»Mich wundert, dass ich so fröhlich bin« Johannes Mario Simmel – die Biografie - Claudia Graf-Grossmann - E-Book

»Mich wundert, dass ich so fröhlich bin« Johannes Mario Simmel – die Biografie E-Book

Claudia Graf-Grossmann

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die erste Biografie über den Bestsellerautor Johannes Mario Simmel In dieser Biografie, die anlässlich Simmels 100. Geburtstag am 7. April 2024 erscheint,  blicken wir dem Reporter und Schriftsteller bei seiner Arbeit über die Schulter, sehen das Nachkriegs-Deutschland und den Kalten Krieg mit seinen Augen und atmen den warmen Pinienduft an der Côte d'Azur. Der leidenschaftliche Pazifist Simmel wollte aufrütteln, aufklären, warnen – und verführen. Liebe, Leidenschaft, Verrat, Versöhnung, Hoffnung, Angst und Mut prägen Leben und Werk dieses engagierten Menschen. Johannes Mario Simmel war einer der populärsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Romane wurden allesamt zu Bestsellern und verkauften sich millionenfach. Er verstand es meisterhaft, seine Leserinnen und Leser in Bann zu ziehen. Auch sein Leben war großes Kino: Eine unbeschwerte Kindheit in Wien endete abrupt, als die Nationalsozialisten in Österreich einmarschierten. Als Sohn eines Juden musste er ständig um sein Leben und dasjenige seiner Familie bangen.  Claudia Graf-Grossmann lässt Erben, Verwandte und Weggefährten zu Wort kommen. Sie hat mit prominenten Freunden und Freundinnen von Johannes Mario Simmel gesprochen, darunter Iris Berben und Elke Heidenreich. Graf-Grossmann hat aufwändig in zahlreichen Archiven recherchiert.  Mit zahlreichen farbigen Abbildungen, darunter ein Großteil bisher unveröffentlichter Privat-Aufnahmen. »Was prägt einen Menschen, was macht ihn unverwechselbar? Claudia Graf-Grossmann zeichnet das Porträt meines Freundes Mario wunderbar einfühlsam und packend – er würde sich freuen!« Iris Berben »Er verstand sich als Geschichtenerzähler. Man kann sein Werk auch als eine politische Skandalgeschichte der versunkenen Bundesrepublik lesen. Die DDR hatte die Bücher des bekennenden Sozialisten verboten.« Hannes Hintermeier, FAZ »Ich fieberte den Simmel Romanen entgegen. Was er drauf hatte, konnte mir kein Lehrer am Gymnasium beibringen. Ich mochte diesen Röntgenblick auf die Gesellschaft und seine Art, mich in eine Geschichte zu ziehen. Ja, ich verdanke ihm viel …« Klaus-Peter Wolf

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 420

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Claudia Graf-Grossmann

»Mich wundert, dass ich so fröhlich bin«

Johannes Mario Simmel – die Biografie

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Mit über 73 Millionen verkauften Büchern zählt Johannes Mario Simmel (1924-2009) zu den populärsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Er verstand es meisterhaft, seine Leserinnen und Leser in Bann zu ziehen. Auch sein Leben war großes Kino: Eine unbeschwerte Kindheit in Wien endete abrupt, als die Nationalsozialisten 1938 in Österreich einmarschierten. Als Sohn eines Juden musste er ständig um sein Leben und das seiner Familie bangen. Die Biografin hat Verwandte, Weggefährten und prominente Freunde und Freundinnen des Autors befragt, in Archiven recherchiert und Zeithistoriker konsultiert. So wird nicht nur das umfangreiche Werk des Schriftstellers und Drehbuchautors lebendig, sondern auch das Nachkriegsdeutschland im Kalten Krieg. Der leidenschaftliche Pazifist Simmel wollte aufrütteln, aufklären, warnen – und verführen, mit guter Unterhaltung.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Vorwort

Prolog

Frühe Jahre

Nuss-Allee

Dünnes Eis

Anschluss, Angst, Akne

Hier spricht London

Der Hölle entronnen

Mich wundert, dass ich so fröhlich bin

Die Vier im Jeep

Das geheime Brot

Kaviar und kein Ende

Boxenstopp

Hausgott bei Droemer

Bildteil 1

Grenzen und Geschöpfe

Geteiltes Land

Ausbruch

Luft des Südens

Formen wie eine Rennjacht

Niemand ist eine Insel

Agenten, Weltbürger und Philosophen

Leidenschaften

Stormy Weather

Marc Chagall

Marlene

Herzensangelegenheiten

Die im Dunkeln

Anerkennung und Wehmut

Lulu

Clowns und Waldbrände

Große und kleine Leinwand

Iris Berben

Sex sells

Grüne Zuckerln

Bittersüße Aufenthalte in Wien

Bildteil 2

Ein Vermächtnis

Die letzte Brücke

Refugium

Dem Licht entgegen

Epilog

Nachwort von Lisa Wegenstein

Danksagung

Anhang

Werkverzeichnis Johannes Mario Simmel

Filmografie

Ausgewählte Sekundärliteratur zu Johannes Mario Simmel

Johannes Mario Simmel Playlist

Bildnachweis

Für Lisa Wegenstein sowie Hannes Angerer und ihre Familien

Man sagt, die eigentliche Biographie eines Schriftstellers seien seine Werke.

Stefan Heym1

Vorwort

Lieber Mario!

 

Als ich das letzte Mal zu dir sprach, war es klirrend kalt und schneite. Erinnerst du dich an den Januartag, an dem du an Lulus Seite zur Ruhe gebettet wurdest? Ich jedenfalls werde ihn nicht vergessen, auch nicht die dramatischen Umstände, unter denen ich nach Zug gereist war. In München hatte ein Schneesturm getobt, das Flugzeug konnte nicht starten; die Zeit verrann. Und ich verzweifelte fast.

In gewisser Weise passt es zu deinem Leben, dass auch am Tag deiner Beerdigung Glück und Leid nahe beieinanderlagen. Denn ich hatte es zwar geschafft, das wartende Flugzeug zu verlassen und eine andere Maschine nach Zürich zu besteigen. Ich stand vor der so kleinen Gruppe von Menschen, die sich von dir verabschieden wollten, doch dann wurde mir das Herz unglaublich schwer.

Und ein paar deiner Texte vorzutragen, die du ersonnen, erlebt, oft auch erlitten hattest, war der Versuch, deine Stimme weiterklingen zu lassen. Ich spürte so sehr, was mir ab jetzt fehlen würde.

Nie mehr würde das Telefon bei mir morgens um zwei Uhr klingeln, kein üppiger Rosenstrauß von dir würde mich in einem Hotelzimmer erwarten. Kein Brief mit einem liebevoll von Hand gezeichneten Blumenrand würde mehr seinen Weg zu mir finden. Und auch ich könnte dir nicht mehr mitteilen, was mich bewegt, freut oder ängstigt.

Dabei hätte ich dir doch noch so viel zu sagen. Dass du recht hast, zu zweifeln, aber nicht zu verzweifeln. Dass du viel und viele erreicht hast, aber es wohl nie reichen wird für einen Ungeduldigen wie dich.

Dass es Menschen gibt, die du liebst und verehrst, und diese Liebe und Verehrung sehr wohl auch an dich zurückgegeben wurden.

Es hätte dich glücklich gemacht, uns gemeinsam über eine Generation auszutauschen, die sich kraftvoll und überzeugend der Rettung unseres Planeten verschrieben hat. Die laut und fordernd für eine diverse Welt eintritt.

Wir hätten uns beide erschrocken, dass KI versucht, uns unser Handwerk zu stehlen … alles, was du längst in deinen Romanen und Essays benannt und angeprangert hast.

Ach, Mario, wie gerne hätte ich weiterhin mit dir über das Leben mit all seinen Fragezeichen, Widersprüchen und Herausforderungen geredet, gelacht, geschimpft und manchmal auch geweint …

Heute weine ich dir eine Träne nach.

Deine Iris

Prolog

Der heiße, trockene Wind streicht durch die Wipfel der Pinien im Park des Hotels »Cap-Eden-Roc«. Er raschelt in den Wedeln der Palmen und bläht die hellen Segel der Jachten, die vor der Halbinsel des Cap d’Antibes kreuzen.

Langsam fährt ein Sportwagen mit offenem Verdeck über den Weg zwischen dem Restaurant am Klippenrand und dem Parkausgang. Hier, im grün-goldenen Schatten der hohen Bäume, ist die Kraft des Windes gebremst; eine warme Brise trägt den würzigen Duft der Nadelbäume ins Auto.

Eine Frau sitzt am Steuer. Die linke Hand ruht lässig auf dem Steuerrad, die rechte auf dem Oberschenkel des Mannes auf dem Beifahrersitz. Dieser dreht die Lautstärke des Autoradios höher, denn der Moderator von Radio Monte-Carlo kündigt den neuesten Hit der Rolling Stones an. Die beiden Menschen wechseln lächelnd einen Blick, dann heben sie kurz die Hand, um den livrierten Hotelangestellten zu grüßen, der das Parktor bewacht. Das Cabriolet biegt nach links ab und folgt der schmalen Küstenstraße in Richtung Juan-les-Pins und Cannes. Es gleitet an Villen vorbei, die halb verborgen in üppigen mediterranen Gärten liegen. Bougainvilleen in Shocking Pink klammern sich an hell getünchte Mauern; sie haben denselben Farbton wie das Seidenfoulard, das sich die Fahrerin lose um den Kopf geschlungen hat. Von Zeit zu Zeit funkelt und schimmert das Meer durch eine Lücke zwischen Bäumen und Häusern. Im leichten Dunst zeichnen sich die Hügel des Estérel-Gebirges im Westen ab.

Wer sind diese Menschen, die eben ein Mittagessen in dem legendären Restaurant genossen haben, das wie das Deck eines Luxusschiffs scheinbar schwerelos über steilen Basaltfelsen schwebt? Was verbindet sie? Sind sie sich gerade erst nähergekommen in den Korbsesseln unter blendend weißen Sonnenschirmen und mit Blick auf das Mittelmeer, oder kennen sie sich schon länger? Was erwartet die beiden am Ende ihrer Autofahrt?

»Where will it lead us from here? They can’t say we never tried.«2

Ist diese Szene real, oder befinden wir uns in einem Film, einem Roman, oder gar in einer Erinnerung?

Die Antwort kennt nur der Wind.

Frühe Jahre

Nuss-Allee

Ein kleiner Junge steht am Fenster seines Zimmers und blickt in den Garten. Er kann sich kaum losreißen vom Anblick der rosa Blüten des Apfelbaums, vom Hellgrün der jungen Blätter und von den bunten Farbtupfen im Blumenbeet. Ein neuer Garten für ihn und seine kleine Schwester! Um besser übers Fensterbrett schauen zu können, schleppt er einen Stuhl zum Fenster und klettert hinauf.

»My garden!«

»Nein, mein Garten«, korrigiert er sich gleich. So haben es ihm die Eltern erklärt. Aufgrund der häufigen Reisen nach England und der englischen Kinderbücher, die sie ihm abends vor dem Einschlafen immer vorgelesen haben, ist das Englisch des Kleinen mit dem Blondschopf und den hellen Augen besser als sein Deutsch. Er heißt Jan, hat sich diesen Namen selbst ausgesucht. Er gefällt ihm besser als Johannes Mario. Seinen Vater nennt er nur Tommy.

Jan und seine Familie, die vier Jahre jüngere Schwester Eva und die Eltern Lisa und Tommy, der eigentlich Walter heißt, wohnen erst seit kurzer Zeit in dem geräumigen Gebäude in Neustift am Walde, im Haus Nummer 24 der gleichnamigen Straße. Es ist ein idyllischer Flecken Erde, ideal, um Kinder großzuziehen. Ein gutbürgerliches, gepflegtes Quartier, und doch nicht allzu teuer. Gerade richtig für eine Familie, deren Vermögen nach dem Börsencrash im Vorjahr empfindlich geschrumpft ist.

Jan hat das Fenster geöffnet und steht nun mit einem Fuß auf dem Brett, um den Apfelbaum vor ihm besser sehen zu können.

»Butzl, no, no! Komm sofort herunter vom Stuhl! Was sagt sonst die Mama? Gleich ich kriege mein Aufstoßen.«

Jan erschrickt, er hat Mila nicht kommen hören, obwohl die rundliche ältere Frau nicht eben leichtfüßig unterwegs ist. Schwer atmend steht sie nun hinter ihm, legt die Arme um seinen schmächtigen Körper und drückt ihn an sich. Das hat Jan nicht gewollt; auf keinen Fall will er sie ängstigen, die Gutmütige, Lustige, Sanfte. Die immer da ist für Jan und die kleine Eva, stets fröhlich und zuversichtlich. Doch wenn sie sich aufregt wie jetzt, schluckt sie schwer, als ob sie einen dicken Kloß im Hals hätte.

Mila Blehova hätte sich in diesem Moment nicht vorstellen können, dass sie und ihr breiter tschechischer Akzent viele Jahre später einem Millionenpublikum bekannt sein würden. Dass der kleine Jan sie in seinen Büchern unsterblich machen und ihr das Buch Affäre Nina B. in memoriam widmen wird:

»Sie hieß Mila Blehova, und sie stammte aus Prag. Sie hatte eine breite Entennase und ein prächtiges, falsches Gebiss und das gütigste Gesicht, das ich in meinem Leben gesehen habe. Wenn man sie erblickte, wusste man: Diese Frau hatte noch niemals eine Lüge ausgesprochen, diese Frau war unfähig, eine Gemeinheit zu begehen. Klein und gebückt, das weiße Haar straff nach hinten gekämmt, stand sie beim offenen Fenster der großen Küche und arbeitete, während sie sprach. ›So ein Unglück, so ein großes Unglück, Herr …‹ Ein paar Tränen rollten über die faltigen Wangen. Sie wischte sie mit dem Ellbogen des rechten Armes fort. ›Müssen entschuldigen, dass ich mich so gehen lasse, aber sie ist wie mein Kind, wie mein eigenes Kind ist sie, die Nina.‹«3

Mila liebt Jan, ihren Butzl, und die kleine Eva innig. Und auch der gnädigen Frau ist sie treu ergeben. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn sie damals, im Frühling 1930, gehört hätte, dass aus dem Knirps einmal einer der erfolgreichsten Autoren des deutschsprachigen Raums werden würde? Dass seine Bücher über 73 Millionen Mal verkauft und in 30 Sprachen gelesen werden würden? Dass man ihn in Südafrika, in einer Übersetzung in Afrikaans, genauso verschlingen würde wie in Portugal oder Japan? Vermutlich hätte sie gutmütig den Kopf geschüttelt und ungläubig gelacht. Denn seit sie vor drei Jahren den Dienst bei der Familie Simmel aufgenommen hat, ist das Geld knapp geworden. Bestsellerautor? Das muss ein Scherz sein.

Ja, früher, in Gaaden bei Mödling, dreißig Kilometer südwestlich von Wien, da war alles anders gewesen. Zwei »Madeln« hatten sich um die schwere Arbeit gekümmert, hatten Kohle geschleppt, die Wäsche gebügelt und die Böden gefegt. Nun übernehmen Mila und Lisa Simmel alles alleine. Sie kaufen ein, kochen für sich und die Pensionsgäste, erledigen den Haushalt, arbeiten im Garten, und Mila findet auch noch Zeit, um ihre berühmte Johannisbeermarmelade zuzubereiten. Seit Jahren plagen sie Schluckbeschwerden, die Folge einer Schilddrüsenüberfunktion, und wenn Mila schwer atmet, kriegt sie manchmal kaum Luft. Deshalb achtet die Familie darauf, sie nicht unnötig aufzuregen.

Ob sich der kleine Dialog am offenen Fenster so abgespielt hat, wissen wir nicht. Doch ist erwiesen, dass Butzl, der Junge am Fenster, sehr gerne hinausblickt und den Garten liebt. Er ist am 7. April 1924 als Johannes Mario Simmel im Rudolfinerhaus im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling zur Welt gekommen. Der Säugling wird hineingeboren in eine Zeit, in der sich Österreich unter Schwierigkeiten vom Ersten Weltkrieg erholt. Nur fünf Jahre zuvor ist die mächtige Donaumonarchie von den Siegermächten tief gedemütigt worden. Alles scheint verloren oder zumindest bedroht – der habsburgische Vielvölkerstaat, die Bedeutung Österreichs in Europa, das Staatsvermögen und der Frieden im Land. Der Börsencrash vom Oktober 1929 ist verheerend für die junge Demokratie. Auch Marios Eltern haben einen großen Teil ihres Vermögens eingebüßt und müssen nun den Gürtel viel enger schnallen. Deshalb haben sie dieses Haus in Neustift am Walde gemietet. Es bietet genügend Platz für die Familie und für zahlende Gäste.

Walter und Lisa, der Kaufmann und die Journalistin, sind ein modernes, liberales Paar. Sie reisen gerne, jedenfalls solange sie noch die Mittel dazu haben, leben in Österreich und in England, wo ihr Sohn Jan in London und Worcester in den West Midlands kurzzeitig die Grundschule besuchen wird. Wenn die Kinder sie nicht begleiten können, werden sie ohne viel Federlesen in einem Kinderheim untergebracht. Die Eltern sind in Konzerten, Kunstausstellungen, im Kino und Theater anzutreffen und lieben es, im eleganten Café »Imperial« des gleichnamigen Hotels zu verkehren. Die beiden jungen Menschen stammen aus Ostdeutschland: Walter Adolf wurde am 4. Januar 1890 in Schmiedeberg im schlesischen Riesengebirge geboren, das damals zu Preußen gehörte, heute in Polen liegt und Kowary heißt. Seine Eltern, der Rechtsanwalt Reinhold Simmel und seine Frau Rosa, sind konvertierte Juden. Auch ihr Sohn erhält mit zehn Jahren die evangelische Taufe. Johannes Mario Simmel vermutet später, dass die Konversion seines Großvaters vor allem berufliche Gründe hatte. Denn vor 1900 schränkte ein Numerus clausus die Zahl jüdischer Jurastudenten ein. Nach seinem Religionswechsel steht der Ausbildung zum Rechtsanwalt nichts mehr im Weg. Als Vertreter der deutschsprachigen Bevölkerung von Schmiedeberg, vielleicht mit hanseatischen Wurzeln, muss er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft gewesen sein. Doch er will seine Söhne zusätzlich schützen vor der immer wieder aufflackernden Willkür gegenüber Juden. Es wird ihm nicht gelingen, doch noch weiß die Familie nichts von dem Schicksal, das sie erwartet.

Von 1910 bis 1911 arbeitet Walter, der Vater des späteren Autors, als deutschsprachiger Sekretär für einen gewissen E.S. Prather in der High Street 177a in Kensington, London. Das sehr wohlwollende Zeugnis des Arbeitgebers wünscht dem jungen Mann Erfolg bei seiner Rückkehr nach Deutschland. Während des Ersten Weltkriegs leistet Walter Kriegsdienst als einfacher Soldat. Und nach Kriegsende? Johannes Mario Simmel wird den Beruf seines Vaters stets mit Holzchemiker umschreiben. Wir finden aber keine Belege für ein Studium der Chemie. Auch passt ein Studium schlecht in den uns bekannten Lebenslauf: Als der junge Mann das erwähnte Londoner Jahr bei E. S. Prather absolviert, ist er zwanzig Jahre alt. Hätte er tatsächlich Chemie studiert, wäre es wenig wahrscheinlich, dass er 1910 als Sekretär tätig war. Für ein Studium nach seiner Rückkehr nach Deutschland gibt es ebenfalls keine Belege, im Matrikelportal der 1919 gegründeten Universität Hamburg ist Walter Simmel nicht zu finden.4 Auf amtlichen Dokumenten nennt er stets Kaufmann als Beruf, und auch seine Frau Lisa bezeichnet ihn so, als sie viel später, während des Krieges, vor Gericht über ihn aussagt. Er sei als Prokurist bei der Forstindustrie AG in der Brucknerstraße 4 in Wien tätig gewesen, bevor er sich 1924 als Holzhändler selbstständig gemacht habe. Nach erfolgreichen Jahren sei ihr Mann verarmt, sei sogar wegen Veruntreuung angeklagt worden. Er habe sich seiner Strafe zunächst durch Flucht in die Schweiz entzogen, diese aber schließlich 1929 in Wien verbüßt. Allerdings müssen ihre Worte mit Vorsicht genossen werden, denn als Lisa ihren Mann verklagt, hat sie traurige Gründe dafür.

Unbestritten ist, dass Walter regelmäßig nach England reist und ausgezeichnet Englisch spricht. Für eine Tätigkeit im Rahmen der deutschen V1- und V2-Waffen-Produktion, wie sie in gewissen Quellen aufgeführt ist, finden sich keine Belege. Es wäre auch sehr unwahrscheinlich, dass ein deutscher, emigrierter Jude nach 1939 von den Nazis als Zwangsarbeiter in die unterirdische Produktion des KZ Mittelbau-Dora zurückgeholt worden wäre. Hingegen gibt es eine Fährte zu einem späteren Einsatz bei der englischen Radartechnologie, wie wir erfahren werden.

Eine weitere Hypothese ist, dass Simmel für Royal Dutch Shell gearbeitet hat. Der spätere Schriftsteller erzählt, dass sein Vater Walter ab 1919 häufig nach Wien reiste und dort ein Büro im späteren Shell-Haus am Schwarzenbergplatz 16 bezog. Dies scheint durchaus plausibel. In den Zwanzigerjahren werden motorisierte Fahrzeuge, Autos und Flugzeuge immer beliebter, sie benötigen Benzin und Diesel. Neue und verbesserte Bohrmethoden steigern die Produktion der Erdölindustrie. Walter könnte also für Royal Dutch Shell die Errichtung einer Niederlassung vorangetrieben haben. Dabei war das Unternehmen als Retter in der Not aufgetreten, als die Wien-Florisdorfer Mineralölfabrik nach dem Ersten Weltkrieg in eine schwere wirtschaftliche Krise geriet, weil die Rohstoffversorgung aus Galizien unterbrochen war. Royal Dutch Shell sicherte den Weiterbestand des Werkes durch die Lieferung von Rohöl aus Rumänien, wo sich der Ölmulti zuvor bereits eingekauft hatte. Dieser Handelsbeziehung folgten schließlich 1929 der vollständige Aufkauf und die Umbenennung jenes Betriebes in Aktiengesellschaft der Shell-Floridsdorfer Mineralölfabrik.5

Ob Walter nun für Shell oder als Holzhändler tätig war, gesichert ist, dass er einige Jahre in der Nähe des Schwarzenbergplatzes gearbeitet hat. Der Einfachheit halber wohnt er im nahe gelegenen, luxuriösen Hotel »Imperial« und mietet sich dort zeitweise sogar ein Jahresappartement.

Lisa Simmel, die Mutter des späteren Autors, ist als Elise Martha Schneider am 21. Juli 1893 in Wettin im Kreis Halle an der Saale geboren worden. Wie Walter ist auch sie evangelisch getauft. Im Gegensatz zu Walters Vorfahren scheinen Lisas Eltern schon seit Generationen dem evangelischen Glauben anzugehören, zumindest kann sie nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ihre arische Ahnentafel erbringen.

Wir wissen nicht, wo und wann sich die jungen Leute kennengelernt haben. Da Johannes Mario stets Hamburg als Herkunftsstadt seiner Eltern angeben wird, ist es plausibel, dass sie sich in der Hansestadt begegnen und ineinander verlieben. Ob am Alsterufer oder anderswo, Walter muss von der jungen Frau hingerissen gewesen sein: Ihr schmales, fein gezeichnetes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den leicht schräg stehenden Augen blickt interessiert und manchmal amüsiert in die Welt. Sie ist belesen, schreibt, malt und fotografiert. Man kann mit ihr über Kunst diskutieren, über fremde Länder und Kulturen, über Mode und Design. Sie liebt es, sich androgyn und unkonventionell zu kleiden, gerne auch mit Hosenanzug, Stehkragen und Krawatte. Ob sie sich dabei von Intellektuellen, Schriftstellerinnen und Filmstars wie Vita Sackville West, Virginia Woolf oder Marlene Dietrich inspirieren lässt? Um ihr Haus in Neustift am Walde als Pension zu kennzeichnen, wählt sie eine originelle Methode: Sie hängt am Gartenzaun eine weiße Tafel mit einem großen roten Punkt auf, wenn gerade ein Zimmer frei ist. Darauf schreibt sie, dass ein schönes Zimmer mit Vollpension zu vermieten sei. Passanten, so hofft sie, würden erst auf das Symbol und dann auf die Pension aufmerksam.6 Über den kommerziellen Wert dieser Aktion lässt sich streiten, doch ist die kleine Anekdote bezeichnend für die unkonventionelle, kunstsinnige Frau.

Lisa war Walter nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien gefolgt. Ihr Verlobter will sich in Österreich eine berufliche Zukunft aufbauen. Am 13. Mai 1920 wird in der Donaumetropole geheiratet. Das junge Paar mietet in der Kleinstadt Mödling eine Wohnung in der Villa einer Witwe, Luise von Janiczek, in der Jasomirgottstraße 4. Nach der Geburt von Johannes Mario zieht das Paar 1924 oder 1925 in eine größere Wohnung um, in ein Haus mit Garten an der Berggasse 3 in Gaaden bei Mödling.

Nicht nur Mila wird sich mit Nostalgie daran erinnern, auch der spätere Autor wird das Leben dort in bunten, schwärmerischen Farben schildern, auch wenn er damals noch ein Kleinkind ist und vieles nur aus den Erzählungen der Erwachsenen kennt. Er beschreibt einen großen Park, in dem ein Pony lebt und in dem Mila, die seit 1927 für die Familie tätig ist, Blumen pflanzt, gießt, hegt und pflegt, oft in Gesellschaft des kleinen Butzl. Das Kleinkind erlebt Einladungen seiner Eltern mit, an denen bekannte Schauspieler, Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Regisseure, Wirtschaftsleute, Politiker und »wunderschöne Damen« teilgenommen hätten, die »süß dufteten«. Im Sommer sitzen die Gäste in Korbsesseln auf der Terrasse oder auf der Wiese hinter dem Haus, halten Weingläser in der Hand, rauchen und sprechen über neue Bücher, Theaterstücke und Gemälde, über Politik, Wirtschaft und Medizin und über »hundert andere interessante Dinge«.

Vieles davon lässt sich nicht überprüfen, doch scheinen die ersten Lebensjahre des Jungen in dieser weltoffenen, kultivierten Umgebung unbeschwert und glücklich gewesen zu sein. Wie erwähnt, folgen nun die schwierigen Jahre, von denen Lisa knapp 20 Jahre später vor Gericht erzählen wird. Sie beginnen ungefähr mit der Geburt der kleinen Tochter Eva Susanne am 4. September 1928. Doch scheinen sich die Verhältnisse anschließend wieder zu stabilisieren, denn Lisa und Walter ziehen 1930 mit ihren beiden kleinen Kindern in das stattliche Haus in Neustift am Walde, rund dreißig Kilometer nördlich von Mödling, das noch heute existiert. Nur der wilde Wein, der es früher umrankte, ist verschwunden. Das Gebäude liegt an einer schmalen Straße, die unterhalb des Friedhofs leicht abfallend in Richtung Ortskern führt. Gleich gegenüber liegt das Spielparadies der Geschwister und ihrer Freunde: Die Nuss-Allee und die Ottinger-Wiese. Der spätere Autor beschreibt den Ort in seinen Büchern öfter, meist mit Liebe und Wehmut:

»Draußen in Neustift am Walde, im Talkessel der riesigen Weinberge, stehe ich dann auf der alten Nuss-Allee, dem Haus gegenüber, in dem ich so viele Jahre lang gelebt habe – als Kind, als Junge, als Heranwachsender. In der Zeit meiner Kindheit habe ich mit meiner jüngeren Schwester und vielen anderen Kindern die Nüsse gesammelt, die von den alten Bäumen der Allee gefallen sind.«7

Wer heute durch Neustift geht und den stillen Friedhof besichtigt, auf dem Lisa, ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ruhen, kann sich sehr gut vorstellen, weshalb die Simmels sich für Neustift am Walde entschieden: Der Ort liegt idyllisch und windgeschützt in einem malerischen Tal inmitten von ausgedehnten Weingärten. Der Wienerwald und der Kahlenberg sind ganz nahe. Die alten Häuser der Heurigen im Ortszentrum erstrahlen in lichtem Schönbrunner Gelb und gebrochenem Weiß; in den lauschigen, weinumrankten Gärten mit ihren blühenden Oleandersträuchern in mächtigen Töpfen kosten Gäste den jungen Wein. Hierher, in den Bezirk Währing, kommen seit dem 19. Jahrhundert viele wohlhabende Wiener Familien für die Sommerfrische, wenn es im Stadtzentrum zu heiß wird. Denn auf dem Lande ist die Luft weniger stickig, und aus den nahen Wäldern streift oft eine kühlende Brise durch den Ort.

Das Leben in Neustift ist angenehm und bunt. Die Familie Simmel entdeckt den Ort und die Umgebung, unternimmt Spaziergänge und Ausflüge. Das Rondell des Gasthofs am Cobenzl mit seinen Panoramafenstern ist ein beliebtes Ziel, hier trinken sie eine Limonade und genießen den atemberaubenden Blick auf Wien. Sie besuchen ihren Lieblings-Heurigen. Die katholische Mila ist magisch von der Schwarzen Madonna von Tschenstochau8 in der kleinen Kapelle der St. Josefskirche am Kahlenberg angezogen. Sie ist eine Kopie des Bildes, das König Jan III. Sobieski bei seinem Feldzug gegen die Osmanen auf seiner Reichsfahne mitgeführt haben soll. So beschreibt es Simmel in seinem späten Werk Träum den unmöglichen Traum9, in dem Kindheitserinnerungen wach werden.

Die Hügelzüge des Wienerwalds bieten unzählige Möglichkeiten für Wanderungen, zum Beispiel den Wasserleitungswanderweg, der von der Quelle im Rax-Schneeberg-Gebiet bis nach Wien führt. Die Simmels erleben mit, wie die Höhenstraße Cobenzl-Kahlenberg entsteht, und sehen wohl auch, wie arbeitslose Männer hier mit primitiven Mitteln und in quälend langsamer Bauweise Pflastersteine verlegen, Stein für Stein, Meter für Meter, damit der Arbeitsdienst möglichst lange dauert und die Männer entschädigt werden können. Die Idee stammt von Österreichs Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der die Eröffnung der Straße nicht mehr miterleben wird: 1934 wird er bei einem Putsch durch österreichische Nationalsozialisten ermordet. Ein schlechtes Omen, auch wenn bis zur Katastrophe des Anschlusses noch vier Jahre vergehen werden.

Lisa und Walter wähnen sich in Neustift am Walde jedoch sicher und geborgen, wie Millionen andere Einwohnerinnen und Einwohner von Wien und Österreich. Sie fühlen sich geschützt durch den Staat und die Verfassung.

Dünnes Eis

Wien nach dem Ersten Weltkrieg erinnert an eine prachtvolle Frau, die nach einem Sturz aufsteht, ihre Kleider richtet und stolz den Kopf hebt. Das Leben in der Donaumetropole pulsiert, wenn auch etwas langsamer als zuvor. In Wien wohnen und treffen sich die hellsten Köpfe der Epoche. Kultur ist ein Lebenselixier. Das schillernde Boheme- und Kaffeehausleben muss den Vergleich mit anderen Kapitalen Europas nicht scheuen. Kunstschaffende finden hier begüterte und sachverständige Käufer und Liebhaber ihrer Werke, Wissenschaftler aufgeschlossene Zuhörer und Studenten. Sigmund Freud legt den Grundstein zur Psychoanalyse. Manfred Flügge formuliert es in seinem Buch Stadt ohne Seele: Wien 193810 wie folgt: »Die Stadt erzeugte einen Dunst von Leichtigkeit, Lebensfreude, Charme und Erotik, bot an der Oberfläche das Bild einer Welt, ganz in Traum gehüllt, doch die politische Atmosphäre war von Hass vergiftet, vom Nationenhass und vor allem vom Antisemitismus.«

Ob Walter Simmel die Judenfeindlichkeit wahrgenommen hat, als er sich in Wien niederlässt? Es ist anzunehmen. Antisemitismus war stets unterschwellig verbreitet, seit sich die Stadt im 19. Jahrhundert zu einem Zentrum jüdischer Kultur entwickelte. Gebildete und begüterte österreichische jüdische Familien haben wesentlich zum Antlitz und Glanz der Stadt beigetragen. Doch hatte der Erste Weltkrieg den Zustrom osteuropäischer Juden massiv verstärkt. Selbst in etablierten, assimilierten jüdischen Wiener Kreisen wird die Präsenz unzähliger verarmter, kinderreicher jüdischer Familien aus Schlesien, Böhmen, Mähren, Galizien und Ungarn mit Unbehagen wahrgenommen.

Die junge Demokratie versucht, mit der schwierigen Situation umzugehen. Bis 1934 ist Wien von den Sozialdemokraten geprägt. Die Partei stellt nicht nur den Bürgermeister, sondern auch alle Stadträte. Walter ist selber aktiver Sozialist der ersten Stunde, wobei seine deutsche Herkunft sicher eine Rolle gespielt hat. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert war das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt der Weimarer Republik, und die Partei verfügte im deutschen Reichstag über die größte Fraktion. Als evangelisch getaufter, etablierter und erfolgreicher Geschäftsmann muss sich Walter in Österreich unverwundbar gefühlt haben. Hinzu kommt, dass die Verordnung der Bundesregierung vom 24. April 1934 über die Verfassung des Bundesstaates Österreich den Juden gleiche Rechte und Pflichten garantiert. Ein Jahr zuvor war die NSDAP in Österreich verboten worden. Damit wähnt man die nationalsozialistische Gefahr gebannt, doch setzt die Gruppe im Untergrund ihre subversive Tätigkeit fort, verübt Anschläge und Attentate auf Gesinnungsfeinde und wird immer unverblümter zur Terrororganisation, wie die feige Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß zeigt.

Österreich zwischen 1934 und 1938 kann nicht als funktionierende Demokratie bezeichnet werden. Historiker haben für die Staatsform dieser Jahre den Begriff »Austrofaschismus« geprägt oder sprechen von der »Dollfuß/Schuschnigg-Diktatur«. So ist zum Beispiel der Verfassungsgerichtshof abgeschafft worden, womit eine entscheidende demokratische Institution entfällt. Dadurch kann es vorkommen, dass Bürgermeister nach Belieben ersetzt werden. Der Austrofaschismus ist nicht so unverhohlen brutal und kriminell wie die nationalsozialistische Diktatur, die folgen sollte. Die autoritäre Staatsführung orientiert sich jedoch stark an den Herrschaftsvorstellungen des italienischen Verbündeten Benito Mussolini. Gesellschaftliche Spannungen bleiben nicht aus und drohen das Land bisweilen fast zu zerreißen. Hinzu kommt, dass die Folgen der verheerenden Weltwirtschaftskrise nach dem Börsencrash im Oktober 1929 auch Jahre später noch spürbar sind. Die Arbeitslosigkeit erreicht auch in Österreich Rekordwerte: 1933 ist rund ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Erwerbseinkommen. Arbeitsbeschaffungsprogramme wie der Bau der Höhenstraße sollen die allgegenwärtige Not lindern, sind aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wie zuvor in Mödling führen Lisa und Walter auch in Neustift ein offenes, gastfreundliches Haus. Nach der Finanzkrise 1928/29 ist das Familienvermögen geschmolzen, das Haus nimmt deshalb zahlende Gäste auf.

Nun, nach Hitlers Wahl zum deutschen Kanzler, wird an diesem liberalen Tisch wohl noch öfter über Politik im Nachbarland diskutiert. Ist Adolf Hitler eine reelle Gefahr für die Demokratie oder eher eine skurrile Figur, die schon bald wieder an Bedeutung verlieren wird? Ist es für Österreich Segen oder Fluch, dass der Mann mit dem eigentümlich gestutzten Schnauzbart aus Braunau stammt und Wien gut kennt? Was bedeutet sein Aufstieg für die Juden? Im Freundeskreis ist Hitler unbeliebt. Seine Sprechweise, die Mimik und die Gesten, werden nachgeahmt und verspottet. Jan und Eva hören in ihren Zimmern, wie im Erdgeschoss hitzig debattiert und gelacht wird. Der spätere Autor wird als Erwachsener erzählen, dass viele der Menschen, die Gäste seiner Eltern waren, später Opfer des Nationalsozialismus geworden sind.

Es ist schön, im Hause Simmel aufzuwachsen. Lisa und Walter erziehen ihre Kinder liebevoll und zwanglos. Mila vergöttert die beiden sowieso. Als Erwachsener wird Mario später schildern, dass die schlimmste Strafe gewesen sei, ohne Essen ins Zimmer verbannt zu werden. Doch sei er dort so tief in seinen Büchern versunken, dass Stunden vergehen konnten und Schwester Eva im Auftrag der besorgten Eltern nach ihm schauen musste. Ein Zimmerarrest mit wenig pädagogischem Effekt also.

Jan lernt schon sehr früh lesen und schreiben. Er verschlingt deutsche und englische Jugendbücher. Winnie the Pooh, die englische Originalfassung von Pu der Bär, ist ein Favorit. Zeit seines Lebens wird der Autor für seine Liebe zum rundlichen Meister Petz geneckt. Aber er ist auch gerne draußen im Garten, wo er sich ein Baumhaus gebaut hat. Noch immer ist er fasziniert von Blumen, ihren Blüten und Düften und will als Erwachsener Gärtner werden. Der Junge besucht die Volksschule zum Teil in England, zum Teil in Neustift und erhält mit zehn Jahren Lateinunterricht. Ein Schulheft mit einer korrigierten Probe zeigt aber, dass er sich schwertut mit dieser Sprache. Vier Jahre später bescheinigt ihm das Jahreszeugnis 1937/38 der Schule an der Celtes-Gasse in Währing für alle Fächer, mit Ausnahme von Rechnen und Raumlehre, eine Eins. Jan schreibt kleine Aufsätze oder Geschichten. Erst sind es rührende kindliche Schilderungen, zum Beispiel über die Hausarbeit der Mutter (»Mutter putzt«) oder den Besuch des Knabenschießens in Zürich, wohl während einer Ferienreise mit den Eltern. Dieses Volksfest, das jeweils am zweiten Septemberwochenende auf dem Schießplatz Albisgüetli stattfindet, muss ihn beeindruckt haben. Damals waren nur Jungen zwischen dreizehn und siebzehn Jahren zugelassen, mittlerweile herrscht auch hier Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern.

Die Weichen scheinen gestellt für eine sorglose Jugend in einem aufgeschlossenen, bürgerlich-liberalen Umfeld. Doch das Schicksal hat anderes vor mit der Familie Simmel.

Anschluss, Angst, Akne

Das Schicksalsjahr 1938 kündigt sich durch eine Eskalation der politischen Ereignisse an. Der neue österreichische Kanzler, Kurt Schuschnigg, Nachfolger des ermordeten Dollfuß, versucht sich dem wachsenden Einfluss Deutschlands entgegenzustemmen. Doch steht er unter zweifachem Druck: In Österreich ist der Wunsch nach einem Zusammenschluss mit Deutschland in der Bevölkerung unübersehbar. Und in Berlin ziehen Adolf Hitler und seine Parteigenossen die Schlinge um den Hals von Hitlers Vaterland zu. Kurt Schuschnigg wird erst geduldet, dann gedemütigt und desavouiert. Sein Besuch bei Hitler im Berghof auf dem Obersalzberg im Februar 1938 ist gut dokumentiert, weil die Kameras der Wochenschau ihn genüsslich inszenieren: Der österreichische Kanzler wird behandelt wie ein Dienstbote, der in Ungnade gefallen ist. Er muss lange auf seine Audienz warten; der Kettenraucher wird am Rauchen gehindert. Als er Hitler schließlich im Klubsessel gegenübersitzt, wird er verspottet und bedroht. Vergeblich appelliert er an das Gewissen seines Landsmanns, warnt vor Blutvergießen und erinnert Hitler an dessen Zeit in Wien. Dieser bleibt eisern. Schuschniggs Regierung soll geschwächt und nach deutschen Gnaden zusammengestellt werden, sodass die Donaurepublik mühelos geschluckt werden kann.

Italien, das Schuschnigg auf seiner Seite wähnt, lässt ihn im Stich. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs blicken ebenfalls in die andere Richtung und vermeiden es, Österreich zu Hilfe zu kommen. Ein derart halbherziger internationaler Widerstand ermutigt Hitler. Er nimmt immer mehr Einfluss auf die Zusammensetzung des österreichischen Kabinetts, erzwingt die Ernennung von ihm getreuen Ministern und sorgt dafür, dass die – immer noch verbotene – NSDAP ihren Einfluss im Untergrund ausbaut. Auch in Polizei- und Armeekreisen gibt es viele Sympathisanten für die Partei, deshalb fürchten die Anhänger sich nicht vor Strafen für ihre Tätigkeit.

Lange hat Schuschnigg gehofft, er könne sein Land unbeschadet aus der Krise hinaussteuern. Als er merkt, dass ihm die Situation entgleitet, unternimmt er einen verzweifelten Befreiungsschlag und setzt sehr kurzfristig ein Volksreferendum an. Dieses soll zeigen, ob eine Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung den unabhängigen Staat einem Anschluss vorzieht. Die Vorbereitungen der Abstimmung sind überstürzt, unprofessionell und hektisch. Der Kanzler spricht mit den Führern von Arbeiterorganisationen und Vertretern der jüdischen Gemeinde (die für die Befragung spendet und eine aktive Stimmbeteiligung ihrer Mitglieder zusichert). Einige Juden, die ihre Flucht bereits geplant hatten, bleiben im Land, um ihre Stimme abzugeben. Noch am 9. März 1938 ist Schuschnigg fest entschlossen, das Referendum durchzuführen. Hitler und Göring werden nervös, offenbar ist man sich in Berlin doch nicht ganz sicher über den Ausgang. Deshalb handelt Deutschland nun blitzschnell und stellt Österreich vor ein Ultimatum.

Kurt Schuschnigg versucht die Wogen zu glätten, indem er die Volksbefragung abbläst. Zu spät. Hermann Göring sendet ein weiteres Ultimatum aus Berlin und fordert den Rücktritt des Kanzlers. Bei Nichtentsprechen würden um 20 Uhr 200000 deutsche Soldaten die Grenze zu Österreich überschreiten.

Am 11. März 1938 hält Schuschnigg eine kurze, denkwürdige Ansprache im Radio. Der Bundespräsident habe ihn beauftragt, die Bürgerinnen und Bürger darüber zu informieren, dass Österreich der Gefahr weiche und einen deutschen Einmarsch ohne Widerstand hinnehme. Er erklärt seinen Rücktritt. Wenige Minuten später hisst ein junger Mann die Hakenkreuzfahne auf dem Balkon des Kanzleramts, wie von Zauberhand erscheinen plötzlich überall Embleme der NSDAP in den Straßen. Der Kampf um die Unabhängigkeit ist verloren.

In den folgenden Tagen wird ein neues Kabinett ernannt. Der politische Handstreich soll ja legal und legitim wirken. Dabei ziehen die Nationalsozialisten von der ersten Minute an die Fäden im Nachbarstaat. Die Republik Österreich verliert ihren eigenständigen Namen und wird nach dem Einmarsch der deutschen Truppen zu Deutschlands »Ostmark« erklärt.

Johannes Mario Simmel ist 14 Jahre alt. Ein Alter, in dem Jungen mit ihren Freunden zusammen sind, Hobbys nachgehen, Pläne für später schmieden oder sich erstmals verlieben. All dies möchte Jan auch. Doch wird der Untergang der Republik ihm und seiner Familie den Boden unter den Füßen wegziehen.

Als Erstes bedeutet dies, dass Walter, Jans geliebter Tommy, in aller Eile das Land verlassen muss. Sein evangelischer Taufschein ist wertlos geworden. Mit zwei jüdischen Elternteilen gilt er als Jude. Und als bekennender Sozialist steht er zudem ganz oben auf der Verhaftungsliste der neuen Machthaber, die das Wort sozialistisch zwar im Parteinamen tragen, für die linke Politiker aller Couleur jedoch Staatsfeinde sind.

Über die Flucht wissen wir wenig. In den ersten, chaotischen Tagen nach dem Anschluss sind die Grenzen noch nicht hermetisch geschlossen. Zum Glück verfügt Walter dank seiner Arbeit über viele Auslandskontakte und ist reisegewandt. Und er hat genügend Geld, die Ausreise ist für ihn leichter als für andere Familien. Mario wird später erzählen, sein Vater habe eine wahre Odyssee durch Italien, Portugal und Holland hinter sich gebracht. Am 11. Oktober 1938 schreibt der Vater seinem Sohn Jan eine Postkarte aus Amsterdam. Sie ist in Englisch abgefasst und mit T. unterschrieben. Tommy teilt Jan mit, dass er hoffe, innerhalb von zwei Wochen nach London reisen zu können. Er fragt beunruhigt, ob es allen gut gehe und weshalb er nichts von ihnen gehört habe. Die abenteuerliche Weiterreise gelingt über Dänemark, und Walter wird bis zu seinem Lebensende 1945 in England leben. In dem stark autobiografisch geprägten Roman Und Jimmy ging zum Regenbogen11 schreibt Simmel später:

»Die Organisation Gildemeester brachte mit holländischem Geld und mutigen Helfern seit Jahren an Leib und Leben bedrohte Menschen vor den Nazis ins Ausland. Die Helfer besaßen Pässe, Visa- und Prägestempel, sie lieferten falsche Papiere über Nacht, wenn es sein musste. (…) Aber leider nur für ihn … Für Ihre Frau und Ihren Sohn können wir leider nichts tun, hatte der Mann gesagt. Pässe sind Mangelware. Ihre Frau und Ihr Sohn sind nicht absolut gefährdet. Man wird sie ständig im Auge behalten, man wird Ihre Frau verhören, ihr den Pass abnehmen und alle Post beschlagnahmen, die aus dem Ausland kommt. Aber man wird ihr zumindest vorerst nichts Schlimmes tun.«

Simmel beschreibt die Organisation Gildemeester positiver, als sie in Wirklichkeit war. Tatsächlich unterstützte sie Jüdinnen und Juden, meist bei der Flucht nach Palästina. Allerdings erhob sie enorme Gebühren und transferierte das Vermögen der Flüchtenden auf eine Bank, die später von den Nationalsozialisten geschluckt wird. Im Klartext: Leben gegen Vermögen. Das Schicksal der zurückbleibenden Familie bleibt ungewiss, so weit ist die Schilderung im Roman allerdings absolut zutreffend.

Lisa und ihre Kinder sind von einem Tag auf den anderen von geachteten Mitgliedern der Gesellschaft zu suspekten Figuren geworden. Lisa muss für ihren Mann einen neuen Taufschein ausstellen lassen, der seine mosaische Herkunft bestätigt. Ab sofort wird Walter, wie alle Juden im Deutschen Reich, von Amts wegen den zweiten Vornamen Israel verpasst bekommen, so wie auch alle Jüdinnen gesetzlich vorgeschrieben Sarah heißen müssen. Nach den Nürnberger Rassegesetzen, die nun auch für die »Ostmark« gelten, führt Lisa eine »Mischehe«, aus Jan und Eva sind »Mischlinge Ersten Grades« geworden – ein schweres Stigma. Ab Juli 1942 dürfen »Mischlinge« nicht einmal mehr eine höhere Schule besuchen.12 Nachbarn beäugen sie misstrauisch und stellen Mutmaßungen darüber an, weshalb ihr Mann nicht mehr zu Hause wohnt. Für die Kinder, die wohl gar nicht gewusst hatten, dass ihr Vater vor seiner Taufe Jude war, muss der Schock groß gewesen sein. Wer könnte es ihnen verdenken?

Mindestens so belastend wie die soziale Ächtung: Das Geld wird knapp. Walter musste für seine Flucht große Summen bezahlen. Vermögenswerte, die er in Wien zurückgelassen hat, werden später konfisziert, sodass Walter in London erst einmal in prekären Verhältnissen lebt. Es ist ihm schlicht unmöglich, der Familie aus London genügend Geld zu schicken. Nachdem die Reserven aufgezehrt sind, muss Lisa in Wien jeden Groschen umdrehen. Walter weiß dies aus den Briefen, die er von zu Hause erhält. Natürlich werden sie von der Zensur geöffnet, doch ist nun zumindest wieder eine gewisse Kommunikation möglich. In einem Brief an seinen Sohn vom 3. Mai 1939, wieder in Englisch gehalten, dankt er ihm für sein Schreiben und bedauert sehr, dass er der Familie nichts senden kann. Wie ohnmächtig muss sich der Vater in seinem Exil gefühlt haben? Immerhin hat er nun ein Einkommen: Er darf beim englischen Radiosender BBC deutsche Texte und Kommentare aufzeichnen, die nach Kontinentaleuropa ausgestrahlt werden. Lisa wird sich jahrelang unter großer Gefahr unter einer Decke verkriechen, um die von ihrem Mann verlesenen Nachrichten um acht zu verfolgen und so seine Stimme hören zu können, wie Simmel später erzählen wird.

In diesen dunklen Monaten wandelt sich Jan zu Mario. Er legt seinen Jungennamen ab und mit ihm jede kindliche Sorglosigkeit und Unbeschwertheit. Hat ihn Walter vor der Abreise gebeten, für die Mutter und Schwester zu sorgen? Oder tut er es aus eigenem Antrieb? Auf jeden Fall fühlt er sich verantwortlich für die kleine Familie. Dabei steckt er in der Pubertät und ist voller Selbstzweifel. Die Hormone, Unsicherheit und Sorge bescheren ihm einen heftigen Akneschub. Er beginnt auch zu stottern, wofür er sich mehr schämt als für die Pickel. Die Bilder, die er in dieser Zeit zeichnet, zeigen am Boden hockende, verzweifelte, um Gnade bettelnde Gestalten. Auch Männer mit Totenkopf und Sense. Die Bilder tragen Titel wie »Die letzten Tage der Menschheit«. Jan muss vom Werk von Karl Kraus beeindruckt gewesen sein. Andere Zeichnungen lassen beim Heranwachsenden eine Bewunderung für Käthe Kollwitz erkennen. Simmel wird die Künstlerin zeit seines Lebens sehr schätzen.

Dass Ende der Dreißigerjahre gerade solche Sujets entstehen, in düsteren Farben gemalt, ist ein Indiz für traumatische Erlebnisse nach dem Anschluss. Kein Wunder, denn Mario und Eva werden Zeugen von demütigenden Szenen: Bei den berüchtigten »Reibpartien« etwa müssen jüdische Männer und Frauen jeden Alters kniend und mit bloßen Händen, Zahnbürsten oder gar dem eigenen Schlüpfer das Straßenpflaster von antinazistischen Parolen säubern. In Wien sind diese erzwungenen Putzkolonnen oft umringt von Menschen, die schadenfroh und johlend zuschauen. Im Warschauer Getto wird der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wenige Jahre später ganz ähnliche Szenen miterleben, nur dass hier nur die deutschen Soldaten feixend zuschauen und die jüdischen Mitbewohner sich ängstlich im Hintergrund zusammendrängen.

Jan und Eva müssen schlimme Dinge gesehen haben, zerschmetterte oder verunstaltete Schaufenster jüdischer Geschäfte, spontane Hassausbrüche gegenüber Juden. Werden sie sogar selber Opfer von Übergriffen, obwohl sie als »Mischlinge Ersten Grades« keinen gelben Judenstern tragen müssen? Historiker beschreiben die ersten Monate der Naziherrschaft in der »Ostmark« mit Pogromen gegenüber der jüdischen Bevölkerung als »Hexensabbat«. Selbst den neuen Machthabern ist diese heftige Welle der Gewalt suspekt, und der Völkische Beobachter, das Parteiorgan der NSDAP, empfiehlt, dass der überschäumende Radikalismus in Wien einzudämmen und in geordnete Bahnen zu lenken sei. Pogrome dürfe es nicht geben. Schließlich sei Deutschland ein Rechtsstaat. Hier geschehe nichts ohne rechtliche Grundlagen.13 Eine zynische Aussage, die aber die Befindlichkeit im Frühling 1938 gut auf den Punkt bringt.

Mario hat Angst. Lisa tröstet ihn, schreibt ihm kleine, ermutigende Briefe und versucht, ihn zu beruhigen. Dabei ist sie selber alles andere als gelassen. Sie ist nun Familienoberhaupt und für sämtliche Belange verantwortlich. Und sie muss mit ansehen, wie ihr Sohn, der mit seinen vierzehn Jahren die Tragweite der Geschehnisse nicht vollständig überblickt, mit wachsendem Groll an seinen Vater denkt. Wie könnte es anders sein, wenn ein Junge in der Schule ständig hört, dass sein geliebter Vater ein Verräter und »Saujude« sei, der die Familie im Stich gelassen habe? Auch wenn er sich nach seinem Tommy sehnt, wächst die geistige Distanz zwischen Vater und Sohn mit jedem Monat der Trennung.

Der Junge begleitet seine Mutter bei den demütigenden und beängstigenden Besuchen im Hotel Métropole im ersten Bezirk, am Franz-Josefs-Kai.

Reinhard Heydrich hatte das Luxushotel, in dem Mark Twain vierzig Jahre zuvor längere Zeit gelebt und geschrieben hatte, kurz nach dem Anschluss für die Gestapo requiriert, die jüdischen Besitzer enteignet und dort seine Leitstelle eingerichtet. Täglich mussten bis zu 500 Menschen zum Verhör antreten.14 Stefan Zweigs Schachnovelle beschreibt die beklemmende Stimmung in diesem wunderschönen, nach dem Krieg abgerissenen Gebäude: die stilvollen Räume, erfüllt von Tanzmusik und dem heiteren Plaudern der Gäste. Dazu das Gewusel in den Gängen, die blank polierten Stiefel und makellos gebügelten Uniformen, die schäbigen oder eleganten Kleider der Verhörten und die Schreie der Gepeinigten und Gefolterten, die aus den Zimmern dringen. Die Willkür der Beamten ist total; niemand weiß beim Betreten des Gebäudes, ob und in welchem Zustand er es wieder verlassen wird. Die Inschrift auf dem Mahnmal, das heute am Morzinplatz steht, bringt es auf den Punkt: »Hier stand das Haus der Gestapo. Es war für die Bekenner Österreichs die Hölle.«

Mario wird jeweils auf einer Bank in der kleinen Grünanlage vor dem Gebäude sitzen, stundenlang manchmal, und sich ausmalen, was gerade mit seiner Mutter geschieht. Wird sie verhört, bedroht oder gar geschlagen? Simmels Alter Ego in dem Buch Träume den unmöglichen Traum, Robert Faber, erzählt:

»Das Hotel Metropol am Morzinplatz, Hauptquartier der Gestapo. Dorthin war seine Mutter zweimal wöchentlich befohlen worden, um verhört zu werden. Er hatte sie immer begleitet. Die Gestapobeamten wollten Einzelheiten über die österreichische und vor allem die deutsche Sozialdemokratische Partei erfahren, denn der Vater hatte in dieser eine große Rolle gespielt. (…) Arme Mutter, dachte Faber, sie wusste doch überhaupt nichts. Niemals hatte Vater ihr etwas gesagt, um sie nicht zu gefährden, und zudem war die deutsche Sozialdemokratie 1938 längst völlig zerschlagen. Es war, dachte Faber (…), auch bloß eine zusätzliche Qual, welche die Gestapobeamten der Mutter zugedacht hatten, denn nie wusste sie, was mit ihr im Hotel Metropol geschehen würde. Vor dem Gebäude, in einem kleinen Park, saß Faber in kurzen Hosen dann stets auf einer Bank und betete. Lieber Gott, bitte, lass die Mutter wieder herauskommen. Ich tu alles, was du willst, wenn du nur meine Mutter wieder rauskommen lässt.15

Das bange Warten und später der Heimweg mit der weinenden Lisa sind schlimm. Zum Glück dauert die Fahrt im Halbdunkel der nicht beleuchteten Straßenbahn, deren Fenster nach Kriegsbeginn zur Verdunkelung fast vollständig mit blauer Farbe bemalt sind, lang genug, dass sie sich wieder beruhigen können. Mila, die mit Eva zu Hause wartet, soll nicht unnötig in Angst versetzt werden. Sonst erleidet die Haushälterin einen ihrer schmerzhaften Schluckauf-Anfälle, die sich später als ein schweres Schilddrüsenleiden herausstellen werden.

Als ob die Familie nicht schon genug Sorgen hätte, erkrankt nun auch noch Eva an Diphtherie. Sie muss über Monate hinweg das Bett hüten, verliert alle Kraft und kann kaum noch gehen. Zwar wird sie genesen, doch scheint ihr Gleichgewichtsgefühl zeit ihres Lebens gestört gewesen zu sein. So schafft sie es zum Beispiel nie, Rad zu fahren. Und noch etwas anderes bleibt ihr unauslöschlich eingebrannt: Krank sein ist ein Zeichen der Schwäche. Dies ist Lisas Meinung, die sich auf ihre Tochter überträgt. Man hat sich »gefälligst zusammenzureißen«. Wir können annehmen, dass dies auch die Maxime ist, mit der sie sich selber davor bewahrt hat, den Mut zu verlieren.

Lisa gelingt es, ihrer Familie zu einem kleinen, aber einigermaßen regelmäßigen Einkommen zu verhelfen: Sie vermietet weiterhin Zimmer im Haus in Neustift, ist als Reklamezeichnerin und Fotografin tätig und erteilt gelegentlich Sprach- und Mathematik-Nachhilfeunterricht. Außerdem arbeitet sie als Lektorin bei der Wien-Film GmbH, einem stramm nationalsozialistisch eingestellten Unternehmen. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ordnet die Produktion von erbauenden, in der »Ostmark« wurzelnden Filmen an.16 Der Regisseur Willi Forst gehört zum Aufsichtsrat. Seine unbeschwerten, heiteren Filme sind bei den Nazis äußerst beliebt. Forst wird nach dem Krieg ein enger Freund und Weggefährte Simmels werden. Sprechen die beiden Männer über die unkritische Haltung des Regisseurs gegenüber den damaligen Machthabern? Wir sind hier auf Vermutungen angewiesen. Zumindest liegen keine Hinweise darauf vor, dass Simmel dem Regisseur kritische Fragen gestellt hätte.

Marios Mutter arbeitet nun also im Zentrum der nationalsozialistischen Propaganda. Eine bemerkenswerte Leistung für eine Frau, die in einer »Mischehe« lebt. Wie hat sie dies geschafft, welche Opfer musste sie erbringen? Wurde die überzeugte Sozialdemokratin dazu genötigt, der NSDAP beizutreten? Sicher ist, dass Lisa nun alles daran setzen muss, um ein low profile zu zeigen. Dazu gehört wohl auch, dass Johannes, wie alle seine Klassenkameraden, Mitglied der Nazi-Jugendorganisation ist, zumindest so lange, wie dies »Mischlingen« möglich ist. Eva wird durch ihre Krankheit wohl gar nicht in der Verfassung gewesen sein, sich aktiv zu beteiligen. Vermutlich hat sie es bedauert: Nicht nur gehört es fast zum guten Ton, hier mitzumachen, sondern die durchaus attraktiven Ausflüge und Aktivitäten stellen auch einen gewissen Schutz dar. Der Historiker Kurt Bauer beschreibt deren Stellenwert wie folgt:

»Wichtigstes Instrument der nationalsozialistischen Indoktrination neben der Schule war die HJ. Im Alter von 10 bis 14 Jahren waren die Jungen beim Deutschen Jugendvolk und die Mädchen im Jungmädelbund organisiert. Ab 14 folgte für die Jungen die eigentliche Hitlerjugend und für die Mädchen der Bund Deutscher Mädel. Für Jugendliche war am Beitritt zur Hitlerjugend kaum ein Vorbeikommen. Wenn sie nicht mitmachten, mussten sie in vielen Bereichen mit Nachteilen rechnen, etwa in der Schule, bei der Suche nach einer Lehrstelle oder einem Arbeitsplatz, beim Beitritt zu einem Sportverein etc. Auf die Eltern übte man entsprechenden Druck aus. 1939 wurde zusätzlich die Jugenddienstpflicht eingeführt. Die jeweils neu dazukommenden Jahrgänge ab zehn Jahren waren nunmehr gesetzlich verpflichtet, Dienst in der HJ zu tun.«17

Für Mario und Eva wird es überlebenswichtig, nicht negativ aufzufallen. Sie tragen einen Makel, werden von Klassenkameraden als »Halbjuden« verhöhnt. Da hilft ihnen auch nicht, dass sie helle Haare und Augen haben. Egal, wie viel sie für die Schule büffeln oder wie klug, beliebt und sympathisch sie sind: In der Schule und im Bekanntenkreis haben sich die Machtverhältnisse seit dem Anschluss verschoben. Gewisse Lehrer verschwinden und kommen nicht wieder, Familien verlassen über Nacht ihre Häuser, dafür ziehen sehr schnell andere Menschen dort ein.

In ihrer Klasse der Volksschule wird Eva, wie alle ihre Kameradinnen, dazu angehalten, sich als mustergültige Arierin zu betragen. Dazu gehört, dass man Menschen meldet, die sich verdächtig benehmen. Doch die arme Kleine muss erfahren, wie schnell man damit in die Zwickmühle geraten kann. Mario erzählt den Vorfall viele Jahre später seinem Freund Peter Huemer: Eva entdeckt abends Lisa und Mario unter einer Decke beim Hören des verbotenen Radiosenders BBC London. Eva ist ungefähr elf Jahre alt und begreift nicht, dass dies die letzte fragile Verbindung zwischen Lisa und Walter ist. Sie versteht nur, dass hier etwas streng Verbotenes geschieht. Deshalb kündigt sie der entgeisterten Mutter an, dass sie den Vorfall in der Schule melden müsse. Diese weiß nur ein verzweifeltes Mittel, um Eva zum Schweigen zu bringen: Sie verprügelt ihre Tochter und bläut ihr ein, dass sie ihre Angehörigen nicht verraten dürfe. Dieser Vorfall allein zeigt, wie es um die Gemütsverfassung der früher so liebevollen, nachsichtigen und liberalen Frau steht.

Auch in Neustift, in dem idyllischen Ort am Fuße der mächtigen Weinberge, wird die Situation immer schwieriger. Das Eis ist dünn geworden. Andernorts ist es bereits gebrochen: Mit dem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz in der Nähe von Lisas Eltern und rund 260 Kilometer von Schmiedeberg, Walters Heimatort, entfernt, beginnt am 31. August 1939 der deutsche Feldzug in Richtung Osten. Der Zweite Weltkrieg ist nicht mehr aufzuhalten.

Hier spricht London

Als Walter Simmel im Herbst 1938 in London ankommt, liegt nicht nur eine schwierige Flucht hinter ihm. Auch die Zukunft ist sehr ungewiss. Die Themsestadt quillt über mit Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich. Zwar erweisen sich Walters Englisch- und Landeskenntnisse sicherlich als Vorteil, doch Stellen in England sind rar. Zudem treffen die deutschsprachigen Emigranten auf großes Misstrauen; man befürchtet, dass sie für Nazideutschland spionieren. Und tatsächlich leben viele Spitzel der nationalsozialistischen Regierung in London und anderen europäischen Hauptstädten. Walter muss enorm vorsichtig sein, um nicht vom Regen in die Traufe zu geraten.

Da wir über keine direkten Quellen verfügen, versuchen wir, Walters Weg zu rekonstruieren: Erst einmal muss er als Ausländer eine Arbeitsgenehmigung beantragen. Dazu muss er beweisen, dass ein englisches Unternehmen ihn unbedingt braucht und diese Arbeit nicht von einem Einheimischen erledigt werden kann. Meist werden die Genehmigungen, wenn man sie denn erteilt, nur auf zeitlich befristeter Basis ausgestellt.

Der staatliche Radiosender BBC hatte bereits 1929 damit begonnen, deutschsprachige Sendungen für Schulen und Universitäten zu produzieren und auszustrahlen. Doch nach dem Scheitern von Neville Chamberlains Appeasement-Politik gegenüber Adolf Hitler erlangen für ein deutsches Publikum gezielt produzierte Sendungen auf dem Kontinent einen ganz neuen Stellenwert. Umso mehr, als auch NS-Minister Joseph Goebbels die Propaganda hemmungslos als Machtinstrument nutzt.

Im September 1938 sendet die BBC unter dem Titel »Hier spricht London« erstmals auf Mittel- und Langwelle in Richtung Deutschland. Zuerst sind es tägliche Abendnachrichten und kurze Kommentare. Um seinen Mitarbeiterbestand aufzustocken, sucht der Sender mit Inseraten in den Tageszeitungen deutschsprachige Übersetzer. Das Jahresgehalt beträgt beachtliche 450 Pfund, was weit über dem damaligen Durchschnittslohn etwa einer Krankenschwester liegt. Vike Martina Plock von der Universität Exeter hat in ihrem Buch The BBC German Service During The Second World War18 eine Fülle von Informationen zusammengetragen. Daher können wir uns ausmalen, wie das Vorstellungsgespräch von Walter Simmel abgelaufen sein könnte. Denn Plock hat genau nachgezeichnet, wie es seinem späteren Kollegen Robert Ehrenzweig ergangen ist.

Ehrenzweig ist Österreicher und lebt in London als Korrespondent der Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Nach dem Anschluss im März 1938 verliert Ehrenzweig, weil er Jude ist, diese Arbeit. Über einen englischen Berufskollegen bietet er der BBC seine Unterstützung an, falls sie ihre deutschsprachigen Sendungen ausbauen möchte. Er hätte wohl nicht gedacht, dass sein Angebot schnell angenommen wird: Ehrenzweig wird umgehend ins imposante Broadcasting House am Portland Place eingeladen. Weitherum sichtbar thront hier das Gebäude im Art-déco-Stil und mit fünf hohen Funkantennen (die es während des Kriegs zum leichten Ziel für gegnerische Luftangriffe machen werden). Das Innere ist geschmackvoll, ja, luxuriös gestaltet und einem englischen Landhaus nachempfunden. Dicke Teppiche bedecken den Boden, die Fenster (selbst wenn sie gar kein Tageslicht empfangen) sind mit Vorhängen geschmückt, Trockenblumensträuße sollen für Behaglichkeit sorgen.

Ehrenzweig wird in ein großes Sitzungszimmer geführt. Die Wände sind mit hellbrauner Eiche getäfelt, lange Tische aus Walnussholz nehmen die leicht geschwungene Form des Saals auf. Ohne Umschweife erklärt man Ehrenzweig, dass er Chamberlains Rede an das deutsche Volk vom 27. September 1938