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Natalie Elter

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Beschreibung

- Zweite, überarbeitete Version (September 2013) - Ein Buch über die Welt eines Mannes, dessen Karriere ganz anders verlief, als er sich erhofft hatte. Ein Vampirroman für Erwachsene, schonungslos, finster und seelisch tiefblickend. Erleben Sie Melvilles so ungewöhnliche Geschichte und tauchen Sie ein in die Verstrickungen von Macht, Verrat und Intrigen. "Ohne Rücksicht tauchen meine Zähne in ihren Hals. Sie schreit nicht, sie wehrt sich nicht. Freudige Erregung in ihrem Seufzen. Es ist immer dasselbe verführerische Szenario. Eine Fremde. Ich kenne ihre Geschichte und ihre Pläne nicht, selbst wenn, wäre es mir egal. Ich nehme ihr, was sie mir niemals freiwillig geben würde und dennoch scheint sie dankbar. Eine trügerische, durch Hormone und übernatürlichen Willen erschaffene Illusion. Sie entgleitet meinen Armen, irgendwo zwischen Leben und Tod, irgendwo zwischen Zivilisation und Rinnstein. Ich mache einen großen Schritt über sie hinweg, richte meine Krawatte und trete zurück unter die anderen blinden Menschen. Ein Wolf im Schafspelz. Mit einem letzten Fingerwisch entferne ich die roten Reste dieser Frau aus meinen Mundwinkeln. Ein Raubtier ... oh ja, ein Raubtier. Ich liebe es."

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Natalie Elter

Melville

Für meinen Mann. Mein Licht. Meine Inspiration. Mein Herz.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Eine Welt der Dunkelheit

Melville von Natalie Elter

 

Kapitel 1: Ich will keine andere Ehre mehr als deine Schande.

 

 

Kapitel 2: Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diesen Fehler ausnutzen.

 

 

Kapitel 3: Geld verdirbt vielleicht den Charakter – aber arm zu sein macht ihn nicht besser!

 

 

Kapitel 4: Das Leben ist herzlos, warum sollte das Leben nach dem Tod anders sein?

 

 

 

Dieser Roman beruht auf dem Rollenspielwerk ‚Vampire – The Masquerade‘ (1991) von White Wolf. Zweite, überarbeitete Version (September 2013).

 

Titelbild von der Künstlerin Ronja Melin, Schweden.

 

Bei Fragen und Anregungen freue ich mich über Emails an: [email protected].

 

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

 

© 2013 CCP hf. All rights reserved.

- Ich will keine andere Ehre mehr als deine Schande. –

(H. von Kleist)

Prolog

Alles endet, alles beginnt.

1978

„Komm schon, Mel ...“, Jonathan, mein älterer Bruder, zieht etwas genervt an der Jacke meiner Schuluniform und verlangt, dass ich aussteige.

„Ich will aber nicht!”, sage ich trotzig.

„Willst du, dass Mama wegen dir traurig ist?” Er legt ein vorwurfsvolles Gesicht auf. Ich blicke aus dem Fenster und erkenne diesen verhassten Ort wieder. Hier irgendwo liegt sie seit bereits zwei Jahren, zwischen Bäumen, Sträuchern und Steinen fremder Gräber. Ich bin gerade einmal sechs Jahre alt, mein Bruder neun. Er kann sich wenigstens noch richtig an sie erinnern, darum beneide ich ihn immer wieder heimlich.

„Mama kann nicht mehr traurig sein“, antworte ich trocken. Jonathan seufzt und blickt hilfesuchend zum Fahrer, der uns beide von der Schule abgeholt hat, doch er sitzt nur stumm auf seinem Platz und wartet, dass wir endlich aussteigen.

„Gut, wenn du es so nicht willst, dann denke daran, wie sauer Papa sein wird, wenn wir nicht gleich bei ihm zur Messe in der Kapelle sind!“

Ich senke den Blick, ja, Papa kann sehr wütend werden, manchmal macht er mir richtig Angst. Schweren Herzens gebe ich mich geschlagen und lasse meine Beine auf den Boden des Fahrzeugs gleiten. Jonathan öffnet die Tür und zieht mich hinter sich her. Die Luft ist nasskalt, mein Atem zeichnet sich als Nebelhauch vor meinem Mund ab und die Kälte kriecht mir langsam in die Glieder. Mit zögerlichen Schritten folge ich meinem Bruder über die langen Wege. Links und rechts von uns sind unzählige Gräber, ich erschauere ein wenig, denn ich habe Angst vor ihrem Inhalt, besonders seit mir Jonathan manchmal diese Gruselgeschichten vorliest.

1981

Ich bin ganz aufgeregt und springe mit einem Satz aus dem Bett. Heute, am dreiundzwanzigsten Juli, ist mein Geburtstag und da auch noch Sonntag ist, muss ich nicht einmal zur Schule. Ich schlüpfe schnell in meine Hausschuhe und werfe mir den Morgenmantel über. Vielleicht bekomme ich ja endlich das Teleskop, das ich mir schon so lange wünsche.

Ich nehme mehrere Treppenstufen auf einmal und hechte in das Wohnzimmer, voller Hoffnung, gleich meinen Vater und Jonathan zu erblicken. Niemand ist zu sehen, alles ist ganz still und das fahle Licht des Morgens scheint durch die großen Fenster. Aber sicher sind mein Vater und Jonathan im Salon. Fast rutsche ich auf dem glattpolierten Parkett aus, kann mich aber gerade noch halten. Ich biege in den Salon ab, doch auch hier ist niemand. Leicht enttäuscht stehe ich da und überlege, ob sie vielleicht im Arbeitszimmer meines Vaters sein könnten. Die letzten Jahre war er an meinen Geburtstagen immer geschäftlich auf Reisen, ich erinnere mich nicht, dass ich jemals an meinem Tag direkt mit ihm feiern konnte. Doch dieses Jahr ist er da, das weiß ich ganz genau. Da höre ich Geräusche aus der Küche. Oh ja!Vielleicht will Vater nur die Wohnbereiche für den Familienbesuch später sauberhalten. Ich renne los, meine Wangen färben sich gewiss rötlich vor innerer Anspannung und mit einem Schwung werfe ich die Tür auf.

Da steht die Haushälterin und sieht mich fragend an. Sie rührt gerade in einer Schüssel und bereitet einen der Kuchen für die späteren Gäste vor. Und als ich begreife, dass wohl niemand für mich etwas vorbereitet hat, dass keine Überraschung auf mich wartet, kein Lachen und keine Umarmung, schießen mir die kleinen heißen Tränen in die Augen. Die Haushälterin setzt die Schüssel ab und kommt auf mich zu. Sie will mich wohl trösten, doch ich mag es nicht, wenn mich Fremde anfassen. Auch wenn sie schon seit mehr als einem Jahr hier arbeitet, kenne ich nicht einmal ihren Namen. Ich mache kleine Schritte rückwärts. Der Gurt, der sich aus meinem Morgenmantel gelöst hat, verfängt sich zwischen Tür und Rahmen und ich werde von ihm festgehalten. Ich kann kaum etwas durch den Tränenschleier sehen, also zerre ich fest an dem Stoff und höre nur, wie er reißt. Abgeschreckt durch meine Bewegungen bleibt sie stehen und beobachtet mich nur. Scham über mein unbeholfenes Verhalten mischt sich jetzt noch in meine Enttäuschung und als ich endlich frei bin, renne ich schleunigst zurück in mein Zimmer. Ich schlage meine Tür zu, werfe mich in mein Bett und verstecke mich unter der Bettdecke.

Ich brauche eine Weile, um wieder normal atmen zu können, ohne zu schluchzen und zu schniefen. Ich halte die Decke ganz fest in meinen Armen und spüre, wie die Luft unter der Decke langsam unerträglich wird. Ich strecke meinen Kopf etwas hervor und da erst sehe ich den kleinen handgeschriebenen Zettel von Jonathan auf meinem Nachttisch. Ich greife nach ihm und es dauert seine Zeit, bis ich die Bedeutung der Worte verstehe. Es fällt mir schwer, mich in der Schule auf die Aufgaben und Übungen zu konzentrieren. Und besonders das Lesen und Schreiben erfordert viel Disziplin von mir. Oft musste ich mir schon anhören, dass Vater mich für dumm hält und viele Nachhilfestunden habe ich schon den Sommer über aussitzen müssen.

Bin mit Vater angeln. Er will der Familie heute Abend selbstgefangenen Barsch anbieten. Er meint, du bist noch zu jung. Sind vor 14 Uhr zurück. Alles Gute zum Geburtstag.

Jonathan

Ganz langsam lasse ich den Zettel sinken und spüre, wie ich ihn mit der rechten Hand zusammenknülle. Sie haben mich nicht mitgenommen. Ich bin ganz allein.

Es tut so weh, dass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als das kleine Zettelknäuel in den Mund zu stecken und herunterzuschlucken. Dann ist er wenigstens weg.

Langsam gehe ich zu meinem Schreibtisch, nehme mir ein Blatt Papier und fange an, mir meine eigene Nachricht zu schreiben. Ich male ein großes buntes Geschenk in die Mitte und mehrmals kontrolliere ich meine Rechtschreibung, während ich über und unter das Geschenk schreibe: ‘Für Melville. Hab dich lieb’. Ich setze mich auf dem Stuhl zurück und betrachte mein Werk. Ich bin zufrieden. Ich falte den kleinen Zettel und packe ihn ganz vorsichtig in meine Schultasche.

Dann ziehe ich meinen zerrissenen Mantel und die Hausschuhe aus, lege mich wieder in das Bett und kneife die Augen fest zusammen. Langsam zähle ich innerlich bis zwanzig. Dann öffne ich die Augen wieder, richte mich ganz vorsichtig auf und tue so, als müsste ich gähnen und mich strecken. Bedächtig hebe ich die Beine über das Bett, versuche ein möglichst zufriedenes Gesicht aufzulegen und schiebe meine Füße wieder in die noch warmen Hausschuhe.

„Alles Gute zum Geburtstag, Melville”, sage ich zu mir selbst.

„Ich habe ein Geschenk für dich versteckt. Komm, suche es!”

Ich gehe zum Kleiderschrank, zum Schreibtisch, zur Spielzeugkiste und durchsuche gewissenhaft die möglichen Verstecke. Ich umkreise langsam meinen Schulranzen und gaukle mir selber eine spannende Suche vor.

Irgendwann greife ich dann in die Tasche und hole den Zettel hervor. Ganz langsam falte ich ihn auf.

„Das habe ich mir schon immer gewünscht. Danke, Melville.“

Dann nehme ich den Zettel, lege mich zurück in das Bett und halte ihn fest umklammert, während sich langsam wieder ein paar kleine Tränen den Weg durch meine Lider kämpfen. Der Morgen meines neunten Geburtstages. Ich fühlte mich noch nie so einsam.

Die meisten Gäste treffen pünktlich ein und brav lasse ich mich von meinen Onkeln, Tanten und Großeltern in die Wange kneifen und mir über den Kopf fahren. In meinem besten Anzug und mit geputzten Lackschuhen, freue ich mich über die Aufmerksamkeit. Doch kaum haben sie mich begrüßt, ihr Geschenk auf dem Gabentisch geparkt, meist Schulbücher oder Kleidung, und den gedeckten Kuchentisch entdeckt, vergessen sie weswegen sie hier sind. Es ist immer das Gleiche. Die Erwachsenen widmen sich den Gesprächen über Politik und Sport und die Kinder haben sich allein zu beschäftigen, aber nicht zu stören. Ein paar Neffen und Nichten sind da, aber Jonathan ist derjenige, der sich gut mit ihnen versteht. Ich bin von ihrer offenen und teils aggressiven Art eher verängstigt. Ich habe keine Lust ‘Ritter’ oder ‘Räuber und Gendarm’ zu spielen und auch nicht ‘Vater-Mutter-Kind’. Ein Spiel, das ich grundlegend eh nicht verstehe. Was ist lustig daran, eine Familie zu spielen?

Also gehe ich, gelangweilt von den anderen Kindern, zu den Erwachsenen und gönne mir auch ein leckeres Stück Kuchen und einen heißen Kakao. Vorsichtig balanciere ich den Teller und die Porzellantasse auf ihrem Unterteller in meinen Händen und gehe zum bereitgestellten Kindertisch. Leider bemerke ich die kleine umgeschlagene Ecke des Teppichs nicht. Ich stolpere und versuche noch, den überschwappenden Kakao nicht auf den teuren Teppich tropfen zu lassen. Doch dabei komme ich so ins Schwanken, dass ich ganz hinfalle. Das fragile Geschirr zerbricht unter der Wucht des Aufpralls. Ich höre, wie eine meiner Tanten erschrocken aufschreit und sehe aus den Augenwinkeln, wie sich alle Köpfe zu mir drehen und jegliches Gespräch verstummt. Ich bin ganz still, bewege mich nicht, da merke ich auch schon, wie die schweren Schritte meines Vaters auf mich zugehen. Ich verstecke meinen Kopf unter meinen Händen, ziehe meine Knie eng an den Körper und versuche, mich vor seiner Wut zu schützen. Er greift an meinen Arm und zerrt mich schreiend hoch.

„Das war eine Tasse vom Lieblingsgeschirr deiner Mutter!“

Groß fliegt seine Hand auf mich zu, unerwartet und plötzlich trifft er mich. Mein Kopf fliegt zur Seite und fast falle ich wieder zu Boden. Meine Wange glüht und mir ist ein wenig schwindelig, doch ich schaffe es, nicht vor meiner gesamten Familie zu weinen.

„Geh auf dein Zimmer, Melville! Und denke darüber nach, was du getan hast! Ich bin sehr enttäuscht von dir!”

Und kurz nur blicke ich in die Gesichter meiner Verwandten, wie sie leicht erschrocken zu mir sehen. Meine Tante mütterlicherseits, wie sie ihre eigene Tochter auf dem Schoß trägt und fest umarmt. Der Vater meines Vaters, der bestätigend mit dem Kopf nickt. Alle sehen mich, schwach und klein. Ich gehe ganz vorsichtig, immer noch leicht benommen von dem Schlag, aus dem Zimmer und hebe schleppend einen Schritt nach dem anderen über die Treppenstufen. Ich bekomme noch mit, wie mein Vater ein Dienstmädchen anweist, die Bruchstücke zu entfernen und den Teppich schnell vom Kakao zu reinigen, bevor der Fleck sich festsetzt.

„Was für ein Schussel”, höre ich meinen Großvater noch sagen, bevor ich außer Hörweite in meinem Zimmer verschwinde.

1982

Zu Weihnachten habe ich einen Hamster geschenkt bekommen. Klein, weiß und ängstlich sitzt er in seinem Käfig, während ich ihn neugierig betrachte. Ich bin mir nicht sicher, warum ich ihn überhaupt geschenkt bekommen habe. Ich habe mir kein Haustier gewünscht.

Doch eines habe ich bekommen, über das ich mich wirklich gefreut habe. Das alte Schnitzmesser meines Großvaters, doch nachdem ich mir zweimal beim Schnitzen in die Hand geschnitten habe, ließ ich es lieber. Also sitze ich hier, das Messer in der Hand und den Hamster im Blick, während ich mich nachdenklich auf meinem Schreibtischstuhl drehe.

Ich öffne langsam den Käfig und er versteckt sich in seinem Häuschen. Doch ich hebe sein Versteck einfach hoch, damit er sich mir nicht entziehen kann. Ich weiß nicht einmal, warum, aber ich bewerfe ihn ein wenig mit dem Heu in seinem Käfig. Er schüttelt sich und beginnt, von einer Ecke in die andere, vor mir davonzurennen.

Ich greife nach ihm und da er mir mehrmals dabei entwischt, werde ich wütend. Kräftig packe ich ihn, er fiept verängstigt. Ich hebe ihn auf den Schreibtisch und halte ihn fest in meiner linken Hand. Ich spüre, wie er sich wehrt, sich panisch windet und immer wieder kläglich schreiende Geräusche von sich gibt. Ich betrachte ihn eingehend, die rosa Schnauze, die kleinen Knopfaugen.

Wie unter Zwang greife ich mit meiner rechten Hand nach dem Messer. Und es sind nur ein paar Berührungen mit der Spitze des Messers nötig, um zu hören, wie er leidet.

Es gefällt mir.

Doch dadurch tropft auch sein Blut auf das helle Holz des Tisches.

Ich bin selber so erschrocken, dass ich beides loslasse, Messer und Hamster. Er versucht, mit seinen Wunden über die Tischplatte zu flüchten. Eine deutliche Blutspur zieht er hinter sich her und ich bekomme plötzlich rasende Angst, dass ich diese Spuren nicht beseitigen können werde. Vater wird mich dafür bestrafen, besonders, wenn er auch noch auf den Teppich flüchten sollte. Doch er ist so schnell und die beschmutzte Fläche wird immer größer, dass ich fast aus Reflex das Messer wieder ergreife und die Klinge gänzlich durch seinen Körper in den Tisch ramme. Dann ist alles wieder still.

Ich setze mich hin und betrachte mein Werk. Sehe diesen kleinen toten Fellball, verendet durch meine Hand. Jetzt ist er endlich leise und ich allein habe dafür gesorgt! Er konnte sich nicht wehren.

Ich ziehe das Messer wieder heraus und werfe den Hamster zurück in das Heu. Schnell wische ich die Spuren auf und mein kleines Herz schlägt wild vor Aufregung. Es ist verboten, doch die Flecken sieht man schon bald nicht mehr, keiner wird davon erfahren. Mein Geheimnis.

1984

„Ich weiß nicht, was ich noch mit dir machen soll, Melville!” Er ist wütend. Ich stehe in seinem Büro, schweigend. Ich habe mittlerweile gelernt, dass es besser ist, in diesen Situationen nicht zu widersprechen. Drei Jahre nun versucht er mich schon, so zu erziehen. Drei endlose Jahre.

„Das ist dein zweiter Tadel dieses Semester. Du machst deiner Familie Schande, Melville. In vierter Generation geht die Familie Lancaster auf diese Eliteschule und du schaffst es, die Arbeit und den Fleiß aller zu vernichten.” Er wurde heute wieder zu meinem Direktor bestellt. Das letzte Mal ist gerade einmal zwei Monate her.

„Hast du etwas dazu zu sagen, Junge?” Er drückt grob mein Kinn nach oben, damit ich ihm in die Augen blicken muss.

„Nein, Sir“, nuschle ich leise.

„Ich werde dir Anstand und Ordnung schon noch einbläuen, Melville. Es kann nicht sein, dass du ein Mädchen deiner Klasse, auch noch von einer uns befreundeten Familie, fast krankenhausreif prügelst.”

Ich sehe wieder zu Boden. Ich erinnere mich an ihre Schreie, aber auch an die verletzenden Worte, die sie mir zuvor an den Kopf geworfen hatte.

„Hat deine Mama dir nicht beigebracht, wie man sich benimmt? Ach ja, stimmt, du hast ja gar keine Mama. Wahrscheinlich hat dich eine Giraffe ausgetragen, so lang und tollpatschig, wie du bist.“

Ihre Freundinnen standen um sie herum und haben mich ausgelacht. Ich hatte angefangen, zu weinen, und wollte gehen, doch sie sind mir hinterhergerannt.

„Ooh, jetzt weint das Giraffen-Söhnchen ... na, na, na, Giraffenkind, na, na, na, Giraffenkind ...“

Mein erster Faustschlag traf sie mitten in das Gesicht, in ihre falsche Fratze. Ich spüre noch in meinen Fingerknöcheln, wie ihre Nase unerwartet und mit einem knackenden Geräusch nachgab. Und obwohl ich jetzt Angst vor meinem Vater habe, erfüllt mich die Erinnerung an ihr hervorquellendes Blut mit Genugtuung. Ihr Schmerz ist jede Strafe wert.

„Was gibt es da frech zu grinsen, Melville? Ich werde schon dafür sorgen, dass du wieder auf die richtige Bahn gelangst. Hol den Stock!“

Ich nicke nur und schlucke meine Wut und meine Angst herunter. Er setzt sich auf die Ledercouch, auf seinen angestammten Platz, während ich mich herumdrehe und aus einem Schrank in seinem Büro einen langen, dünnen Rohrstock hole. Meine Knöchel sind weiß vor Anspannung, als sich meine Kinderhände um das Holz legen. Ich hasse dieses Instrument so sehr ... so sehr.

„Du weißt, wo dein Platz ist!”, raunt er mir mit tiefer zorniger Stimme entgegen, als er mir den Stock aus der Hand reißt und beginnt, sich die Ärmel hochzukrempeln.

Ja, ich weiß, wo mein Platz ist. Es ist fast schon zum wöchentlichen Ritual geworden. Langsam streife ich meine Hose herunter und beuge mich der Gewalt meines Vaters. Es dauert ihm zu lange.

„Ich habe nicht ewig Zeit, junger Mann!“ Er zieht mich mit einem Griff über seine Knie.

Grob schlägt er auf mich ein, ich kneife meine Augen fest zusammen und presse meine Lippen aufeinander. Ich will nicht laut aufschreien, doch er schlägt nur fester zu. So lang, bis ich endlich meine Strafe wahrnehme, meine Schmerzenstränen hervortreten und ich um Vergebung bettele. Ich fühle genau, wie er mich mit seinem anderen Arm schwer herunterdrückt und ich mich nicht entziehen kann. Als die Haut dann nachgibt und ich jegliches Hoffen auf seine Gnade fallen lasse, vergesse ich alles um mich herum und ergebe mich seiner Form von Erziehung. Ich bin ihm unterlegen und hilflos ausgeliefert.

Drei Jahre.

In meinem Zimmer dann liege ich auf dem Bauch und drücke mein heißes Kindergesicht in die Kissen. Es schmerzt, es blutet und ich weiß, dass ich die nächsten Tage in der Schule nicht wirklich werde sitzen können. Jonathan kommt wieder einmal zu mir. Er versucht, mich zu trösten.

„Mel, es wird schon wieder gut.”

„Verschwinde!”

„Komm schon, es ist doch nicht meine Schuld. Du darfst Papa nicht immer so wütend machen.”

„Wieso schlägt er dich nicht?“

Jonathan setzt sich zu mir auf das Bett, ich merke, wie er erst versucht seine Hand auf meinen Rücken zu legen, es aber doch sein lässt.

„Ich weiß nicht, vielleicht, weil ich ihm nicht so viele Sorgen bereite? Versuch doch einfach nur das zu machen, was er will, dann lässt er dich sicher auch in Ruhe.“

„Du hast doch keine Ahnung. Du bist ja bald schön weit weg, auf deinem blöden College und lässt mich hier ganz alleine in Bristol ... mit ihm.“

„Was soll ich denn tun, Melville? Die Schule abbrechen und hier bleiben? Und dann?“

„Ach, was weiß ich ... ist eh alles egal.”

„Tue mir den Gefallen und versuche, ihn nicht zu wütend zu machen ... okay?”

1985

Die Nächte sind lang. Die einzigen Momente der Ruhe; die Stille liegt im Haus und ich fühle mich sicher. Dann sitze ich auf meinem Bett, betrachte den hellen Mond oder die Wolken und frage mich, ob es nicht auch ein anderes Leben für mich geben kann. Die Hände um meine Knie geschlungen versuche ich mich auch, an meine Mutter zu erinnern, doch mit den Jahren wird sie immer mehr zu einem Schatten, zu einer blassen Ahnung in meinem Geist.

Manchmal wirkt der Mond so groß und nah, als könnte ich ihn greifen. Er ist so viel ehrlicher als die Sonne, man sieht ihn manchmal auch tagsüber und dann mahnt er uns, an die kommende Nacht zu denken. Die Sonne scheint ungnädig, egal wie schlecht es einem geht. Die anderen Kinder lachen und spielen auf dem Schulhof, doch ich sitze im Schatten, blass und mit tiefen Augenringen. Ich ertrage die Hitze und die Zuversicht nicht. Mir ist kalt.

Ich wärme mich unter der Decke, wenn das Mondlicht im Schnee und Eise glitzert. Das nächtliche Schauspiel der Geborgenheit vor meinem Fenster. Ich wünschte, ich wäre stark und hätte ein Talent, das mich von hier wegbringen könnte. Irgendwas.

Doch ich habe keine Talente, bin nichts Besonderes. Vater sagt es immer wieder und es ist sicher auch der Grund, warum er mich hasst und Jonathan nicht. Ich fühle mich so wertlos, dass ich mich hin und wieder selber frage, warum er mich überhaupt noch beachtet.

Ich weine in diesen Nächten nicht, ich weine genug auf seinen Knien. Ich fühle mich nur eins mit der Dunkelheit und ich kann sicher sein, dass niemand mich hierbei stören wird.

Dann hauche ich an die kalte Fensterscheibe, zeichne vorsichtig Mond, Wolken und Bäume nach, damit ich es auch tagsüber sehen kann, falls ich wieder in mein Zimmer gesperrt werde.

Ich habe fast aufgehört zu reden, doch es fällt niemandem wirklich auf. Meine Schulklasse ist so groß, dass es der Lehrer nicht bemerkt. Jonathan hat viele andere Freunde und verbringt seine Freizeit draußen, ich sehe ihn nur noch zum Abendessen, wenn wir schweigend unsere servierten Mahlzeiten kauen. Mein Vater redet nur in diesen Momenten der verhassten Zweisamkeit mit mir und da das Personal ständig wechselt, habe ich keine Bindung zu ihnen aufgebaut. Und jetzt wird es erst recht nicht passieren. Ich antworte, wenn ich gefragt werde. Immer darauf bedacht, keinen Widerstand zu bieten und mich höflich aus der Situation entziehen zu können. Ich lebe in mir selbst und das ist der friedlichste Ort, den ich kenne. Der Einzige an dem niemand sein kann, der mir wehtut.

Es ist diese Welt, in der ich manchmal, wenn ich mich extrem schlecht fühle, anderen wehtun kann. Ich mir vorstelle, wie ich die Hand erhebe und mächtig bin. Die Angst auf anderen Schultern lastet und sie sich mir nicht entziehen können. Denn das ist die Form von Erhabenheit, die ich kenne und auch anstrebe. An der anderen Seite des Rohrstocks sein, ein Gefühl der Überlegenheit. Zu wissen, dass man es geschafft hat.

1988

Als auch ich endlich an ein College kann, hört mein Vater auf mich körperlich zu züchtigen. Beim letzten Mal passte ich kaum mehr auf seine Knie, obwohl auch er sehr groß ist und dazu noch besonders kräftig. Er hatte mich dafür bestraft, dass ich, ohne anzuklopfen, in sein Büro ging. Ich brauchte Papier für meine Hausaufgaben. Ich lerne viel, verstecke mich hinter Büchern in meinem Zimmer und versuche mich somit vor den dunklen Gefühlen und seiner Wut zu schützen. Er kann mich nicht für Lernen bestrafen. Meine Bildung wurde zu meiner wichtigsten Aktivität und besonders gerne tauche in die Welt der Zahlen und Formeln ab, denn sie bieten ehrliche Sicherheit, wo sonst keine ist.

Ich war unbedarft hineingegangen und unterbrach meinen Vater beim Sex mit seiner Sekretärin. Auf der Couch, auf der er sonst für gewöhnlich versuchte, seine Fürsorge an mir zu verdeutlichen. Sie schrie überrascht auf und er fluchte laut. Ich war wie erstarrt und unfähig sofort wieder das Zimmer zu verlassen. Ich erkannte ihre aufsteigende Scham im Gesicht und bewunderte ihre blanken Brüste. Doch leider raffte sie schnell ihre Kleidung zusammen, rannte an mir vorbei zur Tür und verließ das Zimmer. Mein Blick hing an ihrem Hintern und ich war machtlos gegen diesen Anblick. Kaum hatte mein Vater seine Hose wieder verschlossen, griff er nach seinem Stock und es setzte eine Tracht Prügel, die ich nie wieder vergessen werde. Von ihrem Anblick eben noch erregt, schlug er mich auf den Boden der Realität zurück. Ich ertrug es, doch akzeptieren konnte ich es nicht.

Einer der Bediensteten musste mir danach aus seinem Büro helfen und mich stützen, damit ich aus seinen Augen verschwinden konnte.

So liege ich jetzt hier, in meinem Bett und meine Wunden fühlend. Doch die Gedanken an ihren Körper, ihr sich wiegender Busen und ihr erschrockenes Gesicht bringen auch andere, mir zwar bekannte, aber andersartig gefärbte Emotionen hervor. Und kurz kann ich meinen Schmerz vergessen, indem ich ihn durch eine angenehmere Empfindung tausche und das erste Mal meine Lust in Verbindung mit Pein verspüre.

Drei Wochen später, nach quälend langen Sommerferien ohne Jonathan, denn seine Noten waren so schlecht, dass er eine Sommerschule besuchen musste, darf auch ich endlich diesen Haushalt verlassen. Zum Abschied am Bahnsteig drückt und umarmt mich mein Vater, als ob wir eine glückliche Familie wären. Ich bin so verwirrt, dass ich wie versteinert diese Szene über mich ergehen lasse.

„Ich begrüße es, Melville, dass deine guten Noten dir sogar eine Förderung des Eton Colleges ermöglichen. Hat es sich doch am Ende gelohnt, dich nicht zu vernachlässigen?“

„Ja, Sir“, sage ich tonlos.

Aufstieg und Fall

Ich genieße die unbeschwerte Zeit am College. Auch wenn meine Mitschüler dies sicher anders von mir denken. Ich schließe keine festen Freundschaften, halte mich fern von allem, dass mich auf meinem Weg aufhalten könnte. Ich verbringe meine Zeit entweder im Klassenzimmer oder im Zimmer meines Wohnheims, um zu lernen. Das Geld und der Ruf meines Familiennamens ‚Lancaster‘ bringen mir Anerkennung meiner Tutoren, noch bevor ich mich selbst beweisen kann. In zweiter Generation kontrolliert mein Vater eine florierende Maschinenbau Firma. Bekannt für ausgezeichnete Qualität und Zuverlässigkeit, muss ich mir keine Sorgen um die finanziellen Mittel meiner Ausbildung machen. Ebenso wenig wie Jonathan, der sich im letzten Jahr seiner Collegezeit befindet. Auch wenn es Jonathan vielleicht nicht klar ist, versuche doch ich, der nächste Lancaster in der Reihe zu sein, der unseren Familienbetrieb übernehmen wird.

Ich habe meinen Bruder schon lange aus den Augen verloren. Nur zu Weihnachten sehen wir uns in unserem Elternhaus in Bristol und die Beziehung ist eisig. Denn ich merke bei diesen Treffen auch immer wieder, wie sehr mein Vater im Grunde ihn bevorzugt. Immer wieder redet er davon, besonders wenn er zusammen mit meinem Bruder einen Scotch zu viel getrunken hat, wie er auf den stolzen Moment wartet, Jonathan endlich in die Firma einführen zu können. Als Bedingung setzt er ein abgeschlossenes Masterstudium und ich weiß, dass mein Bruder sich mit seiner Bildung sehr schwertut. Ich muss also nur vor ihm oder mit einer besseren Note meinen Studienabschluss schaffen, um ihn ausbooten zu können. Und gerade diese Winterferien sind es immer, die mich noch weiter antreiben.

Doch auch wenn ich wirklich versuche, zu sämtlichen Ablenkungen größtmöglichen Abstand zu bewahren, kann ich einige Entdeckungen und Entwicklungen meiner Sinne und Gedanken nicht verhindern. Und vor allem ein Umstand macht mir schwer zu schaffen. Meine Blicke heften sich nicht nur auf Mädchen allein. Erwische mich immer wieder dabei, wie ich die sportlichen Jungen und auch Männer durch mein Fenster beobachte. Wie ich in kleinen Lernpausen kaum zurückfinde aus den wirren Gedanken, die mich beeinflussen. Und schnell wird mir klar, dass ich gerade diesen körperlichen Versuchungen widerstehen muss, wenn ich schnell und erfolgreich durch mein Lernpensum schreiten möchte. Aber besonders in einem Kurs fällt mir dieser Vorsatz extrem schwer. Ein Mädchen, siebzehn oder vielleicht achtzehn Jahre alt, sitzt direkt vor mir. Ihr Haar ist lang und sehr gepflegt. Immer wieder weht mir der Duft ihres Shampoos entgegen, wenn sie gedankenverloren ihr Haar zurückstreicht. Besonders, wenn sie es ganz auf eine Seite legt und ich dann ihren freien Nacken betrachten kann, bin ich nicht mehr in der Lage dem Unterricht effektiv zu folgen. Immer wieder muss ich dann auch an die Sekretärin meines Vaters denken, wie sie damals vor mir stand, die Schamesröte im Gesicht, die blanken Brüste. Und nicht selten muss ich am Ende des Unterrichts möglichst schnell, aber unauffällig auf mein Zimmer hechten, um mich von diesem inneren Aufruhr zu erlösen. Meist liege ich dann da und der anfängliche Höhenflug meiner Emotionen weicht dem Gefühl der Verzweiflung und der Scham.

Niemals würde es mir einfallen, eines dieser begehrten Geschöpfe anzusprechen, ich genieße still aus der Ferne und akzeptiere meine passive Rolle. Diese verliebten Spielereien sind nicht für mich gedacht.

Mit Bravur durchstehe ich die Collegezeit und schaffe es schließlich, genauso wie mein Bruder, an die renommierte Universität von Bristol. Ich erfahre hier schnell, dass Jonathan einen weniger rühmlichen Ruf aufgebaut hat. Er ist den Partys, den Frauen, dem Alkohol und auch den Drogen näher als dem trockenen Lernstoff. Wir sehen uns so gut wie nie auf dem Universitätsgelände, räumlich nah, könnten wir doch nicht weiter voneinander entfernt sein.

Schnell weiß ich genau, welche Richtung ich einschlagen möchte und lege mir bereits im ersten Jahr viele Kurse in meinen Stundenplan. Der Master ‚Finance and Investment‘ sollte sich so in verkürzter Zeit erwerben lassen.

Zwei ungleiche Brüder, der eine beliebt und auf jeder Gästeliste eingetragen, der andere stumm und zurückhaltend. Doch ich weiß, meine Entsagungen werden sich auszahlen.

In den Osterferien vor meinen Abschlussprüfungen ersuche ich meinen Vater schließlich um ein offizielles Gespräch. Deutlich vernehme ich seine Verwunderung am Telefon, als ich ihn um einen Termin in seiner Firma bitte. Ich nehme meine Bewerbungsunterlagen mit, ganz als wäre ich kein Teil dieser Familie. Denn objektiv betrachtet, bin ich der Bessere für diese Aufgabe. Und das versuche ich meinem Vater auch zu beweisen.

Ich trete in sein Firmenbüro und reiche ihm die Hand.

„Ich weiß zwar noch nicht ganz was das bringen soll, Melville, aber was liegt dir auf dem Herzen?”

„Ich bin hier, um über unsere Firma zu sprechen, Vater.”

„Unsere Firma?“

„Ja. Ich bin mir bewusst, dass du als Nachfolger sicher an Jonathan denkst, aber ich fürchte, damit triffst du eine schlechte Wahl. Er konzentriert sich nicht wirklich auf sein Studium und mit seinem Verständnis für Planung und Struktur wird er es nicht schaffen, die Firma weiter aufzubauen. Eher im Gegenteil.”Mit wächsernem Gesichtsausdruck sitze ich vor ihm, ich fühle immer eine aufkeimende Angst, wenn ich mit ihm spreche, aber um meiner selbst willen, muss ich jetzt standhaft sein.

„Bist du nur gekommen, um deinen Bruder schlecht zu machen, Melville?“

„Nein, ich wollte dir nur aufzeigen, dass auch ich Interesse an der Führung der Firma habe. Ich habe ausgezeichnete Noten, Vater, und ich möchte meine Fähigkeiten ganz zum Wohle der Familie Lancaster einbringen. Ich bitte dich um die Chance, mich, anstelle von Jonathan, in die Firma zu holen. Du sagtest einmal, dass du nur ein abgeschlossenes Studium voraussetzt. Nun, ich werde wie Jonathan in diesem Jahr meinen Abschluss machen. Wenn er denn seinen überhaupt schafft.“ Seine Augen werden groß, es war ihm wohl nicht bewusst, wie sehr ich Jonathan bereits eingeholt habe.

„Dieses Jahr schon? Ihr seid doch ...”, er überlegt kurz,

„an die drei Jahre auseinander. Wie kann das sein?“

Ich lächle ihn siegessicher an und antworte:

„Er ist langsam und ich bin schnell. Siehst du jetzt, dass ich es verdient habe, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen?”

Er räuspert sich leise und faltet seine großen Hände auf dem Schreibtisch. Kurz erinnere ich mich an die Schmerzen, die mir diese Hände in meinem Leben schon zugefügt haben und ich rutsche einmal unsicher auf meinem Stuhl hin und her.

„Melville, es gehört mehr zu einer Firmenleitung, als der akademische Titel. Es braucht auch einen Charakter, der dem Ganzen gewachsen ist. Ein Geschäftsführer muss in der Lage sein, sich mit anderen seines Ranges gütlich auseinanderzusetzen. Die Theorie allein lehrt einen nicht das Leben, Melville.”Ich werde wütend, als ich erkenne, dass sich seine Bedingungen wohl auf mehr ausdehnen, als nur die, die ich bisher kannte.

Willst du mir das damit sagen, Vater?”, meine Stimme ist zwar ruhig, aber leicht zittrig.

„Du merkst doch sicherlich selber, dass du bereits jetzt nicht in der Lage bist deine Interessen vernünftig zum Ausdruck zu bringen. Wie soll das erst später werden, Melville?” Ich starre ihm in das Gesicht, fassungslos wie er mir vor den Kopf stößt. Er seufzt kurz leise auf und sagt:

„Wenn Jonathan dieses Jahr seinen Abschluss nicht schafft, kann ich dir ein Praktikum in der Firma anbieten und euch dann beide hier anstellen. Und dann kannst du zeigen, ob du wirklich besser bist als er. Doch werde ich dir nicht versprechen, dass du der nächste Firmenbesitzer werden wirst.“

„Danke, Vater. Ich brauche nur eine Chance, um mich zu beweisen. Du wirst es nicht bereuen.“

Mit viel Fleiß, Mühe und durchgelernten Nächten schaffe ich meinen Abschluss als Jahrgangsbester im gleichen Jahr wie Jonathan. Denn auch ihm gelingt es, erstaunlicherweise, mit einem Titel die Universität zu verlassen. Doch fast drei Notenstufen trennen uns. Unser Vater muss mir auch einfach eine Stelle geben, er wäre ein Narr und töricht es nicht zu tun. Doch er enttäuscht mich auf ganzer Linie. Kaum wieder in Bristol angekommen, erfahre ich, dass Jonathan bereits als stellvertretender Geschäftsführer eingeführt wurde. Er muss nicht einmal eine Bewährungszeit durchlaufen, um diese Ehre zu erhalten. Und zur Feier seines Einstandes bin auch ich in die Geschäftsräume eingeladen. Ich gehe nur hin, um meinem Vater ein letztes Mal verständlich zu machen, dass er sich irrt. Doch er speist mich nur ab.

„Ich habe gesagt, wenn Jonathan es dieses Jahr nicht schafft ...“ und widmet sich dann wieder Sekt anstoßend meinem älteren Bruder zu, der bereits mit einer Sekretärin flirtet.

Der unkontrollierbare Zorn in mir scheint mich in einem Strudel davon zu reißen. Und ich schwöre mir selbst, dass ich solange hart arbeiten werde bis ich es mir aus eigenen Mitteln erlauben kann, diesen dreckigen, stinkenden Familienbetrieb aufzukaufen und meinen Vater zu vernichten. Still verlasse ich die Party, hinterlasse keine Botschaft und melde mich die nächsten Jahre auch nicht mehr bei ihnen. Anonym verfolge ich die unverdiente Karriere meines Bruders, während ich mit aller Macht nach oben strebe. In London erhalte ich, dank meiner Qualifikation, schnell eine Anstellung und bald auch mehr Verantwortung. Mit vierundzwanzig Jahren erlange ich eine Abteilungsleitung und lerne schnell mich im harten und gnadenlosen Alltag der Geschäftswelt zurechtzufinden. Kaufen, zerstückeln, verkaufen. Einen Kleinbetrieb in Geldnöten nach dem anderen raffe ich dahin, immer bedacht auf größtmöglichen Profit, an dem ich direkt beteiligt bin. Viele Neider zeugen von meinem Erfolg und kurz darauf kann ich mit meinem Ersparten ein eigenes Wirtschaftsunternehmen gründen: Lancaster Ltd. Der Markt für Kreditgeschäfte und spekulativen Handel expandiert kräftig und ich bin ein großer Nutznießer dieser Entwicklung. Meine erste verdiente Million wird noch im gleichen Jahr von folgenden Millionen aufgestockt.

Ich möchte nicht gleich, dass mein Vater weiß, wer seine Firma kauft. Denn auch wenn Jonathan jetzt offiziell Geschäftsführer ist, ist er es doch, der die Fäden in der Hand hält.

Durch Zukäufe und embargoartige Bedingungen der Firma meines Vaters gegenüber, treibe ich ihn langsam an den finanziellen Ruin. Und es ist ihm nicht bewusst, warum seine Partner ihn plötzlich im Stich lassen. Denn letztendlich ist eine Geschäftsbeziehung nichts wert, wenn der Druck des Geldes stärker ist. Über eine eigens dafür gegründete Firma in Taiwan, lasse ich die insolventen Reste des Familienbetriebes aufkaufen. Als sein unbekannter, neuer Firmeninhaber lasse ich ihn in sein eigenes Büro antreten, dabei wiege ich ihn in dem Glauben, es ginge um seine weitere Anstellung in diesem Hause.

Ich trage einen Anzug, der etwa seinem momentanen Monatseinkommen entsprechen dürfte. Mit einem eisernen Lächeln und gefalteten Händen, ganz wie er vor einigen Jahren, empfange ich ihn. Dieser Augenblick seiner Erkenntnis, als er den Raum betritt, ist unbezahlbar. Doch er missversteht die Lage ganz und reagiert ungehalten.

„Melville! Was machst du hier… du…“. Dann scheint er endlich zu begreifen.

„Was hast du nur getan?“

„Guten Tag, Mr Lancaster, bitte setzen Sie sich doch.”, meine Gesichtszüge spiegeln perfekt meine Abneigung ihm gegenüber wider, während meine Anrede formvollendet bleibt, ungeachtet seines angespannten Gesichtes.

„Ich werde mich nicht setzen! In meinem eigenen Büro, du Verräter! Was hast du dir nur gedacht? Hast du denn gar keine Ehre?“

„Aber, aber, Mr Lancaster, spricht man so mit seinem neuen Vorgesetzten? Ich wollte Ihnen nur erläutern, wie es weiter gehen wird ... mit Ihnen und Ihrer kleinen, unbedeutenden Firma.”, fast befürchte ich, er würde direkt einen Herzinfarkt bekommen. Sein Kopf ist puterrot und Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Doch er setzt sich hin und befiehlt mit scharfem Ton:

„Sprich!“

„Du hast mir nichts mehr zu befehlen, alter Mann! Deine Zeit ist abgelaufen!“, sage auch ich nun etwas lauter. Ich erhebe mich und blicke durch die Fensterscheiben Richtung Produktionsstätte, die sicher schon einige Wochen still liegt. Und mit einer ausladenden Geste sage ich:

„Ich werde das alles hier verscherbeln, abreißen und verkaufen. Ich hatte an einen netten Golfplatz gedacht. Sie nicht auch? Ich denke, ich werde dann das erste Mitglied sein.”, dann drehe ich mich wieder zu ihm um und spreche weiter mit einem Grinsen auf dem Gesicht.

„Doch zuerst werden Sie, Mr Henry William Lancaster, wie dem Gründungsvertrag zu entnehmen ist, mit Ihrem Privatvermögen für die Schulden haften, die noch auf dieser Firma ruhen. Dann werde ich Sie entlassen und ich wünsche Ihnen bereits jetzt alles Gute für Ihre weitere berufliche Entwicklung in den Warteschlangen der Obdachlosenfütterung." Ich setze mich wieder und genieße es fast schon, zu hören, wie seine Würde und seine selbstsichere Haltung zerbrechen.

„Das kannst du nicht tun, Melville ... du kannst doch nicht einfach ...”

„Und ob ich das kann, Mr Lancaster. Und glauben Sie mir, ich tue das mit Freude.”Und wirklich, dies ist der bis dahin schönste Augenblick meines Lebens.

Ich bin mir vollkommen bewusst, dass er zu stolz sein wird diese Niederlage zu akzeptieren. Er wird etwas Endgültiges tun, um der Schmach der Armut zu entgehen. Er kann gar nicht anders.

Er

Da spricht er mich das erste Mal an. Er steht plötzlich einfach neben mir. Lehnt an dem Baum und wirkt überhaupt nicht nass. Wo kommt dieser Mann nur so plötzlich her, ganz ohne dass ich ihn hören konnte?

„Das hast du gut gemacht, Melville.“

Er starrt mich an, ich blicke nur kurz in seine Richtung. Seine grauen Augen wirken auf mich so tief und endlos, dass es mir fast schon wehtut, sie länger anzusehen.

„Woher ...”, für mich ungewohnt muss ich mich konzentrieren und sammeln, damit ich die richtigen Worte finde.

„Woher kennen Sie meinen Namen, Sir?“ Ich weiß nicht warum ich ihn ‘Sir’ nenne. Nie wieder wollte ich jemanden so nennen. Mein Vater hatte immer sehr viel Wert darauf gelegt.

„Ganz ruhig, Melville, jetzt nicht die Fassung verlieren“, antwortet er mehr scherzhaft. Ich wende mich von meinem Elternhaus ab und drehe mich fast schon gebannt zu ihm. Ich kann es gar nicht beschreiben, wie einnehmend er wirkt. Dabei steht er wie ein ganz gewöhnlicher Mann vor mir. Ein vollkommen Fremder. Doch sein Lächeln wirkt zynisch, irgendwie einstudiert.

„Wir sollten uns beide unterhalten, Melville. Aber nicht hier.“ und er macht eine Kopfbewegung in Richtung des Hauses.

„Ich möchte, dass du morgen um einundzwanzig Uhr in mein Büro kommst. Und ich dulde keine Entschuldigungen.“ und er reicht mir eine Karte, auf der eine Adresse in der Londoner Innenstadt steht. Auch wenn seine Drohung scherzhaft klang, habe ich das Gefühl, dass er es durchaus ernst meint. Als ich meinen Kopf wieder hebe, ist er bereits einige Meter weit entfernt und geht um eine Häuserecke. Ich blicke irritiert hinter ihm her, als ich aus meinem Familienhaus einen Schuss höre.

Mein Vater hat sich umgebracht.

Und ohne der ganzen Szene einen weiteren Blick zu würdigen, mache ich mich auf den Weg. Ich muss zurück in meine Wohnung, nach London. Ich habe jemanden zu treffen.

Um fünf vor neun setzt mein Fahrer mich an der besagten Adresse ab. Ein großer, gläserner Bürokomplex. Kein Name auf der Karte und auch nicht auf dem Gebäude verrät, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Ich werde bereits von einem Mitarbeiter erwartet, jener händigt mir einen Besucherausweis aus und führt mich in das Gebäude hinein. Er stellt sich nicht vor und ist anscheinend auch nicht sehr auf Kommunikation aus.

Um in das gewünschte Stockwerk zu gelangen, muss der Mitarbeiter eine Magnetkarte im Aufzug verwenden, damit die Wahltaste aktivierbar ist. Mir wird etwas unbehaglich zumute. Schweigend fahren wir in den zwölften Stock hinauf. Als die Türen sich öffnen, erkenne ich eine große Vorhalle. Ein gewaltiger Schreibtisch, an dem sicher eine Art Sekretärin sitzen sollte, steht verlassen vor einem riesigen, abstrakten Gemälde. Unsere Schritte hallen laut auf dem Marmorboden wider. Mit einer weiteren Sicherheitsprüfung öffnet er mir die einzige Tür, hinein in einen holzgetäfelten Gang, welcher geradewegs auf eine weitere große Doppeltür zuführt. Vor dieser Tür bleibt er schließlich stehen und sagt:

„Mr Cansworth wird gleich bei Ihnen sein, Mr Lancaster. Nehmen Sie doch schon einmal Platz.”

„Vielen Dank.”, antworte ich. Er schwingt die beiden Flügeltüren auf und lässt mich hindurch treten. Kaum bin ich in diesem Saal von einem Büro, schließt er die Türen auch bereits wieder hinter mir.

Alles in diesem Raum wirkt antik und edel. Vom großen Mahagoni-Schreibtisch über den dunklen Marmorboden bis hin zu den Spirituosen an der kleinen Bar. Meterweise Bücherregale füllen die Wände, keine Pflanzen verunstalten diesen ehrwürdigen Raum und man hat einen phantastischen Ausblick auf die nächtliche, erleuchtete Metropole. Ich kann ihn nicht sehen und während ich mich auf eines der Ledersofas im Gästebereich setze, überlege ich, mir einen kleinen Drink zu genehmigen.

„Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist.”Schnell drehe ich mich herum. War ich eben nicht noch allein im Raum? Sicher hat er einen zweiten Eingang zu seinem Büro. Er steht in der Nähe seines Schreibtisches und lächelt mir aufmunternd zu. Ich stehe schnell auf, um ihm zu zeigen, dass ich seine Anwesenheit respektiere.

„Dürfte ich erfahren, wer sie sind, Sir?“ Da ist es wieder, das ‘Sir’.

Gott, was ist nur mit mir los?

Er beginnt, mit langsamen und andächtigen Schritten, auf mich zu zugehen. Überhaupt wirkt er sehr ruhig, kaum eine ungewollte Bewegung stört sein Gebaren.

„Ich werde dein Leben verändern, Melville, ich zeige dir neue Möglichkeiten, deine Gabe für das Finanzielle und Zerstörerische effektvoller einzusetzen.“

Ich unterbreche ihn, da ich befürchte einer profanen Falle aufgesessen zu sein.

„Sind Sie ein Broker? Falls ja, ich habe kein Interesse an irgendwelchen zwielichtigen Absprachen, die mich..“, da deutet er mir mit dem Zeigefinger auf seinem Mund, dass ich still sein soll. Und ich folge seiner Anweisung umgehend.

„Ich biete dir ein Bündnis an, Melville. Mein Name ist Benedict Cansworth, ich leite die Kanzlei, der unter anderem dieses Gebäude gehört und ich werde dir ein Angebot machen, dass du nicht ausschlagen kannst. Ich werde dich in die Welt der Großen und Mächtigen bringen, eine Welt voll Ruhm und Ehre, voll Laster und Tugend. Gebrochene Regeln und geltende Ausnahmen.“

Ich sehe ihn fragend an, während er bereits fast neben mir steht.

„Sieh es doch ein, Melville, du hast nun alles erreicht, was du wolltest. Du hast deinen Vater besiegt, deine Familie gedemütigt und du besitzt bereits jetzt mehr Geld als du ausgeben kannst. Was soll deiner Meinung nach noch passieren? Ich sage es dir ... du wirst dich langweilen, du wirst spielen wollen. Wahrscheinlich wirst du irgendwann zu Drogen und Orgien abschweifen, ohne dabei die Kontrolle behalten zu können. Du wirst mehrere Frauen haben, von denen du dir aber nie die Vornamen merken kannst. Dein Alltag wird trist und grau, bis du eines Morgens entweder an deiner eigenen Kotze erstickt bist oder mit einem Herzinfarkt über einer Hure zusammenbrichst!“ Ich sehe in sprachlos an. Was redet er da nur, wer ist er?

„Setzen wir uns doch, Melville, das ist weniger anstrengend für dich.“ Ich setze mich, ganz wie er es angemerkt hat. Er gesellt sich neben mich und wieder habe ich das Gefühl, dass seine Augen gefährlich für mich werden könnten. Dennoch bin ich nicht in der Lage, meinen Blick von ihm abzuwenden.

„Ich bin sehr mächtig, Melville, ich weiß und kann Dinge, von denen du nicht einmal träumst. Du hast dein Talent zwar bewiesen, doch unter meiner Führung und mit Hilfe meines Clans, kannst du Wege beschreiten, die deiner würdiger sind.“ Seines Clans?

Er nimmt meine Hand. Seine Finger sind eiskalt, aber man merkt, dass er sicher nie körperlich gearbeitet hat.

„Ist dir schon aufgefallen, dass an mir etwas anders ist?“, fragt Mr Cansworth mich. Er scheint Mitte vierzig zu sein, leicht graue Schläfen und erste Ansätze von Fältchen zieren sein Gesicht. Ich sehe ihn noch genauer an. Seine Haut ist bleich, doch seine Präsenz so voller Anmut, dass es wirklich etwas unnatürlich wirkt, wenn man denn genauer darüber nachdenkt.

„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Er lacht.

Kurz sitzen wir stillschweigend nebeneinander. Meine Hand hat er wieder losgelassen. Ich fühle mich eigenartig geborgen bei ihm. Als wäre ich endlich daheim.

„Wirst du einwilligen, Melville?“

„Ich weiß es nicht so recht ... was genau muss ich denn tun?”, frage ich zögerlich und senke meinen Blick, da ich seinem nicht mehr länger standhalten kann.

„Du arbeitest für uns. Du vertrittst unsere Interessen, auch mit deiner Firma. Du wirst für unser Wohl die Geschicke am Finanzmarkt mitlenken. Nichts weiter. Dafür gebe ich dir von meiner Macht, meinem Wissen und schenke dir ein neues Leben. Dein altes Leben wäre dann vorbei. Du wärst ein Mitglied deiner neuen Familie.“ Ich nicke, ganz als könnte ich wirklich verstehen, was er sagt.

Eine neue Familie.

„Und wenn ich das nicht möchte?“, ich sehe ihm wieder in seine kalten Augen, im Schein der diffusen Lichter des Raumes, werden sie immer hypnotisierender.

„Dann werde ich deine Erinnerungen ausradieren und falls du Pech hast, erlebst du den nächsten Morgen nicht mehr.“ Er grinst kurz, doch verschwindet diese emotionale Regung wieder schnell von seinem Gesicht.

Innerlich ringe ich mit den Worten. Ich habe Angst, nein, ich habe Ehrfurcht vor ihm. Obwohl mir sein letzter Satz sicher einen Schauer über den Rücken hätte jagen sollen, beginne ich innerlich bereits, ihm Recht zu geben. Ich habe kein Ziel mehr vor Augen. Wenn ich sein Büro jetzt verlassen würde, wäre ich in einem leeren, sinnlosen Nichts gefangen. Und davor habe ich im Grunde am meisten Panik. Sinnlos zu sein.

„Ja, ich ... ich willige ein“, antworte ich etwas tonlos.

„So ist es gut, Melville. Willkommen“, sagt er und legt eine Hand in meinen Nacken und beugt meinen Kopf leicht nach hinten. Ich lasse es geschehen, einfach nur, weil ich es unhöflich finde, ihn in seiner Handlung zu unterbrechen. Ich bin plötzlich wie gelähmt. Er hält sich kurz sein Handgelenk an den Mund und legt es mir dann an die Lippen. Lauwarm fließt es über meine Zunge. Es schmeckt eisern, brennt sich in mein Fleisch und dringt in meine Poren.

Sein Blut? Sein Blut!

Es ist der Himmel auf Erden. Ich habe nicht die Zeit, um Entsetzen oder Ekel zu empfinden, die sofortige Hingabe an sein Blut lässt keine Zweifel zu. Ich lege meine Lippen um die Wunde und sauge etwas an der Stelle. Es rauscht laut in meinen Ohren, meine Innereien schreien auf. Mein Verstand rast und mein Herz setzt teilweise unbeholfen aus. Mehrere Schlucke dieses flüssigen Glücks gewährt er mir. Ich bin vollkommen überwältigt von den Gefühlen, dass sein mir geschenktes Gut in mir auslöst. Als er die Hand wegnehmen will, halte ich ihn mit meinem Griff fest. Ich kann nicht anders. Ich habe es gekostet und nun bin ich davon besessen. Ich bekomme einige Tropfen mehr, dann reißt er seinen Arm weg.

„Genug!“

Ich halte die Augen leicht geschlossen und sinke tief in die Couch. Der Geschmack hallt blechern nach. Mein Atem geht flach, meine Beine werden taub.

„Genieße es“, sagt er und steht auf. Ich bin nicht in der Lage, ihm zu folgen. Wie ein Fieber übermannt es mich. Ich spüre förmlich wie Zelle um Zelle in meinem Körper von seinem Blut durchtränkt wird. Es tut herrlich weh, es beherrscht mich und vor allem ist es sehr erregend. Ich stöhne auf. Dann öffne ich die Augen. Ich sehe alles gestochen scharf, als hätte ich mein ganzes Leben zuvor keine Brille aufgehabt. Ich erkenne jedes Detail im Raum. Mein Körper rebelliert, doch ich spüre die Macht in mir aufkeimen. Ich fühle mich plötzlich voller Energie, voller Tatendrang. Ich springe auf, ich muss einfach, drehe mich und sehe wie er am Schreibtisch sitzt und Dokumente durchsieht.

Da rauscht es plötzlich in meinen Innereien. Wie ein Schlag in den Magen bleibt mir die Luft weg, ich sinke kniend auf die Couch. Nur ein leises Seufzen entfährt meinem Leib.

„Das kann beim ersten Mal schon passieren. Du gewöhnst dich daran“, ruft er durch den Raum. Ich würge, noch bekomme ich keine Luft und halte mich an der Rückenlehne fest. Meine Muskeln spannen sich an, doch mein Brustkorb will sich einfach nicht heben. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt sterben muss. Mein Körper wehrt sich gegen sein Blut. Ich röchele und sinke auf der Sitzfläche zusammen, die Hände um den Hals gelegt. Vielleicht hat er mich ja auch nur vergiftet? Dann reiße ich den Kopf nach hinten, nehme alle Willenskraft zusammen und atme tief durch. Wie lauter kleine Nadelstiche öffnet sich meine Lunge für die Welt, fast widerwillig. Es riecht nach allem und nach nichts. Es sind viel zu viele Eindrücke, um sie alle auf einmal zu verarbeiten. Ich rieche das Holz und das Leder, sein Parfum, mein Duschgel und ja, das Blut kann ich auch noch riechen. Ich begreife nur langsam, was passiert ist. Ich beruhige mich wieder etwas. Ich versuche, weiter zu atmen. Ich fühle mich, als könnte ich mir selbst dabei zu sehen, wie das Schicksal gerade launisch darüber entschied, ob ich leben oder sterben sollte. Ich sehe ihn wieder an, er lächelt. Und ich spüre förmlich, wie sich der erste Eindruck nach dem Genuss seines Blutes verändert. Fühle die Verbundenheit und die aufrichtige Treue, die ich ihm entgegenbringen möchte. Ich gehöre ihm, Benedict.

„Höre mir gut zu und lerne, Melville, dieses Wissen wird sehr wichtig für dich sein." Ich bin in Benedicts Haus gezogen, natürlich habe ich, auch schon rein aus praktischen Gründen, noch meine eigene Wohnung, aber ich sehne mich in die Nähe meines Mentors. Der mich immer wieder von seinem Blut, meinem Glück, kosten lässt.

Wir sitzen am großen Konferenztisch in seinem Arbeitszimmer und wieder lehrt er mich die Fakten, die seine Welt ausmachen.

„Du bist jetzt ein Teil der Camarilla, eine ehrbare und hoch schützenswerte Institution, die von jetzt ab das Wichtigste in deinem Leben sein sollte. In ihr vereint sind die besten und reinsten Clans, unter denen sich die Kainiten aufteilen.”

„Kainiten?“, frage ich nach. Er hat mir gesagt, dass ich alles erfragen soll, was ich nicht kenne und ich nutze dieses Recht reichlich.

„Ein Synonym für Vampire, Untote, abgeleitet von der überholten Annahme, wir würden von Kain abstammen, dem Brudermörder aus dem Alten Testament. Jedenfalls ist die Camarilla in sieben Clans unterteilt. Als Erstes sind die Ventrue zu nennen, der höchste Clan von allen. Und das sage ich nicht nur, weil ich einer von ihnen bin. Wir herrschen mit Würde und Achtung, unsere Aufgabe ist es, mit der Verantwortung belastet zu werden und gleichzeitig die Statuten der Camarilla aufrecht zu erhalten. Wir kontrollieren die Medien und sorgen dafür, dass die Menschen nicht zu aufmerksam werden. Ventrue, der Clan der Könige. Unser Symbol ist das Zepter der Könige, genauso wie Macht, Reichtum und Einfluss.”Er lässt eine bedeutungsschwangere Pause auf mich einwirken, bevor er mit der Erläuterung fortfährt.

„Toreador, der Clan der Rose, meist für die künstlerische und kreative Ausprägung innerhalb der Domäne zuständig. Ach ja, die Camarillagruppierung einer Stadt nennt man Domäne. Du bist jetzt ein Teil der Domäne London, Melville“, er lächelt mir zu und ich fühle wie mir vor leichter Entzückung das Blut in den Kopf schießt. Nur fast wie nebenbei erkenne ich, dass seine Nasenflügel sich leicht bewegen.

„Auch Toreador geführte Domänen sind üblich, auch wenn doch eher die Ventrue die politische Herrschaft haben sollten. So wie es hier auch der Fall ist. Die Toreador sind doch eher etwas zu verspielt und freizügig in einigen Entscheidungen, so dass es schnell mal ein Durcheinander geben kann. Der Clan der Rose, also ist auch die Rose ihr Erkennungszeichen.“ Und mit einem leichten Zwinkern deutet er mir an, wie emotional fehlgeleitet er dieses Symbol findet. Ich hänge an seinen Lippen und sauge alle Daten in mich auf. Eine neue Welt, die sich mir eröffnet, hoffentlich darf auch ich einer von ihnen werden.

„Die Brujah, Clan der Gelehrten. Aber lass dich durch die Bezeichnung nicht in die Irre führen. Heutzutage findet man unter ihnen mehr Raufbolde und revoltierende Draufgänger, als wirkliche Gelehrte. Es gibt noch einige unter ihnen, die den alten Werten frönen, aber sinnvoller ist es von ihnen als schlagfertige Gruppierung zu sprechen. Und reize sie nicht, falls du ihnen mal begegnest, sie können schnell sehr aufbrausend sein und ihre eigentliche Erziehung und den Anstand vergessen. Ihr Symbol ist das umgedrehte Anarchisten Zeichen, daran erkennst du, wie sie heutzutage eher einzuschätzen sind. Dann kommen die Gangrel. Sie sind sehr mit der Natur verbunden und leider merkt man es ihnen auch oft an. Der gepflegte zivilisierte Umgang ist ihnen meist fremd. Einige von ihnen haben mich schon beschimpft, einfach nur dafür, dass ich Anzüge trage und mein Leben nicht in Hütten im Wald verbringe. Jedenfalls tragen sie die passende Bezeichnung ‘Clan des Tieres’. Ich glaube eine Art Wolfskopf ist ihr eigenes Symbol. Das Gegenstück zu den Toreador bilden die Nosferatu“, er bemerkt mein Lächeln, als er den Namen dieses Clans ausspricht.

„Ja, Nosferatu, ‚Clan der Verdammten‘. Sie sind hässlich, stinkend und abstoßend, doch zum Glück besitzen sie die Fähigkeit, sich optisch zu verwandeln. Und trotz ihres Äußeren sind sie mit die Wichtigsten, um den Ventrue das Herrschen zu ermöglichen. Sie kontrollieren die Datenwege und Informationskanäle und gegen ein gewisses Entgelt erhältst du fast jede Information von ihnen, auch wenn sie sie erst besorgen müssten. Eine weinende Maske ist ihr Markenzeichen. Also, achte auf eine gute Verbindung zu ihnen, du könntest es schnell bereuen. Was die Nosferatu mit ihrem Netzwerk sind, sind die Malkavianer mit ihrem wirren Geist. Nicht wenige von den ‚Kindern des Mondes‘ wurden direkt aus Psychiatrien rekrutiert und benehmen sich auch leider oft so. Es geht sogar so weit, dass sie gemeingefährlich werden können. Behalte sie im Auge, denn sie selbst schaffen es für sich alleine kaum. Und versuche ihnen alle Waffen fernzuhalten ... nur zur Sicherheit. Ein zerbrochener Spiegel steht als Symbol für sie.“

„Werde ich denn selbst mit den Clans zu tun haben, Benedict?“, frage ich neugierig.

„Nicht gleich, aber später vielleicht. Erst einmal musst du deine Ghulphase erfolgreich hinter dich bringen und beweisen, dass du eines Ventrue würdig bist. Doch daran habe ich eigentlich keine Zweifel, ich wähle meine Kinder mit Sorgfalt aus. Du bist jetzt weder Mensch noch Vampir, kannst aber durch mein Blut nicht mehr altern und deine Wunden werden schneller heilen. Aber wenn ich dir mein Blut verwehre, wirst du mit der Zeit wieder ein normaler Mensch werden. Doch das habe ich nicht vor“, ich nicke stolz und lasse ihn weiter berichten.

„Und als letztgenannter Clan wären da die Tremer. Sie sind geübt im Umgang mit Magie und Ritualen. Ich bin mir nicht sicher, wie und was genau sie anstellen, aber ohne sie wären wir um viele Sicherheitsaspekte ärmer und viele Dinge müssten bedeutend mühseliger bewerkstelligt werden. Versuche, die Tremer möglichst zu meiden, sie sind aus einer anderen Welt. Ihr Zeichen setzt sich aus geometrischen Formen zusammen, vielleicht soll das zeigen, dass sie auch den Naturwissenschaften nahe stehen. Nun wiederhole alle Clans, die ich dir genannt habe, Melville“, er sieht mich mit erwartungsvollem Blick an. Ich räuspere mich und fange an.

„Die Ventrue, Clan der Könige, Toreador, Brujah, Tremer, Nosferatu..“, ich komme ins Grübeln und ganz verbissen versuche ich, mich an die Namen zu erinnern.

"...Gangrel und Machiavelli.”

„Nein, Melville, sie heißen Malkavianer, aber ansonsten richtig.“ und ein amüsiertes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ich schäme mich für meinen Fehler und präge mir sofort eingehend den Namen ‘Malkavianer’ ein.

„Wie werden wir politisch regiert? Monarchie? Demokratie..“, frage ich nach einer kurzen Pause, in der er ein Schluck aus dem Glas vor sich nimmt. Blut. Und immer wieder sticht mir dabei die rote Farbe warnend in das Auge.

„Man könnte es als demokratisch gewählte Diktatur bezeichnen, mit monarchistischen Zügen.“ und er lacht laut auf, als er mein verwirrtes Gesicht sieht.

„Es gibt einen Prinzen oder, wie in unserem Fall, eine Prinzregentin. Er oder sie wird vom Ältesten Rat der Domäne ernannt. Dieser wiederum rekrutiert sich aus den ältesten und erfahrensten Mitgliedern einer Domäne. Das Wort des Prinzen gilt wie das Gesetz für die Menschen. Doch muss er auf die Sorgen und Nöte der ihn beratenden Primogene eingehen. Jeder Clan stellt einen Primogen, der vom Clan selbst gewählt wurde. Der Prinz ist die Judikative, sein Sheriff die Exekutive und die Regeln und Statuten der Camarilla die allseits über alles liegende Legislative. Natürlich gibt es als Kontrollorgan über dem Prinzen noch weitere Stände, aber das hat dich jetzt nicht zu interessieren und außerdem sind diese Stände nicht mehr regional in den Domänen anzutreffen.”

„Ich verstehe langsam, wie sich das Gefüge zusammensetzt.“

„Ja, ich gebe zu, es ist etwas verworren, aber wenn man sich erst einmal darin zurechtgefunden hat, bekommt man sehr schnell ein Gefühl für die Feinheiten.”Wieder nimmt er einen größeren Schluck. Er verhält sich wirklich sehr zivilisiert dabei. Hätte man mich früher gefragt, wäre das meine letzte Bezeichnung für vampirisches Verhalten gewesen.

„Ich sollte dir auch noch die Stände erklären, damit du weiß, wer über dir steht und wer nicht. Doch im Moment ist es einfach, so gut wie jeder steht im Rang über dir.”Er lächelt mich an und es amüsiert ihn wohl, dass ich mich mit diesem Gedanken erst noch anfreunden muss.

„Obwohl, eine Stufe hast du bereits geschafft. Du bist von mir auserkoren, weiter in die kainitische Gesellschaft hineinwachsen zu dürfen. Andere Ghule sind teilweise nur dafür geschaffen worden, um niedere Haus- oder Clanarbeit zu leisten. Wenn du von mir gezeugt, also zum Vampir gemacht wurdest, nennt sich dein Stand ‘Küken’.”Ich lache, etwas überrascht von diesem albernen Namen.

„Küken?”

„Ja, dieser abfällige Begriff soll zeigen, dass du selbst dann noch nicht viel wert bist. Ohne meine Vormundschaft wärst du nichts und jeder andere hätte das Recht, dich ohne Anklage oder Verhandlung zu vernichten.“ Ich sehe ihn erschrocken an. Ich habe nicht angenommen, dass das Leben als Untoter doch dermaßen bedroht ist.

„Keine Bange, Melville. Ich bin ja dann bei dir, um für dich zu sprechen. Und niemand wird es wagen dich einfach zu vernichten. Sonst müsste er sich mit mir auseinandersetzen. Und glaube mir, ich bin nicht für meine Nettigkeit gegenüber Fehlverhalten bekannt.“ Er leert sein Glas nun komplett und nur ganz kurz erkenne ich seine leicht hervorstehenden Eckzähne und wie er sich über die Schneidezähne leckt. Doch dieses tierische Gebaren wird sofort von seiner überaus korrekten und genauen Art wieder überlagert. Ich bewundere ihn für seine Willenskraft. Doch mir drängt sich dabei auch eine Frage auf.

„Warum trinkst du nicht von mir, Benedict?”, er schüttelt kurz lachend den Kopf.

„Das ist ein sehr nettes Angebot, Melville. Doch noch bin ich nicht so weit. Und glaube mir, dass mir diese Option überhaupt freisteht, ist auch nicht selbstverständlich. Wir Ventrue unterliegen, so wie jeder andere Clan auch, einer ganz spezifischen Schwäche.“ Er räuspert sich leicht. Eine Schwäche des Clans der Könige zuzugeben fällt ihm bestimmt nicht leicht.

„Unsere mögliche Beute ist sehr eingeschränkt. Wir können nicht einfach trinken, von wem wir wollen. Tierblut ist uns gänzlich verwehrt und selbst wenn wir von Menschen trinken, die aber nicht unserem Schema entsprechen, können wir es nicht bei uns behalten.”

„Das ist ja furchtbar.”Ich sehe ihn mit etwas Mitleid in den Augen an, blicke dann aber auch auf sein Glas und mir wird bewusst, dass der Spender wohl sehr genau für Benedict ausgewählt worden ist.

„Es gibt Schlimmeres, Melville. Und zum Glück sind es ja keine Einschränkungen, die uns massiv im Wege stehen. Jedenfalls nicht die mir bekannten Phänotypen. Obwohl bei einigen auch das Verhalten mitentscheidend ist. Aber grundsätzlich ist es eher unhöflich, einen Ventrue nach seinem Beuteschema zu fragen. Jeder lebt und arrangiert sich mit seiner Spezifikation.”Er lächelt mir verschmitzt zu. Es macht den Eindruck, als ob es ihm Spaß macht, mir all diese Fakten zu erörtern.

„Aber von mir könntest du ...?”, frage ich. Denn nach seiner eben erfolgten Belehrung, sollte ich ja nicht direkt fragen, welche Eigenschaften für ihn entscheidend sind.

„Ja, von dir könnte ich.“ Dabei drängt sich mir gleich die nächste Frage auf.

„Wenn man sein späteres Küken nicht trinken kann, wie macht man dann einen Vampir aus ihm? Ich meine, sicherlich muss doch auch ...”, er unterbricht mich sanft.

„Es ist nötig, dass zur erfolgreichen Zeugung sämtliches altes Blut des Gezeugten entfernt wird. Ist der Erzeuger selbst dazu nicht in der Lage, muss es gegebenenfalls jemand anderes übernehmen und sollte sich niemand mit passendem Schema finden, muss das baldige Küken ausbluten. Obwohl es fast eine Schande ist, es so zu tun.“ Er schnalzt kurz mit der Zunge. Die Vorstellung einer Zeugung dieser Art, lässt mich kurz erschauern. Es ist wie das Schächten von Tieren, dass langsame Sterben durch Aufschlitzen und Ausbluten. Grauenhaft.

„Aber lass mich dir weiter unsere innere Hierarchie erklären.”Ich setze mich wieder etwas aufrechter hin und höre seinen Worten zu.

„Nach der Kükenphase wird man als Neonatus bezeichnet, als Neugeborener. Dies ist die Grundform des kainitisch gesellschaftlichen Zustandes. Die Neonati bilden die größte Gruppe der Domäne. Sie haben das Recht auf Selbstbestimmung und Gerichtsbarkeit im Elysium. Das Elysium ist vergleichbar mit dem britischen Parlament. Neonati werden bei Bedarf von Primogenen angehört und können eigenen Berufen nachgehen. Alles Rechte, die Küken nicht haben. Nach den Neonati folgen die Ancillae. Sie haben sich durch besonderes Verhalten oder durch wichtige Errungenschaften diesen Titel verdient und haben das Recht Neonati zu befehligen. Im normalen Umfang jedenfalls. Als einen Ahn bezeichnet man besonders ehrwürdige und auch alte Vampire in der Domäne. Diese Bezeichnung hängt nicht zwangsläufig mit dem Titel des Ancilla zusammen, aber selten ist ein Ahn nur Neugeborener. Hast du das alles verstanden, Melville?“ Ich versuche, ihm wirklich aufmerksam zuzuhören, doch die ganzen neuen Begriffe machen es mir schwer zu folgen.

„Ich gehe davon aus, dass du Ancillae bist, oder Benedict?”

„Ancillae ist der Plural, Melville. Aber ja, ich bin Ancilla und auch sehr stolz darauf.“ Die Begriffe fangen an sich langsam in meinem Kopf zu vermischen und ich muss mir kurz die Augen reiben, um meine Aufnahmefähigkeit möglichst aufrechterhalten zu können.

„Kannst du dich noch konzentrieren, Melville?“, fragt er sanft.

„Oder sollen wir es fürs Erste dabei belassen?”

„Ich denke, ich habe alles verstanden, doch muss ich die ganzen Namen und Fakten erst einmal in meinem Kopf sortieren. Ich hoffe du verzeihst mir, aber ich denke, ich sollte wohl lieber eine Unterbrechung einlegen.”

„Natürlich verzeihe ich dir. Ein Wunder, dass du nicht schon früher um eine Pause gebeten hast.”Sein Lächeln ist so warm und seine Nähe so herrlich, dass ich mich beherrschen muss, nicht seine Hand zu ergreifen.

„Du hast ja schließlich auch noch einiges zu tun. Wie laufen denn die Geschäfte?“

„Sehr gut, Benedict. Ich habe das mir zugeteilte Vermögen gewinnbringend reinvestiert und werde demnächst weiter in Technologie- und Rohstoff- Fonds investieren. Von Hedgefonds lasse ich lieber die Finger, ich denke, dass in naher Zukunft eine Rezession über Europa und vielleicht auch den gesamten globalen Markt hereinbrechen wird. Also meide ich allzu spekulative Geldflüsse lieber.”

„Wie groß ist der Gewinn bisher?“

„Ich denke, er bewegt sich in einem Rahmen zwischen fünf und sechs Millionen Pfund.”

Benedict nickt anerkennend und sagt:

„Das ist doch eine ansehnliche Summe. Ich denke, du bereitest dir jetzt schon einen guten Ruf. Ich bin stolz auf dich, Melville.”Und es bricht mir fast das Herz, weil ich weiß, dass mein Vater nie etwas Derartiges zu mir gesagt hat und erst ein untoter Rechtsanwalt, der mich von seinem Blut trinken und an seinem Wissen und seiner Macht teilhaben lässt, mich in meiner Person bestätigt. Doch ich respektiere und schätze Benedicts Wort bereits jetzt mehr, als ich es jemals bei meinem Vater getan habe.

Doch es gibt auch noch die anderen Momente, Momente in denen ich froh bin, dass Benedict mich nicht sehen kann und nicht Zeuge meiner Taten und Gedanken ist.

Das pulsierende, berauschende Blut Benedicts und auch meine teilweise neue Freizeit, lassen meine Gedanken schweifen und meine Sehnsüchte nach gewissen sexuellen Taten und Erlebnissen ausufern. Anfangs ist es nur die Erinnerung an die hübschen Jungen und Mädchen meiner College- und Studienzeit, die mich in Tagträumereien verfallen lassen. Doch schnell reichen meine Vorstellungen weiter. Und bald schon bin ich nicht mehr gewillt, es mir andauernd nur vorzustellen. Dieser kainitisch angefeuerte Menschenkörper sehnt sich nach Erfüllung seiner Wünsche. Aber ich habe keinerlei Interesse, mich an eine Frau zu binden. Eine ‘Freundin’ erscheint mir vollkommen sinnlos. Will ich doch nicht mehr, als für ein paar Stunden ihr Eroberer zu sein, ohne das ganze Drumherum. Also fahre ich in die Rotlichtviertel und kaufe mir die Frauen, die mir augenscheinlich gefallen.

Mein sogenanntes ‚Erstes Mal‘ ist also ein Erlebnis mit ausgeprägter Kälte und penibler Planung. Ich bestimme genau, was sie zu tun hat und was nicht. Ertrage zärtliche Spielereien nicht, will ihre Hände nicht auf meinem Körper spüren, nur das Abreagieren des hemmungslosen Triebes in mir, genährt von ihrem Stöhnen, ihrem sich rhythmisch bewegenden Leib. Ich bin bereits neunundzwanzig Jahre alt, als ich diese Errungenschaft in meinem Leben endlich abhaken kann.

Meine neue Familie

Es gibt immer wieder gesellschaftliche Abende, an denen Benedict mich dem Clan der Ventrue näher bringt. Ich lerne Geschäftspartner von ihm kennen und vor allem auch andere Ghule. Doch jeder für sich ist seinem Meister oder seiner Meisterin so ergeben, dass er kaum Gedanken für andere Dinge findet. Zu meinem Vorteil besitzt Benedict aber getrennte Ghule für den Service und erst das zweite Mal einen Ghul wie mich; ein geplantes baldiges Kind des Clans der Könige.