Mit freundlichen Küssen - Jana Voosen - E-Book

Mit freundlichen Küssen E-Book

Jana Voosen

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Beschreibung

Liebe auf Bestellung?

Keine Zeit, dem Liebsten einen Strauß Rosen zu schicken oder ein Gedicht zu schreiben? Oder ein Romantikwochenende in London zu planen? Die frisch verlassene und frisch gefeuerte Viviane hat die zündende Idee, eine Liebesdienst-Agentur aufzumachen und sich um das Beziehungsleben von gestressten Führungskräften zu kümmern. Vivis neue Firma liefert prompt und diskret. Doch als eine junge Frau Liebeserklärungen an Vivis Ex Simon schicken lassen will, kommen Vivi leise Zweifel an der Brillanz ihrer Idee ...

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Seitenzahl: 395

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Inhaltsverzeichnis
 
Zum Buch
Zum Autor
Lieferbare Titel
Widmung
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10 -
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
 
Fünf Monate später:
Copyright
Zum Buch
Gerade hat Viviane Sonntag (31) in einer der besten Unternehmensberatungen den Sprung zur Managerin geschafft, und das bedeutet: mehr Geld, mehr Verantwortung und noch mehr Arbeit. Dabei ist ihr langjähriger Freund Simon schon genervt genug, dass sie nie Zeit hat. Nun verlässt er sie. Zurück bleibt nur der von ihm liebevoll gebastelte Adventskalender, der sie wie ein Mahnmal daran erinnert, Beziehung und Karriere nicht unter einen Hut gebracht zu haben. Liebeskummergeplagt kommt Vivi eine Geschäftsidee der anderen Art: Amors Wichtel.
 
Gefühl garantiert: Der neue Roman der Erfolgsautorin Jana Voosen.
Zum Autor
Jana Voosen, Jahrgang 1976, studierte Schauspiel in Hamburg und New York. Es folgten Engagements an Hamburger Theatern. Des Weiteren war sie in TV-Produktionen wie Tatort, Stahlnetz und Im Tal der wilden Rosen zu sehen. Neben ihren Romanen schrieb sie das erfolgreiche Jugendtheaterstück Hunger. Jana Voosen lebt und arbeitet in Hamburg.
Lieferbare Titel
Zauberküsse – Venus allein zu Haus – Er liebt mich...
Für all die unverbesserlichen Romantiker da draußen! Weiter so!
Kapitel 1
Montagmorgen, 5.35 Uhr:
 
Wie vom Donner gerührt stehe ich mitten im Flur unserer Hamburger Altbauwohnung, bekleidet nur mit meinem bunten Badehandtuch, mit bloßen Füßen und tropfnassen Haaren. Ich befinde mich Auge in Auge mit einem dicken, weißhaarigen Mann. Bitte nicht, schießt es mir durch den Kopf. Nicht schon wieder! Er trägt eine rote Mütze und einen weiten Mantel in derselben Farbe, das rundliche Gesicht fast völlig verdeckt von einem dichten, weißen Vollbart. Sein Blick ruht vorwurfsvoll auf mir, die ich halbnackt vor ihm stehe und voller schlechten Gewissens die Augen niederschlage. Mir läuft ein Schauer den Rücken herunter. Sicher, er kann mir nichts tun. Er ist bloß sechzig Zentimeter groß, zudem aus Pappe und mit einem Nagel an die Schlafzimmertür gepinnt. Dennoch hätte mir der Weihnachtsmann keinen größeren Schrecken einjagen können, wenn er leibhaftig vor mir stünde.
»Nun, Viviane, warst du etwa ein böses Mädchen«, scheint er mich zu fragen, und meine Schultern wandern noch ein Stückchen höher, sodass mein Hals nahezu vollkommen zwischen ihnen verschwindet. Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen und schiele dabei verstohlen auf die dicke Weidenrute in der Hand von Santa Claus.
»Warst du ein faules Mädchen?«, forscht er weiter. Empört reiße ich meinen Blick von den Holzdielen zu meinen Füßen hoch und sehe dem Pappkameraden vor mir direkt in die Augen. Ein faules Mädchen? Ich? Man kann mir vieles nachsagen, ja, aber das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Urlaub gemacht habe. Seit über vier Jahren arbeite ich nicht weniger als sechzig Stunden die Woche. Ich habe es bis zur Managerin gebracht, seit ich bei »Wisenberg Consulting«, einer der größten Unternehmensberatungen weltweit, angefangen habe. Feindselig schaue ich den Weihnachtsmann an, doch der sieht plötzlich gar nicht mehr so böse aus. Im Gegenteil. Sein linkes Auge sitzt etwas höher als das rechte, wodurch er ein bisschen schielt. Unter dem mächtigen weißen Schnauzer biegen sich seine roten Lippen zu einem herzlichen Lächeln nach oben. Ach so, jetzt war also plötzlich alles nicht mehr so gemeint, ja? Er zuckt die Schultern und schüttelt mit einem unschuldigen Augenaufschlag den Kopf, dass die vierundzwanzig roten, rosa und weißen Päckchen, die an seinem Körper herunterbaumeln, nur so klimpern.
»Ich habe doch gar nichts gesagt«, meint er und lächelt mich unschuldig an, »ich hänge friedlich an deiner Schlafzimmertür, um dir eine fröhliche und beschauliche Adventszeit zu wünschen. Bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit …«, trällert er hinter mir her, während ich ins Schlafzimmer stürme, den Kleiderschrank öffne und hektisch nach einem Outfit zu kramen beginne. Da hängt mein dunkelblauer Hosenanzug, frisch aus der Reinigung und noch in durchsichtiger Folie. Erneut packt mich das schlechte Gewissen, denn ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal selbst dort war. Das übernimmt nämlich mein Freund Simon für mich. Ohne ihn wäre ich vermutlich mehr als nur einmal Montagmorgens nackt in den Flieger gestiegen. Und nebenher bastelt er mir auch noch in liebevoller Kleinarbeit einen Adventskalender. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass der Weihnachtsmann an meiner Schlafzimmertür von der weißen Troddel seiner Zipfelmütze bis hinunter zu den braunen, überdimensionalen Stiefeln von Simon selbst entworfen, ausgeschnitten und zusammengeklebt worden ist. Und in jedem seiner vierundzwanzig in Glanzpapier eingeschlagenen Päckchen befindet sich eine wohlüberlegte romantische Kleinigkeit, die mein Herz zur Morgenstunde erfreuen soll. Leider steht für mich auf jedem Geschenk vor allem in greller Leuchtschrift geschrieben: SIEH MAL, WIE AUFMERKSAM DEIN FREUND IST, NACH ALL DEN JAHREN. UND WAS IST MIT DIR?
Ja, was ist mit mir? Nach einem schnellen Blick auf den Radiowecker neben unserem Bett entscheide ich mich wie fast jeden Morgen, auf die Bodylotion zu verzichten. Wie lange meine Haut bei dermaßen stiefmütterlicher Behandlung noch so weich und glatt sein wird wie jetzt, bleibt abzuwarten. Vermutlich nicht mehr sehr lange. Ab jetzt werde ich früher aufstehen, schwöre ich mir, und wo ich schon mal beim Schwören bin, verspreche ich hiermit auch hoch und heilig, im nächsten November einen Adventskalender für Simon zu basteln. Eigenhändig! Zugegeben, das habe ich bereits vor einem Jahr geschworen, als ich mich auf dem Weg aus der Dusche beinahe mit der goldenen Schnur und den vierundzwanzig Päckchen stranguliert habe, die plötzlich in unserem Flur hingen. Die daran befestigten Glöckchen riefen zum Glück Simon auf den Plan, der mich vor dem sicheren Erstickungstod rettete.
Nächstes Jahr, nächstes Jahr, wiederhole ich wie ein Mantra, nächstes Jahr wird alles anders. Nächstes Jahr mache ich den schönsten, aufwendigsten und romantischsten Kalender der ganzen Welt für Simon. Ich darf es nur nicht vergessen. Wo ist mein Blackberry? Ich greife nach dem Mini-Computer auf meinem Nachtschrank und trage für den fünften November des nächsten Jahres die Notiz »ADVENTSKALENDER FÜR SIMON« mit höchster Priorität ein. Danach geht es mir ein bisschen besser. Ich schließe den obersten Knopf meiner weißen Bluse und mustere mich kritisch in der verspiegelten Tür des Kleiderschrankes. Die schmal geschnittene Hose sitzt schon wieder lockerer am Bund, irgendwie komme ich bei all dem Stress in der Firma nie dazu, anständig zu essen. Ansonsten gefällt mir die schlanke, hochgewachsene Frau mit den kinnlangen rotbraunen Haaren, die mir aus dem Spiegel entgegenblickt. Kompetent sieht sie aus, eine, die sich in der von Männern beherrschten Unternehmensberaterwelt durchsetzen kann. Nur die Schatten unter meinen hellgrünen Augen sollte ich dringend noch wegschminken. Während ich ein ganz dezentes Tages-Make-up auflege, höre ich Simon in der Küche rumoren, und als ich wenig später ins Wohnzimmer mit der offenen, modernen Küchenzeile trete, steht er dort und quetscht mit der elektrischen Saftpresse Orangen aus. Ich bleibe einen Moment lang im Türrahmen stehen und betrachte seine schlaksige, fast eins neunzig große Gestalt in den knallgrünen Boxershorts. Irgendwie hat er sich kein bisschen verändert seit der Zeit, als wir uns vor sieben Jahren in der Mensa um den letzten verbliebenen Schoko-Muffin gestritten haben. Von einem Streit kann eigentlich keine Rede sein, er verzichtete sofort heldenhaft, aber ich wollte das nicht annehmen. Mit Ritterlichkeit hatte ich schon immer ein Problem. In meinem Job kann man sich solche Gesten von Kollegen nicht gefallen lassen. Hält dir einer die Tür auf, schnappt er dir im nächsten Moment einen Auftrag vor der Nase weg, denn man ist plötzlich nur noch Frau und damit nicht mehr ernst zu nehmen. Den Muffin habe ich mir schließlich doch aufdrängen lassen, und keine zwei Wochen später waren Simon und ich ein Paar: Die aufstrebende BWLerin und der angehende Studienrat (Englisch und Geschichte). Seine dunkelbraunen Haare sind seit damals vielleicht an der Stirn ein kleines bisschen lichter geworden, aber sie stehen immer noch kreuz und quer in alle Richtungen, reichen weit über die Ohren und im Nacken noch weiter über den Hemdkragen, wenn er denn jemals ein Hemd tragen würde. Aber Simon kauft seine Klamotten nach wie vor am liebsten in Secondhand-Läden. Und diese grässlichen, verwaschenen grünen Unterhosen hat er, glaube ich, schon seit ich ihn kenne. Aber der Po darin ist noch so knackig wie früher. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal unverpackt gesehen habe.
»Guten Morgen«, ich zucke ertappt zusammen, als Simon sich zu mir umdreht.
»Guten Morgen«, nuschele ich und schaue schnell in eine andere Richtung, aber da kommt er schon grinsend auf mich zu.
»Na, wo hast du denn da gerade so interessiert hingeschaut?« fragt er, legt seine Hände auf meine Hüften und zieht mich zu sich heran. Sein schmales, jungenhaftes Gesicht mit den grünbraunen Augen ist jetzt ganz dicht an meinem, ich sehe seinen Mund mit der etwas breiteren Oberlippe, die ihm immer ein leicht schmollendes Aussehen gibt, auf mich zukommen. Ich hebe den Kopf, unsere Lippen treffen sich, und ich schließe kurz die Augen. Hmm, das fühlt sich gut an. Simons Hände wandern an meiner Taille hinauf und beginnen damit, meine Bluse aus der Hose zu ziehen. Alarmiert öffne ich die Augen wieder und sehe den Kranz dunkler Wimpern über seinen genießerisch geschlossenen Augen. Eine Hand wandert hoch zu meinem Nacken und streichelt leicht darüber. Mir läuft ein wohliger Schauer den Rücken hinunter, doch dann fällt mein Blick auf die Küchenuhr. Zehn vor sechs.
»Simon«, nuschele ich abwehrend.
»Vivi«, murmelt er zärtlich und drängelt mich gegen die Arbeitsplatte. Ich beende den Kuss mit einem lauten Schmatzer und schiebe Simon von mir weg.
»Simon, bitte«, sage ich und finde mich selber schrecklich. Ich klinge wie eine Gouvernante. Mit dieser Meinung stehe ich scheinbar nicht alleine da. Mit einem resignierten Schulterzucken wendet er sich wieder dem Orangensaft zu und reicht mir ein Glas.
»Hier.«
»Danke.« In wenigen Schlucken stürze ich das Getränk herunter, während ich zum Aquarium hinübergehe, um meinem Goldfisch Tristan einen Guten Morgen zu wünschen. Er kommt freudig angeschwommen und klappt grüßend das Maul auf und zu. Eigentlich wollte ich immer eine Katze oder einen Hund haben, aber das ist in meinem Job völlig ausgeschlossen. Wenn es Simon nicht gäbe, würde auch Tristan elendig verhungern, denn während der Woche bin ich momentan immer in München. Ich streue etwas Fischfutter in das Wasser und beobachte, wie er sich daraufstürzt. Mein Blick wandert durch das große, rechteckige Aquarium. Hinten links steht das Felsenhaus mit den fünf Löchern, in das Tristan sich zurückziehen kann, rechts ein wahrer Urwald von Zierpflanzen. Ein bisschen fühle ich mich wie eine berufstätige Mutter, die ihr Kind aus schlechtem Gewissen mit Spielzeug überhäuft. »Bis Freitag«, sage ich leise und tippe noch einmal grüßend gegen die Glaswand. Dann wende ich mich Simon zu, der gerade den Entsafter in seine Einzelteile zerlegt und diese unter fließendem Wasser abspült. »Das ist so lieb von dir, aber du brauchst doch wirklich nicht mit mir aufzustehen um diese Zeit«, sage ich wie jeden Montagmorgen, und wie jedes Mal antwortet er:
»Sonst bekomme ich dich doch gar nicht mehr zu Gesicht.« Die gleichen Worte wie immer. Jedes einzelne ein Vorwurf. Zumindest empfinde ich es so. Ich weiß, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Ich weiß, dass ich mir zu wenig Zeit für Simon, für unsere Beziehung nehme, aber woher soll ich die nehmen? Der Tag hat ja kaum genug Stunden, um meinen Job zu erledigen. »Du, Simon, vielen Dank für den Adventskalender.«
»Gern geschehen.«
»Ich kann es nicht fassen, dass bald schon wieder Weihnachten ist«, sage ich verlegen und nippe an dem Milchkaffee, der ebenfalls schon für mich bereitsteht. In einem hohen Glas mit hübscher Milchschaumkrone obendrauf. Wie jeden Montagmorgen.
»Ja, die Zeit fliegt«, antwortet mein Freund ein bisschen steif. Apropos fliegen, verdammt, ich muss los. Just in diesem Moment klingelt es dann auch an der Wohnungstür. Das ist das Taxi, das ich gestern Abend schon bestellt habe. Hilflos stehe ich da, den halb vollen Kaffee in der Hand, und sehe Simon an, der jetzt mit verschränkten Armen am Kühlschrank lehnt und mich erwartungsvoll ansieht. Aber was soll ich sagen? Ihm versprechen, dass alles anders wird? Das habe ich schon so oft gesagt, aber was ist passiert? Vor allem seit meiner Beförderung zur Managerin vor sechs Monaten? Noch mehr Arbeit, noch weniger Zeit. Verdammt, was soll ich denn machen? Plötzlich bin ich furchtbar wütend auf Simon, auf den Weihnachtsmann aus Pappe, den er mir gebastelt hat und auf das Herz aus Kakao auf meinem Milchschaum. Nicht jeder hat einen Job am fünfzehn Autominuten entfernt gelegenen Gymnasium, der um vierzehn Uhr endet, möchte ich Simon am liebsten anschreien. Gleichzeitig möchte ich ihn in den Arm nehmen und sagen, dass es mir Leid tut und dass ich ihn liebe und dass ich ihm nächstes Jahr den schönsten und kreativsten Adventskalender basteln werde, den die Welt je gesehen hat. Ich tue weder das eine noch das andere. Die Türklingel schellt erneut, diesmal länger.
»Ich muss los«, sage ich hastig, mache einen Schritt auf Simon zu, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn zum Abschied auf die Lippen. Mein Kuss bleibt unerwidert. Ich schlinge meine Arme um ihn, doch er bleibt stocksteif. »Es tut mir Leid«, flüstere ich ihm ins Ohr, bevor ich hektisch in den Flur laufe. »Ja doch, ich komme runter«, brülle ich in die Gegensprechanlage, bevor der Taxifahrer mit seiner Sturmklingelei noch den letzten unserer Nachbarn aus dem Bett holen kann. Ich schnappe mir meinen langen, schwarzen Wintermantel und mein Bordcase, das schon fertig gepackt an der Wohnungstür auf mich wartet. Die Hand an der Klinke zähle ich langsam bis fünf und schiele in Richtung Wohnzimmer, ob Simon vielleicht doch noch mal um die Ecke kommt, um mir ein Zeichen der Versöhnung zu geben. Aber nichts rührt sich.
»Tschüss«, rufe ich so fröhlich wie möglich, »ich rufe dich heute Abend an.« Keine Antwort. Na, dann eben nicht, denke ich nun ebenfalls eingeschnappt und stürme die Treppe hinunter.
 
Als ich die Haustür öffne, weht mir ein kalter Wind ins Gesicht. Dicke Schneeflocken tanzen durch die Luft, und die dunkle, von Altbauten gesäumte Straße schimmert wie mit Puderzucker bestäubt. Auch die kahlen Linden haben ein weißes Kleid bekommen. Die rundliche Verkäuferin aus der Bäckerei gegenüber winkt mir fröhlich zu, während sie die Tür aufschließt, ansonsten wirkt unser Stadtteil zu dieser nachtschlafenden Zeit noch wie ausgestorben. Einmal ausschlafen, denke ich seufzend, während ich in meinen halbhohen Pumps vorsichtig auf das wartende Taxi zustöckele. Schneeränder an meinen Schuhen kann ich wirklich nicht gebrauchen. Der dunkelhaarige Taxifahrer steht lässig an sein Fahrzeug gelehnt und raucht eine Zigarette, die er jetzt im Aschenbecher ausdrückt, um mir meinen Koffer abzunehmen.
»Dann wollnwer ma, wa?«, fragt er gut gelaunt und öffnet mir mit Schwung die Tür.
»Ja, danke!« Ich nehme auf dem Rücksitz Platz. »Zum Flughafen, bitte.«
»Allet klar!« Mit quietschenden Reifen geht die Fahrt los, während ich zu unserer Wohnung im zweiten Stock hochsehe. Doch die roten Vorhänge rühren sich nicht. Seufzend lehne ich mich in den Sitz zurück und schließe die Augen. Was für ein Montagmorgen. Aber es wird trotzdem eine gute und erfolgreiche Woche werden, bete ich vor mich hin. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen, denn in München leite ich zur Zeit mein erstes Projekt als Managerin für »Wisenberg Consulting«. Das Rechnungswesen der Vereinsbank wird auf internationale Rechnungslegung umgestellt, unsere Vorstudien stehen kurz vor dem Abschluss, und bis zur Präsentation ist noch eine Menge zu tun. Während sich das Taxi seinen Weg durch die kreuz und quer parkenden Autos bahnt, warte ich auf den aufgeregten Hüpfer in der Magengegend, der sich früher immer eingestellt hat, wenn ich an meinen Job dachte. Stattdessen spüre ich Übelkeit aufsteigen. Was ist denn nur los mit mir? Ich liebe doch meinen Job, ich lebe für ihn. Seit Jahren widme ich ihm all meine Energie. Wenn Simon doch bloß verstehen würde …
»Oh nein«, schreie ich plötzlich und reiße die Augen auf. Mein Fahrer zuckt erschreckt zusammen und reißt das Lenkrad herum. Der Wagen beginnt bedrohlich zu schlenkern und hinter uns ertönt ein wahres Hupkonzert. Mit aufheulendem Motor überholt uns rechts ein schwarzer Mercedes, dessen Insasse sich unmissverständlich an die Stirn tippt und mit hochrotem Kopf Verwünschungen ausstößt. Ich sitze immer noch wie erstarrt mit kerzengeradem Rücken da, während der Taxifahrer entschuldigende Gesten in sämtliche Richtungen vollführt.
»Jute Frau«, sagt er dann kopfschüttelnd, »watt brüllen Sie denn so?«
»Nichts, es tut mir Leid«, flüstere ich atemlos.
»Sie sehn nich jut aus, kann ich Ihnen sagen«, meint er besorgt, und unsere Augen treffen sich im Rückspiegel.
»Es ist alles in Ordnung«, beeile ich mich zu versichern. Soeben passieren wir das Schild, das den Hamburger Flughafen ankündigt. Nur noch eineinhalb Kilometer. Eindeutig zu spät, um noch umzukehren, und das erste Päckchen meines Adventskalenders zu öffnen.
Kapitel 2
Als ich am selben Abend in mein Hotelbett sinke, ist es bereits nach ein Uhr nachts. Erschöpft schließe ich die Augen. Warum muss dieser dämliche Peter Krüger sich auch ausgerechnet jetzt einen Bandscheibenvorfall zuziehen? Nun bleibt noch mehr Arbeit an mir hängen, denke ich gereizt. Und Simon habe ich schon wieder nicht angerufen, und um diese Zeit sollte ich das vielleicht auch besser nicht mehr tun. Lieber eine SMS! Ich greife nach meinem Blackberry und überlege angestrengt. Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich (mal wieder) mein Versprechen an ihn nicht gehalten habe? Oder einfach eine zärtliche Gute-Nacht-SMS schreiben?
 
Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn das Nächste, was ich höre, ist der penetrante Weckruf meines Blackberrys, das jetzt irgendwo unter meiner linken Brust vibriert. Kaum habe ich mich aus dem Laken gewühlt und einen Blick auf die begonnene Kurznachricht geworfen: »Liebster Simon, ich …«, sitzt mir auch schon das schlechte Gewissen im Nacken. Was ist bloß los mit mir? Eine kurze SMS an meinen Freund, das muss doch wohl drin sein. Ich schwöre, mir heute eine ganze Stunde für die Mittagspause freizuschaufeln, um wenigstens in Ruhe mit ihm telefonieren zu können. Mit diesem Vorsatz geht es mir ein wenig besser, und ich schwinge die Beine aus dem Bett.
Leider muss ich auch diesen Plan gegen zwölf wieder über Bord werfen. Es gibt einfach zu viel zu tun, und meine Pause verbringe ich gemeinsam mit Benjamin Walsenfels am Schreibtisch. Benjamin hat am selben Tag wie ich bei »Wisenberg Consulting« angefangen und vorher eine ganz ähnliche Ausbildung absolviert: Studium der internationalen BWL, gefolgt von diversen Auslandspraktika. Schulter an Schulter haben wir den Job angetreten, wobei mir seine Schulter gerade mal bis zur Brust reichte. Ich bin nun mal eine große Frau und trug damals gern sieben Zentimeter hohe Schuhe zum viel zu kurzen Kostüm. Am Anfang waren wir uns nicht unbedingt sympathisch. Er musterte mich missbilligend aus wasserblauen Augen unter einem blonden Bürstenhaarschnitt, und seine laute, aggressive Art schüchterte mich anfangs ein. Aber irgendwie haben wir uns zusammengerauft. Ich verzichtete mit der Zeit auf hohe Absätze und gewann Selbstvertrauen, und Benjamin zollte mir schließlich einen gewissen Respekt. Nach meiner Beförderung zur Managerin hatte ich allerdings kurzzeitig das Gefühl, dass sich unser Verhältnis wieder abkühlte. Möglicherweise war das aber auch Einbildung. »Du redest dir das ein, weil du tief in dir drin Schuldgefühle hast, dass du als Frau schneller Karriere machst als ein dir gleichgestellter Mann«, sagt meine Schwester Christiane immer.
Gerade stellen wir einen ersten Entwurf der Maßnahmenplanung auf, als Benjamins Telefon klingelt.
»Entschuldige, das ist meine Frau«, sagt er nach einem kurzen Blick auf das Display, und ich nicke verständnisvoll. »Hallo Süße«, spricht er in den Hörer und wendet sich ein wenig von mir ab. Verstohlen betrachte ich ihn von der Seite. Wie immer trägt er einen tadellos sitzenden Anzug, heute in Dunkelbraun mit einem rosa Hemd und gleichfarbiger Krawatte. Ob seine Frau dieses Outfit für ihn ausgesucht hat? Die redet gerade ohne Punkt und Komma, während Benjamin nur hier und da ein »Hmm«, »Ach« und »Soso« fallen lässt. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich die Unterbrechung nutzen könnte, um Simon anzurufen. Selbst wenn er gerade im Unterricht sein sollte, so kann ich immerhin eine Nachricht auf seine Mailbox sprechen. Gerade will ich nach meinem Blackberry greifen, als Benjamin sagt:
»Süße, ich stecke hier mitten in einer wichtigen Besprechung, ich rufe dich heute Nacht an. Bis dann, tschüss!« Und noch ehe seine Frau die Chance zum Widerspruch oder auch nur einer Verabschiedung hat, legt er auf und wendet sich mir wieder zu. »Entschuldige, wo waren wir?« Bei so viel Pflichtbewusstsein wage ich es nicht, nun selber um eine kleine Unterbrechung zu bitten, und lasse das Blackberry sinken.
 
Ich bin ein schlechter Mensch! Es ist Sonntagmittag, und ich lande gerade auf dem Hamburger Flughafen. Ich habe die anstrengendste Woche meines bisherigen Arbeitslebens hinter mir. Außer Peter ist noch ein anderer Consultant aus dem Team ausgefallen, Martin Sommer, der mit einer Salmonellenvergiftung im Krankenhaus liegt. Die ganze Woche habe ich nicht ein einziges Mal bei Simon angerufen. Und ganze drei SMS geschrieben. Die zweite am Freitagabend:
LIEBSTER SIMON, ES TUT MIR SO LEID, ABER WIR MÜSSEN MORGEN ARBEITEN, KOMME AM SAMSTAG MIT DER LETZTEN MASCHINE. DEINE VIVI.
Dann eine gestern Abend:
LIEBSTER SIMON, ES TUT MIR SO LEID, ES HAT LÄNGER GEDAUERT, ICH KOMME ERST MORGEN WIEDER. ABER WIR MACHEN UNS EINEN GANZ SCHÖNEN SONNTAGABEND, JA? DEINE VIVI.
Ich kann es ihm noch nicht einmal verübeln, dass er mir darauf nicht geantwortet hat. Die erste SMS lautete nämlich:
GANZ BESTIMMT, VERSPROCHEN!!!
Und war die Antwort auf seine SMS von Mittwochvormittag:
LIEBE VIVI, BITTE RUF MICH HEUTE ABEND AN. ICH MUSS UNBEDINGT MIT DIR SPRECHEN. ICH VERMISSE DICH! DEIN SIMON.
Während ich im Taxi sitze, starre ich auf diese Nachricht. Ich bin ein solcher Hornochse! Eigentlich lohnt es sich ja gar nicht, für einen halben Tag nach Hause zu fliegen, wo ich doch morgen um halb sieben schon wieder zurück nach München muss, aber ich brauche wenigstens einen Abend zu Hause. Mit Simon. Ich bin so erschöpft, dass ich heulen könnte. Zum vierten Mal hintereinander versuche ich, ihn anzurufen, aber es geht nur die Mailbox dran. Vermutlich ist er so sauer, dass er sein Telefon einfach ausgeschaltet hat. Und ehrlich gesagt kann ich ihn sogar verstehen. Auch wenn ich selber in tausend Jahren mein Handy nie, nie, niemals ausschalten würde.
»Hallo Simon, hier ist Vivi, schade, ich erreiche dich nicht«, sage ich mit bemüht fröhlicher Stimme und muss plötzlich an die vielen Male denken, die Simon mich nicht erreicht hat. Weil ich in einer wichtigen Konferenz war. Mit dem Vorstand der Vereinsbank beim Lunch. Mit meinem Chef auf der anderen Leitung. »Bitte ruf mich an, wenn du das hier abhörst, ja? Ich freue mich so auf dich. Ich komme jetzt nach Hause, okay? Bis gleich!« Voll des schlechten Gewissens lege ich auf und starre gedankenverloren aus dem Fenster in den trüben, nebligen Himmel. Der Schnee vom Anfang der Woche ist nicht liegen geblieben, das Wetter ist einfach nur grau und trostlos. Aus dem Radio dringen die Klänge von »Oh du fröhliche« an mein Ohr. Von wegen selige Weihnachtszeit. Nichts als Stress und Hektik. Im Geiste gehe ich durch, für wen ich noch alles Geschenke besorgen muss. Für Simon natürlich. Irgendetwas richtig Schönes und Romantisches und Durchdachtes muss es sein. Keine Krawatte jedenfalls. Die würde er sich vermutlich sowieso eher als Stirnband um den Kopf binden, bevor er damit seinen Kehlkopf in Gefahr bringt. Kurz muss ich bei dem Gedanken grinsen, aber dann klopfen schon wieder die Sorgen an. Ich brauche ein gutes Geschenk für Simon. Etwas, worüber er sich richtig freut. Ich muss die Sache mit dem Adventskalender wieder gutmachen. Und den verpatzten Urlaub im Sommer. Die vielen Wochenenden, die ich durchgearbeitet habe. Die unbeantworteten Anrufe. Ich zerbreche mir den Kopf, aber statt des zündenden Gedankens fährt ein scharfer Schmerz durch meine Schläfen. Das kenne ich schon. Zu Hause werde ich mich als Erstes in die Badewanne legen, um ein wenig zu entspannen. Dann könnten wir Essen bei unserem Lieblingsasiaten bestellen, Ente süß-sauer und Schweinefleisch mit Gemüse, und uns ein bisschen vor die Glotze hauen. Eigentlich wäre es auch mal wieder Zeit, dass wir miteinander schlafen. Ich versuche, mich an das letzte Mal zu erinnern, und bin erschrocken, dass ich es nicht kann. So lange ist das schon her?
 
Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke und ihn zweimal herumdrehen muß, bin ich ein wenig enttäuscht. Ist Simon denn nicht zu Hause? Was macht der bloß? Sofort rufe ich mich innerlich zur Ordnung. Was erwarte ich von ihm? Dass er hier in der Wohnung rumsitzt und darauf wartet, dass ich gnädigerweise mal auftauche? Na eben. Wahrscheinlich ist er mit irgendeinem seiner Freunde unterwegs.
»Simon«, rufe ich dennoch leise, als ich in den Flur trete, aber natürlich bekomme ich keine Antwort. Ich lasse meine Aktentasche zu Boden fallen und schäle mich aus dem Mantel. Mein Blick fällt in den Garderobenspiegel, und ich zucke erschreckt zurück. Furchtbar sehe ich aus. Die Augen liegen in dunklen Höhlen und funkeln nicht mehr leuchtend grün wie sonst, sondern wirken matt und tot. Ich trete einen Schritt näher und betrachte mich kritisch. An beiden Schläfen und auf dem Kinn habe ich Pickel, die Haut wirkt grau und unrein, die Haare sind stumpf und ohne Glanz.
»Du bist eben keine fünfundzwanzig mehr, sondern einunddreißig«, sage ich kritisch zu meinem Spiegelbild. Mein Konterfei reagiert alles andere als begeistert auf mein gnadenloses Urteil. Es presst die Lippen zusammen, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell reiße ich mich vom Spiegel los, bevor ich noch anfange, hier rumzuflennen. Dann ist es nämlich endgültig vorbei mit der Attraktivität. Ich stelle meinen Koffer im Schlafzimmer ab, das am Ende des Flures liegt, und werfe einen Blick auf unser breites, gemütliches Bett mit den weinroten Bezügen, das viel zu lange nur zum Schlafen benutzt worden ist. Plötzlich muss ich daran denken, wie wir das Bett gemeinsam gekauft haben. Wie wir stundenlang durch die verschiedensten Matratzengeschäfte gelaufen sind und probegelegen haben. Wie viel Zeit wir damals noch gehabt haben. Und wie glücklich wir waren. Als das Bett dann geliefert wurde, hat Simon einen Pfad aus Teelichtern und Rosenblättern durch den gesamten Flur gelegt, bis zum Bett, wo er mich erwartet hat. In seiner grünen Unterhose. Danach haben wir tagelang die Wohnung nicht verlassen. Ich habe Sehnsucht nach unserem alten Leben. Nach Simon. Unserer Zweisamkeit. Ich schüttele die Müdigkeit ab und laufe in die Wohnküche, wo ich Tristan im Vorbeilaufen ein Hallo zurufe. Natürlich kann ich die Vergangenheit nicht zurückholen. Wir sind nun keine Studenten mehr. Ich habe einen anstrengenden Job, der mich fordert. Habe viele Jahre darauf hingearbeitet, um dort hinzukommen, wo ich jetzt bin. Doch meine Beziehung zu Simon ist mir auch wichtig. Heute Abend denke ich nicht mehr an die Arbeit. Heute Abend werde ich Sex haben. Irgendwo müsste doch hier noch ein Beutel Teelichter herumliegen. Ich finde ihn schließlich in der hintersten Ecke einer Schublade. Die Ausbeute ist mager, nur noch sieben Stück, aber immerhin. Ich spurte zurück ins Schlafzimmer und verteile sie auf der Fensterbank und den Nachtschränkchen. Dann gehe ich ins nebenan liegende Badezimmer und krame im Spiegelschrank nach den Badezusätzen. Oh, wie schön wäre es, nach einem heißen Bad in die Kissen zu sinken und einfach bis zum Morgen durchzuschlafen. Achtzehn Stunden lang! Ich widerstehe der Versuchung jedoch heldenhaft und greife nach einem Fläschchen Rosmarin und Minze, »wirkt belebend bei geistiger Erschöpfung und Antriebsschwäche«. Na, das klingt doch wie für mich gemacht. Während sich die Badewanne mit heißem Wasser füllt und ein ätherischer Duft sich breit macht, schlüpfe ich schnell aus meinen Klamotten. Auweia, wie lange habe ich mir eigentlich nicht mehr die Beine rasiert? Von der Bikinizone ganz zu schweigen. Vorsichtig gleite ich in das warme Wasser und schließe kurz die Augen. Nein, das ist keine gute Idee. So anregend Rosmarin und Minze auch sein mögen, bei meinem Müdigkeitszustand ist das Liegen in einer Badewanne mit geschlossenen Augen lebensgefährlich. Ich öffne sie also wieder und beschäftige mich lieber damit, mich in eine ansehnliche und begehrenswerte Frau zu verwandeln. Haare waschen und kuren, Beine rasieren und so weiter. Tatsächlich kehren allmählich meine Lebensgeister zurück. Nach dem Bad creme ich mich mit einer nach Vanille duftenden Lotion ein und mache den Pickeln in meinem Gesicht den Garaus. Na toll, jetzt sehe ich aus wie ein Streuselkuchen. Vorsichtig tupfe ich Concealer auf die geröteten Stellen und trage gleichzeitig ein wenig Wimperntusche, Rouge und Lipgloss auf. Na also, schon sehe ich nicht mehr aus wie ein Gespenst auf Urlaub. Im Schlafzimmer suche ich in meiner Kommode nach schicker Unterwäsche und ziehe schließlich einen dunkelbraunen Spitzen-BH nebst passendem Höschen hervor. Ich schlüpfe hinein und sehe kritisch an mir herunter. Na schön, meine Oberschenkel waren ein wenig straffer, als ich noch Zeit hatte, zweimal in der Woche zum Aerobic zu rennen. Wo Simon nur bleibt? In diesem Moment höre ich ein Geräusch und lausche angestrengt. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und ich höre, wie jemand die Wohnung betritt.
»Simon?«, frage ich.
»Ja«, gibt er zurück. Na, wer sollte es auch sonst sein?
»Hallo«, rufe ich und plötzlich beginnt mein Herz, ein wenig schneller zu schlagen. Was ist denn bloß los mit mir? Bin ich tatsächlich aufgeregt? Nur weil ich mit Simon schlafen will? Simon, mit dem ich seit fast sieben Jahren zusammen bin? Verdammt, über sieben Jahre. Mein Magen macht einen entsetzten Hüpfer. Was ist denn bloß los mit mir? Letzte Woche war unser Jahrestag. Am Mittwoch. Als ich so viel zu tun hatte, dass noch nicht einmal ein kurzes Telefonat mit Simon drin war. Keine zwei Minuten. Ich habe unseren Jahrestag vergessen. Unglücklich starre ich mich in der Spiegeltür des Kleiderschranks an, doch dann hellt sich meine Miene wieder etwas auf. Eigentlich bin ich gar kein schlechter Anblick, in Unterwäsche und mit ein bisschen Make-up im Gesicht. Wir feiern einfach heute unseren Jahrestag nach. Ich wünschte, ich hätte ein Geschenk für Simon, aber dann muss es eben so gehen. Jetzt aber flott, bevor er hier reinkommt. Mit wenigen Handgriffen klaube ich die herumliegenden Klamotten vom Boden auf und werfe sie unten in den Schrank. Dann entzünde ich hektisch die Teelichter und schalte das elektrische Licht aus. Prüfend schaue ich mich um. Ein paar Kerzen mehr wären schon ganz nett, aber das ist ja jetzt nicht mehr zu ändern. Ich drapiere mich halb liegend auf der dunkelroten Bettdecke und stopfe mir ein Kissen in den Rücken. Ups, vielleicht sollte ich vorher noch den Handtuch-Turban auf meinem Kopf loswerden. Ich reiße ihn herunter und fahre mir mit den Fingern ein paar Mal durch die noch feuchten Haare, rutsche ein wenig hin und her, um einen möglichst erotischen Anblick zu bieten. Dann warte ich. Eine Minute, zwei Minuten.
»Simon«, rufe ich halblaut. Ich erhalte keine Antwort. »Simon«, wiederhole ich lauter. Warum kommt er denn nicht her? Wir haben uns doch das ganze Wochenende nicht gesehen. Ob er sehr sauer ist wegen des Jahrestages? Ich lausche angestrengt. Aber im Flur bleibt alles still. Ich warte noch ein paar Sekunden, dann rappele ich mich seufzend auf und tapse barfuß über den Holzfußboden. »Simon? Wo bist du?«
»Hier«, erklingt seine Stimme vom anderen Ende der Wohnung aus dem Wohnzimmer. Bauch rein, Brust raus. Ich fühle mich ja ehrlich gesagt immer ein bisschen unwohl, wenn ich halbnackt durch die Gegend laufe. Doch ich nehme Haltung an und gehe zu Simon ins Wohnzimmer. Irgendwie sieht er traurig aus, wie er da mit hängenden Schultern an unserem großen Esstisch sitzt und vor sich hin starrt.
»Hey«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu. Er blickt hoch, und seine Augen flackern kurz irritiert auf. Ich stütze eine Hand in meine Taille und versuche so etwas wie ein kokettes Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen gelingt es mir nicht ganz. Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu. Was soll ich sagen? »Herzlichen Glückwunsch zum Jahrestag« und mich dann auf ihn stürzen? Irgendwie ist so etwas in der Theorie viel leichter als in der Praxis. Außerdem schaut Simon mich die ganze Zeit so merkwürdig an. Seine Augen scheinen mich zu durchbohren, und ich wünsche mir noch mehr als vorher, dass ich mir etwas übergezogen hätte. Irgendwas stimmt doch hier nicht. Es ist, als befände sich zwischen uns eine unsichtbare Mauer. Simon wirkt wie ein Fremdkörper in seiner eigenen Wohnung. Plötzlich läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken, die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf.
»Warum hast du denn deine Jacke noch an?«, frage ich alarmiert und kann meinen Blick nicht losreißen von dem Kleidungsstück aus dunkelbraunem Tweed. Der Reißverschluss ist bis unter das Kinn geschlossen, der Kragen hochgestellt. Meine Nacktheit wird mir noch mehr bewusst dadurch, dass Simon so völlig unpassend angezogen und zugeknöpft in unserem gut beheizten Wohnzimmer sitzt. »Warum hast du deine Jacke an«, wiederhole ich und schaue Simon in die Augen. Er weicht mir aus und starrt auf die Tischplatte. Ich folge seinem Blick. Da liegt der Schlüsselanhänger, mein allererstes Geschenk an Simon. Die kleine, mittlerweile arg ramponierte und abgegriffene Schildkröte. An dem silbernen Ring hängen vier Schlüssel, für die Haus- und Wohnungstür, Briefkasten und Dachboden.
»Was ist das?«
»Das sind die Schlüssel zu deiner Wohnung.« Ich öffne den Mund, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es die Schlüssel zu unserer Wohnung sind. Zu unserer Wohnung, nicht meiner. Aber da hebt Simon wieder den Blick, und die Härte in seinen Augen lässt mich verstummen.
»Ich habe dich verlassen. Nur für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen sein sollte.«
Kapitel 3
Ich stehe noch immer wie zur Salzsäule erstarrt mitten im Wohnzimmer, nachdem sich die Wohnungstür längst hinter Simon geschlossen hat. Eine Salzsäule in dunkelbrauner Spitzenunterwäsche. Wie hat er das gemeint, er hat mich verlassen? Angestrengt versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Mein Gehirn fühlt sich an, als hätte jemand einen Topf mit extra zähflüssigem Klebstoff darüber ausgeleert. Es kann nicht sein, ich muss mich verhört haben. Man setzt sich nicht an einen Tisch, ohne auch nur Jacke und Schuhe auszuziehen, und eröffnet seiner langjährigen Freundin das Ende der Beziehung. So was tut man nicht. Na gut, mann vielleicht schon, aber doch nicht Simon. Sieben Jahre, die löscht man nicht einfach aus. Es ist ja nun nicht so, dass wir uns ab und zu mal zum Kino oder Vögeln verabredet hätten. Wir wohnen schließlich zusammen. Ach so! Plötzlich wird mir alles klar, und vor lauter Erleichterung werden meine Knie ganz weich. Natürlich, das war ein Schreckschuss! Eine Verwarnung! Simon zeigt mir die gelbe Karte! Die Erleichterung darüber, dass alles nicht so schlimm ist, und die Wut über den Schrecken, den er mir damit eingejagt hat, wechseln einander ab, aber schließlich gewinnt doch die Erleichterung. Ich muss ja zugeben, dass Simon es in der letzten Zeit nicht ganz leicht mit mir gehabt hat. Streng genommen in den letzten vier Jahren. Irgendwie kann ich sogar verstehen, dass er jetzt zu härteren Bandagen greift, um mir klarzumachen, dass es so nicht weitergehen kann. Aber eigentlich habe ich das doch gerade selber begriffen, oder etwa nicht? Nachdenklich sehe ich an meinem fast nackten Körper herunter. Wie konnte er mich einfach hier so stehen lassen, in meiner Blöße? Es hätte so ein schöner Abend werden können! Warum ist er denn nicht einfach ins Schlafzimmer gekommen, um mich zu »verlassen«? Dann hätte er sehen können, dass ich mich bemühe. Dass er mir nicht egal ist. Nachdenklich starre ich auf die Stoffschildkröte, die noch immer, hilflos auf ihrem Panzer liegend und die Beine in die Höhe gestreckt, vom Esstisch zu mir hoch schielt. Ob Simon erwartet hat, dass ich ihn aufhalte? Vielleicht hätte ich das tun sollen. Und wieso habe ich nicht? Na gut, ich werde ihn anrufen. Jetzt sofort. Ich werde ihn bitten zurückzukommen. Ich werde von mir aus auch betteln. Wo habe ich mein Telefon? Vermutlich in meiner Handtasche im Flur. Gerade bin ich im Begriff, es zu holen, als mein Blick an einer Unstimmigkeit hängen bleibt. Irritiert sehe ich auf die breiten, weißen Regalborde, die Simon bei unserem Einzug über die gesamte Längsseite des Raumes verteilt hat. Die langen Reihen von DVDs weisen unverkennbare Lücken auf. Ich trete vor das Regal, lege meinen Kopf schief und lese die Rücken der DVD-Boxen. »Titanic«, »Pretty Woman«, »Dirty Dancing«, »Die Hochzeit meines besten Freundes«. Nein, das kann nicht sein. Immer schneller fliegen meine Augen von Filmtitel zu Filmtitel. »Vom Winde verweht«, »Fackeln im Sturm«, »Romeo&Julia«, »Die fabelhafte Welt der Amélie«. Es kann nicht sein. Wo sind »Das Fest« und »Dogville«, wo »Die Hard« und »Kill Bill«? Diese DVD-Sammlung sieht aus, als hätte nie ein Mann in dieser Wohnung gewohnt. »X-Man«, »Star-Wars« und »Spiderman« sind ebenso spurlos verschwunden wie die ersten beiden Staffeln von »Doktor House«, sonst eingequetscht zwischen »Sex and the City« und »Desperate Housewives – Staffel zwei«. Mich überkommt eine böse Vorahnung. Ganz langsam drehe ich mich um und sehe auf einen weißen Fleck an der gegenüberliegenden Wand. Strahlend, nahezu unnatürlich weiß leuchtet er mitten auf der vergilbten Fläche. Ungläubig betrachte ich das leere Rechteck. Von links unten nach rechts oben misst es exakt fünfundsechzig Zentimeter. Genau so viel wie der Flachbildfernseher, der bis vor Kurzem noch an dieser Stelle hing. Der DVD-Player hat mich ebenfalls verlassen, genauso wie die Hi-Fi-Anlage. Ganz langsam dämmert es mir, dass Simon seinen »Schreckschuss« anscheinend von langer Hand geplant haben muss. Schwankend laufe ich durch die Wohnung. Es fehlt nicht viel, aber Entscheidendes. Kein einziges Möbelstück hat Simon mitgenommen, obwohl wir das meiste zusammen gekauft haben. Nur der Technikkram ist fort, und all seine persönlichen Sachen. Seine Klamotten, auch die Sommersachen. Ja, du liebe Güte, wie lange will er denn wegbleiben? Im Badezimmerschrank wühle ich mich durch diverse Tages- und Nachtcremes, Haarlack, Bodylotion, Shampoos und Slipeinlagen. Kein »Nivea for man«, kein »Emporio-Armani«-After-Shave, nichts. Unter dem Spiegelschrank steht der Zahnputzbecher mit einer einzelnen gelben Zahnbürste darin. Wie konnte ich das nur übersehen? Einsam und allein hält sie die Stellung, ohne ihren blauen Freund, der ihr so viele Jahre treu zur Seite stand. Ich greife nach der Verlassenen, streiche sanft über ihre Borsten. Sie sind schon recht unansehnlich, zerzaust und platt gebürstet durch den Zahn der Zeit. Gewissenhaft hat sie ihren Job gemacht, und was hat sie jetzt davon? Ich gebe Ajona-Zahncreme auf den Bürstenkopf und nehme nur noch am Rande wahr, dass natürlich auch das Signal-Sportgel verschwunden ist. Mechanisch putze ich mir die Zähne und starre dabei in meine weit aufgerissenen Augen, unter denen die Wimperntusche in schwarzen Streifen in Richtung Mundwinkel läuft. Ich versuche mir das eben Geschehene wieder ins Gedächtnis zu rufen. Was hat Simon gesagt? Hat er noch irgendetwas zum Abschied gesagt? Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Nur noch an seine Worte: »Ich habe dich verlassen. Nur, falls es dir nicht aufgefallen sein sollte.«
Jetzt weiß ich natürlich auch, wie er das gemeint hat. Der weiße Fleck an der Wohnzimmerwand ist eigentlich ziemlich unübersehbar. Alles, was danach kam, ist wie in einen Nebel gehüllt. Ist er aufgestanden und gegangen? Ohne ein weiteres Wort? Und ich? Habe ich einfach dagestanden und geschwiegen? Oh mein Gott, ich kann mich nicht an die letzten Worte erinnern, die Simon zu mir gesprochen hat. Das geht nicht, beschließe ich. Verschleierte Erinnerungen sind etwas Furchteinflößendes. Also nehme ich meinen Plan von vorhin wieder auf und laufe in den Flur zu meinem Handy. Wähle Simons Nummer. Vielleicht klärt sich doch noch alles auf.
»Ich bin gerade nicht zu sprechen, hinterlasst eine Nachricht nach dem altbekannten Piep.«
»Simon«, hauche ich in den Hörer. Was soll ich ihm sagen? »Bitte ruf mich zurück«, würge ich hervor und lege auf. Dann schleppe ich mich wieder in Richtung Schlafzimmer. Ein übergewichtiger, bärtiger Mann in roten Klamotten versperrt mir den Weg und schüttelt seine Päckchen, die noch vollzählig von seinem mächtigen Leib herunterbaumeln. Welches Datum haben wir heute eigentlich? Der Weihnachtsmann schielt mich freundlich und zugleich einladend an. Zögernd strecke ich die Hand aus und greife nach dem kleinen, in rot glänzendes Papier eingeschlagenen Päckchen mit der Nummer eins. Ich starre darauf und sehe plötzlich Simon vor mir, wie er an unserem großen Esstisch sitzt, vierundzwanzig sorgsam ausgewählte Kleinigkeiten vor sich aufgebaut, und mit seinen zwei linken Händen das Geschenkpapier darumwickelt. Ich lasse das Ding fallen wie eine heiße Kartoffel und stolpere in das noch immer von Kerzenschein erhellte Schlafzimmer. Simons Hälfte im Kleiderschrank – leer. Ich puste die Teelichter aus und verkrieche mich schutzsuchend unter der riesigen, zwei mal zwei Meter großen Bettdecke, versenke meine Nase in den Kissen. Ich atme tief ein und stelle mir vor, an Simons Haaren zu riechen. Ich kann seinen Duft deutlich wahrnehmen, diese Mischung aus Kräutershampoo, Emporio und Zahnpasta, vermischt mit dem Geruch seiner Haut. Unruhig werfe ich mich auf die andere Seite, umklammere das Kopfkissen mit beiden Händen, stutze und ziehe etwas von darunter hervor. Ich breite den Stofffetzen vor mir aus. Homer Simpson starrt mich an. Sein T-Shirt, Simon hat sein heiß geliebtes T-Shirt hiergelassen. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Ich schlüpfe hinein und fühle mich Simon plötzlich wieder nah. Es wird alles gut werden, ganz bestimmt. Wie ein Embryo rolle ich mich in unserem Bett zusammen und schließe die Augen.
 
Ich befinde mich in einer großen Kirche. Der Altar ist mit festlichen Blumengestecken überladen, und ganz oben auf der Kanzel stehe ich in meinem schicksten Hosenanzug. Auf den harten, dunklen Bänken hockt der Vorstand der Vereinsbank, dem ich gerade die Abschlusspräsentation mit Hilfe eines riesigen Projektors vorlege. Ich spüre, wie mir der Schweiß die Schläfen herunterläuft. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Ich habe so lange an dieser Präsentation gearbeitet.
»Wir haben zunächst die derzeitige Situation in Ihrem Unternehmen aufgenommen und analysiert«, erkläre ich mit fester Stimme und drücke auf das kleine Knöpfchen, um die erste Folie meines Vortrages auf der rückwärtigen Wand der Kirche hinter dem Altar erscheinen zu lassen. Doch dort sieht man nur einen rechteckigen Fleck. Strahlend weiß. Immer hektischer klicke ich auf der Fernbedienung herum, doch der Fleck bleibt. Mein Herz wird schwer, die fragenden Gesichter unter mir verschwimmen zu einer undefinierbaren Masse. »Nun, wir haben die Ist-Lage analysiert und haben festgestellt, dass sie nicht ideal ist«, fasse ich kurz zusammen. »Alles muss anders werden! Jeder Angestellte muss zum Beispiel am ersten Dezember einen Adventskalender geschenkt bekommen«, fahre ich fort.
»Und wer soll den basteln?« Ich werfe dem Störenfried einen vernichtenden Blick zu.
»Nun, ich natürlich!«, antworte ich im Brustton der Überzeugung und wiederhole, lauter über die zu mir hoch schallenden Oh- und Ah-Rufe hinweg, »jawohl, ich werde jedem einzelnen Angestellten einen Weihnachtskalender basteln! Des Weiteren brauchen wir ausreichend freie Zeit für sexuelle Kontakte zwischen den Mitarbeitern, ein ausgeklügeltes, an den Zentralcomputer angeschlossenes Terminplaner-System, damit Namens-, Jahres- oder Geburtstage nicht mehr vergessen werden«, die letzten Sätze brülle ich fast von meiner Kanzel hinunter, denn über mir beginnt jetzt die massige Glocke im Kirchturm zu läuten. »Dingdong, dingdong.« Ihr Klang dröhnt mir in den Ohren, doch ich versuche, sie zu übertönen, indem ich schließlich beide Hände wie einen Trichter um meinen Mund lege und rufe: »Wir brauchen Zeit füreinander!« In diesem Moment beginnt der Boden unter mir zu vibrieren, während die Kirchenglocke weiter vor sich hin läutet. Verwirrt sehe ich mich um, meine Zuhörer springen aus ihren Holzbänken hervor und strömen in wilder Panik gen Ausgang, während ich zum Glockenturm emporschaue, in dem es sich anhört, als würden die Glocken mit einem Presslufthammer bearbeitet. Entsetzt presse ich mir beide Hände auf die Ohren.
Ding-dong, brrrrrrrr. Ding-dong, brrrrrr. Ich sitze kerzengerade in meinem Bett und versuche verwirrt, mich zu orientieren. In diesem Moment fällt mein vibrierendes Blackberry mit leuchtendem Display vom Nachtschränkchen und landet mit einem hörbaren Scheppern auf dem Fußboden. Mit einem langen Hechtsprung werfe ich mich quer übers Bett, schnappe das zuckende Teil am Schlafittchen und drücke die Annahmetaste. Simon, denke ich hoffnungsfroh und sage:
»Hallo?«
»Um Gottes willen, Vivi, wo steckst du?«
»Im Bett«, antworte ich wahrheitsgemäß, während ich mich bemühe, die Stimme am anderen Ende der Leitung einzuordnen.
»Im Bett?«, wiederholt mein Gesprächspartner entsetzt.
»Ach, Benjamin, du bist das«, fällt es mir endlich auf. »Oh mein Gott, wie spät ist es?«
 
Spät. Genau genommen zu spät! Zu spät für meinen Flieger nach München. Ich stammele hektisch eine Entschuldigung in den Hörer und verspreche Benjamin, so schnell wie möglich zu kommen.
»Halte bitte bis dahin die Stellung, okay?«, flehe ich ihn an und klinge dabei anscheinend so verzweifelt, dass er in beruhigendem Tonfall sagt:
»Vivi, ist doch in Ordnung. Mach dir keine Gedanken, hier geht die Welt nicht unter ohne dich.« Und genau das kann ich mir eben überhaupt nicht vorstellen. »Hör zu«, fährt er fort, während ich hektisch einige Kostüme aus dem Kleiderschrank reiße und in meinen Koffer stopfe. Nicht mal gepackt habe ich gestern. »Ich regele das hier, und für Otto lasse ich mir irgendetwas einfallen. Bis später.« Ohne meine Antwort abzuwarten, legt er auf. Mein Herzschlag hat bei der Nennung unseres Hauptansprechpartners und Vorstandsmitglieds der Vereinsbank für einen Moment ausgesetzt und nimmt jetzt umso schneller seine Arbeit wieder auf. So ein verdammter Mist! An jedem zweiten Montag im Monat haben wir um zehn ein Meeting vereinbart, um ihn über den Fortgang des Projektes auf dem Laufenden zu halten. Und nun tauche ich einfach nicht auf. Wie konnte ich nur vergessen, meinen Wecker zu stellen? Eilig ziehe ich mir das Shirt über den Kopf. Ein bekannter Duft steigt mir dabei in die Nase. Simon, fährt es mir durch den Kopf, und entsetzt starre ich auf das zerwühlte, leere Bett. Jetzt fällt es mir wieder ein. Simon ist weg. Ich bin allein. Wie soll ich diesen Tag überstehen?
Gerade, als ich die Wohnung verlassen will, fällt mir siedend heiß Tristan ein. Er wird verhungern, wenn die ganze Woche niemand zu Hause ist. Ich widerstehe der Versuchung, ihn in einer Plastiktüte durch die Flughafenkontrolle zu schmuggeln, obwohl ich in München jede seelische Unterstützung brauchen könnte. Stattdessen werfe ich Simons Schlüssel bei Herrn Lorenz in den Briefkasten, zusammen mit dem flehentlichen Gesuch um seine nachbarschaftliche Hilfe.
»Bald bin ich wieder da, Tristan«, verspreche ich ihm und komme mir schon wieder vor wie eine Mutter, die ihr Kind vernachlässigt. Eine alleinerziehende Mutter, um es genau zu nehmen.
 
Irgendwie habe ich den Tag dann doch überstanden. Als ich mit schamesrotem Kopf nach der Mittagspause ins Büro geschlichen kam, hatte Benjamin alles unter Kontrolle. Auf dem sechzigminütigen Flug konnte ich mir auch eine einigermaßen glaubhafte Geschichte von einem eingeklemmten Nerv in meinem Rücken ausdenken, die er ohne zu zögern geschluckt hat. Am Abend habe ich mich dermaßen in diese Lüge hineingesteigert, dass ich, während ich müde und mit schmerzenden Füßen in mein Hotelzimmer wanke, selber daran glaube.
»Guten Abend, Frau Sonntag«, wünscht die Rezeptionistin Frau Meier mir mit einem strahlenden Lächeln.
»Guten Abend«, gebe ich stöhnend zurück, woraufhin sie mich mit einem besorgten Ausdruck in den blauen Augen mustert. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Rückenschmerzen«, antworte ich, so wie heute schon ungefähr hundertmal.
»Haben Sie was zum Einnehmen?«, erkundigt sie sich fürsorglich, »ich hätte sonst hier …« Schon beginnt sie in einer der zahlreichen Schubladen vor sich herumzukramen.
»Ach, lassen Sie nur«, winke ich schwach ab, aber da wedelt sie schon triumphierend mit einem silbernen Tablettenstreifen vor meiner Nase herum.
»Das ist nur gegen die Schmerzen«, versichert sie mir, »damit sich die Muskeln entspannen können, verstehen Sie? Sonst machen Sie durch Ihre Ausweichhaltung nur alles schlimmer.« Sie drückt mir die Pillen in die Hand. »Nehmen Sie zwei heute Abend und dann noch mal zwei morgen Früh.«
»Na schön. Danke«, flüstere ich am Ende meiner Kraft. »Gute Nacht.« Damit humpele ich auf die beiden gläsernen Fahrstühle am Ende der Eingangshalle zu.