mauerreste zwischen Ost- und Westberlin längst unter Denkmalschutz stehen. Nach wie vor rechtfertige ich mich für mich, dabei stellt mich niemand infrage – außer ich mich selbst.

Ich glaube, wir hatten zu wenig Zeit, uns anzunähern, uns kennen- und lieben zu lernen. Mauer weg, DDR weg, alles weg, was uns was bedeutete, einzig das Ampelmännchen überlebte. Das ist maßlos übertrieben, aber gelegentlich muss man weit übers Ziel hinausschießen, um sich dem Kern der Wahrheit nähern zu können.

Glücklicherweise verloren meine Eltern 1999 im bayerischen Hochwasser am Ammersee (der Keller glich tagelang einem Indoorpool) nur unsere Diasammlung. Über tausend kleine Plastikquadrate voller Urlaubserinnerungen an Stettin, Krakau, Usedom und den Ostberliner Tierpark. Andere Schätze überlebten.

»Mama, liebe Mama, darf ich ein bisschen in deiner Schmuckschublade stöbern?«

Egal, wie alt man ist, man bleibt die Tochter von Eltern, die fragend die Augenbrauen hochziehen.

»Was erwartest du zu entdecken, Andrea?«

Ich täusche Interesse an allem vor, liebäugle aber mit DDR-Reliquien wie den alten Armbanduhren meines Vaters oder meiner Mutter. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie mir ausgezeichnet stehen werden. Sie sind Vintage und aus dem Osten. Mehr geht beinahe nicht.

Als Kind bekam ich eine schlichte Armbanduhr mit Handaufzug, Sekundenzeiger und Datumsanzeige. Danach folgten diverse winzig kleine Varianten, bis heute bin ich nicht sicher, ob die Uhren tatsächlich die Zeit anzeigten. Ein wenig später kam meine Groß-und-rund-Phase, ich wollte aussehen wie eine Architektin. Anschließend hatte ich ein Verhältnis mit Swatch, welches übergangslos abgelöst wurde durch die fetten G-Shock-Brummer am Handgelenk, dann etwas Zeitloses, meinem Jahrgang entsprechend, und das war’s. Heutzutage lese ich die Uhrzeit vom Handy ab, weswegen ich es noch viel öfter aus der Tasche ziehe als überhaupt nötig.

Ich brauche eine Armbanduhr. Früher gab es sogar eine Telefonnummer, die man anrufen konnte, um zu erfahren, wie viel Uhr es ist. Im Radio hieß es: »Piep, piep, piep: Beim letzten Ton des Zeitzeichens war es 19 Uhr. Hier ist der Berliner Rundfunk mit den Nachrichten.«

Ich öffne behutsam die Schmuckkästchen meiner Mama. Einige Schächtelchen sind aus Pappe, andere aus Samt mit goldenen Initialen, inhaltlich gleichen sie sich sehr: viel Modeschmuck – wenig nach meinem Geschmack. Was hatte ich für schöne Abzeichen. Halsketten. Armbänder. Wo sind die geblieben? Wieso warf ich alles weg, auf dem »DDR« stand? Wieso sagte mir niemand, dass Dreiraumwohnungen im DDR-Plattenbau, Eterna-Klassik- und Amiga-Schlager-Schallplatten sowie gebrauchte  DDR-Trainingsanzüge mal Ausdruck erlesenen Geschmacks sein würden?

Und dann finde ich sie, die kleine Armbanduhr meiner Mutter. Goldglänzend, aber Lichtjahre davon entfernt, aus echtem Gold zu bestehen. Wenn ich mich richtig erinnere, brachte sie die Uhr einst sehr stolz von einer Dienstreise aus der UdSSR mit und trug sie so lange, bis Tchibo, Eduscho und Co. sie davon überzeugten, dass deren Billiguhren schicker seien, weil aus dem goldenen Westen. Akzeptanz durch Penetranz. Arme UdSSR-Armbanduhr …

Die größte Überraschung aber ist: Sie geht. Sie tickt ganz leise. Aber sie geht. Exakt zeigt sie Minute für Minute, Stunde für Stunde an. Handaufzug, echt Blech, kein Datum.

Die trage ich jetzt.

»Mama, darf ich sie mir bitte ausborgen? Für immer?«

Sei du selbst, alle anderen sind vergeben

Oscar Wilde

»Du schwimmst wie die letzte Fichte!«

Nein, zart war der Umgangston in meiner Schwimmhalle in Berlin-Hohenschönhausen nicht. Zuweilen war er eher grob. Ich korrigiere: immer!

Ich ließ mich für eine RTL-Dokumentation breitschlagen, an die Stätte meiner großen, nicht wahr gewordenen Träume zurückzukehren. Seit ich den Nationalmannschaftsbadeanzug an den Nagel hing, habe ich meine Schwimmhalle im Berliner Sportforum nie wieder betreten. Die Wahrheit? Ich ängstigte mich. Vor dem Geruch von Chlor auf warmen Sitzbänken, vor dem Geräusch, welches entsteht, wenn Schwimmer schnell und gleichmäßig ihre Bahnen ziehen. Vor den Rufen und Pfiffen der Trainer am Beckenrand. Ich brauchte Begleitschutz in Form einer Fernsehkamera, um nicht zu ertrinken im Tsunami an Gefühlen und Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, die eigentlich keine waren. Oder doch. Nur eben ganz, ganz anders.

Mit geschlossenen Augen hätte ich den Weg zum Sportforum in der Fritz-Lesch-Straße gefunden. Links die Brauerei, aus der es an schlechten Tagen übel nach einem Hefe-womit-auch-immer-Gemisch roch. Rechts meine Schwimmhalle. Schräg gegenüber die sogenannte Sportmedizin, welche eher eine Art Versuchslabor war, in dem man mir nur mit örtlicher Betäubung Muskelfasern (Biopsie) entnahm, um festzustellen, ob ich besser für Hundert- oder Vierhundert-Meter-Freistil geeignet bin und dementsprechend die Trainingspläne zu optimieren. Man entfernte mir dort aber auch den Blinddarm und durchbohrte mir die Nasennebenhöhlen, Blinddarm mit und Nasennebenhöhlen ohne Narkose.

Aus der Blechhalle (so nannten wir das Freibad, das auch im Winter dank eines Blechdachs beschwimmbar war) von einst ist nun eine Bogenschützenhalle geworden. Das Becken ist noch da, aber eben ohne Wasser, es liegt grüner Teppich auf dem Grund, und unsere Olympiahoffnungen im Bogenschießen trainieren unermüdlich an dem Ort, an dem ich bis zum 17. Lebensjahr meinen Olympiaträumen nachhing.

Ich weinte. Es erschütterte mich, mit solcher Wucht an meine Kindheit und Jugend erinnert zu werden. Nicht dass ich sie vergessen hätte, ich hatte sie nur sorgfältig weit nach hinten in meinem Herzen gepackt. Das Schwimmen und ich – wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Wir waren mehr als fertig miteinander. Unsere Langzeitbeziehung hatte aus gutem Grund ein jähes Ende gefunden. Diese jahrelange unbeschreibliche Quälerei, diese Entsagungen aller Vergnügungen, das sich tägliche Schinden und Plagen waren überhaupt nur möglich, weil ich es unbedingt wollte. Es gab nichts, was mir wichtiger war. Gegen den ausdrücklichen Willen meiner Eltern. Ich wollte Olympiasiegerin werden, das hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Deswegen schwamm ich. Okay, zuweilen schwamm ich auch für den Trainer, aber die Goldmedaille und der Trainer gehörten ja auch irgendwie zusammen. Mein Gott, war ich naiv, mein Gott, war ich gutgläubig. Ich dachte, das muss so sein. Und wenn um einen herum alle so denken, ihr Leben nach diesem einen großen Ziel ausrichten, den Kopf ins Wasser tauchen, Dreieratmung, Ellbogenvorhaltung und tiefe Wende trainieren, wie kann man dann auf die Idee kommen, es könnte noch etwas anderes geben als Schwimmen?

Ich bereue nichts. Ich trauere nicht einer anderen Kindheit, Jugend nach, die ich nicht erlebte. Stattdessen erinnere ich mich an die verrücktesten Erlebnisse, zum Beispiel, wie wir auf der Abschlussparty des Schwimmländerkampfes in Pesaro (Italien) Rotwein und Weißwein in leere Fanta-Dosen mischten und ich am Morgen danach verstand, was die Redewendung »einen Kater haben« (das Wort »Hangover« war noch nicht erfunden) bedeutete. Oder wie wir bei einem Aufräum-Subbotnik in einem Internat meiner Sportschule Pornomagazine fanden, deren Fotos mich nachhaltiger verstörten als alle sehr anstrengenden Höhentrainingslager in Bulgarien zusammen.

Bis heute frage ich mich, ob sich meine Trainer ihres inakzeptablen Umgangstons mir gegenüber bewusst waren? Nie wieder bin ich in meinem Leben so schlimm und so oft beschimpft und angebrüllt worden wie als Schwimmerin beim SC Dynamo Berlin. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, egal, wie schnell ich schwamm, ich war nicht gut genug. Die Male, die ich im Alter zwischen elf und achtzehn Jahren gelobt oder gar gefeiert wurde, kann ich an einer Hand abzählen. Es kostete mich viel Zeit, zu verstehen, dass ich mich dennoch lieben darf.

Selbstbewusstsein wurde mir in der ehemaligen DDR eher ab- als antrainiert. Was auch mit meiner Ausnahmeposition zu tun hatte. Wer eben nicht Schülerin an ganz normalen polytechnischen Oberschulen war, wer auf eine Sport-, Russisch-, Musik- oder Ballettschule delegiert wurde, der war privilegiert. Ich war ab der vierten Klasse Schülerin an der Kinder- und Jugendsportschule »Werner Seelenbinder«. Trainer, Sportärzte und Funktionäre hatten große Hoffnungen, dass ich eines Tages internationale Goldmedaillen für die DDR gewinnen würde. Ich glaubte auch fest daran, durchlief alle Prozesse des sozialistischen Sportkadersystems – und scheiterte. Ich gewann keine Olympiamedaille, und ich vergaß in zehn Jahren Hochleistungssport, mein Ich zu entwickeln.

Ich glaube, es war den Trainern sehr recht, denn Sportler, die etwas hinterfragen oder sich gar eigene Gedanken machen, sind schwerer zu trainieren. Ich gehorchte und musste, nachdem die tägliche Schinderei vorbei war, sehr mühsam herausfinden, wer ich bin, was ich will und vor allem, wie ich sein möchte. Und als ich endlich zu wissen glaubte, wer diese Andrea Mathyssek ist, hörte mein Land auf zu existieren und mit ihm all das, was ich gerade über mich herausgefunden hatte.

Bis heute kann ich nicht langsam schwimmen. Springe ich in einen Pool, muss ich schnell sein. Ich sehe die Beine des Schwimmers auf der Nebenbahn und fange an zu rechnen: In drei Zügen habe ich ihn, dann eine schnelle Wende und er ist überholt. Dieser Wettkampfmodus steckt so unauslöschlich in meiner Matrix. Ist das nun DDR? Oder Ehrgeiz? Ich weiß es nicht.

Ich kaufe auf Vorrat, weil drei Packungen Spaghetti mir das Gefühl von Sicherheit geben. Erdbeben, Vulkanausbrüche, kein Geld mehr, Quarantäne? Zumindest ist Essen da. Es ist die DDR in mir. Oder vielleicht die DDR und meine Mama, sie war diejenige, die sich um den Haushalt kümmerte, obwohl sie voll berufstätig war, und sie war diejenige, die auf Vorrat kaufte – wer weiß, wann es das nächste Mal »Mocca Fix Gold Kaffee« geben wird …

Frauen wie meine Mutter arbeiteten in der DDR. Dafür mussten sie nicht kämpfen, im Gegenteil, das war erwünscht, von »Oben« verordnet. Wer keiner geregelten Arbeit nachging, galt als »asozial«, so etwas wie »sich erst einmal finden« oder »ausprobieren wollen« gab es in der DDR nicht.

Ich wünsche mir, dass mir niemals wieder jemand vorschreibt, wie ich zu leben und zu sein habe. Diesen Zustand nennt man Freiheit. Meine Kindheit und Jugend waren das Gegenteil davon. Ich lebte in einer Box, fünfzig Meter lang und acht Schwimmbahnen breit. Nein, es zwang mich niemand. Aber es stellte sich auch niemand schützend vor mich, als schreiende Trainer am Beckenrand behaupteten, ich sei das Letzte. Als sie mich grob anfassten, links liegen ließen oder fragwürdigen medizinischen Untersuchungen aussetzten.

Ich kann nicht langsam schwimmen. Weil ich es nicht will. Und das ist der beste Unterschied zu damals und versöhnt mich unendlich mit mir – weil ICH es nicht will.

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer

DDR-Pionierlied, Text: Herbert Keller

Sollte dieses Buch an der einen oder anderen Stelle etwas wehmütig klingen, so entspricht das nur bedingt meinem generellen Seelenzustand.

Schuld an diesem »Zurückblick« ist ein Schwarz-Weiß-Foto aus den späten Siebzigerjahren, auf dem ich zusammen mit Mitschülern zu sehen bin. Ich wollte den Kindern einer Freundin zeigen, dass es ein Leben vor Nike-Turnschuhen, E-Scootern und Basecaps gab und suchte nach Beweisen. Und ich fand sie in Form dieses Fotos. Darauf abgebildet bin ich im weißen Hemd und mit blauem Tuch um den Hals, der Kleidung für Jungpioniere. Wir waren stets angehalten worden, einen dunkelblauen Rock oder eine entsprechende Hose zu tragen. Und die Pionierkleidung galt immer als etwas Besonderes, man trug sie nur zu entsprechenden Anlässen. Das Tuch richtig knoten zu können, war Ehrensache. Wer den Knoten nicht auf Anhieb beherrschte, übte brav zu Hause. Der Pionierknoten von damals ist der Krawattenknoten von heute. Nur ist Letzterer komplett ideologiefrei. Warum ich auf diesem Foto so aussehe, weiß ich nicht mehr. Und erst viel, viel später fragte ich mich, warum die DDR, das Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, die Tradition dieser Organisationen, die stark an die Hitler-Jugend und das Jungvolk Nazideutschlands erinnerten, fortsetzte. Jungpioniere, Thälmann-Pioniere, Freie Deutsche Jugend (FDJ), Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Die Vereinigungen bekamen neue Namen, aber immer gab es einheitliche Kleidung (Uniform), und wir Kinder und Jugendliche waren durchorganisiert, damit niemand sich einen eigenen Kopf mit eigenen Gedanken machte. Die Ähnlichkeit der Fackelaufmärsche in den 1930er-Jahren mit denen fünfzig Jahre später in der ehemaligen DDR ist nicht zu leugnen. Warum fiel mir das nicht schon damals auf? Ich behaupte NICHT, dass wir, die Menschen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, unisono Nazis waren oder gar sind. Man organisierte uns, weil organisierte Menschen leichter zu führen und zu verführen sind. So weit, so gut. Oder nicht gut.

Immer mittwochs gab es Pioniernachmittage, an denen ich nur selten teilnehmen konnte, weil ich ja im Schwimmverein war und unbedingt Olympiasiegerin werden wollte. Aber ich erinnere mich, wie viel Spaß mir unsere Altstoffsammlungen gemacht haben. Wir teilten uns in Dreier- oder Vierergrüppchen auf und klingelten an allen Wohnungstüren in der Nachbarschaft: »Guten Tag, haben Sie Altpapier oder leere Flaschen und Gläser?«

Wir sammelten nicht etwa für uns, nein, das Geld, welches man bekam, wenn man wertvolle Rohstoffe wie Papier und Glas zum »SERO« brachte, wanderte in die Klassenkasse. SERO bedeutete Sekundär-Rohstoffe. Meine Familie nannte die Annahmestelle »Rumpelmännchen«. Dieser Ort, zu dem wir jungen Pioniere unsere eingesammelten Schätze brachten, war ein kleiner Raum neben dem Haupteingang der Kaufhalle. Extra Tür. Extra Öffnungszeiten. Das Papier war gebündelt und wurde abgewogen. Ich glaube, ein Kilo Altpapier war damals dreißig Pfennig (Ost) wert. Für ein leeres Glas bekam man fünf Pfennig, den Flaschenpreis habe ich vergessen. Auch, woher das Geld eigentlich kam, wer es zur Verfügung stellte. In der Annahmestelle, in dem es sogar an helllichten Sommertagen immer dämmrig war, arbeitete ein mürrischer Mann. Ich erinnere mich nur allzu gut an den Geruch von vergorenem Alkohol der leeren Bierflaschen und Schnapsreste und dass ich mich beim Betreten des »Rumpelmännchens« stets gruselte. Aber da wir gute Pioniere waren, erfüllten wir unsere Pflicht und unterstützten die Wirtschaft unseres jungen Landes, indem wir teure Rohstoffe wie Papier und Glas einsammelten und so zur Wiederverwertung brachten.

So war die DDR – auf der einen Seite Kohleöfen und Bitterfeld, auf der anderen Altpapier sammeln. So viel Sinn und Unsinn gleichermaßen – hat wirklich jemand jemals gedacht, dieses System könnte funktionieren?

Heute werfen wir so viel weg. Gläser, Papier, Plastik, Bekleidung, Essen, Computer. Ich merke, wie viel junger Pionier immer noch in mir steckt, wenn ich zur Papiertonne im Innenhof gehe. Viele Bäume werden gefällt, um Papier herzustellen. Im Fernsehgarten haben meine umweltbewussten Kollegen mittlerweile durchgesetzt, dass wir Papier beidseitig bedrucken, weshalb nur noch halb so viel Papier verbraucht wird. Vieles wird per E-Mail geregelt und nur noch im Notfall ausgedruckt. Dennoch: Wie sparsam und achtsam man mit Dingen umgehen kann, lernt man durch Erziehung im Kindes- und Jugendalter oder aus der Not heraus.

Befragte man meine Mama nach ihren liebsten gesamtdeutschen Errungenschaften, käme ganz sicher der Plastikbeutel zur Sprache, weswegen wir uns regelmäßig in die Haare kriegen.

Meine Mutter liebt es beispielsweise, mir die Überreste von Essen, welches wir uns gelegentlich unserer Kochfaulheit schuldend beim Lieferservice bestellen, in Plastiktüten mitzugeben.

»Aber Mama, ich bin TV-Moderatorin, ich laufe doch nicht mit einer Tüte vom Supermarkt durch die Stadt. Gib mir bitte einen richtigen Stoffbeutel.«

Mein Vater schaltet sich aus dem Hintergrund ein: »Weißt du eigentlich«, sagt er an mich gewandt, »dass wir früher in der DDR immer einen Stoffbeutel dabeihatten? Bei jedem Spaziergang. Es hätte ja sein können, es gibt was …«

»Bananen? Apfelsinen? Joghurt?«, falle ich ihm ins Wort.

Mein Papa: »Wir hatten überhaupt keine Plastiktüten in der DDR.«

»Warum nicht?«, will ich wissen.

»Weil wir dafür kein Geld hatten, die Herstellung von Plastik ist teuer. Man benötigt dafür Erdöl.«

Positiv betrachtet bedeutet das, dass die Deutsche Demokratische Republik schon umweltbewusst war, als sich noch niemand Gedanken über Klimawandel und Erderwärmung machte. Ich weiß, verehrte Leserinnen und Leser, dies ist Schönfärberei, Braunkohle, Ofenheizungen, Zweitaktmotoren, die Plaste und Elaste aus Buna-Werken Schkopau (eine kleine Stadt im Bundesland Sachsen-Anhalt) und wie die anderen Umweltsünden meines ehemaligen Heimatlandes auch immer geheißen haben mögen, waren alles andere als ökologisch einwandfrei.

Meine Mutter bringt mir einen schwarzen Jutebeutel eines renommierten Berliner Kaufhauses, schüttelt wortlos den Kopf, gibt mir einen Abschiedskuss und verschließt die Wohnungstür, nicht ohne mir ein »Fahr vorsichtig!« mit auf den Weg zu geben. Mamas sind immer besorgt. Und da ich selbst eine Mama bin, besorgt es mich, wie achtlos ich an diesem speziellen Tag mal wieder mit unserer Umwelt umgehe. Denn als ich den Jutebeutel zu Hause auspacke, entpuppen sich die köstlich duftenden Essensüberbleibsel vor allem als eines: der größte Haufen Plastikmüll, den ich seit Monaten verursacht habe. Ich schäme mich. Erstens, weil ich deswegen ungezogen zu meiner Mutter war. Und zweitens, weil ich es viel besser kann.

Würden wir, verehrte Leserinnen und Leser, alle zusammenwohnen, würde ich Sie zu einer Challenge herausfordern. Zu einem Wettbewerb, der genau einen Sieger haben würde: unsere Umwelt. Versuchen Sie mal, eine Woche lang Ihren kompletten Plastikmüll, also Verpackungen, Tüten, Tuben, Flaschen, Becher etc. zu sammeln. Stapeln Sie alles auf Ihrem Esstisch und machen Sie ein Foto davon. Sie werden geschockt sein. Es ist einfach unglaublich, wie viele Produkte in Plastik verpackt sind. Und es ist unverständlich, warum unsere Bundesrepublik so lahmarschig nach Alternativen sucht.

Ich jedenfalls gelobe Besserung. Und ich werde nicht müde, andere Mitglieder meiner Familie darauf hinzuweisen, dass in Plastik eingeschweißter Brokkoli absolut inakzeptabel ist. Jawohl!

Das Glück ist eine leichte Dirne

Heinrich Heine

Es gab mal eine Zeit, da verschwendete man seine Zeit damit, vierblättrige Kleeblätter zu finden. Diese sollen ja bekanntlich Glück bringen, also legten wir uns auf Wiesen und suchten zwischen all den Dreiblättrigen jene mit der Extraportion Glück.