Harro und Libertas - Norman Ohler - E-Book

Harro und Libertas E-Book

Norman Ohler

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Beschreibung

Liebe und Widerstand in Hitlers Berlin. Mit »Harro und Libertas« hat der Schriftsteller Norman Ohler eine historische Leistung erbracht. Mit seinem überaus spannend erzählten und sorgfältig recherchierten Buch hat er Harro Schulze-Boysen und seine Frau Libertas endlich als das gezeigt, was sie waren: zwei historisch höchst bedeutsame Helden des Widerstands gegen das Naziregime, die lange Zeit sowohl in Westdeutschland als auch in der DDR nicht die Anerkennung gefunden haben, die sie verdienen. Es ist die wahre Geschichte zweier Liebender, die um sich herum im Berlin der NS-Zeit ein Netzwerk von Gleichgesinnten aus allen Berufen und sozialen Schichten gebildet und sich mutig dem Naziterror entgegengestellt haben. Zugleich lebten Libertas und Harro einen offenen Liebes- und Lebensstil und weigerten sich, diesen der rigiden NS-Moral unterzuordnen. Nach seiner deutschsprachigen Veröffentlichung hat Norman Ohlers Buch sofort in einer Vielzahl von Übersetzungen international Karriere gemacht – in den USA unter dem Titel »The Bohemians«, in England (»The Infiltrators«) sowie in Italien, Frankreich und den Niederlanden.

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Seitenzahl: 549

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Norman Ohler

Harro & Libertas

Eine Geschichte von Liebe und Widerstand

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Norman Ohler

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

 

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Inhaltsverzeichnis

HinweisWidmungMottiVorbemerkung0. Kapitel1. Kapitel2. KapitelSprung mitten hinein0. Kapitel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelTeil I Gegner1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelTeil II Karriere und Ehe1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelTeil III Widerstand und Liebe1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelTeil IV Gegnerbekämpfung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel28. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. KapitelRestitutio Memoriae0. Kapitel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelAnhangDankQuellen- und LiteraturverzeichnisAnmerkungenPersonenregister
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Die Bildrechte stehen jeweils direkt bei den Bildern. Alle übrigen Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.

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Für die Kinder

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»Das gäbe einen wunderbaren Stoff, wenn es nicht so verboten wäre.«

Ein Gestapo-Kommissar[1]

»Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.«

Walter Benjamin

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Vorbemerkung

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Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, saß ich im Garten des Hauses meiner Großeltern, das im Klingeltal lag, am Rande einer kleinen Stadt im Südwesten Deutschlands, nahe der Grenze zum Elsass. Noch im März 1945 war dieser Ort, wo ich auch geboren bin, bei einem Angriff der Royal Air Force dem Erdboden gleichgemacht worden, über 95 Prozent der barocken Gebäude zerstört. Meiner Großmutter und meinem Großvater war es wie so vielen ergangen: Von ihrem Besitz hatte nichts den Bombenhagel überstanden. Also baute mein Großvater nach dem Krieg ein neues Haus, mit seinen »eigenen Händen aus dem Schutt«. Er taufte es Haus Morgensonne und den Feldweg, der durch das Klingeltal dahin führt, Wiesengrund, was später auf den offiziellen Straßenkarten so verzeichnet wurde.

Wir spielten oft Mensch ärgere Dich nicht im Garten des Hauses Morgensonne, und vor dem ersten Würfeln sagte mein Großvater stets: »Es wird hart gespielt, aber fair!« Dieser Satz verursachte bei mir immer einen kleinen Schrecken, auch wenn ich gegen faires Spielen nichts einzuwenden hatte und auch das hart nicht sonderlich ernst gemeint war, da wir im Grunde nur miteinander spielten, um möglichst viel Spaß zu haben und uns die Zeit zu vertreiben. Doch an jenem Nachmittag, fair oder unfair, weigerte ich mich, die Runde zu beginnen, es sei denn, er erzählte mir eine Geschichte vom Krieg. Am Morgen hatten wir im Gymnasium einen Dokumentarfilm über die Befreiung eines Konzentrationslagers gesehen, die Brillenberge, die ausgemergelten Gesichter, dazu effektvoll zwischengeschnitten ein jubelndes deutsches Volk, und keinem von uns war es gestattet gewesen, den Raum zu verlassen.

Also wollte ich wissen, ob mein Großvater etwas damit zu tun gehabt hatte. Zunächst schüttelte er den Kopf und wollte mit dem Mensch ärgere Dich nicht beginnen. Doch ich nahm die beiden elfenbeinfarbenen Würfel und sah ihn auffordernd an. Die Sonne schien durch die Blätter der Apfelbäume auf unseren Tisch und zeichnete ein Tarnmuster aus Licht und Schatten auf das gelb grundierte Spielbrett. Da sagte er mir, er habe für die Reichsbahn gearbeitet. Das war nichts Neues für mich, und ich drängte ihn, mir etwas Interessantes zu berichten.

Gedankenverloren starrte er rüber zu den Blautannen, die die Grenze bildeten zum Wiesengrund. Dann hustete er. Schließlich sagte er langsam und wie nebenbei, dass er ja schon immer ein wahrer und begeisterter Eisenbahner gewesen sei, weil er die Verlässlichkeit und Präzision geliebt habe, die mit dem Eisenbahnwesen einhergingen. Und dass er sich nie hätte vorstellen können, wozu es dann kam. Ich fragte sofort: Wozu ist es denn gekommen? Zögernd erzählte er mir, er sei als Ingenieur tätig gewesen – ob ich wisse, was ein Ingenieur sei? Obwohl ich es nicht so genau wusste, nickte ich. Während des Krieges, fuhr er fort, sei er in das nordböhmische Brüx versetzt worden, ein Kaff am Knotenpunkt der Strecken Aussig–Komotau, Pilsen–Priesen und Prag–Dux.

Eines Winterabends, als hoher frischer Schnee die schwarzen Doppelbänder der Gleise, die Wiesen, Bäume, den gefrorenen Fluss, die Eger, bedeckte, so erzählte mein Großvater mit zögerlicher Stimme, wurde ein ankommender Zug auf ein Nebengleis rangiert, ein langer Güterzug mit Viehwaggons, der einem eiligen Munitionstransport den Weg frei machen musste. Räder schrammten kreischend über die Weichen, Rufe hallten, ein lang gezogener Pfiff. Dampf wallte auf und verlor sich. Die Viehwaggons wurden abgekoppelt. Stille kehrte in das weiße Tal zurück.

Irgendetwas stimmte nicht. Das spürte mein Großvater; das sagte ihm sein Eisenbahnerinstinkt. Nach einer Weile verließ er sein flaches Dienstgebäude und näherte sich dem Nebengleis. Nur das murmelnde Wasser unter dem Eis der überfrorenen Eger war zu hören. Unruhig lief er die lange Reihung der Waggons entlang. Als er sich gerade wieder abwenden wollte, bewegte sich ein Gegenstand durch einen der schmalen Lüftungsschlitze oberhalb einer Schiebetür. Eine Blechtasse an einer Kordel wurde aus der Öffnung herabgelassen, klapperte gegen die Holzwand des Waggons, hakte sich am Türgriff fest, befreite sich, pendelte langsam hinab und tauchte in den Schnee neben dem Gleis. Kurz darauf straffte sich die Schnur und holte das gefüllte Gefäß wieder ein. Eine Kinderhand – nur sie passte durch den Schlitz – erschien oben und nahm den Becher in Empfang.

Menschen, kein Vieh! Menschen in Viehwagen, aber das verstieß doch gegen die Beförderungsvorschriften! Eine Sauerei. So etwas machte man bei der Reichsbahn nicht. Erregt ging mein Großvater in seine Dienststube zurück, um Auskunft einzuholen, wohin der Zug unterwegs war: Theresienstadt. Der Name sagte ihm wenig. Ein kleiner Ort ein paar Kilometer nördlich von Bauschowitz, der Endstation an der Grenze des Protektorats. Erneut lief er nach draußen, um sich die Waggons anzusehen, doch nun kamen zwei Wachposten in schwarzer Uniform im Eilschritt die Gleise entlang, Maschinenpistolen im Anschlag. SS. Mein Großvater drehte sich um und hastete zurück. Ein barscher Zuruf wurde ihm drohend nachgeschickt.

Es ist Krieg, dachte er und schaute wenig später aus den angelaufenen Scheiben der überhitzten Dienststube nach draußen. Da fragt kein Mensch nach Beförderungsvorschriften. Kriegsgefangene werden es sein, Russen. Doch er wusste, dass das nicht stimmte. Der Zug war aus westlicher Richtung gekommen. Die Hand war die eines Kindes gewesen. Er wusste auch, er würde nichts dagegen tun. »Ich fürchtete mich vor der SS.«

Er erzählte es mir, in dem sonnendurchfluteten Garten seines gelb gestrichenen Hauses, und obwohl ich ihn liebte, weil er mein Großvater war, den ich immer nur Pa nannte, hasste ich ihn, und er spürte das. Wir begannen mit dem Mensch ärgere Dich nicht.

Dann passierte etwas Merkwürdiges. Mitten im Spiel fingen seine Hände an zu zittern, er hielt den Blick zur Seite gerichtet, um mich nicht anschauen zu müssen, und seine Stimme klang brüchig: »Ich hab damals gedacht, wenn jemand rauskriegt, was wir den Juden antun, wird es schlimm für uns.«

Ich blickte ihn an und brachte kein Wort heraus. Mein Großvater schien auf einmal ganz weit weg von mir zu sitzen. Die Distanz zwischen uns war überwältigend, obwohl ich ihn mit der Hand hätte berühren können. Alles war plötzlich weit weg; der Garten um uns herum, die Apfelbäume hinter unserem kleinen Tisch, der Tisch selbst in einer anderen Dimension. Ich konnte ihn nicht mehr anfassen. Ich konnte die Figuren unseres Spiels nicht mehr führen. Meine Großmutter saß da wie eine Statue, verschwommen, am linken Rand meines Blickfeldes. Mein Großvater irgendwo vor mir. Ich schloss die Augen. Alles war ganz still. Eine Ruhe, die man hören konnte.

1

Es ist nicht immer kalt in Berlin. Es gibt Sommertage, an denen die Stadt glüht und der märkische Sand heiß zwischen den Zehen reibt. Dann schwebt der Himmel so hoch droben, dass man spürt, sein Blau gehört zum Weltall. Dann wird das Leben in dieser Stadt, in der gleichzeitig so viel und rein gar nichts passiert, kosmisch. Im August 1942 gab es solche Tage, als mehrere Menschen zum letzten Mal in ihrem Leben auf dem Wannsee segelten, und auch im August fünfundsiebzig Jahre später gibt es sie, als ich einen Mann treffe, der Hans Coppi heißt.

Hans ist seinerseits fünfundsiebzig Jahre alt, wirkt aber jünger. Er ist schlank, groß gewachsen (wie sein Vater, den seine Freunde den »Langen« nannten), trägt eine runde Brille und hat einen wachen, ironischen Blick. Ich weiß nicht genau, wohin dieses Treffen mit ihm führen wird, zwar bin ich Autor eines Sachbuches über die Nazizeit, aber eigentlich will ich Romane schreiben oder Spielfilme machen. Doch was mir Hans Coppi angekündigt hat, ist eine authentische Geschichte, die nach einem weiteren Sachbuch verlangt.

Hans ist im Osten Berlins zu Zeiten des Kalten Krieges als eine Art VIP aufgewachsen. Das hängt mit seinen Eltern zusammen, die dort posthum als Berühmtheiten galten. Sie waren nämlich sogenannte antifaschistische Widerstandskämpfer gewesen. Seine Mutter durfte ihn in Nazihaft noch gebären. Dann wurde ihr der Prozess gemacht, und nach acht Monaten wartete auch auf sie die Guillotine. Hans Coppi, ein promovierter, feinsinniger Historiker, hat sein Leben lang versucht zu verstehen, was damals geschehen ist mit seinen Eltern und wieso sie, wie einige ihrer Freunde, die in jenem Sommer 1942 ein letztes Mal segeln waren, so jung sterben mussten.

Ich hatte geglaubt, die wichtigsten Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu kennen: Graf Schenk von Stauffenberg mit seiner Bombe am 20. Juli 1944, Georg Elser, der manische Einzelkämpfer mit dem selbst gebastelten Sprengsatz, der Hitler 1939 um nur wenige Minuten verfehlte, die kreuzbrave und doch so aufmüpfige Sophie Scholl, ihr Morphin und Pervitin konsumierender Bruder Hans. Doch es gibt eine weitere Geschichte, die laut Hans Coppi in diesen Kanon gehört, sie kreist um ein Paar, mit dem auch sein Vater befreundet war: zwei Menschen, die über viele Jahre die Diktatur bekämpften und für die dieser Kampf immer auch ein Ringen um die Offenheit in der Liebe war. Ihre Namen lauteten Harro und Libertas Schulze-Boysen, und um sie herum scharten sich im Laufe der Jahre weit über einhundert Personen und ließen ein schillerndes Netzwerk entstehen, in dem beinahe so viele Frauen wie Männer sich zusammenschlossen. Das hat es in keiner anderen Gruppierung gegeben. Es ist eine Geschichte junger Leute, die vor allem eines wollten: leben – und sich lieben, selbst wenn die Zeit, in der sie in ihrer Blüte standen, auf Tod gepolt war.

Es ist nicht einfach, was Hans Coppi sich vorgenommen hat: herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist. Als Hitler nämlich erfuhr, was im Herzen der Reichshauptstadt gegen ihn unternommen wurde, war er so erbost, dass er befahl, die Erinnerung an diese außergewöhnlichen Vorgänge zu tilgen, sie bis zur Unkenntlichkeit zu verfälschen. Die Wahrheit um Harro und Libertas und all die anderen untergehen und verschwinden zu lassen. Beinahe hätte es der Diktator geschafft.

Ich treffe Hans Coppi in einem Café am Engelbecken, an der Nahtstelle zwischen Ost und West, dem Berührungspunkt der urbanen Parabeln der alten Hauptstadt der DDR und der ehemaligen Mauerstadt Westberlin. Hier stehen sozialistische Plattenbauten gentrifizierten Gründerzeitwohnhäusern gegenüber: Hier ragt die von einem Schinkel-Schüler erbaute Sankt-Michael-Kirche nach einem Bombardement noch immer dachlos in Richtung Himmel, in den Hans Coppi an diesem heißen Sommernachmittag skeptisch blinzelt, da er weiß, dass sich die angestaute Hitze am frühen Abend gerne entlädt über dieser wunderlichen, manchmal so angespannten Stadt.

Mein kleiner Sohn ist mitgekommen zu dem Treffen, er ist etwas älter als anderthalb, aber schon so groß wie ein Zweijähriger. Er findet unser Gespräch weniger interessant als die Enten im Teich am Engelbecken. Immer, wenn eine von ihnen aus ihrem Nest im Schilf aufs Wasser entschlüpft, weil er zu nahe gekommen ist, stehe ich auf und bremse ihn, der zum Uferrand trippelt, hole ihn zum Tisch zurück, setze ihn auf den Stuhl und biete ihm seine Rhabarbersaftschorle an. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn zu Hause zu lassen, um mich ganz auf das Treffen konzentrieren zu können. Hans Coppi scheint sich an den Unterbrechungen nicht zu stören. Er beobachtet uns aufmerksam.

Als seine Eltern knapp zwei Wochen nach Harros Festnahme im September 1942 ebenfalls verhaftet wurden, hat Hans das vielleicht gespürt, im Schoß seiner Mutter Hilde. Sie wurde zunächst mit weiteren Frauen ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz und Ende Oktober – inzwischen hochschwanger – in das Frauengefängnis Barnimstraße gesperrt. Dort durfte sie Ende November ihr Kind auf die Welt bringen und nannte es Hans, so hieß auch ihr Mann.

Plötzlich schrecke ich auf: Ich höre ein Klirren und schaue zu meinem Sohn hin. Er hat ein Stück aus seinem Glas mit Rhabarbersaftschorle, das vor ihm auf dem Tisch steht, herausgebissen. Ich brauche einen Moment, bis ich die Situation begreife. Doch der fehlende kleine Halbmond spricht eine eindeutige Sprache. Vorsichtig fasse ich in seinen Mund und hole das perfekt geformte gläserne Stück heraus. Zum Glück hat sich der Kleine nicht verletzt! Verblüfft schaue ich ihn an, und er blickt ebenfalls etwas verdutzt zurück. Ich wusste nicht, dass kleine Kinder Gläser zerbeißen können, so sauber zumal, und er wusste das offenbar auch nicht. Hans neigt den Kopf zur linken Seite: »Hat janz schön Energie, der Junge.« Und auf einmal ist mir klar, wieso mein Kind zu diesem Gespräch mitgekommen ist, denn plötzlich wünsche ich meinem Sohn, dass auch er, ebenso wie Hans Coppi, das Leben meistert, indem er sich später einmal mit der Geschichte auseinandersetzt.

Es ist heiß an diesem Nachmittag in Berlin, und ich fahre im Anschluss an das Gespräch an den Wannsee, zum Baden und weil es dort noch mehr Enten gibt. Und es außerdem ein Gewässer ist, das mit diesen Vorkommnissen aufs Engste verwoben ist. Es ist der 31. August 2017, auf den Tag genau 75 Jahre nach Harros Festnahme. Wind kommt auf, das Gewitter naht.

2

Spurensuche in Mitte. Dort, wo einst das Reichssicherheitshauptamt stand, gibt es heute eine Gedenkstätte mit dem Namen Topographie des Terrors. Hier befand sich die Gestapozentrale, hier hatte Himmler sein Büro, in dem er jeden Morgen zwei Stunden Yoga übte und sich dann an sein tägliches Geschäft begab. Hier organisierte Eichmann den Völkermord an den Juden. Und hier, im zubetonierten Keller, wo der Kerker untergebracht war, wurden Harro und zunächst auch Libertas gefangen gehalten und auch der Vater von Hans Coppi. Harros Zelle, die Nummer 2, ist ebenso wie die der anderen nicht mehr vorhanden. Bei einem Bombenangriff der Royal Air Force wurde das Gebäude schwer beschädigt, nach dem Krieg die Ruine abgerissen. In den Siebzigerjahren handelte hier eine Bauschuttfirma, und auf einer ringförmigen Teststrecke konnte man ohne Führerschein in Autos über die freie Fläche brausen. Heute befindet sich in dem früheren Kellerbereich eine Ausstellung, in der auch an Harro Schulze-Boysen erinnert wird.

Ich begegne Hans Coppi vor den Schautafeln. Er wirkt fragil an diesem Tag, fragt, wie es meinem Sohn gehe, dann laufen wir das ehemalige Tirpitz- und heutige Reichpietschufer entlang zum Bendlerblock in der Stauffenberg-Straße. Dort ist neben dem Verteidigungsministerium die Gedenkstätte Deutscher Widerstand beheimatet. In dem soliden Bau gibt es ein Zimmer im vierten Stock, das die »Sammlung Rote Kapelle« beherbergt. Vieles haben Hans Coppi und weitere Mitstreiter bei Recherchen in den vergangenen Jahren gefunden oder von Zeitzeugen und Angehörigen erhalten, um die Geschehnisse um Harro und Libertas und all die anderen zu erhellen. Es ist ein Raum voller Briefe, Fotoalben, Akten und Gesprächsnotizen, Befragungen von Zeitzeugen, Tagebüchern, Verhörprotokollen.

So merkwürdig, dramatisch oder unwahrscheinlich einige der hier folgenden Ereignisse auch klingen: Es handelt sich nicht um einen fiktionalen Text. Alles, was zwischen Anführungszeichen steht, wird mit einer Quelle belegt. Der Ort ist Berlin, eine Stadt, die schon viele Metamorphosen durchmachte, in der aber stets Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen lebten: Leute, die gerne gut aßen, ins Kino oder zum Tanzen gingen – die Familien hatten, Kinder großzogen oder sich einfach nur lieb haben wollten. Menschen, die sich in Cafés trafen, selbst wenn am Nebentisch Gestalten in schwarzen Uniformen saßen. Farbtupfer, mit der Zeit immer mehr, im um sich greifenden Grau oder vielmehr Braun. Menschen, die darüber nachdachten, wie auf unhaltbare politische Zustände zu reagieren ist: wie sich verhalten in Zeiten, die Konformität verlangen. Menschen auch, die sich von meinem Großvater, der einfach weitermachte mit seiner Ingenieurstätigkeit für die Reichsbahn, deutlich unterschieden.

 

Norman Ohler, Berlin, jetzt

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0

Der OberreichskriegsanwaltBerlin, 18. Januar 1943

St.P.L. (RKA) III 495/42

Herrn

Fregattenkapitän E.E. Schulze

Feldpostnummer 30450

 

Auf Ihren Antrag vom 9. Januar 1943 teil ich Ihnen mit, dass die erkannte Vermögenseinziehung nicht nur die Einziehung der Werte, die in dem Besitz des Verurteilten sind, bedeutet, sondern dass darüber hinaus auch die Erinnerung an den Verurteilten als zusätzliche Strafe ausgelöscht werden soll.

Im Auftrage

Oberstkriegsgerichtsrat d.Lw.[2]

Dieser Brief von Dr. Manfred Roeder erreichte Erich Edgar Schulze drei Wochen nach der Exekution seines Sohnes Harro.

1

Knapp zehn Jahre zuvor, am Mittwoch, den 26. April 1933, ist es in der deutschen Hauptstadt bei 16 Grad wolkenlos, ein wunderbarer Frühlingstag. Seit knapp drei Monaten ist Hitler Reichskanzler, und der 23-jährige Harro Schulze-Boysen hat den Gegner noch immer nicht zugemacht, seine unabhängige Publikation, die zu Zeiten der Weimarer Republik mit über 5000 Abonnenten florierte und deren junger Chefredakteur er ist. Gegner von heute – Kampfgenossen von morgen, lautet das Motto der vom Expressionismus beeinflussten Zweimonatsschrift. Im Gegner schreiben Autoren aus den unterschiedlichsten Lagern, gerade so, als gäbe es die von den Nazis eingeführte Pressezensur nicht. Der auf Dialog setzende, zutiefst humanistische Ansatz der Publikation lautet, dass alle gesellschaftlichen Probleme durch das Herausfinden von Gemeinsamkeiten selbst zwischen den unterschiedlichsten Standpunkten lösbar sind.

An diesem 26. April ordnet Hermann Göring, die Nummer zwei im Hitler-Reich, die Bildung eines Geheimen Staatspolizeiamtes an. Am selben Tag treffen sich die Freigeister des Gegner zu ihrer wöchentlichen Redaktionskonferenz, um die Rolle der Kirche im neuen, sich mit ungeheurer Geschwindigkeit entwickelnden NS-Staat zu diskutieren, als es laut an die Eingangstür der Schellingstraße 1 in der Nähe des Potsdamer Platzes pocht.

Harro öffnet. Männer in schwarzer Uniform. Was wollen die hier? Wenn es eine neue Ordnungsmacht gibt, dann doch die SA, in ihren braunen Hemden. Aber weiß man dieser Tage immer so genau, wer nun gerade welche Macht hat? Das hier ist jedenfalls die SS, der Abschnitt III aus der nahe gelegenen Potsdamer Straße 29, das sogenannte »Hilfspolizeikommando Henze«.[3]

Die Männer dringen ein, beenden die Redaktionskonferenz, beschlagnahmen einige von Harros Büchern, seine Fotos und Briefe, seine Schallplatten, Notizhefte und Schriften. Alles stopfen sie in einen Lederkoffer, dann prügeln sie Harro und seinen besten Freund, den schmalen, dunkelhaarigen Henry Erlanger, und die anderen Autoren des Gegner die Treppen hinunter.

Henry heißt eigentlich Karl Heinrich, sein Vater ist Berliner Bankier und Jude, seine Mutter Rheinländerin aus Ingelheim. Der zurückhaltende Henry ergänzt den draufgängerischen Harro perfekt. Er ist, so beschreibt ihn ein gemeinsamer Freund, »der Typ eines ewigen Regieassistenten: fleißig und heiter, der gute Geist, den man einfach braucht, (…) in beflissener Unterstützung der Gegner-Sache«.[4] Anders als Harro hat der introvertierte Henry keine direkten politischen Ambitionen, er versteht es nicht, mit diplomatischer Geschicklichkeit andere für sich einzunehmen. Literarische Kenntnisse sind ihm wichtiger. Zeitgenössische Philosophie und die jungen Schriftsteller, Ernst Jünger zum Beispiel, liest er am liebsten. Als ausgebildeter Bibliothekar ist Henry an jedem geschriebenen Wort interessiert.

Sie werden in einen Kleintransporter bugsiert, die Fahrt geht ins Hauptquartier des SS-Abschnitts III in die Potsdamer Straße. Mit vehementer Stimme setzt Harro sich beim Verhör zur Wehr. Er ist sich keiner Schuld bewusst und pocht darauf, lediglich eine Publikation herauszugeben, in der die Zukunft Deutschlands und Europas offen und ohne Scheuklappen diskutiert werde. Doch genau dies ist ja sein schlimmes Vergehen. Zum Morgengrauen findet er sich im Kleintransporter wieder, eng an Henry gekauert. Kreuz und quer geht es durch die Stadt, von ihren Bewachern hagelt es Schläge und Tritte. Harro bekommt es zum ersten Mal mit der Angst zu tun. Die ganze Zeit über hat er sich nicht wirklich für gefährdet gehalten, auch wenn es nicht das erste Mal ist, dass er Ärger mit der Staatsgewalt hat. Aber dieses Mal fühlt es sich anders an. Sein unerschütterlicher Glaube, dass alles schon irgendwie gut ausgehen wird, greift plötzlich nicht mehr. Was haben sie mit Henry und ihm vor? Irgendwann hält der Wagen. Die Tür fliegt auf. Ist das nicht die Reichsstraße – und dort der Spandauer Bock, das beliebte Ausflugslokal, wo auch die Straßenbahn hält? Raus! Harro blinzelt gegen das Licht einer Straßenlaterne an. In der Luft hängt ein Duft von Frühling, der ihm wie Hohn vorkommt. Neben ihm stolpert Henry.

Ausgetretene Stufen führen nach unten. Eine Holztür steht offen. Da geht es hindurch. Auf dem Boden liegt Stroh, eine improvisierte Bettstatt, darüber schwarz-rot-goldene Fahnen als Bezüge, eine Verhöhnung der untergegangenen Weimarer Republik. Dort liegt bereits jemand, ein weiterer Gegner-Autor, der Schweizer Adrien Turel. Ihn hat die SS Stunden zuvor aus seiner Wohnung geholt. Harro und Henry müssen sich neben ihn auf den Rücken legen und »die Schnauze halten«.[5]

Die ganze Nacht über wird scharf geleuchtet. Schlaf gibt es so gut wie gar nicht. An der Tür hält ein uniformierter Hüne Wache, sitzt auf einem Schemel, spielt zwischen den Knien mit seiner Pistole: nimmt das Magazin heraus, schiebt es mit einem Knacken wieder hinein, nimmt es wieder heraus, schiebt es wieder hinein, während die drei Freunde nebeneinander im Scheinwerferlicht liegen, vollkommen zu Unrecht verfolgt, wie sie es empfinden, weshalb noch immer auch die Hoffnung besteht, dass sich alles als ein großes Missverständnis entpuppt. Man kann doch jegliche Gegensätze durch ein vernünftiges Gespräch überbrücken, nicht? Das ist das Gegner-Konzept. Was aber, wenn sich eine Partei nicht an so etwas hält? Vor Kurzem noch, vor der sogenannten Machtergreifung, war es in Ordnung gewesen, kritische Schriften zu verfassen. Wie kann es sein, dass dies nun so schwer geahndet wird? Welches Recht maßen sich diese Rohlinge an? Und was werden sie mit Henry anstellen, dem »Halbjuden«?

Gegen ein Uhr nachts reißt jemand die Tür auf und brüllt: »Ist hier ein gewisser Turel?«[6]

Adrien erhebt sich.

»Strammstehen! Wie heißen Sie?«

»Adrien Turel.«

»Wie?«, fragt der SS-Mann nach und hält die Hand ans Ohr. »Ich hör’ immer nur Jid!« Doch Turel ist kein Jude, aber Schweizer. Als der Irrtum aufgeklärt ist, wird er entlassen, seine Nationalität rettet ihn. Doch Turel weigert sich und verlangt, bei seinen Freunden zu bleiben. Gegen seinen Widerstand führt ihn ein Bewacher nach draußen. Nun werden den zurückbleibenden Harro und Henry mit einer Gartenschere die Haare abgeschnitten, als Nächstes Henry in den Innenhof gebracht. Dort muss der richtige Jid laufen, im Karree an den Mauern entlang, während die SS-Männer mit Nilpferdpeitschen in der Mitte stehen und auf ihn einschlagen. Henry ist, was die physische Konstitution betrifft, nie der Allerstärkste gewesen.

»Du auch«, brüllt jemand Harro an: »Ausziehen!« Er streift sich seinen blauen Lieblingspullover über den Kopf. Der hat ihn bislang immer geschützt und überallhin begleitet.

Bei der zweiten Runde, die Harro mit nacktem Oberkörper im Hof des umfunktionierten Kegelkellers des Vergnügungslokals Spandauer Bock drehen muss, reißen die Peitschen ihm die Haut auf, und ihm wird klar, dass er sich gewaltig geirrt hatte. Er fährt sich über das Gesicht, über die Brust. Wo seine Hände Blut berühren, fühlt sich die Haut wie Horn an. Er wird gegen die Backsteinwand gestoßen. Zwei Mann halten je einen Oberarm, vier weitere die Beine. Einer zieht ihm die Hose über die Knie, ein anderer zückt das Messer, beugt sich nach unten und sticht mit der Klinge in Harros Oberschenkel, zieht eine scharfe Linie, schlägt einen rechten Haken, noch einen rechten Haken, dann das Ganze spiegelverkehrt, zum Kreuz, und mit jeder Linie, jedem Haken wächst Harros Hass ins Unermessliche, da sie ihm in diesen Momenten den Glauben rauben, das Urvertrauen an die eigene Allmacht. Denn ein Harro konnte bislang stets alle versöhnen. Zumindest hat er das immer gedacht. Jetzt denkt er das nicht mehr. Jetzt kann er gar nicht mehr klar denken, sondern spürt nur den Schmerz. Jetzt muss er kämpfen, alles andere nützt nichts mehr. Er hat es mit Argumenten versucht, mit Worten, das war zu wenig gewesen, eine ungenügende Technik und vollkommen unbefriedigende Vorgehensweise, wenn der Gegner der Nationalsozialismus ist.

2

Drei Tage später, am 29. April 1933, läuft die groß gewachsene 20-jährige Regine Schütt in einem eleganten grauen Flanellanzug von der Geburtstagsfeier ihres Vaters zu den Redaktionsräumen des Gegner. Sie freut sich auf den Abend mit Harro: Sie zeichnet an ihren Mode-Entwürfen, er sitzt an Texten für die Zeitschrift, dann lieben sie sich, auch wenn sie nicht verheiratet sind. Als die Eingangstür verschlossen ist und sich auf ihr Klingeln niemand meldet, läuft sie zur Eckkneipe, um Harro von dort anzurufen. Doch dazu kommt es nicht. »Sie haben ihn mitgenommen«, sagt ihr der Barkeeper. »Wir haben es gesehen.«[7]

Sofort macht sie sich auf die Suche. Eine Kneipe nach der anderen klappert sie ab, da sie gehört hat, dass jede Sturmabteilung ihr eigenes informelles Hauptquartier in einer dieser Spelunken unterhält. Viele gibt es davon im Zentrum, es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, doch eine andere Vorgehensweise fällt ihr nicht ein. Gut aussehend, chic gekleidet und ohne Angst zu zeigen, fragt sie jedes Mal korrekt und höflich: »Haben Sie oder Ihr Sturm Harro Schulze-Boysen festgenommen?« Die Befragten, einige von ihnen betrunken, antworten ihr durch die Bank geradeheraus. Die rotblonde Regine ist ein Typ, der gut ankommt, und deshalb versuchen die Männer, sie mit anständiger Haltung zu beeindrucken.

Endlich, am Abend des 30. April, vier Tage nach Harros Festnahme, trifft sie auf einen jungen Mann vom SS-Abschnitt III, der ihr bestätigt: Ja, wir haben ihn. Auch seinen Aufenthaltsort nennt er ihr. Sofort fährt Regine los, allerdings nicht zum Spandauer Bock, sondern zum Botanischen Garten, weil sie weiß, dass in dieser Gegend der Reichsgerichtsrat Dr. Werner Schulze wohnt, Harros Onkel. Seine genaue Adresse kennt sie nicht, kann die Möglichkeiten aber anhand des Fernsprechbuches minimieren und findet um drei Uhr morgens, die Busse haben längst aufgehört zu fahren, endlich die richtige Anschrift. Alles, was sie in Erfahrung gebracht hat, teilt sie der Familie mit, die, wie sie glaubt, bessere Chancen als sie selbst hat, sich für eine Freilassung starkzumachen.

Als Harros Eltern, die im Ruhrgebiet leben, vom Verschwinden ihres Sohnes erfahren, macht sich Mutter Marie Luise, geborene Boysen, eine »starke Frau, obwohl sie sehr klein ist«, wie Regine sie später beschreibt, zur NSDAP-Zentrale in Duisburg auf, trägt nicht nur ihren Namen, sondern auch den ihres Mannes in die Mitgliederliste ein. Sie ist überzeugt davon, mit Parteiabzeichen bessere Chancen zu haben, ihren Sohn lebend wiederzusehen.[8] Zu ihrer Bestürzung erfährt sie, dass das sogenannte Bonbon erst ein paar Wochen später zugeschickt wird. Doch sie steckt nicht auf, erzählt erregt, schon lange Duisburger Vorsitzende des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft (»Was stimmte!«) und als solche natürlich schon lange Parteimitglied zu sein (»Was nicht stimmte!«). Sie hätte an diesem Abend eine Kolonialveranstaltung, bei der sie öffentlich sprechen müsse (»Was nicht stimmte!«), und das wolle sie nicht ohne Abzeichen.[9] Ihre Chuzpe trägt Früchte: Ausnahmsweise erhält sie die Anstecknadel auf der Stelle, pinnt sie sich auf die Brustpartie ihres gedeckten Jackenkleides, setzt einen zurückhaltenden Hut auf und fährt mit dem nächsten Zug los, die ganze Nacht hindurch, Ankunft in Berlin in der Früh, wo ihr Schwager sie vom Bahnhof abholt. Als er ihr von Regine Schütt und ihrer Auskunft, welche Einheit Harro habe, erzählt hat, fährt Marie Luise in die Potsdamer Straße, »zwischen Potsdamer Platz und Potsdamer Brücke auf der linken Seite, wenn man vom Potsdamer Platz kommt«.[10] Dort fällt ihr Blick zunächst auf ein Schild »Marineoffizierverband«. Sie tritt spontan ein, da sie über ihren Gatten Erich Edgar, der bei der Marine Korvettenkapitän war, einige Seeoffiziere kennt und aus dieser Richtung auf mögliche zusätzliche Hilfe hofft. Tatsächlich sind zwei Kapitäne da, ebenfalls mit Bonbon am Revers. Als sie von Harros Festnahme hören, sagen sie übereinstimmend, wenn er bei der SS sei, könne man unbesorgt sein, da werde ihm kein Härchen gekrümmt. Die SS sei nicht die SA, man wisse zwar nicht so viel über sie, stufe sie aber eher als harmlos ein.

Eine Spur beschwichtigt erreicht Marie Luise die Räumlichkeiten des SS-Abschnitts. Zwei Männer sitzen an einem Tisch. »Wo ist mein Sohn Harro Schulze-Boysen?« Sie bemerkt, wie sich die Männer einen Blick zuwerfen. »Das können wir doch nicht wissen«, gibt einer von ihnen zurück. Da kommt einer der beiden Marineoffiziere von eben zur Tür herein und sagt, dass er bedauert hätte, ihr nicht weitergeholfen zu haben, obgleich sie ja extra aus Duisburg angereist sei. Er habe soeben bei Henze, dem Leiter des Hilfspolizeikommandos, angeklopft, ein Stockwerk höher. Dieser sei willens, sie zu empfangen, sie solle sich aber kurz fassen, er habe wenig Zeit.

Aufgeregt steigt Harros Mutter die Treppe nach oben. Sie weiß, sie muss sich jetzt zusammennehmen: selbstbewusst auftreten in diesem neuen System, das so schwer zu überschauen ist. Deshalb ist es wichtig, sich nichts gefallen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Sie findet die richtige Tür und wird vorgelassen.

»Ihr Sohn hat nicht im Sinne der Partei geschrieben«, empfängt sie Henze, der einen Schatten unter der Nase trägt.

»Mein Sohn ist ein Idealist«, entgegnet sie, »erst 23 Jahre alt, natürlich noch unreif. Ich verspreche, ihn aus der Politik herauszuholen.« Sie bringt diese Worte mit Überzeugung vor, da sie tatsächlich der Meinung ist, dass Harro es mit seinen nationalrevolutionären Ideen mitunter übertreibt. »Wenn er eine Tracht Prügel bekommen hat«, fügt sie hinzu, weil sie sich vorstellen kann, dass die Nazis mit ihren Gegnern nicht zimperlich umspringen, »wäre das nicht das Schlimmste. Darüber kommt ein so junger Mann schnell hinweg.«[11]

»Ja, glimpflich werden sie wohl nicht mit ihm umgegangen sein«, murmelt Henze in seinen Schatten. Marie Luise spürt, dass es etwas gibt, das ihn daran hindert, Harro herauszugeben, obgleich er ihr als Parteigenossin gerne behilflich wäre.

»Ich mache Ihnen noch ein Versprechen«, bietet sie an: »Ich werde ihn aus Berlin entfernen.«

Nachdem Henze zugesagt hat, Harro am selben Abend in das Haus ihres Schwagers am Botanischen Garten bringen zu lassen, begibt sich Marie Luise dorthin und wartet. Doch ihr Sohn kommt nicht, weder am Abend noch in der Nacht. Am Morgen ruft sie in der Potsdamer Straße an, aber Henze lässt sich verleugnen. Als sie endlich seinen Stellvertreter an der Strippe hat, sagt der, es sei völlig ausgeschlossen, Harro zu entlassen. Es lägen jetzt schwere Verbrechen vor.

»Aber er kann doch nicht in der Gefangenschaft etwas derart Schlimmes angestellt haben!«, ruft die Mutter verzweifelt in den Hörer.

3

Nein, Harro hat im umfunktionierten Kegelkeller nichts Schlimmes angestellt. Dennoch treffen die Worte von Henzes Stellvertreter zu. Es gibt mittlerweile ein Verbrechen, und zwar ein schwerwiegendes. Henry steht nämlich aus dem Staub nicht mehr auf. Immer wieder hatte er im Kreis laufen müssen, und die Männer hatten ihn mit ihren Peitschen geschlagen, das war über Tage so gegangen, und irgendwann hatte sein Herz ausgesetzt.

Henrys Leiche liegt auf dem Boden wie ein Haufen Unrat, den man dort zusammengekehrt hat. Er war das geschäftliche Gehirn des Gegner gewesen. Mit ihm war Harro um die Häuser gezogen, gemeinsam hatten sie sich weiterentwickelt. Und jetzt hat Harro ihn nicht schützen können, nichts hat er für ihn unternehmen können, gar nichts. Harro fühlt sich schuldig. Er hat Henry auf dem Gewissen. Jetzt muss er härter werden, viel härter – oder auch sterben. Nein, ihn werden diese brutalen Idioten nicht kleinkriegen, das schwört er sich. Sollen sie sich an ihm die Zähne ausbeißen! Er ist ihnen überlegen, intellektuell wie körperlich! Harro wird ihnen die Stirn bieten, er ist plötzlich überzeugt davon, dass sie ihn nicht töten können – reißt sich los und absolviert wie von Sinnen eine weitere Runde an den Backsteinmauern entlang, und sie dreschen wieder auf ihn ein, sein linkes Ohr ist halb abgerissen, die Lippe geborsten, Brauen zerschnitten, seine Nase wie Brei. Er blutet, innerlich wie äußerlich, und das tut er für Henry. Wenn er noch einmal läuft und es überlebt – wenn er mehr Schmerzen ertragen kann, als sie ihm zugedenken –, wird er sie besiegen.

»Das ist meine Ehrenrunde!«, ruft er seinen Peinigern zu, als er es ein letztes Mal ums Karree im Innenhof geschafft hat.

»Mensch, du gehörst doch zu uns! Dich wollen wir aufnehmen!«, entgegnet einer der SS-Männer, von so viel Courage verblüfft.

Doch das stimmt nicht. Harro gehört nicht zu ihnen. Er ist jetzt wirklich ihr Gegner.[12]

4

Es ist die Nacht auf den 1. Mai 1933: Hexennacht. Streiche sind erlaubt, aber es ist auch Frauennacht, Marie Luises Nacht. Sie hat nicht aufgegeben, im Gegenteil, sondern niemand Geringeren als den Polizeipräsidenten von Berlin aktiviert, Admiral von Levetzow, einen alten Marinekameraden ihres Mannes. Jetzt rast deshalb eine grüne Minna der Berliner Polizei unter einem klaren Sternenhimmel in Richtung Nordwesten der Stadt, Beamte springen heraus, pochen an die Kellertür am Spandauer Bock, verlangen auf Anordnung ihres Präsidenten die sofortige Entlassung der Gefangenen. Doch es gibt nur noch einen Gefangenen, und die SS-Männer reagieren verunsichert auf den Besuch der regulären Polizei. Sie besitzen keine Ermächtigung für politische Morde, sondern unterstehen ebenfalls dem Polizeipräsidenten, seit Göring SA und SS zur Hilfspolizei erklärt hat. Unter Murren geben sie Harro heraus.

In Schlafrobe steht Marie Luise in der Tür des Hauses am Botanischen Garten, als der Wagen hält. Leichenblass, mit tiefen Schatten unter den Augen, keinen Knopf mehr am Rock und mit kahl geschorenem Sträflingskopf tritt Harro ihr entgegen. Sonst hat er immer so gestrahlt, war so hoffnungsvoll und lebenslustig und allen gegenüber aufgeschlossen gewesen. Jetzt brennen die Hakenkreuze auf seinen Oberschenkeln, und vor Schmerz verzieht er das Gesicht, das nicht mehr wie das Gesicht eines 23-Jährigen wirkt. Er hat eine Erfahrung hinter sich gebracht und weiß jetzt etwas, das seine Mutter noch nicht wissen kann – was zu diesem Zeitpunkt die wenigsten in dieser Deutlichkeit begreifen: dass die Nazis brutale, skrupellose Mörder sind, die vor nichts zurückschrecken.

Seine Mutter bringt ihn in eine Pension, wo sie ihn unter falschem Namen registriert, aus Angst vor weiterer Verfolgung. Sie organisiert zwei private Wachmänner und holt einen Arzt. Dann kommt Regine zu Besuch. Vorsichtig legt sie sich mit Harro hin, und sie lieben sich. Seine Nieren sind von Haus aus anfällig, doch jetzt krümmt er sich regelrecht, wenn sie ihn an den falschen Stellen berührt. Es ist merkwürdig, aber er fühlt sich nicht schwächer dadurch, nur anders. Er hat einen neuen, bitteren Geschmack im Mund. Er ist jung, doch er hat bereits den Tod geschmeckt. Es gibt eine Distanz jetzt, zwischen ihm und dieser Welt, die so feindlich sein kann. Regine versucht, seine Wunden zu streicheln, doch sie sind zu frisch, die eingeritzten Hakenkreuze brennen wie Feuer, doch das Schlimme ist ein Bluten, das viel tiefer im Innern passiert. So wie früher im Bett ist es ganz sicher nicht.

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Teil IGegner

(1932–1933)

 

 

 

»Niemand konnte mehr als sein Leben wagen.«[13]

Hans Fallada

»Es wurde der Versuch gemacht, über alle alten Gegensätze hinweg zusammenzukommen. Man nannte uns Gegner.«[14]

Harro Schulze-Boysen

1

Ein halbes Jahr zuvor und in einer gänzlich anderen Zeit, denn noch herrscht Demokratie in Deutschland. Zum Mittag hin gibt es Unruhen an der Uni, wieder einmal – 1932, Herbst, ein Braunhemd hat Hakenkreuzbänder an die Kränze des studentischen Ehrenmals gehängt, ein Linker sie wieder abgeschnitten. Hasserfüllt stehen sich die verfeindeten Lager vor dem Hauptgebäude der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gegenüber, nur durch eine schmale Gasse getrennt, »bereit, sich jeden Augenblick aufeinanderzustürzen, wenn von irgendeiner Seite ein provozierendes Wort fiel«, wie sich ein Studienfreund Harros erinnert.[15] Auf der einen Seite positionieren sich die roten Studenten, die Sozialisten und Kommunisten und das kleine Häuflein der bürgerlichen Demokraten. Von rechts schreien die Nazis und die mit ihnen verbündeten nationalistischen Corpsstudenten ihre Kampflosungen gegen »Juda« und »das System«. So oft schon ist der Unterrichtsbetrieb in dieser unsicheren Weimarer Republik wegen politischer Proteste lahmgelegt worden. Auch dieses Mal ringt der Rektor hilflos die Hände, redet vergeblich auf beide Seiten ein.

Harro Schulze-Boysen ist ein junger Student der Staatswissenschaften und hat an diesem Tag ausgeschlafen in der rotgrauen garnison, einer der ersten WGs in Deutschland, in einer Achtzimmerwohnung in Kreuzberg untergebracht, in der Ritterstraße: keine Möbel, alles wird geteilt, Abwasch, Essen, Geld. Es ist ein sozialrevolutionäres Experiment von Eberhard Köbel, besser bekannt unter dem Pseudonym tusk. Er führt die »dj.1.11« an, eine Deutsche Jungenschaft, die Folgendes propagiert: verschwörung gegen verkrustete strukturen, unabhängigkeit, eigenständiges freies jugendleben, provokation gegen die alten herren, autonomes jugendreich: fahrt – kleidung – sprache – grafik – kleinschrift, ein gradliniger stil, weg mit sämtlichen übrig gebliebenen Resten an Miefigkeit der wilhelminischen Zeit. Neben Harro liegt Regine, seine »Räuberbraut«, eine schlanke junge Modedesignerin aus ehemals reichem Haus. Sie streicht sich die rotblonden Haare aus dem Gesicht, nur etwas Lippenstift trägt sie, sonst nichts, sagt aber plötzlich etwas derart Schockierendes, verliebt wie sie ist, dass Harro aufsteht, den notorischen blauen Pulli überstreift, erst mal das Weite sucht und in die Küche schlurft, wo er nach Essbarem fahndet, aber nichts findet, nur zwei trockene Brötchen. Egal, das Streben nach Besitz gehört sowieso überwunden; immerhin gibt’s einen guten Tee dazu. Ob er ein Kind wolle …? Hängt die Räuberbraut etwa bürgerlichen Idealen nach?

Harro ist dreiundzwanzig und will die Gesellschaft radikal umgestalten, zusammen mit Henry Erlanger und den anderen. Er dient nicht der Zukunft eines, sondern vieler Kinder – der Kinder von ganz Europa, der ganzen Welt. Da gibt es doch genug zu tun, zumal in der verheerenden Krise weltweit: Notstandsküchen überall, Bankenkollaps, die Mieten unbezahlbar, sechs Millionen Arbeitslose allein in Deutschland, Depression und Hoffnungslosigkeit quer durch alle Schichten, der drohende Sturz in den Abgrund ständig zu spüren. Eine ganz neue Gesellschaft muss her, die Lage ist polarisiert, die Parteien haben abgewirtschaftet und repräsentieren das Volk nicht mehr.[16] So empfindet Harro. Aber was soll an die Stelle der Parteien treten? Was soll das überhaupt sein, das Volk? Harro denkt mit seinem jungen Kopf viel zu komplex, um einfache Lösungen anbieten zu können. Noch ist seine Zielsetzung diffus, und er liebäugelt auch mit rechten Positionen, unterstützt beispielsweise den Kampf gegen das »Versailler Diktat«, das Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg mit hohen Reparationszahlungen belastet. Es sind solche Querfrontgedanken, die auch sein Hirn durchziehen, antiparlamentaristische Impulse, alles noch unausgegoren. In dieser Spätphase der Weimarer Republik sind die ideologischen Fronten nicht immer eindeutig, und wenn es heißt, dass im Gegner Texte aus allen Lagern veröffentlicht werden, führt das dazu, dass auch solche von Ernst Niekisch darin stehen, von Karl Otto Paetel und anderen Nationalbolschewisten oder von oppositionellen Nazis aus der SA. Auch Kommunisten, Abtrünnige der offiziellen Linie der KPD, kommen hier zu Wort, ebenso Katholiken oder auch der Vorsitzende des Berliner »Reichsbanners«, einer sozialdemokratischen Wehrorganisation. Es ist eine wüste Gemengelage, die am ehesten noch mit national bis revolutionär umschrieben werden kann. Wie soll man da verantwortungsvoll ein Kind großziehen, wo es so viel Grundsätzliches zu klären gilt? Dass Regine das nicht versteht! Harro blickt durch den Flur in das große Zimmer, wo sie auf der Matratze liegt, verführerisch. Doch er muss los, an die Uni.

Die Elektrische ist proppenvoll, Linie 88, Gören wuseln, Gerüche nach Schweiß und Tabak hängen in der Luft, Werbeplakate an den gelackten Türen aus hellem Holz: KAKADU – die beste Bar am Kurfürstendamm. Berlin weiß: Man kauft gut bei Karstadt. Ein Tippelbruder lehnt gegen ein Fenster und schläft, eine ausgemergelte Frau um die fünfzig starrt den blonden Harro mit seinen eins fünfundachtzig, dem sportlichen Körper, den blitzenden blauen Augen unverhohlen an. IA Grundseife – Philipp Kochmann, Grundseifen-Siederei. Pferdefuhrwerke, Droschken, Lastkraftwagen. Nazi & Junker – Schluss damit! Wählt Sozialdemokraten! Eine Schlange vor einem Arbeitsamt, die Leute überraschend gut angezogen, anders die Morphinisten dort auf einer Bank, mit großen, dunklen Augenhöhlen und schmächtigen Körpern: wie bestellt und nicht abgeholt, süchtig noch vom Krieg. Die fortschreitende Entwicklung: OSRAM. »Europa war die Uhr der Welt. Sie steht«, hat Harro letztens im Gegner geschrieben: »Die Räder dieser Uhr fangen an zu rosten. Ein Fabriktor nach dem anderen schließt.«[17] Überall wogen die ökonomischen Prozesse, die den Kartellen eine Macht gestatten, von der in der Weimarer Verfassung kein Wort geschrieben steht. Der Kapitalismus gehört weg! Aber der Kommunismus taugt auch nichts: zu starrer Apparat, moskauhörig. Nach Sowjet-Rußland!, ruft eine Werbeannonce: Billige Studienreisen für Ärzte, Pädagogen, Arbeiter. INTOURIST. »Ich stelle nochmals fest, dass ich kein Kommunist bin.« So hat er es seiner verunsicherten Mutter Marie Luise mitgeteilt, die einen bürgerlichen Haushalt in Mülheim an der Ruhr führt: »Die kommunistische Partei ist eine Ausdrucksform der sozialistischen Weltbewegung, die bolschewistische Partei zum Beispiel die typisch russische. Für Deutschland daher nicht annehmbar.«[18] Es ist eine wirre Stadt, durch die die 88 sich schlängelt. Die »Großstadtkrankheit« grassiert, wie Harro es nennt, Friedrichshain wird wegen seiner Gangsterbanden das Chicago Berlins genannt – eine verwirrte Zeit, die experimentierfreudig ist, in alle Richtungen.[19] Bietet vielleicht der Personalismus einen Ausweg, wie ihn Harros französische Philosophenfreunde von der Pariser Monatsschrift Plans propagieren? Der Personalismus: ein komplettes revolutionäres System, das sich als kritische Alternative zu kommunistischen und faschistischen Theorien versteht und den liberalen Individualismus ersetzen will durch eine Konzentration auf die Person. Nie dürfe der Staat das höchste Gut darstellen, nie dürfe der Mensch zum Individuum herabgestuft werden. Das klingt ebenso einleuchtend wie schwammig, da die Mechanismen zur Umsetzung dieser Ziele unklar bleiben, aber das stört Harro nicht. Für ihn gehört es dazu, dass diese Bewegung des Personalismus, der er sich vage zugehörig fühlt, offen ist und ebendies: eine Bewegung, mit der Vorstellung einer permanenten Revolution bei offenem Weltbild und sozialistisch orientierter Wirtschaft. Ein Weg, der die Freiheit der Entscheidung als Grundprinzip menschlichen Lebens postuliert. Belle-Alliance-Platz, Landwehrkanal, Anhalter Bahnhof. Doch was heißt das eigentlich, Freiheit der Entscheidung? Im Personalismus soll der Mensch zum Autor seiner eigenen Lebensgeschichte werden. In Gesprächen mit den jungen französischen Intellektuellen aus dem Ordre Nouveau hat Harro die Idee einer neuen europäischen Ordnung diskutiert, Europa als ein Europa der Regionen visioniert. Es sollte das Vorrecht der Jugendgruppen in Deutschland und Frankreich sein, den nationalistischen Tunnelblick der Alten und vor allem der Regierenden zu überwinden.

Um die Freundschaft zu vertiefen, die nationalen Verkrustungen zu überwinden, hat Harro ein Jugendtreffen organisiert, im Februar ’32 war das gewesen, an der Uni in Frankfurt. Ca. 100 Teilnehmer aus Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien und der Schweiz hatten teilgenommen, Heißsporn Harro in seiner Rede die Abschaffung des kapitalistischen Systems und die Liquidierung des »Diktats« von Versailles gefordert. Statt einer glatten Beseitigung der Verträge hatten die französischen Teilnehmer daraufhin vorgeschlagen, eine neue europäische Ordnung zu schaffen, um Deutschland einzubetten. Es war eines der wenigen öffentlichen Foren abseits der Treffen hochrangiger Politiker, bei dem sich Franzosen und Deutsche überhaupt zusammensetzten, wo doch beide Seiten ansonsten in Schützengrabendenken verharrten. Doch die Diskussion war schwierig verlaufen, die deutsche Seite hatte sich heillos zersplittert gezeigt. Neben einigen Linken war vor allem das nationalrevolutionäre Spektrum anwesend gewesen, von den oppositionellen Kommunisten der KPO, Vertretern des Jungpreußischen Kampfbundes, der anarchistischen Syndikalisten bis zu Otto Strassers Schwarzer Front und dem elitären Grauen Corps – ein Tohuwabohu an Meinungen, Wünschen, Standpunkten. Harro entwickelte sich hier zu einem gefragten Redner, behauptete sich in den hitzigen Debatten und verstand es, im Dialog die Argumente des anderen aufzunehmen – oder zu zerpflücken. Nur seiner guten Verhandlungsführung war es zu verdanken gewesen, dass die Tagung nicht in einem Eklat endete – sondern lediglich in Ergebnislosigkeit. Um künftig in zielgerichteten Dialog mit den europäischen Nachbarn treten zu können, will er nun den Gegner zur deutschen Meinungsplattform ausbauen.

Er steigt aus der Tram, da wird die Straße erneuert. Man reißt das alte Kopfsteinpflaster weg wie von einer Wunde, gießt heißen Asphalt hinein. In der Erde brodelt es, da grummelt die Untergrundbahn. Unter den Linden sind die Blätter schon braun, es wird kalt. Lockeren Schritts, Hände in den Hosentaschen, nähert er sich dem Vorplatz der Universität, an dessen Gitter Bettler vor kleinen Tischen sitzen. Plötzlich sieht er die sich gegenüberstehenden Studenten, und sofort ist ihm klar: Die Lage erfordert vollsten Einsatz. Harro kennt seine Pappenheimer, und jeder kennt Harro in seinem ewigen blauen Pullover.[20] Über die ideologischen Grenzen hinweg genießt er das Vertrauen der Kommilitonen – weil er so versiert diskutiert, aber auch, weil er so blendend aussieht und etwas Seltenes besitzt, das umso nötiger ist in einer Zeit, die nach Orientierung sucht: Charisma. Während die Kampflust die Gemüter auf beiden Seiten verkrampft, behält er seine liebenswürdige und heitere Ausgeglichenheit: Ein Braunhemd nach dem anderen begrüßt er mit Handschlag, fragt, worum es gehe. Seelenruhig hört er sich die Geschichte von den abgeschnittenen Hakenkreuzbändern an. Nein, er ist kein Freund der Nazis, er findet sie zu dumpf, lehnt ihren Antisemitismus strikt ab, doch er kann auch mit solchen Leuten reden. Als Nächstes spaziert er auf die Seite der Linken, wo lauthals die Internationale ertönt, schüttelt auch hier jedem die Hand. Es ist die Seite, die ihm selbst zusagt: Er liest Karl Marx und kann sehr wohl unterscheiden zwischen einem internationalistisch orientierten Streben für eine gerechtere Gesellschaftsordnung, in der alle Zugang zu Bildung, Wohnraum und medizinischer Versorgung haben sollen, und dem rechtsextremen und antisemitischen Gehabe der Nationalsozialisten mit ihrem Ziel der Spaltung und Abgrenzung.

Mittlerweile sind die Parolen auf beiden Seiten verhallt. Alle schauen ihn an, auch der Rektor, und wie jeder instinktsichere Revolutionär packt Harro die Gelegenheit beim Schopf und verteilt erneut Shakehands, abwechselnd nach beiden Seiten jetzt, löst den Konflikt dadurch auf.[21]

2

Das mit Regine läuft eigentlich ganz flott. Alle zusammen sind sie eine lustige Clique: Künstler, Schwule, schwule Künstler, Revolutionäre, Bohemiens. Alle sind sie jung und attraktiv und führen ein unstetes Leben in dieser unsteten Weimarer Zeit. Für Harro ist aber nicht die Liebe zu seiner Räuberbraut, sondern die Politik das Wichtigste, und so war es schon immer. Ein »glühender Deutscher« ist er, wie ihn ein Freund beschreibt, mit einem »ganz tiefen, vielleicht angeborenen, aus der Familie kommenden, aber auch erworbenen deutschen Kulturbewusstsein: künstlerisch und philosophisch«.[22] In Freiburg, wo Harro sein Studium begonnen hat, war er Mitglied einer schlagenden Verbindung und hat seit 1924 bei der Ordensjugend des Jungdeutschen Ordens mitgemacht, einem nationalliberalen Wehrverband. Jungbündische Ideen und Ideale haben ihn stark beeinflusst: Leben als Dauerkampf, Kompromisslosigkeit, strenge Disziplin, hohe Opfer- und Leidensbereitschaft, aber auch Kameradschaft. Schon als Schüler in Duisburg war er aktiv, 1923 gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets auf den Barrikaden, hat deshalb als 14-Jähriger eine Nacht im Knast verbracht – Ehrensache in seiner Familie, wo gesellschaftliches Engagement dazugehört. Der Onkel von Harros Mutter, Ferdinand Tönnies, hat die Soziologie in Deutschland mitbegründet: Bildungsstreben, Toleranz und Weltoffenheit nehmen in der Familie einen hohen Stellenwert ein. Harros berühmtester Verwandter ist der Bruder seiner Oma väterlicherseits, der rechtskonservative Großadmiral Alfred von Tirpitz, der für Kaiser Wilhelm die Hochseeflotte aufgebaut hat, damit Deutschland in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Großbritannien bestehen könne. Bis ins hohe Alter trägt von Tirpitz einen aufsehenerregenden Gabelbart, der in einem militärisch anmutenden Doppelkeil nach unten stößt und die Enkel stets beeindruckt. Onkel Tirpitz ist das Schlachtschiff der Familie und großes Vorbild des heranwachsenden Harro. Er will einmal genauso viel für »die deutsche Sache« tun wie dieser und »sich für das Land einsetzen, bewusst auf eine Besserung hinarbeiten«, wie er es 1929 in einem Brief an den legendären Großonkel schreibt.[23]

Harros Vater, Erich Edgar, ebenfalls bei der Marine, engagiert sich – wie auch Tirpitz – bei der rechts stehenden Deutschnationalen Volkspartei. Mit seiner intellektuellen Ausrichtung hätte er auch Wissenschaftler, vielleicht sogar Künstler werden können, doch gibt Erich Edgar, kurz E.E. genannt, mit seinem starken Pflichtbewusstsein geradezu das Paradebeispiel von preußischem Arbeitsethos ab. Er ist ein Vater, der dem Sohn erklärt, dass man weinen nicht nur dürfe, sondern sogar solle, um nämlich zu beweisen, dass man Gefühle empfinden könne, aber nur eine Träne bitte, dann sofort Selbstbeherrschung, bevor die zweite kommt. Harros Mutter Marie Luise ist weniger diszipliniert, dafür temperamentvoll: eine zähe, durchsetzungsfähige Person von kleiner Statur und manchmal großer Nervosität, eine quirlige, romantische Frau, die zu allem eine dezidierte Meinung hat, manchmal schneller spricht, als sie denkt, und ihren besonnenen, auch im Bett mehr als zurückhaltenden Gatten des Öfteren vor den Kopf stößt damit.

In seinem Vater, der professoralen Gestalt mit der großen Bibliothek, vor der dieser häufig stundenlang kerzengerade am Mahagoni-Schreibtisch sitzt, beinahe etwas unheimlich in seiner Stringenz, hat Harro mit den Jahren den idealen politischen Sparringspartner gefunden. Erich Edgars Ziel ist es, seinen Sohn zu einem konservativen Freidenker zu erziehen. Mittlerweile überflügelt Harro ihn in den Argumentationen immer häufiger, da in ihm auch das heiße Blut der Mutter fließt und die Leidenschaft in der Politik ebenso dazugehört wie die Ratio.

Das Vehikel für Harros Engagement, der Gegner, hat unter seiner Chefredaktion in diesem Jahr 1932 ein neuartiges Konzept entwickelt, um von einer statischen Publikation zu einer tatsächlichen Bewegung zu wachsen: Es finden sogenannte Gegner-Treffen statt, bei denen Autoren und Leser ins Gespräch kommen: »öffentliche kontradiktorische Aussprache-Abende«, wie es im Blatt dazu heißt.[24] Selbstbewusst schreibt Harro seinen Eltern von diesem Ansatz: »Es gibt keine Zeitung in Deutschland, die in so unabhängiger Weise Menschen, die etwas zu sagen haben, heranholt.« Visionen jenseits der Parteigrenzen entwickeln, Konventionen überwinden und frische Argumente testen: Das spricht viele an. Vor allem junge Leute, die nach Antworten suchen auf die brennenden Fragen, die alle so heftig bewegen, nehmen an Gegner-Abenden im Café Adler am Dönhoffplatz teil. Rasch sind die Treffen derart populär geworden, dass Parallelveranstaltungen stattfinden, nicht nur in Berlin, sondern in mehreren Städten Deutschlands.[25] »Es herrschte eine außerordentliche Disziplin, eine merkwürdige Kameradschaft zwischen links und rechts«, berichtet ein Teilnehmer und weist darauf hin, wie ungewöhnlich ein solches Verhalten in den überhitzten Zwanzigerjahren ist: »Junge Leute, die sich auf der Straße sofort verprügelt hätten, hörten sich Argumente an, einig in der gemeinsamen Ablehnung des doktrinären bramarbasierenden Parteibonzentums.«[26] Auch wenn der Weg zum Ziel noch unklar ist, schreibt Harro der Gegner-Bewegung ein rebellisches Moment zu und spricht von einem »unsichtbaren Bund von heute schon Tausenden, die vielleicht noch verteilt in allen Lagern stehen, die aber wissen, dass der Tag nahe ist, an dem sie zusammenkommen müssen«.[27] Harro will die Gesellschaft, die auseinanderzureißen droht, aussöhnen – genauso, wie er es an der Uni getan hat. »Ein Volk, das durch Hass entzweit ist, kann nicht wieder hochkommen«, schreibt er im Gegner – eine Abwandlung des alten Wortes von Abraham Lincoln: Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen.[28] Nicht ganz einfach, was sich Harro vorgenommen hat, in dieser Spätphase der Weimarer Republik.

3

Es sind manische Tage und Nächte in diesem Herbst 1932, den letzten Monaten der Freiheit, eine der geistreichsten Zeiten in der deutschen Geschichte überhaupt, mit Berlin als möglicherweise intellektuell lebendigster Stadt der Welt. Ein literarischer Zirkel reiht sich an den nächsten, und Henry Erlanger schleppt Harro überallhin mit: Montags sind sie im Freiwerk-Arbeitskreis, am Dienstag im Signal-Kreis und bei der Fichte-Gesellschaft. »Die Kruste ist plötzlich durchbrochen, da die alten Mächte, die des Weimarer Systems, endlich abzutreten begannen«, beschreibt ein Bekannter von Harro die ebenso prekäre wie spannende Lage: »Über die Nebelwolken des Jargons reckten sich auf einmal allerorten die Köpfe und begannen, in einer Sprache zu reden, die ihnen in einem neuen Sinne gemeinsam war. (…) Es war wie ein Rausch.«[29]

Die Orte, an denen dieser rauschhafte Diskurs kulminiert, sind unter anderem die Redaktionsräume der unabhängigen Blätter wie Carl von Ossietzkys Weltbühne, in der auch Kurt Tucholsky schreibt, oder Harro Schulze-Boysens Gegner, Letzterer untergebracht in einem spärlich möblierten Dachgeschoss mit Blick auf den Potsdamer Platz. Vom Flur gelangt man direkt in das erste der beiden schmalen, langen Zimmer, das zweite ist »voll mit Bücherregalen, Hegel, Feuerbach, die ganzen deutschen Philosophen«, einer Schreibmaschine, Sitzgelegenheiten, einem Klappbett.[30] Häufig schläft Harro hier, da es am bequemsten ist, gleich in der Redaktion zu bleiben, wo es ständig etwas zu tun gibt: Texte redigieren, mit neuen Autoren sprechen, Vorträge vorbereiten, und abends ist das Theater nicht weit, Mahagonny von Brecht zum Beispiel, ein »ziemlich verrücktes Stück, Musik allerdings recht gut«, wie Harro seine Eltern informiert.[31]

Es ist ein erfülltes, aufregendes Dasein – trotz oder vielleicht aufgrund der offenen Zukunft. »Jeder hat irgendwo einmal die Stimme Gottes in sich«, schwärmt Harro in einem Brief von dieser Gegner-Zeit: »Und er kann dieses arrogante Wort ersetzen durch Gewissen, Müssen oder Wollen; es bleibt sich gleich.«[32] Die Mission mag hochgestochen klingen, ist aber bitter nötig: Rettung der vom Untergang bedrohten Welt. Denn während »die Diskussionen zwischen Fisch und Braten, bei Tee und Whisky munter dahinplätschern und sich erhitzen, marschiert draußen die SA mit ruhig-festem Schritt«, arbeitet auf die Machtübernahme hin.[33]

Es gibt ein Foto von Harro aus diesen Tagen, vor dem sich seine Mutter regelrecht fürchtet: Da sind seine Gesichtszüge noch markanter als sonst, und seine schönen blauen Augen schauen besessen – und das ist er auch, wie er in hellem Mantel, buntem Hemd und mit zerzaustem Schopf von einer Aktion zur nächsten braust und sich »dem Leben so nah wie nie« fühlt.[34] Unermüdlich schreibt er und vernetzt sich. Auch Alfred Döblin, Autor des Romans Berlin Alexanderplatz, hört von dem umtriebigen Jungintellektuellen und schickt ihm einen Brief:

»Ich möchte versuchsweise die im Frühjahr begonnenen Aussprachen über kulturelle und prinzipielle Dinge in einem kleinen Kreis fortführen. Falls es Ihre Zeit erlaubt, wollte ich Sie bitten, am Donnerstag, den 29. d.M. gegen halb neun Uhr mich zu besuchen. Ich darf dabei wohl eine ungefähre Kenntnis und allgemeine Übereinstimmung mit meinen grundsätzlichen Gedanken voraussetzen. (…) Die Einladung ist persönlich. Die Damen der verheirateten Herren sind willkommen.«[35]

Harro erscheint ohne Regine in der großbürgerlichen Schriftstellerwohnung am Kaiserdamm 28 und versucht, Döblin für den Gegner zu gewinnen, vergeblich, weshalb der Kontakt wieder abreißt. Bertolt Brecht streckt ebenfalls seine Fühler nach Harro aus, für eine geplante »Zeitschrift zur Klärung der faschistischen Argumente und der Gegenargumente«. Kernthemen der antifaschistischen Arbeit sollen darin erörtert werden: »Kulturpolitik und Frauenfrage, Ökonomie, Führerproblem, Rassenfrage, Nationalismus usw.« Harro wird gebeten, etwas zum Thema »Nationalsozialistischer Staat und Nation« beizutragen, doch das Projekt bleibt im Anfangsstadium stecken.[36] Ohnehin hat Harro anderes zu tun: Er wird nun auch Herausgeber des Gegner, steckt jeden Groschen, den er von den Eltern bekommt, in das Blatt, seine Zeit sowieso, und wenn es an Straßenverkäufern mangelt, schnallt er sich den Rucksack um, steht vor der Uni oder der Technischen Hochschule und verkauft die Exemplare eigenhändig, Zeitungsmütze auf dem Kopf. »Der Gegner macht sich wirklich famos«, berichtet er nach Mülheim: Die Auflage ist auf über 5000 Exemplare gestiegen, einhundert neue Abonnenten kommen mit der Oktoberausgabe 1932 hinzu.[37] Der aus der jüdischen Jugendbewegung kommende spätere Zukunftsforscher Robert Jungk, ein guter Freund Harros, beschreibt das expandierende Gegner-Universum: »Revolutionäre Bewegung in Essenz. Es waren auch expressionistische Literaten dabei, es waren auch Künstler dabei – das war nicht rein politisch. Das hat mich begeistert. Ich wollte nicht die klare Zuordnung, ich wollte nicht, dass das Fließende zu früh fest wird. Das Fließende als etwas, was neu ist, was Dinge auflöst und Dinge lebendig macht.«[38] Auch Harros politische Vorstellungen werden allmählich klarer: sozialistische Wirtschafts-, freiheitliche Gesellschaftsordnung, Gleichstellung der Geschlechter, da politische Veränderungen ohne die »Befreiung der Frau aus den Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft« für ihn unvollständig sind: »Der patriarchale Imperialismus ist zu Ende«, bezieht er im Gegner hierzu eindeutig Stellung.[39]

Ein weiterer Autor, der die Richtung der Publikation bestimmt, ist der Schweizer Universaldenker Adrien Turel, der Philosophie, Biologie, Psychoanalyse, Geschichte und Politik in Relation setzt und dessen Losung lautet, immer das Potenzial zu suchen, etwas nicht zu verstehen. Über seine erste Begegnung mit Harro schreibt er:

»Bei der Redaktionssitzung begrüßte mich ein junger Mann von ein Meter fünfundachtzig Länge. Sein blasser, schmaler Kopf mit den stechenden Augen hätte an den jungen Bonaparte erinnern können, nur dass dieser Kopf auf dem Körper eines typischen Ulanenoffiziers saß. [Es] ergab sich prima vista Sympathie und Zusammenarbeit zwischen uns. Wir bildeten ein so hervorragendes Bipol, dass später einmal ein gemeinsamer Freund aus Wut darüber, dass man uns mit keiner Intrige auseinanderbringen konnte, ausrief: ›Ihr seid ja schwul miteinander!‹ Worauf Boysen mit souveräner Sachlichkeit feststellte: ›Wir sind nicht schwul, wir sind lesbisch.‹«[40]

Der November 1932 beginnt turbulent. Bei der »Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft« bricht ein Streik aus: Keine S- oder U-Bahn fährt, kein Omnibus, keine Elektrische. Während der darauf folgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei sterben drei Menschen. Kurz danach, bei den Reichstagswahlen am 6. November, verliert die NSDAP zum ersten Mal wieder Stimmen, nämlich 4,6 Prozent, während die KPD um 2,6 Prozent zulegt. Im Hitler-Lager kommt Panik auf. »Das Jahr 1932 war eine einzige Pechsträhne«, schreibt Goebbels in sein Tagebuch: »Man muss es in Scherben schlagen. Die Zukunft ist dunkel und trübe; alle Aussichten vollends entschwunden.«[41]

Doch Harro glaubt zu wissen, dass das Kapital hinter den Kulissen unermüdlich an einer Machtergreifung der Nationalsozialisten arbeitet. Mit Spannung verfolgt er die Regierungserklärung von Kurt von Schleicher vom 15. Dezember 1932, in der der Reichskanzler nicht nur dem Sozialismus, sondern auch dem Kapitalismus eine Absage erteilt. Wird er dadurch für die Industriellen zum unsicheren Kantonisten? Hitler hingegen hofiert die Wirtschaftsbosse seit Jahren. Noch im Januar 1932 hat er vor dem einflussreichen Düsseldorfer Industrie-Club in einer Rede klargemacht, dass die »sozialistischen« Elemente im Parteiprogramm der NSDAP lediglich Stimmen bei den Arbeitern und kleinen Mittelständlern fangen sollen. In keinster Weise sei daran gedacht, den Einfluss der Unternehmer auf die Politik zu beschneiden. Zudem ist klar: Im Zuge einer von den Nationalsozialisten geplanten Wiederaufrüstung stünden große Aufträge für die deutsche Wirtschaft in Aussicht. Seitdem fließen die Spenden an die Nazipartei reichlich.

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Nicht nur Großindustrielle hofieren Hitler, auch für Großgrundbesitzer ist der Mann aus Braunau ein Hoffnungsträger. Fünfzig Kilometer nördlich von Berlin erwacht am 30. Januar 1933 die 19-jährige Libertas Haas-Heye, schaut aus dem Fenster ihrer Wohnung über der Nordischen Halle auf den Vorplatz von Schloss Liebenberg, dem Stammsitz ihrer Familie. Der Schnee, der alles bedeckt, das Wirtschaftshaus und die Feldsteinkirche, gleißt in der kalten Morgensonne. Auch der Brunnen, den Kaiser Wilhelm einst ihrem Großvater, mit dem er eng befreundet war, geschenkt hat, trägt eine weiße, glitzernde Haube. Libertas steht auf, zieht das Nachthemd mit dem Rundausschnitt über den Kopf, wirft es in den offenen Kleiderschrank. Es ist ein besonderer Tag. Der Liebenberger SA