Mit dem Esel über den Berg - Lucas Meyer - E-Book

Mit dem Esel über den Berg E-Book

Lucas Meyer

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Beschreibung

Lucas Meyer, Jahrgang 1991 war auf gutem Weg die Karriereleiter hochzuklettern. Er arbeitete bei einer Bank, studierte Wirtschaft und verdiente gutes Geld. Dann wurde es ihm zu viel, und er schmiss alles hin. Er ging nach Marokko und wanderte dort mit einem Esel einen Sommer lang durch das Gebirge. «Mit dem Esel über den Berg» ist eine Geschichte über einen Neuanfang in einem fernen Land, einer Reise durch eine andere Welt fernab der Zivilisation und einer innigen Freundschaft zwischen Mensch und Tier.

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Seitenzahl: 273

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Copyright © 2020 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2019-2020 unterstützt.

Lektorat: Katja Völkel, Dresden

Umschlaggestaltung: André De Carvalho, Cameo Verlag GmbH, Bern

Layout und Satz: Rafael Schlegel, Cameo Verlag GmbH, Bern

ISBN: 978-3-906287-61-4

E-Book: CPI books GmbH, Leck

Inhaltsverzeichnis

Teil 1;

Der unverwirklichte Traum

Die Wiedergeburt

Vertrauen gewinnen

Teil 2;

Die Reise beginnt

Lernen im Nichtstun

Hindernisse überwinden

Keine Menschenseele

Auf neuen Wegen

Ich widme dieses Buch meinem Großvater Walter Heuberger, genannt «Heubi».

Teil 1

Der unverwirklichte Traum

Der unverwirklichte Traum

Mir gefällt mein Job in der Marketingabteilung eines Zürcher Kleinunternehmens. Ich verdiene gut, habe flexible Arbeitszeiten, sechs Wochen Urlaub im Jahr und im Büro steht sogar ein Tischtennistisch, welchen wir jederzeit benutzen können. Mein Job ist mein Leben, denn ich verbringe viel Zeit bei meiner Arbeit. Meine Arbeitskollegen sind meine besten Freunde, mit denen ich auch nach dem Feierabend viel unternehme. Natürlich, der Job ist anstrengend und man muss auf viel Freizeit verzichten und einiges an Energie hineinstecken, aber es lohnt sich für mich, denn ich habe Spaß dabei.

Auch mein Privatleben läuft gut. Regelmäßig treffe ich mich mit meinen vielen Freunden. Ich habe viele Hobbys, mache Sport und bin in einem Gemeinschaftsgarten aktiv, in dem wir uns häufig zum Gärtnern treffen. Eigentlich könnte ich jetzt so weiterleben, jedes Jahr etwas mehr verdienen, mir eine größere Wohnung leisten, ein schöneres Fahrrad kaufen. Ich könnte auch wieder einmal etwas weiter weg in die Ferien reisen, vielleicht nach Japan, da war ich noch nie. Japan hat mich schon immer fasziniert. Ein Flugticket kaufen und zwei Wochen dahin fliegen: ohne Probleme. Auch meine Hobbys könnte ich weiter verfolgen, oder vielleicht sogar eine neue Freizeitbeschäftigung ausprobieren. Ich bin mir sicher: Wenn ich so weitermache, dann würde ich ein glückliches Leben führen können. Im Grunde genommen ist alles gut. Ich kann mich nicht beklagen, würde man jetzt sagen.

Doch irgendein Gefühl, nennen wir es Bauchgefühl, sagt mir, dass ich auf dem falschen Weg bin. Es zieht mich weg von all dem. Weg von diesem Ort, weg von dieser Gesellschaft und weg von der Stadt. Tief in meinem Inneren brauche ich etwas anderes. Ich will raus, in die Natur, möchte Abenteuer erleben, neue Menschen kennenlernen und frei sein von allen Verpflichtungen. Dieses Gefühl begleitet mich schon seit längerer Zeit. Die Sehnsucht, etwas in meinem Leben zu verändern, einen anderen Weg einzuschlagen, etwas Neues anzufangen, fühle ich tief in mir drin, verdränge es aber erfolgreich. Ich fülle mein Leben mit allen möglichen Dingen wie Arbeit, Hobbys, Freunden oder Party machen – ein ganz normaler Alltag, so wie es jeder andere macht. Den Termin, an dem ich neu beginne und mein Leben umkremple, verschiebe ich auf später. Auswandern oder meine Träume verwirklichen kann ich später ja auch noch machen. Zuerst, so mein Plan, sollte ich ein bisschen Geld verdienen, damit ich etwas zur Seite legen kann, zur Sicherheit. Danach … danach kann ich machen, was ich will.

Und dann kommen die Fragen. Doch wie lange muss ich warten? Wie viel Geld muss ich angespart haben, bis ich gehen kann? Oder geht es gar nicht ums Geld? Muss ich warten, bis ich total ausgelaugt bin und ein Burnout habe, um endlich das zu tun, was ich will? So machen es ja die meisten Leute heutzutage. Sie zögern alles heraus, bis ein Schicksalsschlag, zum Beispiel ein Burnout oder eine Depression, sie eiskalt erwischt.

Immer wieder höre ich Geschichten, dass Menschen einen anderen, einen nachhaltigeren und einfacheren Weg einschlagen, nachdem sie einen Einschnitt in ihrem Leben erfahren haben. Ich habe aber keine Lust auf ein Burnout, und auch nicht auf eine Depression. Muss wirklich zuerst eine größere Krise eintreffen, bevor die Menschen in unserer Gesellschaft merken, dass es so nicht weitergehen kann?

Ich ziehe die Notbremse.

Ich kündige meinen Job, löse meine Wohnung auf, werde all meine Möbel los und starte ein neues Leben. Ich weiß im Nachhinein nicht mehr, was der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Vielleicht war es Mut. Ich weiß nur, dass mir ein Stein vom Herzen gefallen ist in dem Moment, in dem ich für mich entschieden habe, alles hinzuschmeißen und neu anzufangen.

Jetzt bin ich soweit. Ich bin frei. Ich kann tun und machen, was ich will. Ich bin jung, gesund und ich habe Geld. Zumindest ein bisschen. Und wenn ich kein Geld mehr habe: egal. Irgendwie werde ich mich schon durchschlagen. Ich muss nicht planen und bin niemandem irgendetwas schuldig. Von nun an lebe ich nicht mehr in der Zukunft oder in meinen Träumen, ich verweile ab sofort im Hier und Jetzt und genieße jeden Augenblick.

Seit ich diesen Entschluss gefasst habe, sprudelt mein Kopf nur so vor Ideen. Ich könnte zum Beispiel in eine Berghütte gehen und dort eine Wintersaison lang mithelfen und in der Küche arbeiten. Oder aber ich bewege mich nach Italien, zum Beispiel nach Sizilien, um dort auf einem Bauernhof zu arbeiten, gut zu essen und zu kochen, und um Italienisch zu lernen. Ich könnte aber auch ins Entlebuch ziehen und dort ein Praktikum machen als Permakulturgärtner. Meine Ideen und Visionen sind unzählig.

Zuerst kümmere ich mich jedoch um meinen Abgang. Ich erzähle meiner Familie und meinen Freunden von meinem Vorhaben. Die Reaktionen fallen mehrheitlich positiv aus, obwohl sich der eine oder andere wahrscheinlich Sorgen um mich und meine Zukunft macht. Sie verstehen mich, sagen mir, ich sei mutig. Dies gibt mir Kraft.

Als Nächstes kommt mein Arbeitgeber dran. Obwohl ich nicht an Zufälle im Leben glaube, war diese Woche ein Mitarbeitergespräch mit meinem Vorgesetzten geplant. Es sollte darum gehen, dass ich eine neue Position, oder besser gesagt eine Beförderung erhalten würde. Ein Job, den ich schon seit einer Weile angestrebt habe, bot sich mir an. Bis jetzt hatte sich noch nie die Gelegenheit ergeben, diese Stelle zu übernehmen. Dieses Mal hätte ich sie nun bekommen – doch anstatt dieses verlockende Angebot anzunehmen, kündige ich. Ich lehne einen Job ab, den ich mir seit Jahren wünsche.

Zudem muss ich einen Großteil meiner Mitarbeiteraktien abgeben, da ich meinen Arbeitsvertrag nicht einhalte. In der Zeit zwischen meiner ausgesprochenen Kündigung und meinem letzten Arbeitstag erhalte ich noch drei Gehaltserhöhungen. Drei Gehaltserhöhungen! Wenn ich das Ganze aus einer rationalen Sicht betrachte, läuft zurzeit alles gegen mich und gegen meine Entscheidung, jetzt aus meinem bisherigen Alltag auszusteigen. Es fühlt sich so an, als würde das Universum alles dagegen unternehmen, dass ich hierbleibe. Aus finanzieller und karrieretechnischer Sicht ergibt es für mich überhaupt keinen Sinn, zu diesem Zeitpunkt zu kündigen. Und auch mein Umfeld macht es mir nicht einfach. Vielleicht merken meine Mitmenschen jetzt, dass ich es ernst meine mit dem Aussteigen. Denn plötzlich trudeln interessante Jobangebote, Inserate für Wohnungen in der Natur und alles Mögliche ein, um mich hierzubehalten. Oder zumindest hier in der Schweiz. So fühlt es sich für mich an. Natürlich kommen Zweifel auf an meiner Entscheidung. Doch mein Bauchgefühl sagt mir immer noch: Ich bin auf dem richtigen Weg.

Ich mache mir viele Gedanken darüber, was ich nun als Nächstes anstellen könne. Im Internet suche ich verschiedene Projekte, absolviere mehrere Schnuppertage auf einem Bauernhof und in einer Berghütte, und ich rede mit vielen Leuten darüber, was ich denn nun machen soll. Ich entdecke viele schöne und spannende Kampagnen. Aber es fühlt sich nichts von all dem richtig an.

Mein letzter Arbeitstag rückt immer näher, ohne dass ich den Hauch einer Ahnung habe, was ich konkret anfangen würde mit meiner Zeit nach dem Ausstieg aus dem Job. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich vor einer ungewissen Zukunft. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mein Leben immer perfekt durchgeplant, oder mir wurde gesagt, was zu tun sei. Mit 4Jahren ging ich in den Kindergarten, später zur Schule. Nach der Mittelschule wechselte ich ans Gymnasium. Dies alles ist von unserer Gesellschaft vorgegeben. Man macht halt das, was man so macht, und was die Menschen im näheren Umfeld eben machen oder von einem erwarten zu tun. Ich habe mir nie überlegt, wieso ich überhaupt zur Schule gehe. Es gab für mich gar keine Alternative.

Nach dem Gymnasium absolvierte ich eine Ausbildung auf einer Bank. Auch dies war für mich zeitlich begrenzt, und ich wusste genau, dass nach 18Monaten das Praktikum beendet ist. Es folgen sechs Monate Auslandsaufenthalt in Nordamerika, und danach beginne ich mein Studium, welches genau drei Jahre dauert. Nach dem Studium suche ich einen Job und habe plötzlich eine Stelle, ganz ohne zeitliche Begrenzung.

Mir ist klar: Wenn ich nichts unternehme, kann ich hier womöglich mein ganzes Leben verbringen. Bis zur Pensionierung wüsste ich dann, was ich in der nächsten Woche, im nächsten Monat und im nächsten Jahr machen werde. Diese Sicherheit ist mit meinem Entschluss plötzlich weg. Ich stehe vor einer ungewissen Zukunft, von der ich nicht weiß, wohin sie mich führen wird. Obwohl ich genau das angestrebt habe, fällt es mir nicht leicht, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Also muss ein Notfallplan her. Und der heißt: Falls ich nichts anderes finde, gehe ich eine Weile nach Marokko. Einer meiner besten Freunde wohnt da. Vor Jahren ist er in das nordafrikanische Land ausgewandert, um dort eine Ledertaschenfirma zu gründen. Ich habe ihn bereits mehrmals besucht und das Land hat mich, seit ich das erste Mal da war, sehr fasziniert. In Marokko würde ich Ruhe und Zeit zum Nachdenken haben und könnte dort noch weitere Pläne schmieden.

Doch so einfach geht es dann doch nicht, denn das Schicksal macht mir einen Strich durch die Rechnung. Ein paar Tage vor meiner Abreise werde ich krank, ich bekomme Fieber. Ich bin optimistisch, dass sich das schon wieder legen würde und ich pünktlich für meine Reise wieder gesund sein dürfte. Doch das Fieber geht nicht runter und ich muss noch am Tag meiner Abreise einen Arzt aufsuchen. Diagnose: Pfeiffersches Drüsenfieber. Mit anderen Worten: Ich bin reiseuntauglich.

Ich habe mir dieses ganze Projekt einfacher vorgestellt. Wieder werden mein Wille und mein Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt. Anstatt in einem fernen, exotischen Land zu sein, liege ich jetzt bei meiner Mutter zuhause auf dem Sofa und schaue fern. Das Gefühl, dass das Universum mir irgendwas sagen will, geht mir nicht aus dem Kopf. Ich soll nichts überstürzen, das Ganze langsam angehen. Da musst du jetzt noch durch, sage ich mir.

Ich habe jedoch Glück im Unglück. Nach einigen Tagen senkt sich mein Fieber und ich komme langsam wieder zu Kräften. Ich buche ein zweites Ticket und bin nun bereit für meine Reise.

Die Wiedergeburt

Mit dem Bus fahre ich über die Alpen in Richtung Süden. Mitten in der Nacht komme ich in der italienischen Hafenstadt Genua an. Ich verbringe ein paar Stunden schlafend vor der Eingangstür des Hafenterminals. Als ich aufwache, legt das Fährschiff Splendid gerade an und ist nun bereit für die Reise quer übers Mittelmeer. Neben mir warten hunderte anderer Passagiere vor dem großen Schiff darauf, dass uns die Leute in den gelben Westen Eintritt gewähren. Zwei Tage und zwei Nächte werden wir alle zusammen auf dem Schiff verbringen.

Mein mir zugewiesener Platz ist ein großer Sessel in einem nur wenig gefüllten, mittelgroßen Saal, welcher sich im neunten Stock des Schiffes befindet. Der neunte Stock ist nicht das oberste Deck des Schiffes, aber für die Passagiere des Schiffes ist hier Schluss. Vergeblich schaue ich mich nach anderen Rucksacktouristen um. Ich treffe vorrangig junge Familien an und beobachte, dass deren Kinder meist italienisch und die Eltern arabisch miteinander reden. Massenweise Gepäck steht überall herum, im Schlafsaal wie auch in den Gängen. Neben Koffern und Taschen befinden sich darunter auch Fahrräder und Möbel, selbst fahrende Kinderautos kann ich ausmachen.

Ich nehme auf meinem Sessel Platz und schaue aus dem Fenster. Das Schiff nimmt Fahrt auf und schleicht sich langsam, aber mit donnerndem Getriebe aus der Bucht. Wir fahren in Richtung Westen, immer entlang der italienischen Küste, bevor wir später Frankreich erreichen. Ich beobachte die vorbeiziehende Silhouette und das stille Meer, welches durch die nicht vorhandenen Wellen eher an einen See denn an einen Ozean erinnert. Die untergehende Sonne verschwindet in den Wolken, knapp über dem Horizont.

Ich habe nun alle Zeit der Welt und kann entschleunigt ohne Flugzeug reisen. Insgesamt bin ich fünf Tage unterwegs, bis ich mein Reiseziel Marrakesch erreichen werde. Noch nie habe ich eine so weite Reise gemacht, ohne ein Flugzeug zu nutzen. Wäre ich geflogen, wäre ich innerhalb von nur dreieinhalb Stunden am Ziel gewesen. So erreiche ich Marokko in einem ganz eigenen Tempo.

Ich komme aus einem Land, in dem es gerade Winter ist und es seit Tagen regnet. Ein Land, in dem die Leute es gewohnt sind, dass die Eisenbahn auf die Minute pünktlich in den Bahnhof einfährt, ein Land, in dem jeder Einwohner eine obligatorische Krankenversicherung hat und wo sich die Mehrheit einen Flug leisten und Ferien an einem fernen Ort machen kann. Nur dreieinhalb Flugstunden entfernt von meinem Heimatland, der Schweiz, liegt ein anderes Land auf einem anderen Kontinent. Marokko: Ein Land, in dem man eine Sprache spricht, von der ich kein einziges Wort verstehen werde, ein Land, in dem die Frauen in den meisten Regionen nicht ohne Begleitung eines Mannes auf dem lokalen Markt einkaufen gehen dürfen. Ich reise in ein Land, in dem der Bus nur dann abfährt, wenn er bis zur Eingangstür gefüllt mit aneinandergepressten Passagieren ist. In diesem Moment kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie ich in so einer kurzen Zeit in eine komplett andere Welt fliegen könnte.

Als Jugendlicher war das ganz anders. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der man mal kurz ans andere Ende der Welt fliegt, um dort eine Woche am Strand zu liegen und sich zu bräunen oder im Meer zu planschen. Als Sohn eines Piloten habe auch ich von günstigen Flugtickets Gebrauch gemacht und bin quer über unseren Erdball rumgedüst. Eine Tagesreise nach Amsterdam oder eine verlängertes Wochenende nach Shanghai? Das war auch mir nicht fremd. Über den CO2-Ausstoß eines Flugzeuges wusste zwar jeder Bescheid, jedoch waren die Eigeninteressen am Ende um einiges wichtiger als das Wohl unseres Planeten. Auch ich war davon nicht frei. Aber sind solche Reisen wirklich nötig? Kann unser Körper und unser Bewusstsein solch schnelle Reisen überhaupt verarbeiten?

Bewusst entschied ich mich bei meiner Fahrt nach Marokko daher gegen eine Flugreise. Auch spielte der Gedanke eine Rolle, dass eine Reise über Land oder Meer auch um einiges abenteuerlicher ausfallen würde. Man entdeckt fremde Orte und lernt viele neue Leute kennen. Nach all den letzten Monaten, die nicht einfach für mich waren, genieße ich die Zeit hier auf dem Schiff. Ich genieße das Nichtstun, ich genieße das Aus-dem-Fenster-Starren, und ich genieße es, dass ich nur wenig mit Menschen reden muss. Die Zeit gibt mir die Möglichkeit, mich mit meiner neuen Situation anzufreunden. Ich spüre die Veränderung, die in der Luft hängt. Die kühle, klare Schweizer Luft weicht der immer wärmer werdenden, schwülen mediterranen Meeresbrise.

Unser Schiff läuft in den Hafen von Tanger ein. In der quirligen Hafenstadt im Norden Marokkos vermischen sich zwei Welten. Europa trifft auf Afrika. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass ich die nächsten Monate auf diesem Kontinent leben werde. Ich weiß noch nicht, dass mich dieses magische Marokko auf eine lange Reise mitnimmt, die mein Leben grundlegend verändern wird. Ich werde einen kleinen Teil dieses gigantischen Kontinentes bereisen und entdecken, auf dem vor mir liegenden Weg Kulturen kennen und die Menschen und Tiere, die darauf leben, lieben lernen. Meine Träume werden sich endlich verwirklichen können. Lang habe ich über die Zukunft nachgedacht und mir die Bilder in meinem Kopf ausgemalt. Lang habe ich auf diesen Moment gewartet. Und jetzt bin ich endlich da. Ich spüre nordafrikanischen Boden unter meinen Füßen, es ist Realität. Ich bin in meinen Träumen angekommen.

Es vermischen sich positive mit negativen Gefühlen. Innerlich schwanke ich zwischen Abenteuerlust und der Angst vor dem Ungewissen, als ich ganz alleine am Hafen von Tanger stehe. Ich habe all mein Hab und Gut bei mir, dafür bin ich frei von jeglichen Verpflichtungen. Nicht eine trage ich mit mir herum. Ich kann gehen, wohin ich will, wann immer ich will. Unzählige Möglichkeiten stehen mir offen. Mein Körper ist frei und kann machen, was er will. Jedoch sind meine Gedanken noch weit entfernt von Freiheit. Mit der neuen Situation sind sie noch nicht vertraut, und so kreisen sie umher und lassen mir keine Ruhe.

Ich blicke auf das Meer und mache das gegenüberliegende spanische Festland aus. Der Himmel ist so klar, dass man sogar die kleinen weißen Häuser erkennen kann, wie sie so typisch in der Region von Andalusien sind. Unzählige Schiffe fahren jeden Tag vom spanischen Tarifa ins marokkanische Tanger. Zwei Städte, die nur 15Kilometer voneinander entfernt liegen, aber unterschiedlicher nicht sein könnten.

In Tanger vermischen sich europäische Tagestouristen in Flipflops und kurzen Hosen mit traditionell gekleideten Einheimischen. Die Architektur ist eine Mischung zwischen spanischem und französischem Kolonialstil und traditionellem arabischen Handwerk. Die Restaurants und Cafés sind voll mit Menschen. Getrunken wird jedoch keine Cerveza oder Sangría, sondern Minztee und «Ness Ness», was so viel heißt wie halb, halb: ein Teil Kaffee und ein Teil Milch.

Die zwei ruhigen Tage auf dem Schiff weichen einer lauten, mit Menschenmassen und hupenden Autos gefüllten Stadt. Ich bleibe nicht lange hier und besteige rasch den nächsten Nachtzug in Richtung Marrakesch, meinem Reiseziel.

Obwohl ich die ganze Nacht im Zug durchgerüttelt werde, schlafe ich überraschend gut. Als die Sonne am Horizont aufgeht, wache ich erholt in meinem kleinen Zugabteil auf. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken und der Gitarre in der Hand verlasse ich den Bahnhof und spaziere durch die engen Gassen von Marrakesch. Die Medina, so nennt man die alten Stadtteile in Marokko, ist geprägt von engen Gassen, kleinen Marktständen und Geräuschen von Menschen, die in allen möglichen Sprachen miteinander reden. Man hört aber auch Musik, man hört die Motorräder, welche sich mit rauchendem Auspuff durch die Menschenmengen durchschlängeln. Und man hört die Tiere: Seien es die Hühner, die wild umherlaufen, oder die Esel und Maultiere, die mit Baumaterialien vollgeladene Wagen ziehen.

Es sind aber nicht nur die Geräusche, die auf mich einprasseln, auch die Gerüche nehme ich sehr intensiv wahr. Den Gewürzhändler höre ich aufgeregt diskutieren, wie er gerade mit einer deutschen Touristin über den Preis feilscht. Es riecht hier nach Kurkuma, dort nach Kreuzkümmel und an anderer Stelle wieder nach einer schwarzen Olivenseife, wie man sie in Marokko im Hamam, dem Gemeinschaftsbad, benutzt. In der Luft hängt aber auch der Gestank von Abgasen, Abfall und von toten Tieren. Mit Befremden sehe ich, wie der Metzger voller Stolz seine geschlachteten und ungekühlten Hühner auf der Ladentheke präsentiert. Im hinteren Teil des Ladens findet man die noch lebenden Tiere, eingepfercht in kleinen Käfigen, in denen sie darauf warten, bis ein Kunde nach ihnen verlangt.

Von allen Seiten her werde ich angesprochen. Die Standverkäufer wollen mir ihre Produkte aufschwatzen. An jeder Ecke bieten sie mir Schmuck, Keramikware, Teppiche oder dann doch Haschisch an. Noch nie bin ich an einem Ort mit so vielen Eindrücken wie der Medina von Marrakesch gewesen. Inspiration, Tradition und Kreativität vermischen sich mit westlicher Technologie, Business und Tourismus.

Ich verbringe einige Wochen bei meinem Freund Hassan in dessen Riad Dar Bleu, einem traditionellen marokkanischen Haus, dessen Zimmer er an reisende Gäste vermietet. Dort kann ich günstig wohnen, dafür helfe ich ihm beim Betreuen seiner Gäste. Ich erledige für Hassan die Einkäufe und helfe beim Zubereiten des Frühstücks. Die leichte Arbeit macht mir Spaß, sie bringt mir ein wenig Struktur in den Tag. Die letzten Jahre habe ich immer mindestens fünf Tage die Woche und acht Stunden am Tag gearbeitet. Da mir Arbeit grundsätzlich viel Freude bereitet, kommt mir dieser Mini-Job hier sehr gelegen.

Für den Rest des Tages habe ich sonst gar keine Pläne. Ich habe so viel Zeit wie schon lange nicht mehr. Mein Tagesprogramm sieht zurzeit ungefähr so aus: Jeden Morgen stehe ich kurz vor Sonnenaufgang auf. Obwohl ich mich mitten in der Stadt befinde, weckt mich allmorgendlich das Krähen der vielen Hähne in meinem Wohnquartier. Barfuß und noch im Pyjama steige ich die Treppen hoch und klettere auf das Hausdach. Von dort beobachte ich jeden Morgen, wie sich die Sonne langsam hinter dem Atlasgebirge hervorhebt. Sobald die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer der Medina gleiten, fangen die Vögel an zu singen. Ich steige wieder nach unten und gehe raus auf die Gasse, um mir Frühstück zu besorgen. Gleich um die Ecke finde ich eine kleine Patisserie, in der eine Frau jeden Morgen frische «Msemmen», die leckeren marokkanischen Crêpes, zubereitet. Wieder zurück im Riad bereite ich einen frischen Pfefferminztee zu, setze mich auf dem Dach in die Sonne und lerne arabische Vokabeln. Danach spiele ich auf meiner Gitarre oder lese in einem Buch. Später, wenn sich die Sonne bis in die tiefen Gassen der Stadt hervorgearbeitet hat, gehe ich spazieren.

Den ganzen Tag verbringe ich mit irgendwelchen Kleinigkeiten. Ich lasse mich von den Geschehnissen des Tages treiben und jede Minute so geschehen, wie sie kommt. Bei allem, was ich mache, nehme ich mir mehr Zeit. Schnell kann ich mich damit anfreunden, keinen Plan zu haben und einfach in den Tag hinein zu leben.

Meine ersten Wochen in Marokko sind sehr inspirierend. Sie helfen mir, mein ganzes bisheriges Leben von außen zu betrachten. Nach kurzer Zeit fühlt es sich so an, als hätte ich mein altes Leben hinter mir gelassen, wie eine Art Wiedergeburt. Ich nehme mich nicht als Aussteiger, sondern als Einsteiger wahr. Endlich habe ich begonnen, mein Leben zu leben, und alles zuvor war nur ein Scheinleben. Es fühlt sich so an wie ein Leben, welches von einer anderen Person, aber nicht von mir selber gelebt wurde.

Im Internet lese ich zum ersten mal vom «Dar Slimane», einem großen nachhaltig genutzten landwirtschaftlichen Betrieb, der als eine Auffangstation für herrenlose Tiere sowie als Künstlerresidenz fungiert. Dieser Ort befindet sich etwas außerhalb, südwestlich von Marrakesch. Ich will dort ein paar Wochen leben, dort etwas über Landwirtschaft lernen und etwas Zeit in der Natur verbringen.

Der Hof ist zehn Hektar groß, das sind etwa zehn Fußballfelder, und beinhaltet mehrere tausend Olivenbäume sowie andere Obstbäume. Es wird Gemüse angebaut, das man einmal wöchentlich auf dem Markt in der Neustadt von Marrakesch kaufen kann. Neben den Bäumen und dem Gemüse gibt es auf dem Hof auch verschiedenste Tiere. Drei Hunde, drei Katzen, zwei Esel, zwölf Schafe, ein Pferd und unzählige wild lebende Tiere wie Schildkröten, Schlangen, Kröten, Hasen, Vögel, Skorpione und andere Kleintiere aller Art zähle ich, als ich in «Dar Slimane» ankomme. Als freiwilliger Helfer kann ich auf dem Hof in einem riesigen, traditionell marokkanischen Zelt leben und bekomme Gemüse aus dem eigenen Anbau zu essen.

Bei meinen Spaziergängen über das Gelände der Farm mache ich mich mit der Umgebung und mit den Tieren vertraut. In einem Stall entdecke ich die Schafe, die sich diesen Ort mit zwei Eselstuten teilen. Die beiden Langohren ziehen mich sofort magisch an. Obwohl sich beide Esel sehr ähnlich sind, ist einer einiges größer als der andere. Sie haben ein dunkelgraues bis schwarzes Fell mit bräunlichem Einschlag. Weiße Kreise umrunden ihre Augen und ihre Schnauze. Die kleinere Stute, sie heißt Susi, sieht schon etwas älter aus. Ihr Fell ist etwas durchwuschelt und sie hat einige haarlose Flecken auf ihrem Körper. Die größere heißt Lucy und ist, wie ich später erfahre, Susis Tochter. Ihr Fell ist wunderbar glatt und glänzt in der Sonne, als wäre es frisch gekämmt. Sie macht auf mich einen sehr stolzen Eindruck. Die beiden Esel verstecken sich hinter einer alten Lehmmauer, als wären sie sich noch nicht sicher, ob sie mir als Neuankömmling trauen können. Mit einer langsamen Bewegung strecke ich meine Hand aus, damit die zwei an mir schnuppern können. Lucy nähert sich mir als erste. Vorsichtig riecht sie an mir. Doch eine kurze, ruckartige Bewegung lässt die beiden gleich wieder aufschrecken, und sie begeben sich schnell in den hinteren Teil des Stalles.

In diesem Moment habe ich meine spätere Weggefährtin Lucy zum ersten Mal getroffen. Wir beide wissen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht, auf was für ein Abenteuer wir uns zusammen einlassen werden. Keiner von uns ahnt auch nur, dass wir bald durch Höhen und Tiefen gehen werden. Und auch nicht, dass wir am Ende dieser Reise eine enge Freundschaft und tiefe Verbindung aufgebaut haben werden.

Dieser marokkanische Bauernhof wird mein Zuhause für die nächsten paar Monate sein. Ich lebe mich immer mehr in die neue Kultur ein, lerne ein paar Sätze Arabisch und baue einen Freundeskreis auf. Schon bald vermag ich es, auf Arabisch mit den Mitarbeitern von «Dar Slimane» zu kommunizieren. Ich kann Menschen grüßen, mich vorstellen und über das Wetter reden. Bald gelingt es mir sogar, auf dem Markt einkaufen zu gehen und mit dem Taxifahrer ein bisschen Smalltalk zu machen. Meine Fragen sind im Grunde immer dieselben: woher mein Gegenüber denn komme und ob er oder sie Kinder hätte. Mit diesem Einstieg erobere ich sehr schnell die Sympathie meines Gegenübers, denn die Marokkaner erzählen mir liebend gern von all ihren Kindern, wie sie heißen und was sie so machen.

Beim Taxifahrer muss ich dank meiner rudimentären Arabischkenntnisse am Ende der Fahrt nicht mehr um den Fahrpreis feilschen. Die wenigen gelernten Sätze helfen mir unglaublich dabei, die Kultur und das Leben in Marokko besser zu verstehen.

Die meiste Zeit verbringe ich im Gemüsegarten des Hofes und gehe jede Woche mit auf den Biomarkt in der Stadt. Richtig gelesen: Auch in Marokko gibt es einen Markt für biologische Lebensmittel. Ich lerne viel über das Gärtnern, über die Natur und über die Haltung von Tieren. An den Wochenenden und in meiner Freizeit unternehme ich immer wieder kürzere Ausflüge durch das ganze Land.

Eines Tages starte ich eine kleine Reise mit einem kleinen Motorrad über die Berge in Richtung Süden. Mein Ziel ist es, bis an die Grenze Algeriens, nach M’Hamid El Ghizlane, in das letzte Dorf vor der Sahara zu fahren. Um diesen Ort zu erreichen, muss ich aber zuerst die Berge des Hohen Atlas überqueren. Das Atlasgebirge erstreckt sich über tausende Kilometer durch die nordwestafrikanischen Länder Marokko und Algerien bis nach Tunesien und trennt die Sahara von der Mittelmeer- und Atlantikküste. Damit bildet es eine Grenze zwischen dem relativ feuchten und mediterranen Klima im Norden und der extrem trockenen Wüste im Süden. Mit dem Jbel Toubkal befindet sich hier auch der größte Berg Nordafrikas.

Die Gebirgsketten beginnen nur etwa eine Fahrstunde südlich von Marrakesch. Vollgepackt mit meinem Rucksack und einem Kanister Benzin mühe ich mich im ersten Gang die schlängelnden Straßen der Berge hoch. Ich beobachte immer wieder kleine Dörfer, die sich entlang der Bergtäler verteilen. Einfache Lehm- und Steinbauten, in denen die Menschen weit oben in den Bergen hausen, wo sie ein simples, aber hartes Leben ohne jeglichen Luxus führen, säumen meinen Weg. Die Bewohner dieser Gegend leben hauptsächlich vom Ackerbau und von der Viehwirtschaft. Nur eine Handvoll Leute mit Bildung und manche, die das Glück hatten, eine Fremdsprache zu lernen, arbeiten im Tourismus. Sie leiten kleine Gasthäuser und bieten sich als Tourguides an für Wanderungen.

Ich komme in ein kleines Dorf, in dem gerade der Wochenmarkt stattfindet. Auf dem Weg dorthin überhole ich immer wieder Leute, die mit einem Esel unterwegs sind. Viele Menschen tummeln sich auf dem Dorfplatz, trinken Tee und feilschen um Preise. Doch anstelle von Autos oder Motorrädern stehen auf dem Dorfplatz etwa fünfzig Esel und Maultiere. Der Esel oder auch das Maultier sind in Marokko gängige Transportmittel, wie ich erfahren werde. Das macht eigentlich auch sehr viel Sinn, denn ich habe seit etwa hundert Kilometern keine Tankstelle mehr gesehen. Autos und Motorräder sind ein teurer Luxus, den sich nur sehr wenige marokkanische Familien leisten können.

Mit dem Motorrad fahre ich vorbei an all den Dörfern und all ihren Menschen. Ich bewege mich auf der nicht immer guten, aber doch asphaltierten Straße den Pass Tizi n’Outfi hoch und auf der anderen Seite wieder runter. In einer Herberge am Rande der Straße mache ich über Nacht Rast, und am nächsten Tag geht es bereits weiter, raus aus den Bergen und weiter Richtung Sahara. Ich staune über die einzigartige Kultur, erschaffen und geprägt von einem Volk, das bereits seit tausenden von Jahren in dieser kargen Landschaft wohnt. An mir ziehen Menschen vorbei, die nur ein paar Fahrstunden weg von der Metropole Marrakesch leben, in der die Menschen ein westliches, völlig gegensätzliches Leben führen, mit all dem dazugehörigen Luxus. Ich begegne auf meinem Weg Menschen, die von solch einem Leben nur träumen können, denn sie sind hier in den Bergen zuhause, wo die Realität eine andere ist.

Vertrauen gewinnen

Mein Plan für diesen Sommer steht fest: Mit einem Esel werde ich durch die Berge des Hohen Atlas reisen. Ich möchte durch die kargen Landschaften, die begrünten Täler und über die verschneiten Passhöhen wandern. In den Dörfern werde ich Zeit verbringen und von den Menschen lernen. Abenteuer warten auf mich, fremde Leute und neue Gebiete. Wenn es Sommer wird und die Hitze unten in der Stadt unerträglich wird, werde ich mich auf diese Reise begeben.

Ich kehre mit dem Motorrad zurück auf den Hof und beginne, mich auf dieses Abenteuer vorzubereiten. Wie soll ich diese Reise angehen? Wo fange ich an? Soll ich einfach einen Esel kaufen und loswandern? Und wie soll diese Reise aussehen, was soll daraus entstehen? Mir schwirrt der Kopf vor lauter Fragen. Aber ich bin fest entschlossen.

Diese Reise soll mich frei machen. Ich will mich mit der Natur verbinden und frei von jeglichem Luxus leben. Der Stand der Sonne wird meine Uhr sein und das Wetter meine Tagesplanung bestimmen. Ich werde viel Zeit haben, um nachzudenken, um in mich hineinzugehen. Die Reise soll mich befreien von jeglichem Konsumverhalten und zu einer großen Meditationsübung werden. Ich werde nichts mitnehmen, das nur der Unterhaltung oder dem Konsum dient. Keine Bücher, keine Musik, keine Spiele. Alles, was ich mitnehme und was nicht dazu dient, mein Überleben zu sichern, sind ein paar Stifte und ein leeres Buch für Notizen und Zeichnungen. Mit Schreiben und Malen will ich mich kreativ ausleben. Genau so stelle ich mir diese Reise vor.

Ich erstelle Materiallisten, rede mit meiner Familie, mit meinen Freunden, aber auch mit Einheimischen und lasse mich von Hilfsorganisationen, die in der Region tätig sind, beraten. Vor allem meine Bekannten und Verwandten reagieren überrascht und besorgt über meine Pläne und raten mir von meinem Vorhaben ab. Sie sagen mir, ich solle so etwas in der Schweiz machen, in einem Land, in dem ich wenigstens die Sprache verstehe und dessen Kultur mir nicht fremd ist. Sie erzählen mir die Geschichte der zwei Skandinavierinnen, die im Dezember 2018 in einem marokkanischen Bergdorf Opfer eines Attentats wurden. Ich höre auch eine Geschichte von zwei Franzosen, die mit einem Esel durch die Berge gewandert sind. Die Franzosen sind heil wieder zurückgekommen, der Esel jedoch ist bei diesem Abenteuer gestorben.

Auch auf die Gefahren der Witterung in den Bergen werde ich hingewiesen, schließlich könne das Wetter im Atlasgebirge jederzeit umschlagen und kleine Bäche würden sich innert Minuten in tosende Flüsse verwandeln. Tatsächlich passiert ein paar Tage später genau das. Ein Gewitter mit starkem Regen zieht über die Berge, nicht weit von Marrakesch entfernt. Der kleine Bach im Ourikatal verwandelt sich in einen reißenden Strom. Die Wassermassen reißen ganze Häuser mit und ein Bus mit mehreren Insassen wird von einer Schlammlawine erfasst und vom Geröll begraben.

Auch über die Skorpione höre ich so manche Horrorgeschichten. Ich müsse aufpassen, wo ich schlafe, denn Skorpione seien nachtaktive Tiere. Sie krabbeln heimlich in den Schlafsack, ohne dass man es merkt. Bei meiner Recherche habe ich erfahren, dass in Marokko die tödlichsten Skorpione der Welt leben, und man sofort in ein Spital gehen muss, wenn man von einem gestochen wird.