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Ein morgendlicher Spaziergang im neu gestalteten Park am Schölzbach in Dorsten nimmt für das Ehepaar Häcker eine tragische Wendung: Sie entdecken eine männliche Leiche, halb im flachen Bach liegend. Die Polizei stellt Fremdeinwirkung fest. Obwohl der Mann vollständige Papiere bei sich trägt und man bald erfährt, dass er auf internationaler Ebene ein sehr gefragter Ingenieur war, ist es schwierig, aus seinem privaten Umfeld etwas zu erfahren. Selbst unter seiner Adresse ist niemand, der ihn kennt. Niemand schein Kontakt zu ihm zu haben. Jedoch gibt es Hinweise auf einen Bestechungsskandal internationalen Ausmaßes, in den der Tote verwickelt war. Die Kommissare Berendtsen und Hallstein übernehmen den Fall.
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Seitenzahl: 310
Veröffentlichungsjahr: 2025
Gerhard Nattler
Mord am Schölzbach
Kommisssar Berendtsen ermittelt
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Kapitel 11.
Kapitel 12.
Kapitel 13.
Kapitel 14.
Kapitel 15.
Kapitel 16.
Kapitel 17.
Kapitel 18.
Kapitel 19.
Kapitel 20.
Kapitel 21.
Kapitel 22.
Kapitel 23.
Kapitel 24.
Kapitel 25.
Kapitel 26.
Kapitel 27.
Kapitel 28.
Kapitel 29.
Kapitel 30.
Kapitel 31.
Kapitel 32.
Kapitel 33.
Kapitel 34.
Kapitel 35.
Kapitel 36.
Kapitel 37.
Kapitel 38.
Kapitel 39.
Kapitel 40.
Kapitel 41.
Kapitel 42.
Kapitel 43.
Kapitel 44.
Kapitel 45.
Kapitel 46.
Kapitel 47.
Kapitel 48.
Kapitel 49.
Kapitel 50.
Kapitel 51.
Impressum neobooks
»Was lange währt, wird endlich gut«, sinnierte Dorothea Häcker still vor sich hin, als sei nichts geschehen. Für sie war die Welt in Ordnung. Sie hörte den Kuckuck und beobachtete eine Drossel, die sich mit dem taufrischen Gras abplagte, sich mit Insekten und Larven stärkte und sich bald mit einigen Halmen im Schnabel auf den Weg zu ihrem Nestbau aufmachte, hoch in die Spitze eines Ahorns. Dorothea genoss die Morgensonne. Ihr überwiegend grünes Hütchen nahm sie ab und platzierte es auf ihrem Schoß. Mit einer Hand lockerte sie ihr Haar auf. Mit der anderen stieß sie ihrem Mann in die Rippen, den sie dabei ertappte, als er auf der Bank mit seinem Handy beschäftigt war. »So ein schöner Park. Schau ihn dir an!« Sie holte in einem großen, weitläufigen Bogen aus und schwenkte den Arm über das neugestaltete Areal des Parks am Schölzbach, gerade so großzügig wie der Hervester Pastor in St. Josef seinen Schäfchen den Schlusssegen mit auf den Weg gab. »Und du spielst mit deinem Handy. Jetzt atme tief durch und genieße die frische Luft der Natur!«, gebot sie herrisch und sah sich um. Auf der Wiese breitete sich gelb der Löwenzahn aus. Diese Farbe dominierte den Park, denn auch eine große Menge Sumpfdotterblumen säumten die Wege. Mit Hingabe betrachtete sie eine Unmenge weißer Blüten an den Bäumen, die durch einen Windhauch in den Bach getragen wurden und dort auf dem Wasser vorantrieben. Den Fliegenschwarm am Ufer des Schölzbachs bemerkte sie nicht.
»Wir sollten in unserem Garten auch einen Teil mit wilden Blumen bepflanzen«, überlegte sie. »In unserem Garten wachsen nur Tulpen und Narzissen. Wir sollten ein Blumenbeet mit Wildblumen aussäen. Selbst die frischen Brennnesseln sind hier schön anzusehen. Sieht es nicht wunderbar aus, wenn der Wind die vielen Blütenblättchen durch die Luft wirbelt? Hör nur, wie die Vögel singen. Auch der Kuckuck ist unterwegs. Ich hätte nie geglaubt, dass hier ein so schöner Park entstehen könnte. Sogar an einen Spielplatz hat die Stadt gedacht. So können auch Eltern hier eine Zeit in Ruhe verbringen.«
Dorothea genoss die Natur und die Ruhe, die über dem Park lag. Noch war niemand außer ihnen beiden hier, dachte sie.
Sie blickte auf das Handy ihres Mannes. »Mobile.de!«, schimpfte sie. »Wie könnte es anders sein! Wir brauchen kein neues Auto. Jetzt schau dir lieber die Natur an.« Sie schob mit der Hand sein Handy sanft aber bestimmt aus seinem Gesichtsfeld. »Für wen hat wohl die Stadt diesen alten Park so schön neugestaltet?«
Berthold verstaute gehorsam sein Handy in der Hosentasche. »Sie sollten hier freien Internetzugang anbieten, dann könnten die Mütter sogar surfen, während ihre Kinder sich um die Geräte streiten. Und es machte den Park sicherlich auch für Jugendliche attraktiv. Sie könnten verliebt nebeneinandersitzen und sich per WhatsApp ihre Liebe gestehen«, schlug er schmunzelnd vor, während er die bunten Bänke auf der anderen Seite des Bachs musterte. »Die bemalten Punkerbänke sind für sie bereits aufgestellt.«
»Schau dich um! Ist es nicht schön geworden? Ich weiß noch, als mein Opa August hier am Schölzbach seinen Schrebergarten hatte. Er saß stundenlang in seinem alten Korbsessel vor seiner Laube und hörte den Vögeln zu. Er erkannte alles, was hier Flügel hatte, an den Stimmen. Er hat natürlich versucht, uns die Gesänge der Vögel näherzubringen, und hatte für viele Arten einen Merksatz parat, aber außer dem Versprechen ›Ich, ich, ich schreib’ morgen an die Regierung!‹ des Buchfinken habe ich nichts behalten. Und natürlich Amsel und Kuckuck kann ich erkennen. Alles andere, was hier fliegt, kenne ich wohl, aber ich kann sie nicht am Zwitschern erkennen. Wir Kinder dagegen hielten mehr vom Cowboy-und-Indianer-Spiel oder, wenn Greta dabei war, von Vater-und-Mutter. Dann war sie die Mutter und ich der Hund. Sie bestand darauf.« In ihrem Kopf ließ Dorothea die Zeit Revue passieren und schmunzelte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sie stieß ihren Mann nochmals leicht an. »Früher, fällt mir ein, gab es hier eine alte Mühle. Ich wusste auch wie sie hieß. Ich habe es vergessen. Ich werde gleich auf der Hinweistafel nachsehen.« Sie fasste die Hand ihres Mannes und drückte sie. »Winksmühle hieß sie. Ich weiß es wieder«, lachte sie.
Berthold tat, wie ihm geheißen. Aber neben dem Grünenden und Blühenden, neben dieser heilen Pflanzenwelt, fiel ihm etwas anderes auf. Als er einen einzelnen Erpel beobachtet hatte und dann sein Blick dem Gang zweier watschelnder Enten weiter dem Bach abwärts gefolgt war, stutzte er.
»Da liegt jemand im Wasser, Dorle.« Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gebracht, als er auch schon begann, sich vorsichtig, mit den Händen auf der Bank abstützend, in die Senkrechte zu begeben. Er reckte sich und schritt dann, so eilig er konnte, händerudernd zu der ausgemachten Stelle. Zwischendurch sah er sich um und winkte ermutigend seiner Frau, ihm zu folgen. Sie erhob sich umständlich und hatte Mühe, den Gehrstock auszubalancieren. Sie folgte ihrem Mann, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Laufen, denn sie fand mit ihrem Gehstock auf dem unebenen grasbewachsenen Boden nicht recht Halt.
Da lag er, der Mann.
Er lag mit dem Oberkörper im Wasser. Es war hier nicht tief, aber reichte aus, jemanden ertrinken zu lassen. Der arme Kerl war offensichtlich am glitschigen Ufer ausgerutscht. Fußspuren deuteten darauf hin, dass er über die steinernen Trittplatten, die eine Passage über den Bach ermöglichten, von der anderen Seite gekommen war. Beim letzten Schritt musste er vermutlich von der Platte ausgeglitten sein und das Gleichgewicht verloren haben. Spontan schritt Berthold mit einem Fuß in den Bach und hob den Kopf ein wenig aus dem Wasser. Der starrte ihn aus offenen Augen hohl an. Berthold hatte niemals vorher einen solchen Anblick erlebt. Dorothea wandte sich erschreckt ab.
»Berthold, wir sollten den Notarzt rufen!«
»Ich glaube, für einen Arzt gibt es hier keine Arbeit mehr«, meinte Berthold. Er fischte sein Handy aus der Tasche und wählte dennoch zuerst die 112 und dann die 110. Eine unheilvolle Stille lag über dem Park. Nur das stille Rauschen des Baches war zu hören und der Kuckuck gab unaufgefordert seinen Kommentar dazu.
Der Notarzt machte das Rennen. Der Fahrer fuhr direkt auf den sich quer durch den Park schlängelnden Weg und hielt mit zwei Rädern auf dem Gras direkt vor dem winkenden Berthold Häcker. Dorothea lugte vorsichtig über die Schulter ihres Mannes. Der Arzt hatte die Beifahrertür bereits geöffnet bevor der Wagen angehalten hatte. Er stieg mit dem Koffer in der Hand aus und warf sich die rote Signalweste mit den weiß reflektierenden Streifen und der Aufschrift »Notarzt« über.
Er schritt sofort auf den Bach zu und begutachtete den Mann im Wasser, fühlte kurz an Hals und Handgelenk den Puls und meinte: »Ich denke, hier sind wir überflüssig. Das ist eine Angelegenheit für die Rechtsmedizin.«
Wenige Minuten später hörte man das Martinshorn und sah den Wagen durch die Schillerstraße herankommen. Bald darauf erschien auf dem Alten Postweg der blau-silberne Polizeiwagen. Der Fahrer hielt quer auf dem Bürgersteig mit den Vorderrädern ebenfalls auf dem Weg und stellte den Motor aus. Dann überblickte er die Situation, startete neu und fuhr ganz auf das Gras, um dem Notarzt die Ausfahrt nicht zu versperren.
Die ersten Fenster öffneten sich. Man unterhielt sich von Wohnung zu Wohnung.
Der Beifahrer telefonierte, der Fahrer sprang aus dem Wagen und ließ die Wagentür hinter sich zufallen. Im Gehen zog er von vorne nach hinten seine Polizeimütze auf und drückte sie an. Die Sirene schwieg. Das Blaulicht blinkte weiter. Der zweite Mann stieg aus und vergaß nicht, die Rolle mit dem Absperrband aus dem Kofferraum mitzunehmen. Er holte den Großen schnell ein. Auch er setzte eilig seine Mütze auf. Zwei Polizeibeamte, der eine erinnerte mit seiner großen und kräftigen Statur trotz seines Alters von Mitte fünfzig an einen Handballer des Polizeisportvereins, der andere mit seinen krummen Schienbeinen an einen Fußballer und war einige Jahre jünger. Seine Gestalt wirkte neben dem Großen deutlich schmaler, obwohl er auch nicht an Unterernährung zu leiden schien, und war ebenfalls trainiert. Sie gingen direkt auf den Notarzt zu und stellten sich zunächst bei den beiden Helfern vor.
»Mein Name ist Polizeihauptmeister Achim Frank.« Er blickte auf seinen um einen Kopf kleineren Partner hinab. »Das ist mein Kollege Polizeimeister Robert Feil. Es gab einen Notruf.«
»Bei uns auch, aber wir sind hier überflüssig. Dies ist eine Angelegenheit für Ihre Firma.« Er erhob sich und schnappte sich von seinem Fahrer das Klemmbrett, das dieser bereits vorbereitet hatte, steuerte auf einen nahen Baumstumpf zu, setzte sich und fing an, das Protokoll zu schreiben, wobei er hin und wieder auf die Fundstelle schaute.
Der große Polizist wandte sich nun den beiden Entdeckern der Leiche zu und stellte sich und seinen Kollegen vor. Dieser war bereits dabei, ein weitläufiges Areal mit seinem Polizeiband abzusperren. Er hatte einige Mühe, die ersten Zuschauer aus dem Park zu verbannen. Zurückhaltender wurden die Gaffer erst, nachdem er den ersten nach seinem Ausweis gefragt hatte.
»Berthold Häcker, meine Frau Dorothea.« Er winkte sachte mit seinem Kopf in Richtung Bach. »Wir haben den Toten gefunden.«
Ein sanfter Windstoß strich Dorothea über die Haare und ließ sie bemerken, dass sie ihren Hut an der Bank vergessen hatte. Berthold machte sich auf den Weg.
Frank kniete sich auf die Steinplatte neben der Leiche, seine Augen musterten die Umgebung, bevor sie sich auf den Mann richteten. Der Tote lag bäuchlings mit Gesicht und Oberkörper im Wasser. Mit einer Hand hatte er sich an einen Stein gekrallt oder versucht, sich aufzurichten. Er war groß und kräftig, bekleidet mit einem blauen Sommeranzug, über den er einen leichten dunkelblauen Mantel trug. Seine konservativen braunen Lederschuhe waren vorher blank geputzt gewesen. Ein blutiger Abdruck war an der Schläfe zu sehen, die Haut gespalten, als wäre er auf einen der dicken Steine gestürzt, die am Ufer des Baches neben der Leiche zu finden waren. Er drehte den Kopf und sah das Gesicht. Der Ausdruck in diesem Gesicht fesselte Franks Aufmerksamkeit: ein Gemisch aus Schock, Schmerz und Verzweiflung, das mehr als einen einfachen Unfall vermuten ließ.
»Das hier hat beileibe keine natürliche Ursache«, murmelte Frank, während er die Schulter des Toten leicht anhob, um eine weitere Übersicht zu bekommen. »Was auch immer hier passiert ist, eine natürliche Ursache kann ausgeschlossen werden, da bin ich mir sicher. Er hätte sich bei einem einfachen Sturz selbst helfen können. Dann hätte er aber nicht vorne und hinten Verletzungen. Er ist nicht ohne Fremdeinwirkung gefallen. Wir sollten die Kollegen von der Kripo herbestellen.«
Feil hatte seine erste Aufgabe erledigt und hielt bereits sein Handy zur Hand. Er scrollte seine Kontaktadressen durch. Er entschied sich für das Dezernat Gewaltverbrechen in Recklinghausen. Es meldete sich Frau Bremer.
»Feil hier, hallo Frau Bremer.«
»Hallo Herr Feil, wie geht es Ihnen?« Sie kannte den Beamten aus langjähriger Zusammenarbeit. »Wenn Sie sich bei mir melden, sind sie immer mit Frank zusammen und haben eine Aufgabe für unser Dezernat. Sehe ich das richtig?«
»Sie haben recht. Mir geht es gut. Nur dem Herrn, der hier vor mir halb im Wasser liegt, nicht. Sie sollten dem Chef Bescheid geben. Das, was wir hier zu melden haben, hat keine natürliche Ursache.«
Er gab sogleich den Standort durch.
Berendtsen und Hallstein waren durch Uschi Bremer informiert und nahmen sogleich mit Willi Schmidt, dem Leiter der Spurensicherung, Rücksprache. Die Forensikerin, Frau Dr. Michaela Rother, war ebenfalls durch Frau Bremer im Bilde und bereits unterwegs.
Berendtsen unterschrieb noch die Papiere, die seine Sekretärin zur Weiterbearbeitung benötigte. Hallstein und er kamen ohnehin immer zu früh.
Als die beiden Hauptkommissare am Ufer des Schölzbaches erschienen, gingen alle anderen bereits ihren Aufgaben nach. Die Forensik hatte ein großes weißes Zelt über dem Fundort aufgestellt.
Der Fotograf stellte seine Markierungen auf. Die Leiche hatte bereits die obligatorische 1, die anderen Details wurden aufsteigend nummeriert. Er wanderte mit seinem Stativ über die Wiese, stellte es an verschiedenen Orten auf, machte Fotos und diktierte den Standort und die Beschriftung direkt auf einen angeschlossenen Stick. Er bemerkte die Kommissare, nickte ihnen kurz zu. »Einen Augenblick, Herr Berendtsen. Hallo Herr Hallstein. Bitte nicht das Areal zwischen mir und dem Bach betreten. Ich mache gerade die Aufnahmen davon. Es dauert nicht lange.«
Der Kommissar tippte mit den Fingerspitzen an seine Stirn und deutete den Gruß »Ay, Ay, Captain« an, eine alte Gewohnheit aus seiner Hamburger Zeit. Es war Zeit für eine Handvoll Gummibärchen für Hallstein und ihn selbst.
Berendtsen schritt auf das Ehepaar Häcker zu, die inzwischen auf Geheiß der Polizisten wieder auf der Bank Platz genommen hatten. Berendtsen sah sich um. Ein leichtes Dröhnen veranlasste seinen Blick zu Himmel. Eine Drohne überflog das Gelände. Er war zufrieden. Er hatte seinen Freund und Nachbarn Franz benachrichtigt, den Chef der Ruhrzeitung, der sofort seinen Mitarbeiter Fuchs mit Luftaufnahmen beauftragt hatte. Der Mann hatte seinen Namen zu Recht, denn er war schlau wie ein Fuchs und ebenso beschlagen. Oft waren seine Aufnahmen für die Ermittlung von nicht zu unterschätzendem Wert. Bei einem Fall, erinnerte er sich, hatte er auf den Aufnahmen den entscheidenden Hinweis zur Überführung des Täters entdeckt.
Der Ameisenhaufen, wie Berendtsen die Spurensicherung zu nennen pflegte, suchte in seinen weißen Overalls eifrig im dichten Gras herum, teils auf den Knien, teils mit Metalldetektoren. Zwei Leute untersuchten den Bach. Der Fotograf hatte seine Fotokamera gegen ein 3–D–Aufnahmegerät getauscht und filmte das Gelände. Eine rechteckige klare Kunststoffwanne begann bereits, sich mit beschrifteten Plastiktüten zu füllen.
Der Fotograf packte seine Sachen ein, schob das Stativ zusammen und hievte es auf die Schulter. Danach gab er das Ufer für die Kommissare frei.
Berendtsen warf einen interessierten Blick auf das Zelt.
»Wir mussten das Zelt wegen der Vögel aufspannen. Sie scheißen auf unsere Akribie. Sehen Sie sich das an, Herr Berendtsen.« Das Zelt war bereits mit Vogelschiss eingedeckt.
Die beiden Kommissare begrüßten Frau Dr. Rother und sahen sich in den Baumkronen um. Hallstein klatschte einige Male und schrie laut. Auf dieses Kommando hin flog ein mächtiger Schwarm Stare wie abgesprochen auf und führte ein beachtliches Wendemanöver in weitem Bogen durch, um sich alsbald auf benachbarten Giebeln und hoch aufragendem Ahorn niederzulassen.
»Jetzt sind sie erst einmal weg«, lachte Hallstein. »Problem gelöst.«
Rother war leicht pikiert.
»Gibt’s schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte er.
»Ja natürlich, Herr Hauptkommissar«, verkündete sie provozierend. »Der Mann ist tot.«
»Man sollte es nicht glauben«, konterte Hallstein.
Berendtsen bot ihr Gummibärchen an. Sie lehnte freundlich lächelnd ab. Die Kommissare bedienten sich und Berendtsen vergrub die Tüte in der Sakkotasche.
»Er ist ermordet worden. Er fing sich mehrere Schläge ein. Auf Bauch, Brust und Schläfe. Tödlich war vermutlich dieses hier, aber ich bin noch nicht fertig.« Sie zeigte auf einen feinen Schnitt am Hals.
»Ein Einschnitt?«, fragte Hallstein.
»Dieser Schnitt hat wahrscheinlich die Halsschlagader durchtrennt. Das war’s. Es ist verhältnismäßig wenig Blut auszumachen, aber das ist vom Bach fortgespült worden.«
»Was ist mit der Platzwunde an der Schläfe?«
»Dieses hier, Herr Berendtsen«, sie zeigte auf die Stelle, »halte ich für einen Schlag mit einem Knüppel oder dem Treffer mit einem runden Stein auf die Schläfe. Ausgeführt von schräg vorne. Den Winkel werde ich noch genau herausfinden. Auf jeden Fall wurde der Schlag mit der rechten Hand ausgeführt. Die Tatzeit schätze ich auf gestern Abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht. Genaueres …«
»… wenn ich ihn auf dem Tisch habe«, ergänzten die beiden Kommissare den Standardsatz.
Die Ärztin winkte den Bestattern.
Die beiden Träger in dunklen Overalls hatten in einiger Entfernung respektvoll vor ihrem schwarzen Wagen auf den Einsatz gewartet. Vorsorglich trugen sie Gummistiefel. Sie stellten den Zinksarg ab. Nach kurzer Absprache trafen sie umgehend die Vorbereitungen zum Abtransport der Leiche. Einer von ihnen entrollte den schwarzen Leichensack und breitete ihn unter leichtem Rascheln des Materials aus. Die Anwesenden wurden still. Routiniert, ohne Eile und Hektik bargen die Bestatter den Leichnam aus dem Wasser und legten ihn in auf den Sack. Der Reisverschluss zerschnitt die Stille. Dann betteten sie die Leiche in den Sarg, verschlossen ihn und trugen ihn zum Wagen. Sobald die Tür verschlossen war, gingen die allgemeinen Gespräche weiter.
»Wie hat Ihnen gestern das Konzert gefallen, Frau Dr. Rother?«, fragte Berendtsen.
Rother nickte und schmunzelte. »Mein Mann und ich haben uns köstlich amüsiert. Wir waren zum ersten Mal hier in der Aula. Sie haben uns gesehen?«
»Sie beide saßen ganz in unserer Nähe. Meine Frau und ich wollten Sie in der Pause begrüßen, haben Sie aber in dem Gewühl nicht entdeckt.«
»Wir haben uns draußen aufgehalten. Mir war ein verpasster Anruf gemeldet worden. Da wollte ich kurz zurückrufen. Das zog sich allerdings hin bis zum Ende der Pause. Schade. Keine Zeit für eine Gläschen Sekt. Sie scheinen öfter hier zu sein.«
»Wir haben ein Abo. Dienstags. Wir gehen auch regelmäßig hin.«
»Ja, Sie sind Dorstener, soweit ich weiß.«
»Stimmt, aber ich wohne am anderen Ende der Stadt bei den Musikern. Pucciniweg.«
»Bei der Händelstraße? An der Apotheke vorbei … kenne ich. Wir wohnen seit einem halben Jahr in Polsum.«
»Ich weiß. Ja, genau da.«
Hallstein trat hinzu. »Darf ich kurz unterbrechen? Ich möchte die beiden Entdecker der Leiche vorstellen. Es handelt sich um Herrn und Frau Häcker. Sie wohnen nicht weit von hier auf dem Kiebitzweg 9.«
»Berendtsen, guten Morgen zusammen.« Er sah auf seine Uhr. »Wann haben Sie die Leiche entdeckt?«
Die beiden Herrschaften wirkten ein wenig verunsichert. Sie hatten nicht mit einer solch nmittelbaren Frage gerechnet und einigten sich darauf, dass sie um acht Uhr das Haus verlassen und danach schon eine Weile auf der Bank gesessen hatten. Sie schätzten die Uhrzeit auf halb neun.
»Der Notruf ging um 8:24 Uhr ein«, bestätigte Hallstein. »Erzählen Sie meinem Kollegen, was sie entdeckt haben.«
Die Eheleute, beide Mitte und Ende sechzig, in leichten Sommeranoraks, erzählten ausführlich, dass sie bei ihrem Morgenspaziergang kurz auf der Parkbank am Weg Rast gemacht hatten, um die Natur an einem solch schönen Morgen zu genießen und sie beim Betrachten der Enten auf die Person aufmerksam geworden seien. Er, Berthold, habe sich dorthin begeben und nach einem Blick in das Gesicht des Mannes sogleich festgestellt, dass hier jede Hilfe zu spät käme. Er habe aber trotzdem den Notarzt angerufen. »… denn den Tod kann nur ein Arzt feststellen, soweit ich weiß.«
»Sie haben alles richtig gemacht, Herr Häcker. Haben Sie etwas angefasst oder umgelegt?«, fragte Berendtsen weiter.
Berthold Häcker schilderte kurz, wie er den Toten am Kopf gefasst und das Gesicht wieder so ins Wasser gelegt habe, wie er es vorgefunden hatte. Er verwies auf das linke Hosenbein seiner Blue Jeans, das bis zum Knie durchnässt und arg mit braunem Boden beschmutzt war. Socken und Schuhe waren nicht minder in Mitleidenschaft gezogen. Den hellblauen Anorak trug er offen. Darunter erschien ein rotes Polohemd mit schmalen schwarzen Querstreifen.
»Sind Sie auf die Steine getreten oder am Fundort herumgelaufen? Zeigen Sie mir Ihre Sohlen?«
Hallstein griff ihm unter die Arme. Berendtsen erkannte Gummisohlen mit geriffeltem Profil. Er machte sicherheitshalber mit dem Handy einen Schnappschuss. Die Hose war unterhalb der Knie steif vor Dreck und Nässe. Aus den vorher frisch geputzten Schuhen tropfe noch Wasser. Auch Frau Häckers Sohlen lichtete er ab. Er bat Feil, der gerade an ihnen vorüberkam, das Ehepaar nach dem Gespräch mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Dann wandte er sich wieder dem Ehepaar Häcker zu.
»Haben Sie irgendjemanden hier im Park bemerkt, der sich auffällig benommen hat oder auffällig unauffällig wirken wollte?«
Beide hatten nichts bemerkt. »Nur …«
»Nur was, Frau Häcker?«
Frau Häcker trat von einem Bein auf das andere und lehnte den Gehstock an ihre Hüfte, um besseren Halt zu finden.
»Eine Joggerin mit einem rot-schwarzen Trainingsanzug ist vorbeigekommen. Sie hat am Sandkasten dort drüben einige Dehnübungen gemacht und ist weiter an uns vorüber, ohne zu grüßen. Ich finde, die Tageszeit kann man immer sagen. So viel Zeit muss sein.«
»Hat sich die Joggerin auffällig benommen? Hat sie vielleicht zu der Stelle hinübergeschaut, wo der Tote lag?«
»Nein bestimmt nicht. Dann hätte sie ihn wohl bemerkt. Jogging hin oder her. Aber die heutige Jugend …«
»Ein Radfahrer ist hier vorübergefahren. Elektrobike. Sehr flott. Ebenfalls unauffällig«, unterbrach Herr Häcker seine Frau. Er wusste, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen konnte, wenn das Thema Jugend bei ihr aufs Tableau kam. »Sonst war niemand hier. Wir waren allein. Um diese Zeit morgens sind wir häufig die einzigen Leute hier im Park.«
»Ich weiß.« Berendtsen nickte.
»Wir waren lange nicht hier, Herr Kommissar, weil ich eine neue Hüfte bekommen habe. Es hat lange gedauert. Allein die Reha … Es ging nur langsam voran.«
»Aber jetzt sind sie wieder fit. Schön. Hat man schon Ihre Personalien aufgenommen?«, wollte Hallstein wissen.
Das war nicht der Fall.
Er nahm sein Smartphone zur Hand und notierte Adresse und Telefonnummern direkt in ein neu erstelltes Notizbuch. Damit waren die Leute zunächst entlassen. Hallstein steckte Herrn Häcker seine Visitenkarte zu.
»Es wird sich jemand von der Spurensicherung bei Ihnen melden, Herr Häcker. Zum Abgleich der Fingerabdrücke und der Schuhsohlen. Sie haben die Leiche angefasst und Fußspuren hinterlassen.«
»Wir sind überwiegend zu Hause anzutreffen. Eventuell schaffen wir hinterm Haus im Garten.
Hallstein winkte Feil, der sie zum Streifenwagen führte.
»Hallo Albert«, kam Willi Schmidt auf die Kommissare zu. »Was sagt Frau Doktor?« Er hielt die Hand auf. Berendtsen zückte seine Tüte mit den Gummibärchen.
»Der Mann ist tot«, ärgerte Hallstein.
»Ha, ha!« Schmidt griff zu und warf sich kunstvoll zwei Bärchen in den Mund. Die anderen behielt er in der Faust.
»Rother hat mehrere Schläge und einen Schnitt ausgemacht, vermutlich durch die Halsschlagader. Die Wunde am Kopf wird von einem Ast stammen. Vielleicht findet deine Mannschaft dazu den passenden Holzknüppel. Zu mehr will sie sich erst äußern …«
»Ich weiß … und bin gespannt. Wann soll das gewesen sein?«
»Zwischen zehn und zwölf gestern Abend.«
»Bei ihm haben wir das Portemonnaie mit den üblichen Papieren gefunden. Ausweis, Führerschein, Kreditkarten, Bankkarte und auch das Handy. Außerdem trug er eine teure Smartwatch. Die Person ist gemeldet auf dem Landauer Weg. Außerdem haben wir eine Eintrittskarte gefunden für eine Vorstellung gestern Abend in der Realschule der Ursulinen. Sie ist entwertet, also war er auch dort.«
»Dann können wir die Tatzeit vermutlich auf zweiundzwanzig Uhr oder etwas später eingrenzen. Die Vorstellung war viertel vor zehn zu Ende. Garderobe abholen und Fußweg bis hierher mögen zwanzig Minuten in Anspruch genommen haben.«
Berendtsen fragte nach persönlichen Dingen des Toten. Es gab nichts, außer drei Wohnungsschlüsseln, keinen Autoschlüssel. Ein Päckchen Taschentücher. Dann kam ein langgezogenes »Aber … seht euch das an!«
Er holte ein Tütchen mit einem Futteral aus Leder aus der Kitteltasche und drückte es Berendtsen in die Hand.
»Ein Messer?« Berendtsen war sichtlich überrascht. »Dann könnte die Möglichkeit bestehen … Ich glaub’s nicht.«
»Er ist mit seinem eigenen Messer umgebracht worden? Donnerwetter. Dann muss es auf jeden Fall zum Streit gekommen sein«, schloss Hallstein daraus.
»Der Täter muss sehr kräftig gewesen sein oder es waren zwei. Wie hätte er jemandem das Messer entwenden können, der im Umgang damit fit war. Denn dass er mit dem Messer umgehen konnte, davon können wir ausgehen. Sonst hätte er es nicht gezogen. Er hätte es wahrscheinlich nicht ins Konzert mitgenommen.«
»Oder er hat geahnt, dass es Ärger geben würde.«
»Oder er trug es immer bei sich wie ein Taschenmesser.«
Berendtsen, Hallstein und Willi Schmidt sahen schweigend auf den Boden. Berendtsen strich sich durch die Haare.
»Zunächst ist es nur ein Etui«, unterbrach Willi das Schweigen. »Wo das Messer ist oder ob er es benutzen wollte, ist die zweite Frage.« Willi nahm das Futteral wieder an sich. »Kronenberg hatte es in der Manteltasche. Wir haben zwei Leute unterwegs, die die Umgebung absuchen. Vielleicht haben wir Glück.«
»Wie groß ist das Messer?« Berendtsen beantwortete die Frage selbst. »Klinge 10 cm?«
»Nicht einmal. Etwas länger als ein Daumen. Sechs, eher bis acht Zentimeter«, meinte Willi. Er sollte es wissen.
Berendtsen nahm die Papiere an sich und las auf dem Personalausweis Felix Kronenberg. »Landauer Weg 17? Wenn er nicht mit dem Wagen unterwegs war, dann war er möglicherweise auf dem Weg zum Busbahnhof, als er getötet wurde. Wir sollten nachsehen, wann abends der letzte Bus vom Nonnenkamp abfährt. Bis zum Landauer Weg ist es zum Laufen zu weit.«
Inzwischen bildete sich von der Alleestraße her eine Traube Neugieriger. Einige fanden eine Möglichkeit, hinter der Bepflanzung über das Ufer näher an den Tatort heranzukommen. Frank und Feil hatten die Lage im Griff. Sie hatten einen Streifenwagen geordert, der von der Alleestraße her für Ordnung sorgte und die Menge auseinandertrieb. Sie erzielten erste Erfolge beim Auflösen der Versammlung. Der obere Zugang war bereits abgeriegelt.
Endlich konnten die Kommissare den Ort des Geschehens aus der Nähe betrachten. Die Oberfläche des Baches glänzte silbrig in der Sonne des späten Vormittags, aber ansonsten wirkte er dunkel und schob sich langsam durch das Bett, das an dieser Stelle zweigeteilt war. Auf der anderen Seite des steinernen Übergangs, noch bevor sich die beiden Läufe sich wieder vereinten, trafen der Bach auf einen Ast, der beinahe zur Hälfte den Durchfluss behinderte, weil er im Laufe der Zeit ein Gestrüpp um sich versammelt hatte. Der Bach aber ließ sich durch dieses Hindernis nicht aufhalten, sondern hatte sich einfach einen neuen Weg gesucht. Zu sehen gab es nicht viel. Das Ufer war inzwischen von Fußspuren übersäht. Dazwischen fielen einige Abdrücke von Frau Jägers altem Gehstock ins Auge. Berendtsen fotografierte mit seinem Smartphone, um dann den Steg zu überqueren und die Lage von der anderen Seite zu betrachten. Dabei bemerkte er einen Papierschnipsel, oberhalb des Gestrüpps des Astes im Wasser, der sich in einem von Tau glänzenden Spinnennetz verfangen hatte. Er zeigte Hallstein die Stelle. Der verstand den stummen Impuls. Er nahm auf dem Baumstumpf Platz, auf dem der Arzt den Bericht geschrieben hatte, und zog Schuhe und Strümpfe aus. Dann krempelte er seine Hosenbeine sorgfältig bis zum Knie hoch. Vorsichtig und äußerst konzentriert tastete er sich an das Wasser heran. Er hatte nicht vor auszurutschen. Mit einem Zeh prüfte er die Temperatur des Gewässers. Sie war nicht nach seinem Geschmack.
»Kalt!« war die erste Bemerkung, die er dazu abgab, »und glatt … und richtig kalt«, bestätigte er die Widerwärtigkeiten. Er kniff die Augenbrauen zusammen und sah fragend zu Berendtsen hinüber.
Der nickte ihm aufmunternd zu.
Dann hatte er Glück.
Er erspähte einen der letzten Mitarbeiter der Spurensicherung in Gummistiefeln und konnte ihn veranlassen, diese Aufgabe zu übernehmen.
Es gelang dem jungen Mann problemlos, den Schnipsel zu bergen. Er drehte das Papier noch im Wasser stehend um und hielt es ins Sonnenlicht. Er wandte sich zu den Kommissaren und zuckte mit den Schultern. Dann trat er vorsichtig ans Ufer und wollte zunächst Hallstein das sichergestellte Teilchen übergeben, entschied sich dann für Berendtsen, denn Hallstein war auf dem Weg durch das Gras zum Wagen. Dort griff er zum Handtuch, das für seine beiden Kinder zur Verfügung stand, wenn die Familie unterwegs war. Berendtsen brachte ihm seine Schuhe mit den Socken.
»Ich weiß nicht, ob es etwas bringt«, meinte er und setzte seine Brille auf. »Es ist kein Papier«, sagte er nachdenklich. Er wendete das Stückchen hin und her. »Es ist Pappe … mit Bild … eher ein abgerissenes Stückchen eines Fotos … oder einer Postkarte.«
Hallstein stimmte ihm zu.
»Sieh her! Es scheint noch ein Rest von einer Briefmarke darauf zu kleben. Jetzt wäre zu wünschen, den Ort herauszufinden, woher diese Karte stammt.«
Hallstein betrachtete das Beweisstück mit einer kleinen Lupe, die er an seinem Schweizer Taschenmesser herausgeklappt hatte. »Es gibt ein Reklameschild zu sehen, wenn ich nicht irre. Aus ›Aman‹ oder so. Willi könnte vielleicht mehr erkennen.«
»Oder unsere EDV. Roland Schubert verfügt doch über solche Programme, die diese Unschärfen interpolieren können.«
Berendtsen und Hallstein machten sich auf zum Landauer Weg in Wulfen. Der ganze Wohnabschnitt bestand ausschließlich aus Mehrfamilienhäusern. Sie hielten gegenüber auf dem Parkstreifen und besahen sich das Haus. Dieses Haus und das nebenan erstreckten sich über vier Eingänge mit sechs Stockwerken und reichlich Wohneinheiten. Das Gebäude war alt, mit bröckelnder Fassade und rissigen Treppenabsätzen. Eine Reihe von Graffiti- Künstlern hatten sich an mehr oder weniger anspruchsvollen Bildern versucht. Einige Painter hatten ihre Meinung zu Regierungsmitgliedern und verschiedenen Mitbürgern in vielen großen, kunstvoll geschwungenen und farbig abgesetzten Buchstaben dargelegt. Man erfuhr unter anderem, dass Kevin eine Sau ist und »Wer im Bett lacht, lacht am besten.«
Auf den Spruch des Tages wies Hallstein hin:
»Susanne ich liebe dich!! Für immer!!«
Berendtsen bekam einen Lachkrampf.
Das Wort Susanne war durchgestrichen und mit Emilia überschrieben.
»Klingt nicht glaubhaft.«
Die Kommissare inspizierten die Eingänge und Schellentafeln. Einige Namen waren neu angebracht, andere konnte man kaum mehr erkennen oder waren nicht beschriftet. Sie befragten Anwohner, die aus dem Haus traten, und Leute, die vorüberkamen. Niemand konnte mit dem Namen oder der Beschreibung des Toten etwas anfangen. Ein Foto, das zur Identifizierung des Toten hätte dienlich sein können, hatten die Kommissare noch nicht vorzuweisen. Die Aufnahme vom Fundort hielten sie für ungeeignet. Hallstein hatte das Bild des Personalausweises eingescannt, aber das ließ an Ähnlichkeit zu wünschen übrig. Sie schellten unten bei einem verblassten und vergilbten Namensschild. Korte. Keine Reaktion. Auf das zweite Klingeln hin hörten die Kommissare die Worte »Sei schön brav und keinen Mucks, hörst du?« und das Schließen einer Tür. Jemand schlürfte heran. Es klackte leise und eine ungepflegte, aber von der Natur mit ansehnlichen Gesichtszügen ausgestattete Frau in den Sechzigern, mit weißblondem Haar öffnete die Tür, soweit es die Sicherheitskette zuließ. Sie trug einen Morgenmantel, den sie mit einer Hand am Kragen zusammenzog, als sei ihr kalt oder soeben ein Knopf abgesprungen. Die Füße steckten in braungelben Filzpantoffeln, die ihre beste Zeit hinter sich hatten.
Sie sah die beiden Männer unsicher an.
»Frau Korte?«
Sie deutete ein Kopfnicken an.
»Kriminalpolizei. Mein Name ist Hautkommissar Berendtsen, das ist mein Kollege Hauptkommissar Hallstein.« Er zeigte den Ausweis. »Wir haben ein paar Fragen zu einem Ihrer Nachbarn. Felix Kronenberg.«
Die Frau verzog das Gesicht, als habe sie in einen Apfel gebissen, aus dem ein halber Wurm herauszappelte.
»Wer?«
»Felix Kronenberg«, wiederholte Hallstein, trat näher heran und stolperte über ein Paar schwarze Herrenschuhe, das im Hausflur auf einer Kokosmatte abgestellt war und auf Pflege wartete. Er stieß sich den Kopf an den Stufen nach oben. Ein kurzer Fluch, ein Reflex, dann stand Hallstein wieder zur Verfügung. Die Frau hatte sich zunächst erschreckt und lächelte überlegen wegen seiner Tollpatschigkeit, mit der er es ihrer Meinung nach bei der Kriminalpolizei nicht weit bringen würde. Sie schien die Situation zu genießen.
»Der Mann heißt Felix Kronenberg. Er ist unter dieser Adresse gemeldet«, fuhr Hallstein unbeeindruckt fort.
»Der Name sagt mir nichts.«
Hinter ihr erschien ein gebeugter Mann mit einer Fernbedienung in der Hand. Ebenfalls in einen Morgenmantel gekleidet. Er schob sich mit der freien Hand einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Die Fernbedienung verschwand in seiner Rocktasche. Er sah seiner Frau über die Schulter und nickte den beiden Kommissaren stumm zu.
»Polizei«, klärte ihn seine Frau auf.
»Was will die von uns?«
»Sie suchen jemanden.«
»Wen denn?«
»Wie heißt der Mann?«, fragte die Frau.
»Felix Kronenberg.«
»Wie?«, fragte der Mann.
»Kronenberg!«, wiederholte Hallstein nochmals. »Felix Kronenberg.« Er hielt den beiden ein Foto auf seinem Handy vor die Nase, das den Personalausweis des Gesuchten zeigte.
Korte schüttelte den Kopf. Den Namen kannte auch er nicht. »Nie gehört.« Er schüttelte nachdenkend den Kopf. »Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Warum sucht ihn die Polizei?«
Hallstein schaute auf das vergilbte Namensschild. »Wie lange wohnen Sie hier, Frau Korte?«
»Lange. Über sechs Jahre.«
»Und doch kennen Sie den Herrn Kronenberg nicht?«
»Wenn ich es Ihnen sage. Hier wohnt niemand mit dem Namen.«
Hallstein versuchte es noch einmal. Er hielt ihnen nochmals mit wichtiger Miene die Abbildung des Ausweises vor.
»Nochmals fürs Protokoll: Sie kennen diesen Mann auf dem Bild nicht.«
Einstimmig bekräftigten beide ihre Aussage.
»Wir gehören nicht zu diesen Leuten, die ihre Hausbewohner kontrollieren. In welcher Etage soll er gewohnt haben?«
»Das wollten wir von Ihnen erfahren, Frau Korte. Wir haben den Ausweis mit der Anmeldung an dieser Adresse.«
Hallstein notierte ihre Aussage in seinem Handy, wobei er überdeutlich mitsprach. »So. Dann habe ich ihre Aussage notiert. Danke für Ihre Zeit.«
Er ließ sein Handy in die Innentasche gleiten.
Berendtsen überreichte den beiden Korte seine Karte mit immer denselben Worten: »Sollte Ihnen doch noch etwas zu diesem Mann einfallen, vergessen Sie nicht, uns zu kontaktieren. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Wir behalten uns vor, Sie zu gegebener Zeit noch einmal zu befragen. Auf Wiedersehen.«
Das Ehepaar zog sich kommentarlos zurück und schloss die Tür wieder ab.
Die Kommissare stiegen die drei Stufen zur Haustür hinunter und sahen sich an.
»Ich fresse meinen Dienstausweis, wenn sie Kronenberg nicht kannten«, sagte Berendtsen und zog seine Augenbrauen hoch.
»Ich werde dir den Senf spendieren, damit er besser schmeckt.«
In diesem Moment hörten die Kommissare den Wagen der Spurensicherung in den Landauer Weg einbiegen. Hallstein trat hinaus und winkte. Der Wagen ordnete sich auf dem Parkstreifen hinter Hallsteins BMW ein. Berendtsen wandte sich unbewusst noch einmal um und bemerkte eine Bewegung der Gardine.
Willi Schmidt stieg als erster aus.
»Wieso seid ihr schon hier, Oliver? Du bist nach uns abgefahren.«
»Es gibt einen schnellen Weg über die neue Lippebrücke. Man braucht nicht die Wienbecke entlang und nicht durch Wulfen.«
Das Navigationssystem hatte Willi über den Freudenberg gelotst, weil die Wienbecke einseitig gesperrt war.
»Wie es auch sei«, meinte Berendtsen, »wir sind ohnehin falsch. Auf den Schellen und Briefkästen steht nichts von Kronenberg. Mieter, die wir befragt haben, kennen einen solchen Namen nicht. Die Familie dort unten rechts wohnt seit einigen Jahren hier und hat niemals von ihm gehört.«
»Aber der Ausweis …«
»Wie alt ist er?«
»Der Mann wurde dreiundvierzig Jahre alt«, wusste Willis junger Mitarbeiter zu berichten.
»Ich meinte das Ausstellungsdatum des Ausweises«, erklärte ihm Berendtsen.
Willi sah sich im Auto bei den Utensilien um. Er brauchte eine Weile, bis er Auskunft geben konnte. »Vor acht Jahren ausgestellt und ist seit zwei Jahren abgelaufen«, rief er Berendtsen zu.
»Eine lange Zeit. Wo lebte er jetzt? Das ist die Frage.« Berendtsen fiel das Schnipsel ein. Hallstein hatte es in der Tasche. Er übergab Willi die Tüte mit dem kleinen Papierstück und bat ihn, herauszufinden, woher diese Postkarte stammen könnte, wenn es denn eine Postkarte war.
»Wer schreibt denn heute noch Karten? Der Mann hatte ein Handy. Woher stammt das Teil?« Willi Schmidt schüttelte verständnislos den Kopf.
Berendtsen erklärte den Fund.
»Wir werden sehen, Albert. Vielleicht hat er sie auch erhalten. Wir werden es herausfinden. Sollten wir auf DNA prüfen?«
»Das werden wir wohl. Ich denke aber nicht, dass es Sinn macht. Ich will Willi das entscheiden lassen.«
»Okay. Ich denke auch dran.«
»Ich hatte mich schon gefreut. Endlich mal einen vorbildlichen Toten mit Ausweispapieren … und dann stimmen die Daten nicht.« Das ärgerte den Hauptkommissar. Hallstein sah es ihm an.
»Der Kerl muss aber irgendwo in der Nähe gewohnt haben und hat sich ausgekannt. Er hatte Kenntnis von der Aufführung und besaß ein Ticket direkt aus der Stadtinfo, wie man am Stempel sieht. Also werden wir auch seine Adresse herausfinden«, beruhigte Hallstein.
»Außerdem haben wir die Kredit- und Bankkarten. Willi, deine Leute haben sie an sich genommen. Sie könnten sich darum kümmern. Vielleicht könnte man das Papierschnipsel auf DNA untersuchen.«
Willi Schmidt leitete die Aufgabe gleich per telefonischer Anweisung an seine Stellvertreterin weiter.
»Es gibt eine Giro- und Mastercard der Volksbank, American Express und eine Visakarte der Banco de Santander. Über diese Schiene sollten wir seinen Wohnort einkreisen können.«
»Er scheint viel unterwegs gewesen zu sein«, schloss Berendtsen und zupfte an seiner Unterlippe, »wenn er gleich drei weitreichende Karten mit sich trug.
Im Präsidium in Recklinghausen statteten die Kommissare der Sekretärin Frau Bremer als erstes einen Besuch ab.
»Hallo Uschi.«
»Aha, die Herren Kommissare sind vom Tatort zurück. Wie war’s?«
Die Sekretärin deckte den Tisch und servierte den Kommissaren frischen Kaffee und Gebäck.
Berendtsen griff zu seinem Tütchen. Aber ehe er die Bärchen zum Vorschein brachte, musste er sein Handy aus der Tasche ziehen. Dann streute er Gummibärchen auf den Tisch und schob sie auch zu Hallstein hin.
»Tötungsdelikt«, erklärte Berendtsen. »Totschlag oder schlimmer. Ein Mann, Mitte vierzig, lag mit dem Gesicht unweit des Amtsgerichts Dorsten im Schölzbach. Platzwunde auf dem Hinterkopf, Verletzung durch ein Messer an der Kehle. Er kam offensichtlich aus der Vorstellung, in der Frau Rother mit ihrem Mann und meine Irmgard und ich ebenfalls waren. Danach ist er auf dem Weg zum Busbahnhof erschlagen worden. Tatzeit also zweiundzwanzig dreißig. Ob es Streit gab, wissen wir nicht.«
»Wir nehmen es aber sehr stark an, weil Schmidt ein leeres Messeretui sichergestellt hat«, warf Hallstein dazwischen.
»Bisher keine Hinweise. Wir gehen von einem Überfall aus. Portemonnaie fehlt allerdings nicht. Ausweis, Kreditkarten und fünfzig Euro sind vorhanden.«