Mit Sari auf Safari - Tabitha Bühne - E-Book

Mit Sari auf Safari E-Book

Tabitha Bühne

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Beschreibung

„Du bist verrückt!“, sagen ihre Freundinnen. Denn eigentlich liebt Tabitha vor allem Stille, Sport und ihre Heimat. Sie hat von Männern genug und ist von Gott enttäuscht. Doch dann verliebt sie sich in einen deutschen Mann, der in Indien lebt. Tabitha kündigt ihren Job und beginnt das größte Abenteuer ihres Lebens. Am Anfang sieht alles nach einem Horrortrip aus. Als sie in Indien ankommt, herrschen Müll-Chaos und Smog-Alarm, das Klo bricht aus der Wand, auf der Straße attackieren sie drogensüchtige Straßenkinder. Dann endet auch noch eine romantische Tour im Heißluftballon mit einer dramatischen Notlandung. Tabitha sieht nur einen Ausweg: sich ihren Ängsten und Aversionen zu stellen und sich hineinzustürzen in den bunten, lärmenden Trubel. Wenn schon Indien, dann die volle Dröhnung! Es ist der ultimative Härte-, Liebes- und Glaubenstest. Sie taucht ein in den Großstadtmoloch Delhi und reist quer durchs Land. Sie begegnet Kopfgeldjägern und Kindergöttinnen, feiert Massenhochzeiten und beobachtet Massenbegräbnisse, sie geht in einen Yoga-Ashram und zofft sich mit Gurus, besucht Knastkinder und Frauen, die als Hexen verfolgt werden, läuft im Himalaya den höchsten Marathon der Welt und in der Rajasthan-Wüste an der Seite von Kamelen. Tausendundeinen Tag lang lacht, weint, schimpft und staunt sie: über das Leben, über Gott, über sich selbst – und über ihre Story: die verrückte Liebesgeschichte von einer, die auszog, das Fürchten zu verlernen.

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Tabitha Bühne Mit Sari auf Safari

Für Markus Ohne dich wäre alles anders und das hier nie passiert … Du hast meine Welt aus den Angeln gehoben

Tabitha Bühne

Mit Sari auf Safari

Wie Indien mein Leben auf den Kopf stellte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Cover, U1: Tabitha Bühne E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-486-8

Inhalt

Namaste!

Kapitel 1:Wie alles begann – die Geschichte einer verrückten Liebe

Ausgerechnet Indien

Eine verrückte Love Story

Wie angelt man sich einen Mann? Man liest seine Bücher …

Zum ersten Mal in Indien: der Kulturschock

Romantisches Dinner in der Wüste, Überraschung im Morgengrauen

Hochzeit mit Nebenwirkungen

Die Komödie geht weiter – Flitterwochen wie im Film

Kapitel 2:Leben in einer komplett anderen Welt

Neustart in Delhi

Unfälle, Hocktoiletten und ein Tröpfchen Ghee

Hilfe, ich habe eine «Maid»!

Nicht ohne meine Schwester

Auf nach Kaschmir, in die «Schweiz Indiens»

Das Elend vor meiner Tür

Der ganz normale Wahnsinn

Heilige Kuh – was suchst du im Müll?

Liebe geht durch den Magen. Oder auch nicht …

Südindischer Brauch: Eine Dose kehrt nie leer zurück

Amritsar – oder: Wie viel Gold darf sein?

Frauen in Indien – mit Sicherheit nie sicher

Rauschzustand im Restaurant

Flucht aus der Großstadt

Von beißenden Hunden und tödlichen Mücken

Alltag in Delhi und die Sache mit den Gurus

Die Gecko-Invasion

Das erste Mal beim Frauenarzt

Kapitel 3:Mit offenem Spirit auf Safari

Bhutan – mit Rezept fürs Glücklichsein?

Der «Einbrecher» in meiner Traumverarbeitung

Von der Würde, eine Frau zu sein

Ein indisches Fest: Der Bruder-Schwester-Tag

Überfall im Morgengrauen: Affen-Banden in Delhi

Bad News

Kalkutta: Zwischen Nonnen, Leid und Lebensfreude

Wenn die Liebe fehlt

Hochzeit im Nagaland

Zu Gast im ärmsten Bundesstaat Indiens

Kinder in Minen und Schimmer in unserem Gesicht

Hexenjagd

Kapitel 4:Jeder Tag ein Riesenabenteuer

Fasten für den Ehemann – ein Experiment

Freundschaft auf Indisch

Luft und Liebe

Atemlos durchs Lichterfest

Filmreife Erlebnisse

Heirate, und die Freiheit ist zu Ende

Ab in die Wüste: Rajasthan!

Schnurrbärte, Brautschau und Krug-Wettrennen

Assam – zu Besuch in den Teeplantagen

Der Taj Mahal im Nebel – Besuch aus der Heimat

Kapitel 5:Herausforderungen der ganz besonderen Art

Varanasi – eine Stadt lebt vom Tod

Viele Träume und kleine Krisen

Rishikesh: Eine Woche im «Yoga-Ashram»

Unter Hippies und Yogis

Zeremonie zum Glücklichwerden

Leiden lernen für Anfänger

Tempelbesuch im Morgengrauen

Auf den Spuren der Beatles

Atmen, bis die Luft ausgeht

Fieberattacken und Glückslektionen

Erst mal eine Runde lachen

Tu die Pilze weg!

Ein Abstecher zum Beatles-Ashram

Ist Gott alles oder nichts oder in allen von uns?

Kapitel 6:Wenn das Herz leuchtet

Endlich angekommen

Die Frauenkonferenz und die Sache mit dem Kreuz

Mizoram: Zu Besuch bei ehemaligen Kopfjägern

Holi – die farbenfrohe Schlammschlacht

Hochzeitstag im Flugzeug

Ein Jahr Indien – gemischte Gefühle

Kann man Angst verlernen?

Nepal: Eine Göttin auf Zeit

Zu Besuch bei den Honigjägern

Wenn es krabbelt

Männerkurs

Kapitel 7:Warten auf etwas Großes

Ayurveda: Lifestyle und Ernährung auf Indisch

Zeig mir deine Zunge – und ich sag dir, wie's dir geht!

Zu viele Gefühle sind schlecht

Starke Männer und die Sache mit der Ur-Natur

Es muss schmecken – aber bunt

Das Wagenfest in Puri

Schmuck im Slum – Hoffnungsschimmer im Elend

Ein Leben zwischen Karma, Schuld und Sühne

Von einer Frau, die ihren Mann in Brand steckte

Selbstmord oder Mord: Wenn die Ehe zum Alptraum wird

Die Sache mit der Wahrheit

Hahnenkampf und falsche Freunde

Hafturlaub – Gefangene zwischen den Welten

Hinter Gittern

Händchenhalten statt Handschellen

Höchster Marathon der Welt? Da muss ich hin!

Willkommen zurück im Großstadtdschungel

Millionäre zu Besuch

Elefanten beim Karneval?

Gib mir deine Haare – ein Tag im reichsten Tempel Indiens

Abschied nehmen

Kapitel 8:Über die Sehnsucht der Seele

Wanderung in Darjeeling: Lernen in der Einsamkeit

Im Wolkenmeer

Lust am einfachen Leben

Wenn Gott Fragen stellt

Giftnebel über Delhi

Der Wert der Heimat

Danksagungen

Anhang:Drei indische Gesundheits- und Beauty-Tipps

Kardamom, Zimt und Co: Gesundheitshelfer

Milch und Kurkuma gegen Erkältungen

Kopfmassage mit Kokosöl für starkes schönes Haar

Bildteil

Namaste!

Als Teenager hatte ich Angst, das Leben als Christ könnte langweilig werden. Ich habe mich geirrt. Und wie!

In Indien springt dir das Leben ins Gesicht. Du staunst, wie du noch nie gestaunt hast, du weinst und lachst mehr als je zuvor und bekommst auch regelmäßig eine Überdosis Wut im Bauch. Alle Ängste, Träume und Fragen kommen hoch. Ganz großes, grelles Kino – nur dass du nicht entspannt vor einer Leinwand sitzt, sondern mittendrin bist und alles riechst, schmeckst, siehst, hörst und fühlst.

Ich schreibe keinen neutralen Indienbericht, sondern werde ganz persönlich schildern, was ich während der letzten zwei Jahre hier erlebt habe und wie es mich verändert hat. Auf diese Reise möchte ich dich, liebe Leserin, lieber Leser, mitnehmen und das größte Abenteuer meines Lebens mit dir teilen.

«Wer ist blind? Der eine andere Welt nicht sehen kann. Wer ist stumm? Der zur rechten Zeit nichts Liebes sagen kann. Wer ist arm? Der von allzu heftigem Verlangen Gequälte. Wer ist reich?

Kapitel 1:

Wie alles begann – die Geschichte einer verrückten Liebe

Ausgerechnet Indien

Es ist mitten in der Nacht. Indische Musik und ratternde Klimaanlagen mischen sich mit Gesprächen reisender Familien. In der langen Warteschlange am Visumschalter geht es kaum voran. Erst nach einer Stunde stehe ich endlich vor dem Beamten. Er spricht zum Glück nicht Hindi, sondern Englisch mit indischem Akzent.

«Warum sind Sie in Delhi? Was werden Sie in Indien tun? Wo wohnen Sie hier? Ich brauche den Namen, eine Telefonnummer und die Adresse!»

Der Mann am Schalter mit Turban und geschwungenem Bart weiß nicht, dass es Stunden dauern würde, all seine Fragen zu beantworten. Also grinse ich und tue so, als wäre alles ganz einfach:

«Ich wohne bei Markus Spieker, er arbeitet fürs deutsche Fernsehen in Delhi.» Dabei lege ich die Adresse auf den Tresen und verkneife mir weitere Erklärungen. Ich habe ja selbst keine Ahnung, was ich hier tue. Ich weiß nur, dass ich gerade dabei bin, mein komplettes Leben auf den Kopf zu stellen. Es ist gleichzeitig furchteinflößend und wunderbar.

Nach einer gefühlten Ewigkeit bekomme ich endlich den Stempel in meinen Pass und mache mich auf den Weg zum Gepäckband. Nach und nach tauchen die ersten Koffer auf. Ich warte auf zwei Taschen, das ist alles, was mich aus meinem bisherigen Leben begleiten wird – und drei Kartons, die mir aus Deutschland nachgeschickt werden.

Wie schnell kann sich das Leben komplett verändern! Ein halbes Jahr zuvor war alles noch anders. Ich hatte einen interessanten Job als Laufexpertin und war Single. Jetzt bin ich so gut wie verheiratet und ziehe nach Indien. In wenigen Tagen werde ich auf einer Insel einem Mann meine Treue versprechen, den die meisten meiner Freunde und Familie nicht mal kennen. Das ist doch verrückt.

Während ich vor dem Gepäckband stehe und warte, zieht mein Leben an mir vorbei. Das Mädchen aus der Pampa, das mit sechs Geschwistern mitten in einem Naturschutzgebiet im Sauerland aufgewachsen ist und nie in einer Großstadt leben wollte, zieht in eine Stadt mit zwanzig Millionen Einwohnern. Kann ich da überhaupt klarkommen?

Ich bin immer gerne gereist, aber ich wollte nie nach Indien. Die Worte meiner guten Freundin Lexi tönen mir noch im Ohr. Nach ihrer Weltreise sagte sie:

«Ich würde überall gern noch einmal hinfliegen, nur nicht nach Indien!»

Das, was ich von ihr und aus den Medien weiß, bereitet mir eher Bauchschmerzen als Vorfreude. Kinderarbeit, Slums, vergewaltigte Frauen … Wie soll ich es mit meinem Freiheitsdrang und Gerechtigkeitssinn hier aushalten?

Andererseits gibt es so viele Frauen, die davon träumen, Indien mal zu erleben. So wie Ellen, meine Fitness-Freundin, die Ayurveda liebt und eine große Sehnsucht nach allem Indischen hat. Ob ich mich mit Bollywood und Yoga anfreunde, weiß ich nicht. Ich mag keinen Kitsch und bevorzuge Laufen und Kraftsport.

Einige Frauen in bunten Saris hasten an mir vorbei zu ihrem Gepäck, sie haben dieses tolle schwarze volle Haar und sehen wunderschön aus in ihren knalligen Gewändern.

Ich weiß jetzt schon, dass ich die Farben und Klamotten hier lieben werde, auch wenn ich mir noch nicht vorstellen kann, wie man sich damit fühlt. Ich trage eigentlich nur Kleider, wenn es gar nicht anders geht. Ob es mit Jeans und Shirt auf den Toiletten nicht viel einfacher ist? Oh, und dann diese indischen Hocktoiletten, ich will gar nicht darüber nachdenken …

Es wird voller am Gepäckband, unzählige Menschen drängeln und suchen einen Platz. Mich machen die vielen Leute und ihre nicht vorhandene Angst vor Nähe etwas nervös. Menschenmassen habe ich schon immer gemieden.

Endlich tauchen meine Taschen auf. Zwei nette Männer in interessanten Gewändern helfen mir, sie herunterzuziehen. Ich gehe zum Ausgang. Die Luft beißt im Hals, eine toxische Mischung, die wie ein Nebel alles in ein diffuses Grau hüllt.

Inmitten vieler Wartender steht mein Markus und grinst. Er küsst mich und sagt, dass die nächsten Jahre das größte Abenteuer unseres Lebens werden. Während ich ihm durch das Gewusel hindurch zum Taxi hinterherhaste, bekomme ich auch so eine Ahnung …

Auf der Fahrt zu meinem neuen Heim erlebe ich die erste Reizüberflutung der besonderen Art: Ständig hupt es überall. Regeln für den Straßenverkehr scheint es nicht zu geben, und der Taxifahrer reißt andauernd die Tür auf, um ein braunes Zeug auf den Asphalt zu spucken. Er ist nicht alleine mit dieser seltsamen Gewohnheit – ich sehe während der Fahrt andauernd jemanden spucken, komischerweise immer Männer.

Ich erfahre, dass sie auf einer Tabakmischung herumkauen. Diese hinterlässt nicht nur unschöne Spuren auf den Straßen, sondern ist krebserregend und führt zur Ausbreitung von Tuberkulose.

Ich versuche mich abzulenken, weil es mich anekelt, den braunen Speichel aus der Tür fliegen zu sehen. Eine Kuh steht mitten auf einer Kreuzung. Kleine Kinder betteln, Frauen mit Babys auf den Armen versuchen, Plastikblumen zu verkaufen.

Es wird dunkel, und trotzdem herrscht überall Hochbetrieb. Obdachlose liegen unter großen Reklameschildern. Delhi ist die Hauptstadt Indiens, liegt im Norden des Landes und gehört zu den Megastädten der Welt.

Ich war ganz sicher nie ein Stadtmensch. Ich mag Ruhe, Sauberkeit und Bäume. Mein Lieblingsort ist mein Elternhaus mitten in der Natur mit eigenem Straßennamen, es bräuchte nicht mal eine Hausnummer, weil sonst niemand in der Nähe wohnt. Doch von nun an werde ich mehr als zwei Stunden brauchen, um aus diesem Moloch herauszukommen.

Konkret liegt mein neues Zuhause in Neu-Delhi, dem südlichen und modernen Teil der Metropole. Hier leben – wie im ganzen Land – vor allem Hindus, die größte Minderheit bilden Moslems, und nur ein Prozent der Bevölkerung sind Christen.

Ich frage mich, was die Jahre in Indien mit mir machen werden. Doch als wir das Ziel erreichen, versuche ich alle Fluchtgedanken abzuschütteln und bin auf eine angenehme Weise aufgeregt. Gott hat Humor. Er hat alles geplant, und er kennt mich. Ich wollte nie ein normales Leben, ich wollte ein Abenteuer.

Das habe ich nun davon!

Eine verrückte Love Story

Eigentlich hatte ich das Thema «Männer und Heiraten» für mich abgehakt. Na ja, nicht ganz, um ehrlich zu sein. Aufgehört zu träumen habe ich nicht. Aber es schien mir denkbar unwahrscheinlich.

Ich habe nichts gegen Männer, im Gegenteil. Ich bin mit Jungs aufgewachsen und hatte immer sehr gute Kumpels. Auf meinen Vater und meine vier Brüder lasse ich auch nichts kommen. Das sind richtige Kerle, treu und sportlich, die machen keine halben Sachen.

Aber sagen wir es mal so: Wenn es nicht platonisch ist, neige ich dazu, mir die falschen Jungs auszusuchen. Natürlich wollte ich einen Mann fürs ganze Leben.

Geschichten über treue Freundschaften haben mich enorm beeindruckt. Ich wollte nie eine sein, die viele Geschichten mit Jungs erlebt hat, ein gebranntes Kind, unfähig, zu vertrauen und wirklich zu lieben. Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, musste nie eine Trennung meiner Eltern befürchten und habe eigentlich alles mitbekommen, um einen «gesunden Lebensweg» einzuschlagen.

Aber ich habe es trotzdem gründlich verkorkst in Sachen Liebe und mich für einen Weg entschieden, auf dem Gott meiner Meinung nach keinen Platz hatte.

Nach dem schockierenden Tod einer Freundin schrieb ich als Vierzehnjährige eine Liste mit all den Dingen, die ich bis zum 25. Lebensjahr erleben wollte. An die habe ich mich gehalten. Nach meiner Schulzeit flog ich für einige Monate nach Lateinamerika, um in einer Schule in Honduras zu helfen, und studierte anschließend Medienwissenschaften. Nebenbei arbeitete ich beim Radio, dann auch im Mode- und Filmbereich, und versuchte, möglichst viel «Spannendes» zu erleben. Ich drehte Filme, wurde als Model zu internationalen Events und Wettbewerben geschickt und habe viele faszinierende, aber auch schräge Menschen kennen gelernt.

In Costa Rica bin ich auch zum ersten Mal Bungee gesprungen und habe mich einer großen Angst gestellt. Bei einer Aftershow-Party hatte ich einen Typen kennen gelernt, der ein Büro für Extremsportarten leitete. Er lud mich für den nächsten Tag ein, mal «Adrenalin pur» zu erleben.

Ich weiß noch, wie ich mit zwei weiteren amerikanischen Adrenalin-Junkies durch den Urwald fuhr und der Fahrer mitten auf einer Brücke anhielt. Das Bungee-Seil wurde am Lkw befestigt, ein junger sportlicher Kerl drehte Musik auf, und ich sah zu, wie die beiden Amerikaner nacheinander die hundert Meter hinuntersprangen. Für mich sah es von hier oben weit tiefer aus und der Fluss da unten so klein … In meinem Magen rumorte es ganz schön.

Dann war ich an der Reihe. Ich habe mit Sicherheit zwei Minuten gebraucht, bis ich wirklich gesprungen bin. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde ich gleich sterben, alles in mir wehrte sich gegen das Vorhaben. Müsste ich nicht noch etwas in Ordnung bringen? Es gibt so viele Dinge, die ich erleben will, bevor ich sterbe … Gedanken wie diese hallten in meinem Kopf wider.

Ich bin gesprungen, habe überlebt und war anschließend völlig euphorisch – wie in einem drogenrauschähnlichen Zustand. Dieses Gefühl hielt einen ganzen Tag. Und ein weiterer Punkt auf meiner Liste war erledigt.

Mein erster fester Freund war ein Nachwuchsspieler bei einem erfolgreichen Fußballverein. Er betrog mich.

Auch meine Karriereträume platzten nach und nach. Ein Spielfilm, für den ich das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hatte, floppte. Und ein aufwendiger Horrorfilm, bei dem ich die Hauptrolle spielte, landete statt auf der Kinoleinwand buchstäblich im Müll. Der Regisseur drehte am Ende der Dreharbeiten nämlich durch und zerstörte das ganze Material.

Da brach ich zusammen. Ich weiß noch, wie ich bei meinem Hausarzt saß und nur noch ein Häufchen Elend war. Und ich habe mich furchtbar geschämt, weil ich nicht mehr stark sein konnte.

Genau in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich zwischen zwei Lebensräumen stehe: der eine dunkel, kalt und voller Gerümpel – der andere ein Garten, hell und voller Leben. Ich musste mich für einen Weg entscheiden.

Kurz darauf legte ich einen Neustart hin und habe in dieser Zeit Jesus mein Leben anvertraut. Ich kehrte zurück zur Universität Siegen, um meinen Abschluss doch noch zu machen. Und ich versuchte, zwischen kiffenden Mitbewohnern und Studentenpartys ein neues Leben zu führen und Gott zu vertrauen.

Aber es gelang nur mittelprächtig. Manchmal fühlte es sich so an, als sei der folgende Kalauer für mich erfunden worden:

Was ist noch schlimmer als Verlieren?

Siegen.

Ha-ha.

Aber dann fand ich doch das Glück meines Lebens. Dachte ich jedenfalls.

Kurz bevor ich mein Studium abschloss, lernte ich meinen Traummann kennen. Zumindest hielt ich ihn dafür. Er sah super aus, war sehr sportlich, höflich und intelligent. Ich hielt die Begegnung für Gottes Führung, wir wurden ein Paar.

Die nächsten fünf Jahre wurden leider zum Alptraum. Wir liebten uns zwar, hatten vieles gemeinsam – und zogen uns doch gegenseitig in den Abgrund, auf unterschiedliche Weise. Obwohl wir fortwährend stritten und er sich nie ganz für mich entscheiden konnte, blieben wir zusammen.

Irgendwann stellte ich ihm ein Ultimatum. Und doch fiel ich aus allen Wolken, als er sich per Telefonanruf an Weihnachten von mir trennte. Er hatte schnell eine Neue. Ich dagegen kam gar nicht mehr klar, fand einfach keinen Boden unter den Füßen.

Für die nächsten drei Jahre war ich wie gelähmt. Ein seelischer Krüppel. Der Rat einiger Freunde, öfter feiern zu gehen und mich mit anderen Kerlen abzulenken, war für mich kein Weg. Ich wusste, dass mich das nur noch tiefer in den Schlamassel bringen und mir nicht helfen würde.

Um den Schmerz aber zumindest zeitweise irgendwie loszuwerden, stürzte ich mich noch mehr in die Arbeit und fing an, extrem viel Sport zu treiben. Es tat gut, wenn beim Laufen nach dreißig Kilometern die Beine so schwer wurden, dass ich endlich das Herz für eine Weile nicht mehr spürte.

Mein persönliches Highlight war ein 100-Kilometer-Nachtlauf in Ulm, bei dem ich sogar zweitschnellste Frau wurde. Als ich ins Ziel lief, unterstützt von meiner lieben Freundin Vio als Fahrradbegleitung, musste ich vor Freude und Erleichterung weinen. Ich dachte, ich hätte mir selbst nun endlich bewiesen, dass ich stark bin. Dass ich alles schaffen und jeden Schmerz besiegen kann.

Doch das Gefühl hielt nicht lange. Ich rannte weiter um mein Leben und dem Schmerz davon: bei einem 24-Stunden-Lauf, bei einer Triathlon-Langdistanz (Ironman) und zahlreichen Marathons. Aber ich fühlte mich dennoch wertlos, nicht liebenswert und ohne Platz in dieser Welt.

Es gab einige attraktive Männer, die sich für mich interessierten. Aber ich hielt mich von allen fern. Ich fühlte nichts mehr und wollte auch nichts fühlen.

Mein treuer Trainingskumpel und notorischer Frauenheld Jonas hat es damals sehr treffend formuliert: «Du hast eine Anti-Männer-Aura, Tabi. Das muss echt aufhören, das ist doch nicht gesund!»

Jonas hatte sicher recht damit, ich habe mich innerlich ziemlich abgeschottet. Aber für mich war es wichtig. Nach der Trennung brauchte ich Zeit, um alles zu verdauen, um zu heilen und den Boden unter den Füßen wiederzufinden.

Ich wusste nicht, ob ich noch lieben und vertrauen kann. Es gelang mir lange nicht, den Schmerz loszulassen und nach vorne zu schauen. Meinen Glauben wollte ich nicht über Bord werfen, aber ich kämpfte mit Gott, mit mir und mit allem.

Mein Vater im Himmel hat sich aber auf genau die richtige Weise um mich gekümmert, auch wenn ich es in dieser Zeit nicht so spürte. Ich bekam eine tolle Stelle in einer anderen Stadt und sortierte mein Leben neu.

Ruhrgebiet statt weite Welt.

Aber mir war das recht.

Ich half, wo ich konnte, vor allem Mädchen bei Teenager-Freizeiten, und begann eine Ausbildung in der ehrenamtlichen Seelsorge, aber in mir selbst waren noch viele Wunden unverheilt.

Das Gute ist, dass ich in diesen schweren Jahren Mitgefühl in einer anderen Art gelernt habe und in vielen Bereichen über mich und meine bisherigen Grenzen hinauswachsen durfte. Aber das habe ich erst später gemerkt. Mitten in dieser Zeit habe ich das weder so gesehen noch so empfunden.

Das mit dem Wachsen ist schon eine komische Sache – es dauert so wahnsinnig lange, ein langsamer Prozess in Phasen, kaum spürbar. Geduld war noch nie so mein Ding. Ich machte Gott oft Vorwürfe: Warum hilfst du mir nicht, wo ich doch versuche, dir zu vertrauen? Warum hört der Schmerz nicht endlich auf? Wo bist du?

Meine Schwester Debora hat einen Lieblingsspruch, an dem sie selbst nach einer schweren Erkrankung immer festhielt: «Gott macht keine Fehler.» Das steht sogar auf ihrem Nummernschild (GM – KF). Ich habe mir oft gewünscht, das auch glauben zu können. Aber ich konnte es noch nicht. Vielleicht mit dem Kopf. Aber nicht mit dem Herzen.

Wie angelt man sich einen Mann? Man liest seine Bücher …

Aus irgendeinem Artikel hatte ich gelernt, dass die meisten Autoren nie ein Feedback bekommen – und wenn, dann vorwiegend negatives. Also entschloss ich mich, allen Autoren zu schreiben, deren Bücher mich in irgendeiner Weise begeistert oder zum Guten angespornt hatten. Nun lebten leider viele meiner literarischen Helden wie Dostojewski und C. S. Lewis nicht mehr, aber ein paar andere schon.

So kam es, dass ich einem gewissen Dr. Markus Spieker per Facebook eine Nachricht schickte. Ich war mir allerdings nicht ganz sicher, ob der Typ wirklich der Markus Spieker war, dem ich schreiben wollte. Also lautete meine Nachricht so:

«Hallo Herr Spieker. Haben Sie die Bücher ‹Faithbook› und ‹Gott macht glücklich› geschrieben? Das erste habe ich gelesen und fand es sehr ermutigend. Liebe Grüße, Tabitha Bühne.»

Ich kam mir dabei zugegebenerweise etwas seltsam vor. Zum einen, weil der Mann auf dem Cover irgendwie etwas selbstzufrieden wirkte und noch dazu einige Jahre älter war als ich – aber nicht so alt, dass er meine Nachricht nicht auch als Interesse an seiner Person hätte interpretieren können. Außerdem hatte mein Vater mir die Bücher empfohlen.

Mein Vater liest viel, er schreibt und vertreibt selbst Bücher und hat mich mit seinem Lesefieber regelmäßig angesteckt. Sein Arbeitszimmer war für mich immer ein «heiliger Ort», nicht nur, weil dieser Raum wie eine kleine Bibliothek aussah. Es war auch der Platz, wo er jeden Morgen in aller Frühe auf seinen Knien hockte, und – den Kopf auf seinen Sessel gedrückt – für viele Menschen und auch für uns Kinder betete.

Ich bin oft in das Zimmer gegangen, selbst als ich nicht mehr wusste, was ich glaube, und habe diesen Abdruck seines Kopfes in dem alten grünen Sessel gesehen. Wie sauer war ich, als der Sessel eines Tages nicht mehr da stand, weil irgendwer aus unserer Familie beschlossen hatte, es sei Zeit für einen neuen …

Doch zurück zu Markus Spieker – ich schrieb ihm also eine Nachricht, aber das Buch, das ich eigentlich am besten von ihm fand, erwähnte ich lieber nicht: «Mono – die Lust auf Treue». Ganz ehrlich, welcher Kerl um die vierzig und noch unverheiratet schreibt als Single ein Buch über Treue? Ist das nicht total schräg?

Andererseits hat es mir imponiert, dass ein Junggeselle sich so intensiv mit diesem Wunsch auseinandersetzt.

Erst Tage später bekam ich eine Antwort:

«Hi Tabitha Bühne, schöne Grüße aus Bangladesch und schön, dass Ihnen Faithbook gefallen hat. Ich sehe, dass Sie laut Ihrem FB-Profil sehr laufaktiv sind, und finde, dass es unglaublich viele Parallelen zwischen Langstreckenlauf und dem Christsein gibt. Hier in Südasien, wo ich im Moment lebe, ist es mit dem Laufen leider nicht so weit her. So heiß, zu schwül, zu versmogt. Anyway: viele Grüße in die Heimat, verbunden mit der Frage: Sind Sie mit dem von mir sehr geschätzten Wolfgang B. verwandt? Very best wishes, Markus Spieker.»

So begann unsere Brief-Freundschaft.

Wir schrieben uns oft. Jeden Tag.

Ich bewunderte Markus für all sein Wissen, das spannende Leben als Auslandskorrespondent und seine wohlwollende, fröhliche Lebenseinstellung. Wenige Wochen später kam er nach Deutschland, er hatte sich in Bangladesch beim Dreh über die islamistische Terrorgruppe IS während einer Demonstration den Fuß gebrochen und wollte in der Heimat etwas Urlaub machen.

Er fragte, ob wir uns treffen könnten. Ich sagte Ja, obwohl ich gerade eine Woche als Mitarbeiterin auf einer Mädchenfreizeit hinter mir hatte.

Ich fuhr also total übermüdet zu einem Café in Siegen. Ich hatte ja dort studiert, und seine Eltern wohnen nicht allzu weit entfernt. Kurz bevor wir uns trafen, stand ich etwas ratlos auf dem Parkplatz und rief meinen kleinen Bruder an:

«Ich treffe mich nun zum ersten Mal nach zig Jahren wieder mit einem Kerl und empfinde gar nichts. Das ist doch nicht normal?»

David lachte nur und meinte, das sei vielleicht ganz gut, so könne ich doch ganz entspannt zum Treffpunkt gehen.

Das tat ich auch.

Markus kam angehumpelt, aber trotzdem lässig, ganz ohne Krücken, und ließ sich keinerlei Schmerz anmerken. Er war ein bisschen aufgeregt, aber sehr sympathisch und überhaupt nicht selbstgefällig. Mir sind sofort seine dunkelblauen Augen aufgefallen, die schöne, markante Stimme und dass er deutlich größer war als ich.

Wir saßen draußen, bis es kälter wurde, und gingen dann in ein indisches Restaurant. Wir haben sieben Stunden lang geredet. Dann fuhr ich ziemlich durcheinander nach Hause.

Markus war sich, so sagte er mir später, sofort sicher, dass ich die Richtige bin. Ich hatte diese Gefühle noch nicht, spürte aber, dass irgendwas Besonderes passierte. Markus war so ganz anders als der Typ Mann, auf den ich eigentlich abfahre. Vernünftig, lieb, fröhlich, weise, gebildet – und elfeinhalb Jahre älter …

So wurde Siegen für mich dann doch noch zur Gewinnerstadt.

Unsere Beziehung fing ganz traditionell an. Neunzehntes-Jahrhundert-mäßig. Ganz so, wie man es aus den Jane-Austen-Romanen kennt. Oder eben von Berichten aus Indien, wo die Ehen arrangiert werden. So fühlte es sich jedenfalls zwischenzeitig an.

Was macht man nämlich, wenn man über dreißig Jahre alt ist und der eigene Vater sich nach dem ersten Date – sogar direkt am Tag danach – per Telefon auf eine Pizza mit dem Kerl verabredet? Ich hätte normalerweise die Krise kriegen müssen und einen Aufstand machen sollen, aber stattdessen fand ich das alles irgendwie lustig.

Mein Vater war völlig aus dem Häuschen. Er hatte irgendwie schon vor meinem Treffen mit Markus so eine Ahnung bekommen und wollte ihn nun unbedingt mal persönlich treffen, schließlich «kannten» sie sich schon seit ein paar Jahren, allerdings bisher nur auf schriftlichem Weg.

Dass mein Vater so begeistert von ihm war und sich dermaßen über unseren Kontakt freute, war einerseits sehr belustigend und schön, andererseits auch extrem ungewohnt – hatte ich ihm doch viele Jahre lang eher Sorgen bereitet und fühlte mich in dieser Rolle der Rebellin auch wesentlich mehr zu Hause.

Ich wusste ja, dass sie sich treffen, und war bei diesem «Männer-Date» wesentlich aufgeregter als bei meinem eigenen Date mit Markus. Was würde mein Vater ihm erzählen? Er haut manchmal heftige Sprüche raus, und nicht jeder versteht seinen Humor …

Die beiden hatten dann doch ein tolles Gespräch, wie ich hinterher von beiden hörte. Mein Papa warnte Markus vor meinem Temperament, versprach ihm, dass es wegen mir noch Tränen geben würde, versicherte aber auch, dass ich eine treue Seele sei, die das letzte Hemd für ihre Freunde geben würde.

Während ich mir anhören durfte, was für ein feiner Kerl dieser Markus Spieker doch sei, fehlten mir die Schmetterlinge. Ich betete dafür. Ich wollte ihn lieben, aber gleichzeitig wehrte ich mich gegen irgendwas. Ich bin ein extrem emotionaler Mensch. Wie soll ich jemanden lieben, ohne mich klassisch romantisch zu verlieben?

Wir trafen uns an den nächsten drei Wochenenden, bevor Markus zurück nach Indien fliegen musste. Ich war zwischendurch ganz schön überfordert. Schließlich kann man sich, wenn man am anderen Ende der Welt lebt, nur begrenzt kennen lernen, und während Markus sich bereits sicher war, ging mir alles zu schnell.

Als er zurück nach Delhi flog, nahmen wir uns vor, täglich zu telefonieren und uns über unser Leben auszutauschen.

Eine interessante und sehr hilfreiche Idee war unser «Zwei-Fragen-pro-Tag-Plan». Jeder durfte dem anderen täglich zwei Fragen stellen, egal welcher Natur.

Ich weiß noch, wie ich gerade eine Woche als Sport-Motivatorin bei einer Freizeit im hessischen Vogelsberg war und in den Pausen durch die schöne Landschaft im Regen spazierte, mit Markus am Telefon und etwas nervös auf der Suche nach einer ehrlichen Antwort zu einem pikanten Thema. Ich fand es aufgrund meiner Vorgeschichte und meiner Sensibilität nicht immer einfach, so ehrlich zu sein. Dennoch habe ich diese Art der offenen Kommunikation sehr zu schätzen gelernt. Ich wollte, dass Markus mich so kennt, wie ich bin – seelisch und körperlich ungeschminkt.

Das war nicht ganz ohne Hintergedanken. Ich bin ein Mensch, der wohl eine große Projektionsfläche bietet. Ich schaffe es eigentlich schnell, dass man, vor allem Mann, mich mag. Aber ich kann auch anders, vor allem zu Hause.

Ich wollte, dass Markus mich lieben lernt – und nicht seine Vorstellung von mir. Vielleicht hatte ich anfangs auch die Hoffnung, dass er mich dann fallen lässt. Denn sein Bild von mir war viel zu gut. Er war verliebt und sah mich durch eine rosarote Brille. Andererseits tat mir das sehr gut.

Mein Ex-Freund hatte mich immer äußerlich beurteilt und war sich nie ganz sicher gewesen, ob er mich wirklich liebt. Meine Familie ist großartig, aber meine Eltern und Geschwister haben einen sauerländischen Hang zum Hyper-Realismus und zu Optimierungsvorschlägen.

Markus gab mir das Gefühl, wertvoll zu sein und etwas Besonderes. Aber nicht wegen Äußerlichkeiten, sondern weil er in mir das sah, was ich immer gerne gewesen wäre. Er nahm mich ernst. Und weil ich so gerne diese Person sein wollte, die er in mir sah, motivierte er mich, besser werden zu wollen.

Irgendwann fragte ich mich, ob es sein könnte, dass er mich mit Gottes Augen sieht. Liebende Augen, nicht strenge Augen auf der ständigen Suche nach Fehlern.

Durch die vielen Gespräche und Briefe kam es, dass wir nahezu alles übereinander wussten: die schlimmsten Fehltritte, die peinlichsten Momente, die größten Macken, Ziele und Wünsche. Die schrägsten Eigenarten und lustigsten Pannen. Alte Ängste, Zweifel und Fragen. Wunde Punkte. Geheime Sehnsüchte. Und mit jedem Tag bekam ich mehr Frieden über unsere Freundschaft, Gott schöpfte sozusagen einen Löffel nach dem anderen aus meiner Zweifel-Suppe aus. Und mein Herz begann zu lieben.

Ich sagte Markus am Telefon, dass ich keine Zweifel mehr hätte. Seine Reaktion war leinwandreif:

Er buchte spontan ein Ticket, flog von Delhi nach Recklinghausen, mietete sich dort für das Wochenende in ein Hotel ein und überraschte mich mit einem Besuch und einem Brief.

Schon fast ein Buch. Fünfzig Seiten lang. (Allerdings sehr groß beschrieben …)

Darin bat er mich zum Schluss um die Erlaubnis, mich von nun an lieben zu dürfen.

Ich sagte Ja. Auch wenn das alles total schräg war. Auch wenn wir uns gerade erst zwei Monate kannten und nur vier Mal getroffen hatten. Ich war mir sicher.

Ein Stückchen Panik überkam mich, als ich ihn zum Bahnhof begleitete. Er nahm den Zug zum Flughafen, ich spazierte fröhlich, aber etwas verwirrt nach Hause. Was, wenn ich es in Indien nicht aushalten kann, Markus jedoch für die nächsten Jahre definitiv dort leben wird?

Zum ersten Mal in Indien: der Kulturschock

Wir kannten uns gerade mal ein paar Monate und von einigen persönlichen Treffen. Ich hatte Markus' Eltern kurz getroffen – ganz herzliche, gütige und lebenslustige Menschen, die sich nach über vier Jahrzehnten Ehe noch immer richtig lieb haben.

Das wünsche ich mir auch: mit offenem Herzen und offenen Händen zu lieben, voller Vertrauen, ohne Angst vor Verletzung. Ich bin von Natur aus nicht so, oder vielleicht bin ich einfach aufgrund gewisser Erfahrungen nicht mehr so. Jedenfalls tue ich mich eher schwer mit dem Vertrauen. Nicht bei Freunden, aber in einer Beziehung. Da gehe ich eher davon aus, dass man mir weh tun wird, und bin nie ganz sicher, dass man mich wirklich lieben kann und mein Bestes will. Das ist übrigens auch bei Gott so. Ich habe oft mehr Angst als kindliches Vertrauen.

Nun kam ich per Flugzeug in Markus' Welt, um zu schauen, ob ich das Leben dort überhaupt aushalten würde. Ich weiß noch, wie ich am Flughafen stand und über die Gesichter meiner Freunde nachdachte. Wenigen hatte ich schon von Markus erzählt. Ein paar von ihnen freuten sich gewaltig, aber einige waren auch überrascht und erklärten mich für verrückt.

Vor allem die Idee, wegen dieses Kerls den Job zu kündigen und nach Indien zu ziehen, wirkte auf mein Umfeld wie eine Bombe. Tabitha, die jahrelang Männern aus dem Weg gegangen war, war nun kurz davor, jemanden zu heiraten, den sie gerade erst kennen gelernt hatte; einen Mann, der so gar nicht in ihr Beuteschema passte, deutlich älter war und dann auch noch in Südostasien lebte …

Ich muss zugeben: Es hat ziemlichen Spaß gemacht, sie alle ein bisschen zu schockieren, vor allem weil ich diesen seltsamen Frieden verspürte. Und so flog ich also nach Indien, um mir Markus' Welt anzuschauen und herauszufinden, ob ich dort zurechtkommen würde.

Eine naturliebende, gerne alleine im Wald laufende blonde Frau mit heller Haut in einer völlig überfüllten und zugemüllten Großstadt mit extremen Smogwerten und ständigem Verkehrschaos. Die totale Reizüberflutung.

In den ersten Tagen schauten wir uns einige Sehenswürdigkeiten an, auch die Altstadt – wo der Trubel noch größer ist und alles wie in einem anderen Jahrhundert aussieht.

Wir haben auch das Rote Fort besucht – eine der Hauptattraktionen Delhis – und sind dann durch die vielen Autos, Rikschas und sonstigen Transportmittel mitten rein ins Getümmel der «Old Town» spaziert, zum Gewürzmarkt und in die chaotischen Straßen mit den vielen Händlern.

Markus zeigte mir auch die gigantische Freitagsmoschee (Jama Masjid). Ich musste die Schuhe ausziehen und bezahlte die saftige Kameragebühr. Außerdem war ihnen meine Bekleidung nicht bedeckt genug, obwohl ich T-Shirt und lange Hose trug; also stülpte mir ein Moslem einen Umhang über. Markus, der die Moschee schon kennt, hat derweilen draußen gewartet.

Die Moschee vor einem riesigen Platz sah von außen schön aus, innen war sie dagegen eher öde. Ich durfte zumindest an dem Tag als Frau aber auch nicht weiter gehen als bis zu einer bestimmten Markierung.

Ich schlenderte also zurück zu Markus. Wir fuhren zum Connaught Place, dem nach einem britischen Prinzen benannten zentralen Geschäftsviertel Neu-Delhis.

Die Sonne ging gerade unter. Auf dem Weg zum Restaurant kam unerwartet eine ganze Truppe von Straßenkindern auf uns zu, die uns bedrängten, ihnen Geld zu geben. Ein Freund hatte mir zuvor erzählt, dass wir auf keinen Fall bettelnde Kinder unterstützen sollten, weil wir damit nicht ihnen helfen, sondern einem Ring von Verbrechern, die diese Kinder zum Betteln zwingen.

Wir flüchteten in ein nahes Restaurant, wo ein Wachmann nach uns schnell die Türe schloss und die Kinder so abfing.

Wir probierten ein indisches Gericht, das wir beide noch nicht kannten. Ich mochte das Essen, es war schön scharf und vielseitig. Damals wusste ich nicht, dass ich mich bald mit der Besitzerin dieser Restaurantkette anfreunden würde.

Als wir nach dem Essen hinausgingen und auf unser Taxi warteten, kamen wieder fünf Jungs angelaufen. Markus telefonierte gerade mit dem Taxifahrer und bemerkte nicht, dass die Kinder handgreiflich wurden. Sie waren vielleicht gerade mal acht Jahre alt, ihre Gesichter leer und die Augen glänzten seltsam.

Zwei der Jungen schrien mich an, ich solle ihnen Geld geben. Ich hatte aber gar keines dabei. Zwei andere fassten mir an den Hintern und riefen Worte, die ich mit achtzehn Jahren noch kaum gekannt hatte. Ich konnte nicht fassen, dass mich gerade kleine Kinder sexuell belästigten. Wenn es Teenager oder Erwachsene gewesen wären, hätte ich längst um mich geschlagen und sie angebrüllt. Aber was macht man bei Kindern?

Markus kriegte erst Minuten später mit, dass ich begrabscht und belästigt wurde. Er schubste einen der Jungen weg, gab ihnen etwas Geld, um sie loszuwerden, und wir sprangen ins Taxi.

Ich war ziemlich durcheinander. Der Straßenverkehr stockte immer wieder, es waren einfach deutlich zu viele Autos unterwegs.

Unser Taxi hielt an einer Ampel. Plötzlich tauchte direkt vor meiner Fensterscheibe ein Gesicht ohne Augen auf, es war völlig verbrannt, genau wie die Hände, die sich an das Glas pressten. Ich erschrak fürchterlich. Wenige Meter weiter robbte ein Mann ohne Beine über die Straße. Frauen und junge Mädchen verkauften Plastikblumen und suchten in den stehenden Autos nach Kundschaft.

Ich riss mich zusammen, aber als ich abends in Markus' Gästezimmer saß, habe ich geweint wie lange nicht mehr. So viel Elend auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen. Nicht in dieser Art. Ich weiß nicht genau, ob ich wegen der Kinder weinte oder wegen des verbrannten Mannes – oder nur aus Kapitulation vor der indischen Reizüberflutung.

Ich glaube, Markus wollte mir in anderthalb Wochen halb Indien zeigen. Wir fuhren also nach Udaipur, eine der meistbesuchten Städte Indiens in Rajasthan. Sie ist umgeben von einigen künstlich angelegten Seen, und hier steht auch ein bekannter Maharadscha-Palast, der für Filme als Kulisse diente. Mir gefiel vor allem die Altstadt mit ihren verwinkelten Häusern und schmalen Gassen, was in Indien eher selten ist.

Die Stadt war wunderschön beleuchtet und geschmückt in diesen Tagen, denn die Hindus feierten ihr Lichterfest Diwali. Sie standen in langen Warteschlangen, um ihren Göttern Opfer zu bringen, kleideten sich festlich und schenkten sich Süßigkeiten. Es wurde leider auch tagelang ohne Sinn und Verstand mit Feuer-Crackern Lärm gemacht, die Luft roch schlecht, und die Stimmung war nicht gerade besinnlich.

Von Udaipur ging es dann weiter in die «pinke Stadt» Jaipur. Eine schnell wachsende Industriestadt, deren Wahrzeichen der «Palast der Winde» ist – den ein Maharadscha für seine zahlreichen Frauen bauen ließ. Die Damen konnten von hier aus nach draußen schauen und das Geschehen beobachten, aber selbst nicht gesehen werden.

Besonders beeindruckt hat mich aber das etwas außerhalb liegende Fort Amber. Diese eindrucksvolle gut erhaltene Festung aus der Zeit der Mogulherrschaft liegt auf einer Bergkette und bietet auch eine wunderschöne Aussicht.

Wir fuhren weiter in die Pampa, denn am nächsten Tag sollte es auf Tigersafari gehen. Leider sahen wir keinen einzigen Tiger, sondern nur Rehe und allerlei Federvieh. Unser Guide ist nicht aufgetaucht, stattdessen kutschierte uns ein ahnungsloser Fahrer mit ein paar indischen Urlaubern in einem Geländewagen planlos durch den Wald und folgte anderen Wagen, die in Kolonne durch die «Wildnis» fuhren, aber ebenso wenig sahen wie wir. Im heimischen deutschen Wald hätte ich vermutlich mehr Tiere entdeckt.

Ganz stolz hielt der Guide ruckartig an und zeigte auf ein paar Wildschweine und Affen. Wir ärgerten uns etwas, nahmen es dann aber doch mit Humor. So hatten wir uns eine Safari nicht vorgestellt.

Ich liebe Tiere, und Markus gab sich alle Mühe, mich für Indien zu begeistern. Wenn es schon mit den Tigern nicht geklappt hatte, sollten es die Elefanten richten. Wir besuchten einen Ort, wo ein paar Leute einige Elefanten beherbergten, und durften auch auf einem der Tiere eine Runde durch die wüstenartige Landschaft drehen.

Einer der Pfleger gab mir eine Banane und sagte: «Damit machst du ihm eine Freude. Wenn du in zehn Jahren wiederkommst, um ihn zu besuchen, wird er sich daran erinnern, dass du lieb zu ihm warst. Ein Elefant vergisst nie!»

Ich mag Elefanten, diese starken, sanften Riesen mit den herrlichsten Ohren der Welt. Aber ich mag sie lieber in freier Natur. Wobei es offenbar immer weniger Platz für die wilden Elefanten gibt – auch in Indien. Immer wieder kommt es in einigen Bundesstaaten zu zerstörten Feldern. Die Tiere kommen in die Dörfer und sorgen für Ernteausfälle und Gefahr – und die Bauern reagieren darauf mit Gewalt, um die Elefanten zu vertreiben. Obwohl sie hier als heilig gelten, werden immer wieder welche umgebracht.

Romantisches Dinner in der Wüste, Überraschung im Morgengrauen

Am Ende dieses Tages gab es ein romantisches Dinner in der Natur, mit Buffet und Lagerfeuer nur für Markus und mich. Das klingt großartig, war mir aber extrem unangenehm, zumal zwei Kellner immer direkt am Tisch standen und auf neue Befehle warteten.

Markus und ich stritten uns dann auch noch, und am Ende waren wir beide ziemlich frustriert. Markus schien total niedergeschlagen, weil ich nicht mit der erhofften Begeisterung auf das Programm reagierte, das er so toll geplant hatte. Aber ich war einfach nur überfordert, und mich überrumpelten zu viele Eindrücke in zu kurzer Zeit.

Auf der Fahrt zum Hotel bekam er einen Anruf und war anschließend sehr geknickt. Auch für den nächsten Morgen hatte er etwas Tolles geplant, und nun teilte man ihm per Telefon mit, dass es vermutlich nicht stattfinden könne.

Bevor ich schlafen ging, klopfte er an meiner Zimmertür im Hotel und fragte, ob ich mir sicher sei, dass ich ihn liebe und er der Richtige ist.

Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich mir total sicher war, auch wenn ich durch meine Gefühle gerade selbst keinen Durchblick mehr hatte.

Er sagte mir, ich solle am nächsten Morgen um 4.30 Uhr bereit sein. Wir beteten zusammen, und ich stand dann lange am Fenster, schaute in die Nacht. Der Mond stand am Himmel.

«Vater im Himmel», sagte ich leise, «du weißt alles, und du kennst mich. Du siehst auch all die Ungeduld und Angst meines Herzens. Mach du es bitte ruhig. Und lass Markus wissen, dass ich ihn wirklich liebhabe. Danke, dass du ihn in mein Leben geschickt hast. Hilf mir, dass die Liebe größer wird als die Angst vor Enttäuschung oder vor Verletzungen. Danke, dass du bei uns bist. Auch wenn ich das nicht immer spüre. Amen.»

Ich habe in dieser Nacht wenig geschlafen und stand bereits früh auf.

Es war übrigens ein Freitag.

Der Dreizehnte.

Aber ich bin ja nicht abergläubisch.

Ich hatte keine Ahnung, was da auf mich zukommen sollte. Wir fuhren durch die Dunkelheit, ich sah nichts. Dann kamen wir an einen großen Platz, wo mehrere Heißluftballons standen und vorbereitet wurden.

Markus sagte: «Ich weiß ja, dass du schon Bungee gesprungen bist und so verrückte Sachen magst. Sie haben gestern gesagt, dass sie wahrscheinlich nicht starten können, weil das Wetter es nicht zulässt, es ist wohl zu warm. Aber nun haben sie doch zugesagt. Wir werden mit dem Heißluftballon Indien mal von oben sehen!»

Ich fand es herrlich, dass er so etwas geplant hatte – denn ich wusste, dass er Höhenangst hat und nicht gerade ein Freund von sportlichen Abenteuern dieser Art ist. Außerdem ist er recht groß, und als wir in den kleinen 3-Mann-Ballon stiegen, fühlte er sich nicht richtig wohl.

Der Ballonfahrer war nett und fröhlich.

Nach wenigen Minuten befanden wir uns in schöner Höhe und sahen viele Felder, Hügel und eine Festung von oben. Was für eine Freiheit! Markus setzte sich so halb auf eine Gasflasche und fragte unseren «Fahrer» (ganz der Journalist), wie lange er das schon mache und ob das nicht gefährlich sei.

«Nö, ich mache das schon seit sechs Jahren, nicht nur in Indien, auch in Frankreich und anderen Ländern. Ist noch nie was passiert!»

Markus war etwas beruhigter. – So weit oben durch die Luft zu schweben erfüllt mich immer mit einer Ehrfurcht und Freude. Ich habe auch etwas Angst, sobald ich anfange, darüber nachzudenken, was passieren könnte, wenn …

Aber eigentlich hatte ich einige meiner schönsten Momente bei solchen Naturerlebnissen. Ich weiß noch, wie ich beim Tandemsprung aus dreitausend Metern Höhe aus dem Flugzeug sprang und dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Aber bereits wenige Sekunden nach dem freien Fall fühlte ich mich wie ein Vogel und hätte heulen können vor lauter Glück, wie schön diese Welt gemacht ist, wie genial der Mensch geschaffen ist, dass er solche Dinge bauen kann, und wie glücklich ich sein kann, dass ich so was mal erleben darf.

Ich stand also da und blickte in die Ferne, die Sonne ging auf, und wir trieben über endlose Wiesen. Plötzlich überkam mich ein ungutes Gefühl. Unser «Fahrer» checkte immer wieder die Triebwerke. Irgendwas stimmte da nicht.

Wir waren gerade mal fünfzehn Minuten in der Luft, da meinte er etwas nervös und doch so gelassen wie möglich: «Sorry, ich glaube, wir müssen eine Notlandung machen. Das Triebwerk hat gerade den Geist aufgegeben …»

Markus reagierte leicht panisch:

«Aber das geht nicht!»

Unser Fahrer schüttelte den Kopf und begann, den Sinkflug einzuleiten.

«Es tut mir echt leid. Das ist mir noch nie passiert. Und ich mache das hier schon sehr lange.»

Markus starrte ihn an und biss sich auf die Lippen.

«Das geht nicht, wir können doch jetzt nicht landen!»

Der Fahrer winkte ab. «Es ist zu gefährlich. Wir müssen runter!» Er hantierte, wir sanken, tiefer und tiefer. Und während unser Ballonführer versuchte, uns alle drei irgendwie sicher runterzubringen, hielt Markus sich mit einer Hand etwas bleich im Gesicht an einem der Seile fest und zog hektisch etwas aus seiner Hosentasche.

«Tabitha, willst du mich heiraten?!»

Ich musste lachen, sagte «Ja!», gab Markus den schnellsten Kuss meines Lebens und steckte den Ring so zügig, wie es ging, in meine Hosentasche.

Wir machten uns bereit zur «Landung». Bäume und Häuser tauchten unter uns auf. Kinder und Erwachsene rannten aus ihren Hütten und winkten – so was hatten sie wohl noch nie gesehen. Ich duckte mich, schützte meinen Kopf mit den Armen.

Wir steuerten leider genau auf eine Mauer zu.