Mitte - Norman Ohler - E-Book

Mitte E-Book

Norman Ohler

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Beschreibung

»Mitte« enthüllt das Geheimnis eines alten Hauses, das vom Speicher bis zum Keller voller Geschichten steckt. Klinger ist mit seinem Online-Job in London gescheitert und zieht nach Berlin, wo er sich als Kaufhausdetektiv durchschlägt. Auf der Suche nach einer billigen Bleibe gerät er an ein verfallenes Haus am Hackeschen Markt. Von diesem Ort magisch angezogen, unterschreibt er den kuriosen Mietvertrag: Keinesfalls darf er die Gegenstände anrühren, die sein Vormieter in der Wohnung zurückgelassen hat. Bald nach seinem Einzug geschehen merkwürdige Dinge: Klinger hört eine Stimme, die ihm immer näher zu kommen scheint. Auf Schritt und Tritt verfolgen ihn rätselhafte Botschaften. Nachts quält ihn Schlaflosigkeit. Eines Tages schließlich trifft er in den Zimmerfluchten auf Igor, einen genialischen DJ und Computerfreak, der mit neuartigen Drogen experimentiert. Der stille Mitbewohner taucht stets unerwartet auf, um dann wieder spurlos zu verschwinden.Langsam begreift Klinger, dass Igor ein Überlebender der Wende ist, ein Anarchist und Romantiker, der sich gegen die jüngsten Entwicklungen sträubt und nur ein Ziel kennt: den Kampf um Mitte für sich zu entscheiden – und Klinger zum Verbündeten zu machen. Als sich herausstellt, dass Igor und Klinger die gleiche Frau lieben, geht der Kampf erst richtig los.

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Seitenzahl: 275

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Norman Ohler

Mitte

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Norman Ohler

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Widmung

9. November

Erster Teil

4. Oktober

5. Oktober

5. Oktober

6. Oktober

7. Oktober

8. Oktober

9. Oktober

10. Oktober

10. Oktober

11. Oktober

13. Oktober

16. Oktober

17. Oktober

19. Oktober

Zweiter Teil

21. Oktober

22. Oktober

23. Oktober

24. Oktober

25. Oktober

25. Oktober

26. Oktober

27. Oktober

28. Oktober

29. Oktober

30. Oktober

31. Oktober

1. November

2. November

3. November

4. November

4. November

7. November

8. November

9. November

Dank

Inhaltsverzeichnis

»Der Schrecken macht bei der Dämmerung aus einem Wegweiser ein Riesengespenst.«

Immanuel Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes

Inhaltsverzeichnis

(für Ingo, R. I. P.)

Inhaltsverzeichnis

9. November

Das Ende, das zu vermeiden ist

Jetzt laufen die kostbaren Stunden, in denen sich die Durchschnittsmonster in ihren Schwarzweißalbträumen wälzen. Jetzt ist die Stadt unter Sonderbeleuchtung. Ihre Narben, die Einschusslöcher am Hackeschen Markt: künstlich bestrahlt.

Ein scharf ausgeschnittenes Rechteck begleißt die Wand seines Zimmers: Licht von der Straße. Hier gibt es Bauarbeiter, die bis zum Morgengrauen nicht schlafen. Die ganze Nacht schon schweißen sie an den Straßenbahnschienen vor dem Fenster, sitzen in quadratischen Metallkästen, die Augen hinter Kastenbrillen. Gesichter angestrahlt vom Stroboskop der Schweißgeräte. Grelles Weiß bricht von ihnen weg, befleckt den Straßenzug, die Fassaden der Häuser, die Wände in den Häusern. Licht so hoch wie Kräne.

Zwei Männer sind es, kniend, schweißend, in absoluter Ruhe. Funken stieben gleichmäßig von ihnen weg, und immer wenn eine der spärlichen Nachtstraßenbahnen um die Ecke kommt, packen sie den Metallrahmen mit beiden Händen, ziehen ihn zu sich hoch wie einen steifen Rock, gehen zwei Schritte zur Seite. Warten, bis die Bahn vorüber ist, steigen zurück auf die Gleise. Lassen den Kasten nach unten, kauern sich erneut in dessen Mitte und schießen wieder ihr Weiß.

 

Aus Lautsprechern, unsichtbar und weit entfernt, sickert Musik durch Mauern und Wände, verfängt sich in seinem Gehörgang, berührt das Trommelfell, und von dort werden die Wellen in den Mittelohrraum geleitet, durchströmen den Dom der Paukenhöhle mit ihrem Hammer, dem Amboss und Steigbügel und finden den Weg hinüber zur Ohrentrompete, die eine Verbindung zur Mundhöhle schafft. Er öffnet leicht die Lippen. Er weiß, woher diese Musik kommt, die jetzt in seine Schnecke kriecht, das Treppenhaus tiefer hinein, sich im Innenohr schon befindet, tief drin, im Kern des Gebäudes, wo die Basilarmembran die Hörsinnzellen stimuliert –

Doch die Musik lenkt ihn kaum, lenkt ihn viel zu wenig ab, immer wieder verschwindet sie ganz, dann bricht Stille aus. Und in dieser Stille, schräg hinter ihm, kniet Igor und setzt an, das sieht Klinger, wenn er die Pupillen in die Augenwinkel drückt. Jetzt spürt er den Beginn des Einstichs – dieses Haar von Schmerz –, schon schlüpft die 12er Nadel in eine Hautpore seines rechten Oberschenkels hinein.

Blut rinnt, warm, folgt der Rundung, geht ins Laken.

Klinger flüchtet, klettert nach vorne, leichenblass, und seine hellbraunen Haare fallen wirr, er robbt – ein wenig tiefer noch in die Höhle hinein, in der er liegt, in Igors Raum, im Annex, versteckt in der Mitte des Gebäudes.

 

Heute früh, sobald die Sonne aufgeht, rückt das Baukommando an, um das Haus zu entkernen. Um etwas ganz Neues daraus zu machen. Igor sagt: Stell dich nicht so an. Bleib ruhig liegen. Ich versuch’s jetzt nochmal. Wenn sie gleich kommen, dann sollen sie uns nicht kriegen. Dann schweben wir bereits, beide. Du und ich. Dann schauen wir von oben auf das Haus. Auf das Haus mitten in der Stadt, die von allen Seiten näher rückt. Sehen es ein letztes Mal, in alter Brüchigkeit, auf seiner Asphaltinsel stehen – inmitten des Tramverkehrs, von Hochspannungsleitungen gefesselt.

Wir werden ja nicht wirklich sterben, sagt Igor. Aber bevor sie unseren Körpern den Raum nehmen, hauen wir ab. Werden wir zu purem Geist.

Eine kleine Zeitungsnotiz – Klinger flüstert, und der Lufthauch seiner Worte lässt winzige Schweißperlen erblühen: Eine kleine Zeitungsnotiz – mehr wird ihnen das nicht wert sein, verstehst du das nicht? Wir haben unseren Plan noch lange nicht umgesetzt.

Dieser Tod gehört zu unserem Plan, antwortet Igor. Du musst erst sterben, um auf frische Gedanken zu kommen.

Wer wären all die Leute, widerspricht Klinger, wenn niemand ihre Geschichte aufgeschrieben hätte? Wer wäre Jesus, ohne die Bibel?

Wieder spürt er den kleinen Pikser der Nadel. Doch dieses Mal gibt Igor ihm keine Chance, sondern drückt die Spritze hinein, die Flüssigkeit, die gerade noch steril verpackt in der Ampulle – jetzt – Warte!, ruft Klinger, sein Bewusstsein bereits entschwindend wie ein Hund, dessen Leine gekappt wurde: Noch kann ich mich an alles – erinnern –

Morgenröte übersickert den Horizont. Frühnebel ziehen auf.

Du hast selbst gesagt, flüstert Klinger und merkt, wie seine Fähigkeit zu sprechen ihn verlässt: Mach mich unsterblich. Mach mich zum Helden. Erzähle meine Geschichte. Aber dafür muss ich überleben –

Blödsinn, antwortet Igor: Dein Gedächtnis und deine Kommunikation, sie können nur besser werden durch diesen Schritt. Deinen Körper brauchst du nicht mehr. Er hindert dich nur, Materie verdrängt, sie ist plump: ein schlechter Datenträger – du müsstest das am allerbesten wissen.

Klinger versteht nicht mehr, was Igor gerade gesagt hat.

Aber er weiß: Ohne Sophia Charlotte wäre das alles nicht passiert. Sophia aus der Sophienstraße.

Ohne Igors Wahn, nur über sie das Leben wieder zu spüren. Nur über sie: Erlösung zu finden.

Igor? Klinger schaut sich um. Er sieht ihn nicht –

Inhaltsverzeichnis

Die Nacht nach der Nacht ist auch eine Sonne

Erster Teil

»Unsere Seele vermag ihre Bahn um die eigene Mitte zu ziehn; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten, sie hat genug anzugreifen und zu verteidigen, genug sich zu geben und von sich zu empfangen.«Michel de Montaigne, Über die Einsamkeit

4. Oktober

Tag

Die Straßenbahn fuhr in Richtung Zentrum, ruckte um Ecken und glitt über Plätze, beschleunigte summend auf Geraden, bremste sirrend ab, wenn Haltestellen nahten, klingelte und stockte, während die schwache Innenbeleuchtung flackerte, immer wieder aussprang, und dann war kaum etwas zu sehen, die nachmittägliche Stunde von dichten Nebeln verschluckt, und Klinger nickte weg, wachte auf, blinzelte, und die Lichter wurden fahler, er schreckte hoch, niemand war sonst in der Bahn, doch –

Schemen am anderen Ende, ein Summen –

Das Rattern der Abflugtafeln am Flughafen heute Morgen, die andauernd sich ändernden Lettern –

Dann das milchige Schaufenster eines Ladens vorhin, ein hell ausgeleuchteter Raum, Mitwohnagentur Schleicher. Klinger sah sich hineingehen, die Erinnerung wie ein Traum –

Sterilbüro, weißes Krankenhauslicht, Chromstühle mit straff gespannten Ledersitzflächen. Ein wuchtiger Schreibtisch aus unterarmdickem Glas, dahinter ein nervöser Herr im Rentenalter, der säuselnd sächselte, was er zu verbergen suchte. Der Raum wie ausgestorben, die Luft kaum zu atmen, heizungsvertrocknet. Der Mann überreichte ihm eine Mappe mit den Angeboten, schlecht aufgemacht in Klarsichthüllen, nix Powerpoint, kein Laptop oder Beamer, ganz still war es –

Einraum, 2 ZKB, OH, Außenklo, Gas, U-Bahn-Nähe, möbliert, nicht möbliert, Raucher, Nichtraucher, Kaution, keine Kaution – und alles in Prenzlauer Berg.

»Nix im Zentrum?«

Der Inhaber der Mitwohnagentur schüttelte müde den Kopf, und in Gedanken stand Klinger bereits auf, nur seine rechte Hand ergriff, aus rein taktilem Interesse, noch einmal die Angebotsmappe, um jetzt, das Plastik einer Klarsichthülle spürend, ganz nach hinten zu blättern – da lehnte sich Schleicher weit aus seinem Stuhl heraus, streckte sich über den Schreibtisch hinweg, langte nach der Mappe:

»Dahinten stehen nur noch die größeren Objekte. Die sind was für mehrere Person’!«

Mitte. 160 qm. Altbau. Evtl. vorhandene Gegenstände dürfen nicht entfernt werden. 640.– kalt.

»Die gann ich Ihnen leida nicht empfehlen! Das ist ne Karteileiche. Das Haus wird in den nächsten Wochen entkernt und in Eigentumswohnungn verwandelt. Das ist unmöglich für Sie!«

»Ich würd’s mir gern mal anschauen«, sagte Klinger leise.

»Ich gann Ihnen wirklich nur davon abraten!« Schleichers Atem rasselte. »Da gibt es keinerlei Rückzugsrechte für Sie! Sobald die Entkernungsmannschaft kommt, ist’s vorbei für Sie. Und das gann von heute auf morgen passiern, das weiß man nie in solchen Fälln.«

»Das passt mir alles ganz gut. Viel Platz ist mir am wichtigsten. Und schön zentral.«

»Das Haus ist verfallen! Schäbig. Das Allerletzte! Und es gibt keinen Delefonanschluss. Und bis zur Entkernung wird es auch keinen mehr geben!«

»Perfekt!«

»Wennse nicht anders wollen.« Schleicher seufzte. »Dann gebense mir halt Ihre Papiere. Dann stellen wir jetzt einen Antrag.«

Der Agentur-Betreiber legte Klingers Reisepass auf den Farbkopierer, der neben dem Schreibtisch stand, und drückte den Auslöser. Erst war nur ein Scharren zu hören, eine Schiene wurde entlanggefahren, dann der Blitz, vor dem die beiden Männer ihre Augen schützten, indem sie die Köpfe zur schmalen Längswand drehten, wo eine alte Karte der Stadt hing, noch mit Mauer.

Langsam schälte sich die Kopie aus dem Apparat, und Schleicher verglich sie penibel mit dem fahlen, beinahe schwarzweißen Gesicht von Klinger, schaute immer wieder zwischen beiden hin und her. Dann fragte er nach Klingers Arbeitsverhältnis, doch dieser antwortete nicht. Schleicher hakte nach: »Das müssen Sie mir schon mitdeilen: Was machen Sie denn so den lieben langen Tag?«

»Urlaub.« Klinger schaute aus dem Fenster.

»Im Herbst in Berlin?« Schleicher blickte ihn verständnislos an und machte sich eine Notiz.

»ENDHALTESTELLE. BITTE ALLE AUSSTEIGEN. Dieser Zug endet hier.«

Klinger verstand nicht, sank wieder ab, sein Körper gestaucht im roten Plastikschalensitz.

»Endhaltestelle. Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier.«

Mit einem Seufzer kam die Tram zum Stehen. Eine Tür teilte sich in der Mitte wie ein Frack, den sein Träger aufreißt, um sich zu zeigen, und es sog Klinger nach draußen, in nasskalte, schmutzige Luft, in der Cafés und Geschäfte verschwommen von der anderen Straßenseite blinkten, während glimmende Zigaretten durch die Gegend schwebten, roten Bauchnabeln gleich –

Klinger blinzelte. Zog den Ausdruck mit der Adresse aus der Tasche und blickte sich um.

Vereinzelt zeigte sich jetzt die Sonne – dort, wo den Nebeln die Kraft ausging, wo ihr Gewebe franste und klare, spätnachmittägliche Strahlen hindurchließ. Schilder tauchten auf. Wieder blickte er auf den Zettel, schaute hoch. Da sah er es, jenseits der Schienen: aus dem Dunst nun erscheinend in all seiner Abgewracktheit und wie alleine in der Welt dastehend, von Straßenbahnschienen umgürtet: das Haus. Seine blinden, ungeputzten Scheiben glimmten im Licht und betrachteten die Straße. Klinger, einen silbernen Metallkoffer in der linken Hand, überschritt die Schienen und lief durch eine letzte Nebelwand hindurch auf eine große hölzerne Eingangstür zu und in einen Vorraum hinein, wo Briefkästen hingen, verwaist und mit offenen Türen teilweise, überquellend manche, kein einziger intakt.

Süßlich-modriger Geruch sickerte aus einem Treppenhaus, dessen offener Mund auf der rechten Seite des Vorraums klaffte. Im ersten Stock drückte Klinger den Klingelknopf eines stumpfen Messingtürschildes, auf das Zoo-ologische Genossenschaft der Hauptstadt der DDR geprägt stand – der DDR war notdürftig und scheinbar unzählige Male mit schon ranzig gewordenem Leukoplast überklebt.

Eine ältliche Frau öffnete und schaute ihn ausdruckslos an. Sie trug ein rauchgraues Sekretärinnenkostüm, und die bleiche, erstarrte Schminke ließ ihr Gesicht wie die Totenmaske eines aussterbenden Eingeborenenstammes wirken.

»Joa??«

»Ich will mir die Wohnung im zweiten Stock anschauen. Ich soll mich bei Ihnen melden.«

»Da zieht niemand mehr ein. Wir sind die Letzten hier, und bald ist der Ofen aus.« Sie schloss die Tür.

Er klingelte erneut.

Nach einer Weile ging die Tür wieder auf. Vor ihm stand die Sekretärin und schüttelte noch immer verärgert den Kopf. In der linken Hand jedoch hielt sie einen großen, rostigen Schlüssel und stieg an ihm vorbei die Treppen hoch in den zweiten Stock, wo sie eine hohe, ehemals elegante, nun mit Spanplatten ausgebesserte, von alter rostbrauner Farbe nur halbherzig befreite Holztür aufschloss und ihm mitteilte, sie warte unten auf ihn.

Neben der Tür war ein verblichenes Schild angebracht:

1. April 1888. Ich bin umgezogen und zwar in ein Zimmer im dritten Stock in der Grossen Präsidentenstr. Nr. 10

(Auszug aus dem Deutschlandtagebuch von Mori Ogai)

 

Ein dumpfer Hitzeschwall dampfte Klinger entgegen, als er den lila gestrichenen Flur betrat. Es war dunkel. Stoffe hingen vor den vielen Fenstern. Er ging nur ein Stück weit in die Wohnung hinein, dann blieb er stehen, so still war es.

 

Als er die Sekretärin später fragte, ob es nur diesen einen vorsintflutlichen Schlüssel gebe, um die Eingangstür zu sichern, antwortete sie müde, alles Wichtige sei sowieso schon gestohlen, er könne da ganz beruhigt sein. Als er sie auf die drohende Entkernung ansprach, winkte sie nur ab. Das war das letzte Mal, dass er sie vor ihrem Unfall sah – das letzte Mal mit ihrer Maske intakt.

5. Oktober

Abend

Ein Wummern weckte ihn aus dem Schlaf. Ein Wummern wie der laute Herzschlag eines Menschen, der neben ihm liegt, doch da lag niemand.

Ein sanftes Rucken. Nicht an seinem Bett – am gesamten Haus. Ein Dröhnen der Wände, jeder Balken vibrierte, jede Diele, jeder Stein einer jeden Mauer. Eine Straßenbahn fuhr vorbei.

Was Klinger für einen Moment lang wie der Aufgang der Sonne vorgekommen war, entpuppte sich nun als deren Untergang. Der Himmel war von keiner einzigen Wolke bevölkert, keinem noch so kleinen Fetzen Grau, und so zeigte sich ihm ein perfekter, golden ausgemalter Kreis, der eine dunkelblaue Ebene durchbrach, sich deren Rand näherte, der von Silhouetten durchzackt war wie von Burgzinnen, obwohl es Wohnhäuser waren, mit stummligen Schornsteinen, fünfstöckig und alt, verraucht und verklebt. Es formierte sich die Nacht. Prostituierte fächerten an den Straßenecken auf, eine Armada, die für den Kampf im Halbdunkel in Stellung ging, und wie zwei glühende Augen funkelte das Abendrot in den Fenstern auf der anderen Seite.

Klinger stand auf, lief durch den hinteren, abgewinkelten Gang ins niedrige Badezimmer, in dem aufrechtes Stehen nicht möglich war. Er seifte sich ein, schaute dabei auf den nur vage reflektierenden Arzneimittelkasten, der anstelle eines Spiegels über dem mehrfach gesprungenen Waschbecken hing.

Die grünen Augen leicht rötlich vom vielen Monitorschauen.

Haare strähnig und ein wenig zu lang –

Das Gesicht ausgewaschen, beinahe farblos, wie etwas, das häufiger mit scharfen Reinigungsmitteln in Kontakt gekommen ist.

Er rasierte sich, beinahe blind. Gab Aftershave in die linke Handfläche, schlug sich auf die Wangen, zu fest.

Dann nahm er das Etui, das auf dem rechten Waschbeckenrand lag, und holte eine Sonnenbrille mit eckigen, cognacfarben getönten Gläsern heraus. Eine Empfehlung seines Arztes aus London, um den Verlust seines Jobs besser zu verdauen, den Kollaps der Internet-Firma, für die er als Content-Director tätig gewesen war – worin all seine Hoffnungen auf Glamour, auf Reichtum und Erlösung gesteckt hatten.

Your content is no longer needed.

Er setzte die Brille auf und schaute nach draußen. Pissgoldener Himmel.

 

Angedeutet hatte sich der Untergang ja schon einige Zeit vorher. Als er diesen Aussetzer gehabt, als dieser Übergriff auf einen Kunden stattgefunden hatte, im Konferenzraum, vor dessen Fenstern schwer die Themse graute: Auf diesen spätpubertären CEO eines besonders dämlichen Start-ups, der ihn zur Weißglut gebracht hatte, über Wochen hinweg, durch seine blutleere Arroganz aufgrund massiv investierten Risikokapitals, was in Kombination mit völliger Abwesenheit von Selbstironie und zu stark ausgeprägtem konventionellem Verhalten unter dem Deckmantel der New Economy irgendeinen Kippschalter in Klinger umgelegt, irgendein trojanisches Pferd in ihm zum Durchgehen gebracht hatte, und Punkt dreizehn Uhr Greenwich Time, während eines großen Tumultes im Konferenzraum, war er endlich auf seinen Kontrahenten, auf seinen B2B-Partner, losgestürzt, um ihm mit aller Entschlossenheit dessen transparente Designer-Mouse in den Hintern zu schieben, ihm dabei »Click now, Asshole!« ins Ohr zu raunen, woraufhin selbst der Firmenwachdienst zunächst mit Erstaunen reagiert hatte, bevor er aktiv wurde, um Klinger von seinem Opfer, das hilflose Klagelaute von sich stieß, zu trennen.

Zunächst hatte er ja noch gedacht, zu einer Art Netzheld aufsteigen zu können, dank des neuen Stils, den er eingeführt hatte, wo doch in der IT-Branche immer davon gesprochen wurde, an vorderster Front zu agieren, in einem digitalen wilden Westen sozusagen. Doch es war anders gekommen, natürlich. Großes Unbehagen in der Szene, ausgelöst durch diese Unmittelbarkeit seiner Aussage, dieses Durchbruchs an archaischem, analogem Verhalten. Eine Rüge per E-Mail, die seine Firma erteilte, gegen ihn, den großen Content-Mann – um nicht ins Gerede zu kommen, um keine Kunden zu verlieren, doch war es da ohnehin längst zu spät. Viel zu häufig war es zu fehlerhaften Übertragungen gekommen, trotz horrender Gebühren, und am Ende hatten sich alle nur noch hindurchlaviert und Manipulationen angestellt, die ihnen möglichst hohe Zahlen transferierten, um möglichst lange alle Unsicherheiten und Ängste unter der Oberfläche und sanft begraben zu halten.

 

Er ließ heißes Wasser in die Wanne. Biologisches Leben – ein Programm, das perfekt laufen könnte, doch immer wieder abstürzte und Leid verursachte, welches weitervererbt wurde. Doch weshalb? War ein fehlerfreies Betriebssystem nicht denkbar? Gab es da einen Fehler, irgendwo in den Fasern des Daseins versteckt, der die Übertragungsraten verlangsamte und das Leben schwerfälliger machte als nötig? Eine ganz bestimmte Angst vielleicht? Klinger zog sich aus, schaute an sich herab.

Self-Hack. Das Einzige, was noch übrig geblieben ist, auf dem blauen Planeten der Melancholie.

Glitt ins Wasser.

Er hatte sich erst gar nicht mehr umgesehen, nach einem neuen Job in der Branche. Sich von niemandem verabschiedet. Sie würden ihn ohnehin vergessen, seine ganzen friends. Eine Woche ohne Mail, und er war gestorben, nicht mehr existent, denn in einer Woche, was würde da nicht alles geschehen – wie viele Terabyte an Nullen und Einsen über die Festplatten rollen.

Hatte in großer Eile die wahnwitzig überteuerte Wohnung mit Tate-Modern-Blick aufgelöst, auf seinen Bauch vertrauend, trotz Schleimhautreizung vom vielen Kaffee und den schlechten Delivery-Services südlich des Flusses. Ein Ticket gebucht, Economy, ins alte Heimatland.

Jetzt lag er von Schaum bedeckt und gab Spannungen ab.

Was für eine Wohltat: alleine sein. Ein Mensch ohne Telefon und Mail, in einer neuen Stadt. Das war doch etwas anderes als diese überwache Netz- und Affärenexistenz, dieses mittelviele Geld und andauernde Bereitsein für irgendwelche Anfragen und Infopakete, hochmotiviert und ständig erreichbar, ein Spielball auf den Wellen des unbehinderten Datenverkehrs, der andauernden Mitteilungen, dass neue Nachrichten eingetroffen waren.

Bullshit. Wahnsinn.

Er tauchte unter. Warm umflutete Wasser seine Ohren.

Niemanden treffen!

Sich dem Diktat des Netzes vollkommen entziehen, seiner ins Pathologische gehenden, alles halb verdauenden Funktion.

Denn er wusste mittlerweile, dass es fatal sein konnte, in diese schrecklich bunte Welt sich fallen zu lassen. Da konnte man ganz leicht von sich selbst fortgerissen werden und von einer Sekunde auf die andere in einer Art Schlauchboot sitzen, in einem plötzlich angetretenen Superbetriebsausflug, in dem man die Stromschnellen überhüpfte und dabei jauchzen musste und sich im falschen Bewusstsein wiegte, dazuzugehören, unglaublichen Spaß zu haben und Erfüllung zu finden, weiterfuhr, den Fluss hinunter, einem sicheren Abtörn entgegen, einem kläglichen Finale dieser Abenteuerferien, die teuer waren, letzten Endes.

Selbstausbeutung bis zur Selbstaufgabe?

Nevermore.

Verzwirbelte Ideen, die man zu einer neuen Revolution aufbläst?

Ich bitte dich.

Von jeder Mühe enthoben: durch Verlust aller Hoffnungen – der großen Onlinewelt.

5. Oktober

Nacht

Er schaute aus dem Fenster des Flurs über Innenhof und Stadt und erspähte zwischen Fernsehturm und Hinterhaus das Fragment einer Kranwerbung im Himmel: -BAU-

So lief er durch die nächtliche Wohnung und taufte sie »Bau«. Ein gigantisches Areal, aus dem er sich Ecken und Aufenthaltsorte heraussuchen würde, die er sauber und bewohnbar hielt.

Große Holzflügeltüren mit schweren metallischen Klinken, an Landsitze irgendwo im Osten erinnernd, von den verschiedensten Parteien bewohnt, wieder verlassen, irgendwo dahinten, in seinem Rücken.

Immens hohe Räume im vorderen Teil der Wohnung – zwei Löcher in der Decke: wie Einschläge von gewaltigen Fäusten.

Der Boden: rau. Abgestoßenes, lückenhaftes Parkett, Baustellensand in den Ritzen, kaputte Wandleisten, hinter denen Geröll hervorquoll. Tintenflecke an den gekalkten, rauchfarbenen Wänden. Gerüche nach Vernachlässigung und Staub. Geräusche wie das Rattern schwerer Züge über brüchige Gleise. Trams: brechen von hier aus in die Gettos der Ostbezirke auf. Das Wegkarren von Menschen jeden Abend: direkt zu beobachten von allen Fenstern. Er sah: Lüster an den Decken, brennende siebenarmige Leuchter auf fein gebauten Holzschränken und in Glasvitrinen – schon waren sie verschwunden, und er blickte, ohne den Schutz der Brille, die noch auf dem Badewannenrand lag, in einen gleißenden Blitz hinein, den eine Hochspannungsleitung spie –

Klinger lehnte den Hinterkopf an einen Abschnitt der Wand, auf dem vage Finger- und Handballenabdrücke vorheriger Bewohner verblassten, und lauschte in die Stille hinein, wenn gerade keine Tram fuhr.

Wenn es für ein, zwei Minuten ruhig wurde und das Haus ganz eingekapselt wirkte – so still war es dann, als habe die Zeit aufgehört, in Sekunden zu zerrinnen. Doch in dieser Stille nahm er plötzlich eine Art Flüstern wahr – vielstimmig und kaum zu unterscheiden von der Stille selbst, diesem Muster an sanft ineinander liegenden Wellenbergen und -tälern, das in seinen Ohren nun auseinander fiel und aufsplittert. Er merkte, wie die Wand hinter ihm transpirierte, Giftstoffe schwitzte: Content –

Schreie – gedämpft wie aus einem alten Film, der im Nebenzimmer läuft. Eine Leierkastenmelodie, ganz leise, ganz weit entfernt.

Polnisches Gemurmel hinter einer Wand, dann wieder ein Schrei: eine Frau –

Eine aufgeregte Männerstimme in einer fremden, melodiösen Sprache: kehlig und wie von zerkratztem Schellack gespielt – ein Lied im Walzertakt, Parlez-moi d’amour – dam da dam da –, dann wurde alles von einer Straßenbahn geschluckt, und er verharrte regungslos und wartete. Vielleicht gelang es diesen Stimmen nicht, nach draußen zu entfliehen – wegen des Rings aus Hochspannungsleitungen, die mit schwarzen, gepufferten Gummiisolierungen an der Fassade befestigt waren. Vielleicht krochen diese vergangenen Geräusche, Geistern der Klangwelt gleich, über Wände und durch Atome hindurch, aber immer, wenn sie zum Rand des Gebäudes kamen, um sich der Stadt oder dem Himmel zu übergeben, standen sie einer elektromagnetischen Mauer gegenüber, den Tausenden kochenden Volt, fürchteten Elektrokution und mäanderten zurück, wurden zu gefangenen, spukhaften Konglomeraten, die nur er, der Mieter, der Träger zweier Ohren, zweier Dome, in denen geklagt werden konnte, zu hören bekam.

Wieder suchte er die Taschen nach Zigaretten ab. Das ärgerte ihn, da er viel zu viel rauchte, seit er in Berlin war. Hier, wo er ruhig werden wollte – deswegen nervte ihn der beinahe unbewusst ablaufende, kaum kontrollierbare Algorithmus des Durchsuchens der Taschen.

Sein unterer Rücken tat weh. Verfluchter Backbone. Er beugte den Kopf. Da war ein fingernder Schmerz hinter der linken Schläfe, und er spürte jetzt, wie er einen Satz, den das Hirn begonnen, von dem es das erste Wort, ein Ich, bereits produziert hatte, nicht zu Ende führen konnte – das Ich ging nirgendwohin, stand für einen Moment lang still – und zerstob.

Er hielt sich an der Wand. Da ließ seine Sehkraft plötzlich nach, als würde ein Bildschirm langsam abgedimmt, und darin versank die gesamte Welt um ihn herum, die Wohnung und seine eigene Spiegelung in der Scheibe – sank wie ein lecker Tanker in einem schwärzer, immer zäher werdenden Meer, und schon war der Punkt erreicht, wo Klinger diesen Untergang, der ihn zunächst noch überraschte, ihm dann aber einen unfassbaren Schrecken einjagte, nur noch registrieren, nicht aber mehr aufhalten oder auch nur verstehen konnte – er sah noch ein Funkeln auf der Schwärze des Wassers, auf dem Oberflächenfilm –

Ihr Content wird nicht mehr gebraucht –

Glitzernde Sterne, die zu Pixel verdorrten – Absturz –, das konnte er gerade noch denken, und so stand er in reinster, völlig leer gewischter Gegenwart im vorderen linken Zimmer seiner frisch bezogenen Wohnung und hatte keinerlei Ahnung, was er jetzt tun sollte, hatte keinen Empfang mehr, keine Empfindung – er war jetzt offline, dieses Wort fiel ihm ein: offline, offline –

Ihre Verbindung wird getrennt –

Hilflos.

Nicht wie ein Kind, nicht wie ein alter Mann. Nicht wie ein Mensch. Biomasse. Fertig für den Recyclingkreislauf.

du musst erst sterben, um auf frische gedanken zu kommen.

Er blinzelte.

du kannst dich als gefickt betrachten.

Er drehte sich um. Alles war still.

6. Oktober

Nacht

Aus Lautsprechern, die weit entfernt und ziemlich groß sein mussten, drang Musik durch Mauern und Wände, verfing sich im lila gestrichenen Gang, schon hallten Klingers Schritte nach unten, um der Quelle, die ihn nicht in Ruhe ließ, näher zu kommen. Im Treppenhaus verdickte der Rhythmus zu einem Pochen, das aus der Erde zu kommen schien.

Licht unter dem Türspalt der Zoo-ologischen Genossenschaft im ersten Stock.

Eine gatterartige Tür eine halbe Treppe tiefer, in deren Rahmen ein verfleckter, nachtblauer Kapuzenpullover steckte. Klinger versuchte, ihn herauszuziehen, doch es gelang ihm nicht, und so winkte ein Ärmel ihm kraftlos hinterher. Im Vorraum zwischen Treppenhaus und Hof untersuchte er die Reihe ruinöser Briefkästen, um herauszufinden, welcher davon zum Bau gehörte, als ein Mann um die Ecke bog: Dreitagesstoppeln auf der Glatze, die abbröckelnde Außenwand eines Gesichts, schwarze Lederhosen, darüber ein Muskelshirt, obwohl nur knapp über null –

»Briefkästn klaun, wa?! Lass bloß deine Finger davon! Von andere Leute Briefkästen bleibt man genauso weg wie von andere Leute Fraun!«

»Andere Leute Frauen? Sind Sie hier der Hausmeister oder so was?« Klinger hob verärgert den Kopf.

»Bonz! Nenn mich einfach nur Bonz!« Der Typ schnaubte. »Und schau dich genau um: Überall, wo Bonz drauf steht, gehört mir –« Er wies auf die Namensschilder und Beschriftungen, die nur zum Teil noch zu erkennen waren, in den verschiedensten Größen und Fonts:

Café Nadine / Inh: Bonz

Stil- und Abbruchunternehmen BONZ

privat-B.O.N.Z.

»Irgendwie kommst du mir bekannt vor.« Bonz deutete auf den Eingang ins Treppenhaus: »Kommst du von oben?«

»Zweiter Stock.«

»Nachbarn.« Er streckte Klinger eine stark behaarte, doch feingliedrige Hand hin. »Kein Feind. Mir gehört das Café hier im Anbau, gleich um die Ecke. He – ich weiß schon, was du jetzt sagen willst, aber das kriegen wir hin, das mit der Musik. Du kannst nicht schlafen, ich seh’s dir doch an. Ich denk drüber nach, ich versprech’s. Ich lass mir was einfallen, kein Problem. Wenn du irgendwie Stress hast, komm direkt zu mir. Ach ja, dein Kasten, das müsste der hier sein.« Er öffnete eine graue Metalltür, auf die mit schwarzem Filzstift ein großes »I« geschrieben stand. »Dein Vormieter«, sagte Bonz, »Igor. Netter Typ. Aber hat sich aus dem Staub gemacht. Komm, ich geb dir einen aus.«

 

Über dem Eingang des Café Nadine hing ein bunt lackierter Holzpinocchio hinter Glas, dessen lange Leuchtröhrennase in scheinbar unregelmäßigen Abständen rötlich blinkte. Zwei Türen: eine vergittert, die andere offen und in eine archetypische, rauchverhangene Trinkerkneipe führend, wo Taxifahrer und englische Bauarbeiter am Tresen keimten, hinter dem eine brünette Schülerin im knallengen T-Shirt die tropfenden, schäumenden Hähne bediente, über ihr der gehäkelte Spruch an der Wand: Früher Arier, dann Proletarier, jetzt nur noch Prol.

Neonwerbung im Fenster für Stroh’s und Schlitz – amerikanische Billigbiersorten. Die Barhocker: abgesägte, mit roten Sitzkissen gepolsterte Lenkraketen aus längst vergessenen Beständen der Roten Armee.

»Das schlechteste Bier und die schlechtesten Raketen der Welt.« Bonz verschwand hinter der Gittertür, die links in einen weiteren Raum führte, der in Dunkelheit lag, nur von den Blitzen eines Stroboskops zerteilt, wodurch Menschen für Momente auf einer Tanzfläche sichtbar, dann verschluckt, dann wieder sichtbar wurden: abgehackt anmutende Posen, die noch seltsamer wirkten, als Klinger, noch bevor er hineingegangen war, erkannte, dass an der hinteren Wand dieses zweiten Raumes eine Reihe von Wäschetrocknern stand, nagelneu und mit grün leuchtenden Bereitschaftslämpchen, während auf der gegenüberliegenden Seite ein oranges Steuerungspaneel für Geldeinwurf und Trocknerauswahl montiert war, was aber selten genutzt wurde, wie Bonz ihm später erklärte, da ihm nach Ankauf der Trockner die Kohle für die Waschmaschinen ausgegangen sei, für die bereits die Sockel gegossen waren, da lagen jetzt Holzplanken drüber, das war jetzt die Tanzfläche, und nun stand ein DJ mit dem Rücken zum Steuerungspaneel, zog Regler und drehte Knöpfe, bediente gleichsam das Stroboskop –

»HEY!« Eine Hand kitzelte Klinger am Bauchnabel, eine sich überschlagende, gegen die Musik ankämpfende Stimme: »HALLO! Schon mal was von Eintritt gehört? Fünf Mark kost der Spaß –« Eine Frau, zierlich, nichts als Mimik und Gestik: die Türhüterin. WAR GEGEN DRUGS stand auf dem Klettlogo ihres T-Shirts über der linken Brust.

»Muss ich hier zahlen?« Klinger beugte sich zu ihr herunter, und sie wich einen Deut zurück. »Ich wohne hier.«

»WO – wohnst du?« Ihre Stimme geschmolzenes Metall, das plötzlich erstarrt – die Augen Feuerwerkssterne, kurz vorm Verglühen.

»Im Vorderhaus. Im zweiten Stock.«

»Da – wohnst du?« Schatten überflogen ihr Gesicht, dunkle Vögel. Plötzlich oszillierten Tränen im Scharlach ihrer Augen, und alles Blut wich aus ihrem Gesicht.

»Wieso –?«

»Das geht dich nichts an. Was glaubst du wohl, wer du bist, hier einfach herzukommen und da einzuziehen?! Tut mir leid, Eintritt ist nur für Mitglieder –«

»Aber Bonz hat mich eingeladen!«

»Bonz? Das hat Bonz gemacht? Dann geh rein. Nein, nein, du brauchst keinen Eintritt zu zahlen. Willkommen im Café Nadine.«

Irritiert schaute Klinger sie an, betrat dann den zitternden Raum. Sofort kam Bonz auf ihn zu und leitete ihn in eine Nische, wo er ihm eine durchsichtige, rosa getönte, dildoartige Flasche reichte, in der eine Flüssigkeit milchig schimmerte. »Hab ich in meiner schöpferischen Phase entwickelt, zwischen zwei und fünf Uhr morgens.« Er keuchte: »Tee mit Kick, zwei Sorten. Um dem Bier was entgegenzusetzen – das Revolutionärste, was man in Deutschland so machen kann, findest du nicht?! Wenn die Testphase gut läuft, geh ich in Massenproduktion. Speziell gefertigte Flaschen, soll’s nur in Drogerien geben – und im Nadine. Na, was meinste wohl, wie man die aufkriegt?«

»Keine Ahnung.« Klinger suchte nach einem Verschluss, aber die Flasche schien aus einem Stück hergestellt. »Abbeißen vielleicht?«

Mit großen, überraschten Augen schaute Bonz ihn an. »Fast getroffen! Nee, nicht abbeißen – iss zu schwierig, von wegen Genehmigungsverfahren und welches Material für die Flaschen usw. Nicht, dass sich ’n zärtliches Jungmodel aus Weißrussland ihr Zahnfleisch bei uns schneidet. Abgebrochn werden die. Das ist Hartplastik, mit ’ner dünnen Stelle hier am Hals. Bricht glatt weg, ohne Krümel« – klack –, »kannste direkt aus der Flasche trinken. Sag schon – was denkste?«

»Und was ist drin?«

»TRINKEN – nicht fragen!« Das Gesicht von Bonz spannte in alle Richtungen, Risse traten auf. Dann sprudelte er: »Der Rote ist eine Sie: Rosa Luxemburg – wie der Platz. Wodka, Apfelsaft, Früchtetee. Knallt. Trinkt sich gradeso weg. Der Braune heißt Freischütz – nicht der perfekte Name, ich weiß, aber kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich da rumüberlegt hab, um nicht zu viel rechte Scheiße reinzukriegen, wegen der Farbe. Ist mit Zucker, Kokoswasser, Roibusch-Tee, Rum. Haut rein. Aber jetzt komm mit, ich will dir was zeigen.«

Bonz lief vorneweg, und sie verschwanden in einem kleinen, weiß getünchten Privatraum, dessen Eingang direkt neben dem orangen Hightech-Paneel lag, und schlossen die Tür. Das Wummern war hier angenehm gedämpft, gerade so, als befänden sie sich in einem Mutterleib. An der Längsseite standen drei weitere nagelneue Trockner, daneben ein unglaublich großer, unfassbar hässlicher grauer Panzerschrank. Bonz zeigte darauf und fragte: »Was glaubst du wohl, mit was du es hier zu tun hast?« Liebevoll klopfte er mit dem Knöchel gegen das handtellergroße Zahlenschloss. »Hier in diesem Anbau war früher die Sportförderung der Deutschen Demokratischen Republik beheimatet. In diesem Flachbau hier wurde das Gold geschmiedet. Hier gingen sie der alten Frage nach, wie Gold herzustellen ist, auf alchemistischem oder zumindest chemischem Wege. Und das hier«, Bonz pochte mit der linken Faust gegen die stumpf antwortende Stahltür: »Ist der Originalgiftschrank. Da bewahr ich meinen Stäsch drin auf. Musst du dir mal reinziehn, Herr Nachbar. Willkommen am Hackeschen Markt jedenfalls! Wo wir hacken, was der Markt hergibt.« Bonz beugte sich über einen der metallisch blinkenden Trocknerdeckel – hack-hack-hack-hack –, eine Linie zwischen zwei Punkten entstand, und Klinger dachte an die Bauarbeiter aus England, die Taxifahrer im Barbereich, die hier ihren Lohn verpulverten, für ein Produkt, dessen Unique Selling Point seine unschlagbar leicht zu konsumierende Unmittelbarkeit war.

»Ich muss mir wirklich was einfallen lassen.« Bonz zog die Nase hoch. »Wegen der Lautstärke der Musik.« Er blickte auf und versuchte, ganz normal auszusehen, was ihm beinahe gelang, doch klebten weiße Flocken an den schwarzen Haaren seiner Nase. »Das liegt mir am Herzen«, er klaubte eine Zigarette aus der Hosentasche, »dass du dort oben super schlafen kannst. Das musst du mir glauben, ehrlich. Hier gibts schon genügend Stress. Der Raum ist zu eng, wir sind hier wie Ratten. Werden leicht nervös, und dann gibt’s Kannibalismus, dagegen kann sich niemand wehren – deshalb Rücksicht – unbedingte Rücksicht auf den Nachbarn, zu jeder Tages- und Nachtzeit, verstehst du?«

Klinger nickte. Dann sprach er die drohende Entkernung an.

»Da redet niemand gerne drüber.« Bonz grinste, aber vielleicht waren es auch nur seine Mundwinkel, die unkontrollierbar nach außen strebten. »Wollen alle ihre Karten nicht auf den Tisch legen, seit Jahren. Alle, die auch nur irgendwas mit dem Ding hier anfangen wollen – umbauen, abreißen, entkernen, endlich für die Neue Mitte nutzen, egal. Es ist das letzte unberührte Haus der Gegend. Und das allgemeine Zögern, das mir übrigens die Freiheit gibt, hier eine unlizenzierte Schankwirtschaft zu betreiben, hat mit dem Bett zu tun, auf dem wir ruhn, verstehst du? Dem fauligen Bett.« Bonz rauchte. »So genau weiß es niemand, aber es gibt da eine Menge Theorien, Hirngespinste auch genannt. Legenden – es geht um den Keller. Der genaue Name ist mir nicht bekannt, aber hier unter uns, im Boden, da soll es mal eine Art Etablissement gegeben haben, eine der legendärsten Kellerbars der 20er Jahre. Wirkliche Avantgarde-Säufer, durchgedrehte Physiker mit Tripper-Girls im Massenhimmelbett, Palmenmädels unter Fliegenpilzhüten, Muschi-Puschi, Veilchenauge, Es geht von Mund zu Mund, alles. Hatte angeblich nie geschlossen«, Bonz nieste. »Wie das Nadine. Die kannten scheinbar auch keine Sperrstunde damals und vor allem nicht, als Ausgangssperre war. Die harten Charaktere sollen überhaupt nicht mehr nach oben gekommen sein und schon gar nicht ab 33. Schön in der Erde die Zeiten überdauern. Solange sich welche um den Nachschub kümmerten, konnte der Großteil einfach unten bleiben, um weiterzusaufen und Meskalin zu spritzen, Cocolores zu rüsseln, gabs ja alles auf Rezept. Reines MDMA