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Ein Retreat im buddhistischen Kloster, Bodhi Vihara, steht beim dritten Treffen der Bademantel-Gang an, mit Klangschalen-Meditation und Mantra-Singen. Es winkt die pure Achtsamkeit, aber nur bis die drei Frauen eingecheckt haben. Kurz danach sind Besinnlichkeit und Meditation am Ostseestrand vergessen, denn Tote meditieren nicht. War es ein Unfall, ein Suizid oder Mord? Ist der Täter noch vor Ort? Es könnte einer der Gäste, ein Coach, ein Mönch oder einer aus dem Hippie-Camp nebenan gewesen sein. Natürlich nimmt sich die Bademantel-Gang des Falles an.
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Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Ein Retreat im buddhistischen Kloster, Bodhi Vihara, steht beim dritten Treffen der Bademantel-Gang an, mit Klangschalen-Meditation und Mantra-Singen. Es winkt die pure Achtsamkeit, aber nur bis die drei Frauen eingecheckt haben. Kurz danach sind Besinnlichkeit und Meditation am Ostseestrand vergessen, denn Tote meditieren nicht. War es ein Unfall, ein Suizid oder Mord? Ist der Täter noch vor Ort? Es könnte einer der Gäste, ein Coach, ein Mönch oder einer aus dem Hippie-Camp nebenan gewesen sein. Natürlich nimmt sich die Bademantel-Gang des Falles an.
Die Manhattan Trilogie
Historische Krimi Reihe
Die Magdeburg Krimi Reihe
„Horror Vacui“
„Malum Concilium“
„Targeted – Anvisiert“
„Vindictus Meam – Meine Rache“
Die Bademantel-Gang Reihe
„Mord mit Therapie“
„Mord in Teufels Küche“
Alle Bücher sind als Taschenbuch und E-Book erhältlich
Kapitel Eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel Dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Kapitel fünfunddreißig
Kapitel sechsunddreißig
Kapitel siebenunddreißig
Kapitel achtunddreißig
Kapitel neununddreißig
Kapitel vierzig
Kapitel einundvierzig
Kapitel zweiundvierzig
Das diesjährige Treffen der Bademantel-Gang sollte etwas Besonderes werden. Nicht so, wie im letzten Jahr. Ihr erstes Wiedersehen nach der Reha, in Quedlinburg, hatte eine eher unschöne Wendung genommen. Gerti war sprichwörtlich über eine Leiche gestolpert und Sandra hatte sich des Falles sofort angenommen, natürlich ohne Einverständnis der örtlichen Kripo. Gegen ihren Ermittlungseifer hatte nicht mal ihr ehemaliger Mitpatient, der wieder in Dienst gestellte Kriminalkommissar Sören Grießler, etwas ausrichten können. Ihre Neugier wäre ihr dann beinahe noch zum Verhängnis geworden. Am Ende musste sie sogar vor Gericht erscheinen, allerdings als Zeugin. Auch wenn alles gut ausgegangen war, ihr Wellness-Wochenende hatte etwas darunter gelitten.
Das sollte dieses Mal nicht passieren. Nichts als Ruhe und Entspannung und ein paar kleine Aktivitäten, so sah der Plan aus. Damit auch nichts dazwischenkommt, hatte Sandra den Vorschlag gemacht, ihr zweites Treffen auf eine Woche auszudehnen und die Zeit in einem buddhistischen Meditationszentrum zu verbringen. Mehr Ruhe und Entspannung fanden sie gewiss nirgendwo. Ihre Idee war nicht von allen begeistert aufgenommen worden. Besonders Gerti wollte nicht so recht. Sie stand mehr auf Aktivurlaub: Wandern, Mountainbiking, Wildwasserrafting oder Klettern. Mit sowas konnte sich aber Marzena nicht anfreunden. Ihr gefiel Sandras Vorschlag viel besser. Wenn Gerti eins nicht war, dann eine Spielverderberin. Sie stimmte zu, allerdings erst, nachdem sie sich auf ein buddhistisches Kloster an der Ostsee geeinigt hatten. Dort konnte man wenigstens noch schwimmen und lange Strandwanderungen machen.
Jetzt stand Sandra an der Bus-Haltestelle von Pütten Damm, einem kleinen Örtchen auf dem malerischen Darß. Eine Ansammlung weniger Häuser, kurz hinter Ahrenshoop gelegen, das war Pütten Damm. Auf den ersten Blick stellte Sandra fest: Das einen Ort zu nennen, wäre geprahlt. Hier wollte sie nicht mal tot über dem Zaun hängen. Nicht als Anwohner oder Urlauber. Die Bushaltestelle schien die einzige öffentliche Einrichtung zu sein. Im Wartehäuschen hing nicht mal ein Fahrplan. Der lohnte sich wahrscheinlich nicht, denn sie war als einziger Fahrgast ausgestiegen. Hier war noch weniger als gar nichts los. Wenigstens hatte sie, was die Ruhe betraf, nicht übertrieben und genau das wollten die Mädels ja. Ruhige und friedliche Stimmung.
Von wegen ruhig und friedlich. Eine nervige Autohupe durchschnitt die Stille, als sich ein dunkelblauer Opel in die Haltestellenbucht schob. Lustiges Geschnatter drang aus dem Inneren und es wurde noch lauter, als die Türen aufgingen. Gerti und Marzena waren eingetroffen. Herzlicher konnte eine Begrüßung nicht ausfallen. Kein Wunder. Nach etlichen Monaten, in denen ihre Verbindung nur aus WhatsApp-Nachrichten oder gelegentlichen Anrufen bestand, freuten sich alle über das Wiedersehen. Es dauerte eine Weile, bis alle Umarmungen und die ersten Eindrücke ausgetauscht worden waren. Marzena fand es mega schön und ruhig. Gerti wollte am liebsten gleich an den Strand, musste aber vorher dringend auf die Toilette. Alle redeten gleichzeitig, bis Sandra schließlich beschwichtigend die Arme hob und dem Gewusel Einhalt gebot. „Mädels! Haltet doch erst mal die Klappe. Ihr erschreckt die Eingeborenen.“
Ein erstes Foto wurde geschossen, dann setzte sich der Opel, nun mit drei Insassen, wieder in Bewegung. Sandra navigierte Gerti vom Beifahrersitz aus, mit einem Kartenausschnitt auf den Knien. Hinter dem letzten Haus mussten sie links auf einen unbefestigten Weg einbiegen, in Richtung Strand. Nach zweihundert Metern kam eine Abzweigung. Gerti bremste und schaute Sandra fragend an. Der Weg führte nun sowohl geradeaus als auch nach rechts. Zur besseren Orientierung war ein großes Schild aufgestellt worden, auf dem in hinduistisch angehauchten Buchstaben stand:
Buddhistisches Kloster und Meditations-Zentrum
Ein Pfeil zeigte nach rechts. So weit so klar. Am unteren Rand des großen Schildes aber hatte jemand ein kleineres angebracht. Es sah behelfsmäßig aus. Das blanke Holz war mit ungelenken Buchstaben beschriftet worden, die schon zu verblassen begannen.
Diese Aufschrift konnte man gerade noch so entziffern. Ein Pfeil am linken Rand zeigte nach oben, was wohl heißen sollte: Folgen Sie dem Weg geradeaus.
„Wohin?“, fragte Gerti.
„Nach rechts natürlich, zum Kloster.“
Marzena zeigte auf das untere Schild. „Und was sind die Erwachten?“ Sandra zog die Schultern nach oben und meinte lakonisch: „Na, die sind schon wach.“
Gerti grinste breit und setzte mit ihrem sächsischen Charme gleich noch eins drauf. „Das ist das Camp für Fortgeschrittene.“
Schon nach kurzer Fahrt schälten sich mehrere Gebäude aus dem dichter werdenden Grün. Das Kloster lag inmitten einer typischen Küstenbewaldung, die hauptsächlich aus Kiefern, einigen Rotbuchen und Eichen bestand. Der sandige Boden ließ nicht viel gedeihen. Gras hatte es auch schwer und so sah man nur hier und da ein paar Sträucher. Doch darauf achteten die drei Frauen nicht.
Ein weiteres Schild forderte sie auf, das Auto auf einem kleinen unbefestigten Parkplatz abzustellen. Gerti parkte ihren Wagen zwischen einem blauen Skoda Fabia mit Schweriner Kennzeichen und einem grünen VW Golf aus Berlin, beide älteren Datums. Von hier aus ging es nur noch zu Fuß weiter. Für Gerti und Sandra kein Problem. Gertis Gepäck bestand aus einem großen und einem kleinen Rucksack und Sandra trug ihre Sachen gleichmäßig auf zwei Reisetaschen verteilt. Nur Marzena bekam mit ihrem großen Rollkoffer schlecht voran. Mühsam zog sie das Monstrum über den Sandboden. Gerti erbarmte sich ihrer und fasste schließlich mit an. Gemeinsam steuerten sie auf eine zweigeschossige Villa zu, bei dessen Anblick Sandra begann, ihren Vorschlag zu bereuen. Ein buddhistisches Kloster hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt und die Bilder im Internet hatten auch ganz anders ausgesehen. Das Gebäude vor ihnen war eindeutig schon sehr in die Jahre gekommen. Die Villa mit Erker und Dachgaube sah nicht heruntergekommen aus, aber ein neuer Putz und etwas Farbe könnte sie schon vertragen. Hoffentlich war die Innenausstattung etwas moderner. Sandra musste es zugeben: Sie war enttäuscht. Daran änderten auch die bunten Wimpel-Ketten nichts, die von der Villa hin zu den Bäumen gespannt worden waren.
Vor dem Eingang kam das Grüppchen zum Stehen. Über der Tür stand Haus Samsara. Gertis skeptischer Blick auf die Wimpel wurde von Marzena mit den Worten: „Das sind Gebetsfahnen“, kommentiert.
„Und wo sind die Mönche?“, fragte Gerti.
„Um diese Zeit im Kloster“, ertönte die wohlklingende Stimme einer Frau Mitte Dreißig, die ihnen von der Eingangstür aus zulächelte. „Herzlich Willkommen im Meditationszentrum Bodhi Vihara. Ich bin Gabi und kümmere mich um alles, was euer Wohl betrifft.“
Gabi war eine Naturgewalt. Anders konnte man sie nicht beschreiben. Das lag aber nicht nur an der üppigen Figur, sondern auch an der ungemeinen Präsenz, die von ihr ausging. Die lustigen Augen, umgeben von einem feinen Netz von Fältchen, strahlen in einem kräftigen Türkis und zwangen jeden Blick zuerst darauf. Das hellbraune, lockige Haar trug sie hochgesteckt, doch einigen Strähnen war es gelungen, sich der Bändigung zu widersetzen. Am beeindruckendsten aber war ihr Lächeln. Das war so herzlich und einnehmend, dass es die ersten enttäuschten Gedanken sofort vergessen machte. Sandra nannte ihre Namen und schon ließ Gabi erneut ihre angenehme Stimme ertönen. „Na, dann werde ich euch erst mal eure Zimmer zeigen. Den Papierkram können wir dann später erledigen.“
Von da an wurde es besser. Die Gästezimmer befanden sich nicht in der alten Villa. Dort hatten die Mönche, laut Gabi, früher mal gewohnt, bis ihr Klosterneubau fertig geworden war. Jetzt diente es dem Meditationszentrum als Verwaltungs- und Veranstaltungsgebäude.
„Dort sind Kursräume, ein Raum der Stille, also für Gebete und Zeremonien und mein kleines bescheidenes Reich der Verwaltung und das Archiv. Je nach Wetter kann alles, was wir anbieten, drin oder draußen durchführt werden.“
Gabi führte sie zu einem Flachbau hinter der Villa, eindeutig jüngeren Datums. Haus Amrita las Sandra über der Eingangstür.
„Was bedeuten die Namen der Häuser?“, wollte Sandra wissen.
„Ach das? Also Samsara nennt man den Kreislauf von Werden und Vergehen und Amrita heißt Lebenselixier. Fragt ruhig, wenn ihr was wissen wollt.“ Das war leichter gesagt als getan, denn Gabi war schon durch die Tür und die Mädels hatten Mühe, ihr zu folgen.
Haus Amrita beheimatete die Gästezimmer sowie den Speiseraum und die Küche. Alles war in sanften, hellen Farben gestaltet. In kleinen Sitzecken auf dem langen Flur standen Grünpflanzen, die offenbar eine gute Pflege bekamen. Hier sollte und konnte man sich wohlfühlen. Einzelzimmer gab es nur wenige und sie waren ausgebucht gewesen. Sie hatten sich daher für ein Dreibettzimmer entschieden. Die funktionale Einrichtung war ganz darauf ausgerichtet, dass die Zimmer nur zum Schlafen genutzt wurden. Aber immerhin verfügte jedes Zimmer über ein eigenes Bad. Was man vergeblich suchte, waren Telefon, Radio oder Fernseher. Mit dem Handyempfang verhielt es sich ähnlich, wie mit dem WLAN. Beides war zwar vorhanden, die Gäste wurden allerdings schon in der Buchungsbestätigung darum gebeten, die Nutzung während ihres Aufenthaltes einzuschränken oder ganz darauf zu verzichten. Sandra ließ sich trotzdem das WLAN-Passwort geben. Nur für Notfälle, wie sie es sich selbst gegenüber rechtfertigte. Gabi erinnerte sie daran, sich später noch anzumelden, dann zog sie sich zurück.
Nachdem sie ausgepackt und die Formalitäten erledigt hatten, verbrachte das Trio den Rest des Nachmittages damit, das Gelände zu erkunden. In ihrer Begrüßungsmappe lag ein kleiner Taschenplan, zur besseren Orientierung. Das Meditationszentrum lag auf einem Gelände, welches sich über mehrere 100 m2erstreckte. Die vordere Grenze bildeten die Villa und der Parkplatz, die hintere der Komplex des Klosters. Der Darß und der Strand begrenzten das Gelände seitlich auf natürliche Weise. Zäune gab es nicht. Bis auf die Villa machte alles einen sehr gepflegten Eindruck. Hinter dem Haus Amrita war eine Art Garten angelegt worden. Sanddorn- und Ginsterbüsche wuchsen entlang der Kieswege, dazwischen gab es ein paar Blumenrabatten. Auch im Gelände waren kleine heimelige Plätze angelegt worden, die zum Sitzen und Chillen einluden. Einer davon war von einer dichten Wand aus Bambus umgeben. Dahinter hörte man es leise plätschern und neugierig traten die drei Frauen durch den einzigen Zugang in der Bambushecke. Steinerne Bänke unter Bambusgrün standen um ein Wasserbecken herum. Aus der Mitte des Beckens erhob sich eine kleine Pyramide aus abgerundeten Steinen. Ein steter Wasserstrahl ergoss sich vom obersten Stein hinunter ins Becken und auf der Wasseroberfläche schwammen Seerosen in Weiß und Pink.
„Leute, das wird mein Lieblingsplatz“, murmelte Sandra. Marzena hauchte ganz typisch: „Mega schön“.
Im nächsten Moment zerstörte Gerti die Stimmung. „Ab morgen, Mädels. Jetzt will ich zum Strand.“
Sie liefen weiter über die Kieswege, bis zu einer großen Rasenfläche. Dafür, dass sie auf sandigem Boden wuchs, sah sie erstaunlich grün aus. Auf dem Grasfeld standen, in gebührendem Abstand zueinander, ein kleiner und ein großer Holz-Pavillon. Zusammengelegte Matten und bunte Kissen deuteten darauf hin, dass dort Meditationen, Gebetszeremonien und ähnliches abgehalten wurden. Der große Pavillon war über drei Seiten offen zugänglich. An der geschlossenen Seite war so etwas wie ein Altar aufgebaut. Dessen Mitte wurde von einer goldfarbenen Buddha-Statue dominiert. Glasschalen, manche leer, mit Blumen oder mit Sand befüllt, standen aufgereiht davor. An der Rückwand hing ein großes Rollbild mit hinduistischen Schriftzeichen und Ornamenten.
Gerti zog scharf die Luft ein. „Guckt mal da, auf dem Bild. Das sieht aus wie ein Hakenkreuz. Ich hab ja schon gehört, dass die Inder was für den Gröfaz übrig haben, aber dass die deshalb gleich das Hakenkreuz abkupfern müssen, finde ich ganz schön daneben.“
„Das ist kein Hakenkreuz“, erklärte Sandra. „Das Ornament nennt man eine Swastika. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Und wenn schon, dann haben es die Nazis von den Hinduisten abgekupfert. Die verwenden es nämlich schon viel länger. Es gibt übrigens ein paar Unterschiede. Bei den Hindus kann die Swastika links oder auch rechtsgewinkelt sein. Sie steht senkrecht und wird oft mit anderen Ornamenten kombiniert. Die Nazis stellten ihr Hakenkreuz nur rechtsgewinkelt und auf Kipp dar. Und im Gegensatz zum Hakenkreuz ist die Swastika ein Symbol des Glücks.“
„Das stimmt“, hörten sie plötzlich jemanden hinter sich. „Es wird nicht nur im Hinduismus als solches verwendet, sondern, wie man hier sieht, auch im Buddhismus.“
Erschrocken über die plötzliche Ansprache, drehten sich die Frauen um. Das leuchtend gelbrote Wickelgewand und der haarlose Kopf ließen keinen Zweifel daran, wer da hinter ihnen stand: ihr erster Mönch. Sein breites Lächeln hätte bei einem anderen Mann wahrscheinlich albern gewirkt. Nicht so bei ihm.
Sandra gewann als erste ihre Fassung zurück. Sie legte ihre Handflächen zusammen, deutete eine Verbeugung an und sagte: „Namaste.“ Das Lächeln des Mönchs wurde noch breiter. „Sie können auch einfach nur guten Tag sagen“, erwiderte der Mönch und ging weiter. Über einen Kiesweg schritt er auf ein seltsam anmutendes Gebilde zu, eine Art Mini-Tempel auf einem Sockel. Sandra wusste von einer Indienreise vor einigen Jahren, dass diese Mini-Tempel Stupa genannt wurden. Dies zu erklären, sah sie aber keinen Grund, kam auch nicht dazu.
„Hat eine von euch den kommen sehen?“, fragte Gerti, als der Mönch außer Hörweite war. „Mann hat der mich erschreckt.“ Marzena schüttelte den Kopf und Sandra sagte: „Was hätte er denn machen sollen? Von weitem rufen: Vorsicht, ich komme?“
„Er hätte sich aber auch nicht so anschleichen müssen.“
„Hat er bestimmt nicht mit Absicht gemacht. Er hat nur einen leisen Gang.“
„Wie kriegt man das auf diesen Kieswegen hin?“ Gertis Einwand ließ sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Die einzige Erklärung kam von Marzena und die war irgendwie typisch für sie. „Vielleicht ist er geschwebt?“ Sandra und Gerti tauschten vielsagende Blicke aus.
„Hast du schon was vom Kräuter- und Pilz-Buffet genascht?“ wollte Gerti wissen und Sandra kommentierte das Ganze mit: „Das ist doch kein fliegender Shaolin Mönch, Marzena.“
Um weiteren Diskussionen vorzubeugen, schlug Gerti vor, endlich mal den Strand aufzusuchen. Es war eine gute Entscheidung, wie sich sofort herausstellte. Der weite Horizont, das Rauschen der Wellen und die Seeluft wirkten beruhigend auf alle drei. Marzena ließ sich im Schneidersitz in den weichen Sand fallen. Die beiden anderen stürmten auf das Ufer zu, zogen die Schuhe aus und waren schon bis zu den Waden im Wasser. Ihr Lachen hallte über den Strand, während sie mit hochgekrempelten Hosenbeinen am Ufer entlangliefen und sich gegenseitig vollspritzten. Ihr Lachen wurde jedes Mal zum Kreischen, wenn eine Welle drohte, sie bis zu den Knien zu erwischen. Beim anschließenden Strandspaziergang, an dem sich Marzena aber nicht beteiligte, kamen sie zu dem Schluss, dass sie eine gute Wahl getroffen hatten.
Sie waren erst ein kleines Stück in Richtung Ahrenshoop gewandert, als Sandra plötzlich stehenblieb. Sie schaute einen schmalen Pfad entlang, der durch die Dünen führte.
„Schau mal. Das da scheint eine Ferienanlage zu sein.“
Unter den Bäumen lugten ein paar Holzhütten hervor. Vielleicht eine Bungalowsiedlung? Wenn ja, dann konnte es aber keine gute sein, sonst wäre um dies Zeit viel mehr dort losgewesen. Es war August, also Hochsaison. Eine Frau erschien plötzlich im Dünenaufgang, entdeckte die beiden Frauen und winkte ihnen zu. Als Gerti zurückwinkte, kam sie sofort auf sie zugelaufen.
„Ich weiß, was das ist“, raunte Gerti. „Das ist das andere Camp. Die Erwachten. Erinnerst du dich an das Schild?“
„Hm. Dann muss die Frau eine von diesen Erwachten sein. Die sieht aber eher so aus, als wäre sie gerade erst aufgestanden.“ Sandra bezog sich auf die äußere Erscheinung. Die Kleidung der jungen Frau erinnerte stark an die Hippiekultur der 60er Jahre und bestand aus einem orangefarbenen T-Shirt mit einem großen Sonnensymbol auf der Brust, einer bunten Weste und einem langen, erdfarbenen Zipfelrock. Auf dem Kopf trug sie Rastazöpfe zu einem gewaltigen Dutt hochgesteckt, der von einem Schal zusammengehalten wurde.
„Hallo! Schön, euch zu sehen“, rief sie schon von weitem. Je näher sie kam, umso mehr revidierte Sandra ihre Einschätzung, bezüglich des Alters der Frau. Sie sah mit ihren Falten im Gesicht doch nicht mehr ganz so jugendlich aus wie von weitem. Oder sie verbrachte zu viel Zeit in der Sonne.
„Ich bin Freya.“ Mit diesen Worten und mit einer Umarmung begrüßte die junge Frau Sandra und Gerti. Total überrumpelt von so viel ungewollter Nähe, vergaßen sie, ihre Namen zu nennen. Das schien Freya aber nichts auszumachen, denn sie plauderte munter weiter. „Schön, dass ihr da seid. Kommt mit, dann zeige ich euch alles. Ihr könnt auch die Anderen kennenlernen und einen Begrüßungstee mit uns trinken.“ Das klang, als hätte man sie erwartet, was aber nicht möglich sein konnte.
Sandra gelang es, als erste zu antworten. „Danke, aber wir kriegen unseren Begrüßungstee gleich im Kloster.“
Freya blieb stehen und musterte die beiden. „Oh verstehe. Ihr seid aus dem Meditationszentrum. Na dann kommt ihr eben ein anderes Mal auf ein Schwätzchen. Ihr seid immer willkommen und bringt eure Freundin auch mit.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte sie sich um und stapfte durch den Sand zurück. Bevor sie außer Hörweite kam, drehte sie sich noch mal um und rief: „Schöne Grüße an Joris!“
Wer zum Teufel ist Joris, fragte sich Sandra noch, als Gerti einen Kommentar abgab. „Erst der schwebende Mönch und jetzt die komische Hellseherin, die weiß, dass wir zu dritt hier sind. Egal, was die hier nehmen, ich will auch was davon.“ Sandra grinste ihre Freundin an und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Seit wann bist du denn so abergläubisch? Marzena ist doch von hier aus gut zu sehen. Sie hat einfach nur eins und zwei zusammengezählt.“
„Weiß auch nicht. Vielleicht habe ich einfach nur Schiss, dass wieder was Schlimmes passiert.“
„So ein Quatsch. Du bist hier, um dich zu entspannen, also fang mal langsam damit an.“
Es wurde Zeit, zurückzukehren. Gabi hatte ihnen gesagt, dass es für alle Neuankömmlinge um 16 Uhr eine Willkommenszeremonie in der Villa geben würde. Wer wollte, konnte anschließend noch eine Yoga-Stunde mitmachen. Nach dem gemeinsamen Abendessen würden sie dann Gelegenheit bekommen, die anderen Gäste kennenzulernen.
Längst hatte die Nacht ihr dunkles Tuch über Land und Wasser ausgebreitet. Hinter den Dünen war, bis auf das unentwegte Zirpen eines Heimchens, kein Laut mehr zu vernehmen. Die abendliche Kennenlernrunde war schon vor Stunden aufgelöst worden. Alle Gäste lagen in ihren Betten und ein letztes Licht in der Villa, das aus Gabis Büro kam, erlosch. Vom Strand herauf drang das ewige Rauschen der Wellen, ein stetiges auf und ab, beruhigend für jeden, der sich darauf einließ. Es störte die nächtliche Stille nicht, es umrahmte sie. Wenn nicht die zahllosen Wolken gewesen wären, die den Himmel verdeckten, die Nacht hätte nicht verträumter sein können.
Die Gestalt, die sich durch die Dunkelheit bewegte, war nur schemenhaft zu erkennen. Außenbeleuchtung gab es nur vor der Villa und um das Haus Amrita herum. Selbst, als die Gestalt den Weg durch die Dünen nahm, blieb sie ein Schatten. Spätestens jetzt war aber klar, wohin sie wollte. Zum Wasser, ein anderes Ziel lag nicht auf diesem Weg. Es war schon ein bisschen spät für das geplante Vorhaben, aber es würde schon gehen.
Kurz bevor der nächtliche Strandgänger sein Ziel erreichte, drang ein Geräusch durch die Nacht, dass weder Wind noch Wellen zuzuschreiben war. Es klang wie das Gemurmel mehrerer Personen. Gäste am Strand? Um diese Uhrzeit? Das sollte eigentlich nicht sein. Na gut, man selber war ja auch hier. Trotzdem kam es unpassend. Die Gestalt stoppte und lauschte. Um etwas zu verstehen, war sie zu weit weg. Bemüht, selbst keine Geräusche zu verursachen, schob sich der Strandgänger ein Stück weiter nach vorn. Wenn man schon nichts verstehen konnte, dann wenigstens was sehen. Vom hellen Sand hoben sich zwei Personen ab. Verdammt! Das war ein Problem. Eine hitzige Diskussion schien im Gange zu sein. Also warten? Vielleicht war der Streit bald beendet und die beiden trennten sich. Dann blieb immer noch Zeit genug.
Der Streit endete schneller als gedacht, doch von Trennung keine Spur. Für ein paar Sekunden wurden die Stimmen lauter, ehe sie ganz verstummten. Eine Person saß im Sand und die andere beugte sich über sie. Der nächtliche Beobachter wandte sich ab. Was nun? Warten, bis der Spuk vorbei war? Ganz blöde Idee, denn plötzlich wandte sich die stehende Person um und kam direkt auf den Dünenaufgang zu. Jetzt bestand die akute Gefahr, entdeckt zu werden. Das sollte nicht passieren. Der Strandgänger verzog sich hinter eine Düne, presste sich in den warmen Sand und hielt den Atem an. Nach endlosen Minuten wagte sich der Beobachter wieder aus seinem Versteck. Noch immer saß die zweite Person am Strand. Jetzt konnte man auch sehen, dass da ein kleines Feuer brannte. Das war ganz sicher nicht erlaubt. Es bedeutete aber auch, dass die sitzende Person noch eine Weile am Strand bleiben würde. Gut! Jetzt musste also eine Entscheidung gefällt werden. War das heute eine gute Gelegenheit? Ideal war sie nicht. Würde es morgen vielleicht eine bessere geben? Länger zu warten, machte jedenfalls keinen Sinn.
Eine halbe Stunde später war das Feuer am Erlöschen. Abgesehen von dem ewigwährenden Rauschen des Meeres und dem leisen Gesang des Windes, war kein Laut zu hören. Die Person saß immer noch im Sand, den Blick auf die flackernden, bläulichen Flammen gerichtet. Der Beobachter war verschwunden und die nächtliche Stille legte sich auch über das Bodhi Vihara.
Die Wärme der aufgehenden Sonne im Rücken, die Yogamatte unter dem Arm, so schritten die Neuankömmlinge durch den Sand. Einige waren mehr, andere weniger wach und bereit, die Sonne zu grüßen. Allen voran der gutgebaute Achtsamkeits-Coach, Joris, der an diesem Morgen die erste Meditation anleiten sollte.
Sandra musterte den blonden Adonis. Das also war Joris, den sie von Freya grüßen sollten. Sein sonniges Gemüt stand dem von Freya in nichts nach und mit seiner weiten Pluderhose und dem gelben Kasack ähnlichem Shirt passte er rein optisch gut zu ihr. Trotzdem entschied Sandra, keinen Gruß zu bestellen. Am Ende wollte Joris von dieser wilden Hilde gar nicht gegrüßt werden. Jetzt war sowieso nicht der richtige Moment für persönliche Nachrichten. Zu viele fremde Ohren ringsum. Und Joris hatte gerade genug damit zu tun, die Gruppe zusammenzuhalten. Alle paar Schritte drehte er sich um, als hätte er Angst, einer seiner Jünger könnte vom rechten Weg abkommen. Was nicht der Fall war, gar nicht sein konnte, denn es war gerade mal 5:30 Uhr. Um diese Uhrzeit stand den meisten nicht der Sinn danach, auf Abwegen zu wandeln. Den Gesichtern nach zu urteilen, hätten einige viel lieber den Rückweg in die Geborgenheit ihres Bettes eingeschlagen und das für mindestens noch eine Stunde.
„Könnt ihr mir noch mal sagen, warum wir das hier machen? Ich bin noch mega müde.“ Die mit leichtem polnischem Akzent ausgesprochene Frage kam natürlich von Marzena.
„Habsch vergessen!“, brummte Gerti und wie immer, wenn sie verärgert war, geriet sie dabei ins sächseln. „Isch dachte, das hier wird Erholung. Stattdessen gibt’s Frühsport. Is ja schlimmer als im Bootcamp.“
Sandra war eigentlich noch nicht wach genug, um zu streiten, aber das Gemaule ärgerte sie. „Ihr wart damit einverstanden, dass wir dieses Mal was anderes machen. Ihr wolltet doch ein Retreat mit Meditation und Achtsamkeit. Also hört auf zu meckern. Das hier ist ein anerkanntes, buddhistisches Meditationszentrum. Ich habe sogar darauf geachtet, dass euer heißgeliebtes Yoga mit im Paket ist, obwohl ich das nicht mag.“
Marzena schwieg betreten und gab Sandra Recht, wenn auch nur gedanklich. Gerti ließ ihren Unmut nicht so schnell fallen. „Och, Yoga wär jetzt schön. Das geht nämlich auch im Bett.“
„Yoga im Bett! Ich glaub, es hackt.“ Sandra schaute die Freundin vorwurfsvoll an. Im selben Moment drehte sich eine Frau vor ihnen um. Mit einem missbilligenden Blick zischte sie: „Sch! Seid doch mal still.“
Gerti konterte sofort. „Was’n? Kannste die Möwen nicht singen hören?“
Sandra kramte in ihrer Erinnerung nach dem Namen der Erbosten. Irgendwas mit F war es. F hatte insgesamt ein paar Pfund zu viel, um noch als schlank durchzugehen. Sandra war gespannt, wie sich ihre Schwungmasse beim Yoga auswirken würde. Sie selber schien, derlei Bedenken nicht zu haben. War ihr Name Frieda? Nein, der war es nicht. Würde aber passen. Dann fiel es ihr ein: Frauke. Gott, wer nannte sein Kind Frauke? Es war aber noch schlimmer gekommen. Frauke war Veganerin, womit für Sandra wieder mal bewiesen war, dass vegane Ernährung nicht automatisch eine schlanke Figur machte. Außerdem hatte sich Frauke noch als eine Anhängerin von Naturheilkunde geoutet. Was aber nicht hieß, dass sie die Kräfte der Natur zur Heilung von Krankheiten anwendete. Nein, sie wollte der Natur durch Gebete und Zeremonien helfen, sich selbst zu heilen. Diesen feinen Unterschied hatte sie gestern bei der abendlichen Kennlernrunde lang und breit jedem, der es hören wollte, erklärt. Leider auch jedem, der es nicht hören wollte. Sandra hatte Frauke sofort als eine Hardcore-Jüngerin eingetaktet. Und schon kam die zweite Ansage.
„Joris hat gesagt, wir sollen die Stille in uns aufnehmen und uns auf die Atmung konzentrieren.“
Das fing ja gut an. „Ich bin zu müde, um mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Ich brauch meine Konzentration für meine Augenlider.“ Gertis Erwiderung sollte Frauke eigentlich zum Verstummen bringen. Es klappte nicht.
„Wieso macht ihr den Retreat, wenn es euch nicht ernst ist? Ich finde das rücksichtslos gegenüber denen, die es ernst meinen damit.“
„Frauke“, schaltete sich Sandra ein, in der Hoffnung, den drohenden Streit abzuwenden. „Niemand nimmt das hier sooo ernst wie du. Sei froh, dass es so ist. Sonst wären deine Aussichten, Gruppenbeste zu werden, erheblich geringer.“ Eine ungesunde Röte überzog Fraukes Gesicht. Während sie nach Worten rang, legte Gerti tröstend den Arm um sie. „Ich hab gehört, im Kloster suchen sie noch Freiwillige, die für eine Woche ein Schweigegelübde ablegen. Wär das nicht was für dich, Kleene?“ Ihr sächsischer Dialekt ließ die Bemerkung sarkastischer klingen, als es beabsichtigt war.
Joris war das Geplänkel am Ende der Gruppe nicht entgangen. Er hatte alle an sich vorbeiziehen lassen und den Schluss der Unterhaltung mitbekommen. Als erfahrener Achtsamkeits-Coach erkannte er sofort: hier musste er schnell eingreifen. Zunächst ließ er seinen sanften Blick über die Streithähne hinweggleiten und erreichte damit, dass alle verstummten. Mit seinem allgegenwärtigen milden Lächeln und dem Sonnenlicht in seinen blonden Locken sah er aber auch wie eine menschgewordene göttliche Erscheinung aus. Sandra fand, so wie er strahlte, hätte er glatt als moderner Jesus durchgehen können, wenn dies hier ein christliches Meditationszentrum gewesen wäre.
„Frauke?“, sprach er mit gedämpfter Stimme und zog, während seine Augen beharrlich auf Sandra und Gerti ruhten, die noch immer beleidigte Veggie-Leberwurst zur Seite. „Möchtest du mir vielleicht bei der Auswahl der Musik helfen?“ Fraukes Gesichtsfarbe normalisierte sich zusehends und nach einem letzten abfälligen Blick zu Gerti, ließ sie sich nur zu gern von Joris zur Spitze des Zuges führen, sehr zur Freude von Gerti.
„Gott, die ging mir gestern schon auf den Senkel. Wenn wir dieses Mal wieder eine Leiche finden, ist es hoffentlich ihre.“ Gerti konnte wirklich manchmal sehr direkt werden. Sandra fand es witzig, Marzena nicht.
„Bist du verrückt? Hast du vergessen, dass ich nur mitgekommen bin, weil ihr mir versprochen habt, dass es dieses Mal keine Leichen gibt.“
Sandra wollte Marzena beruhigen. „Du kannst ganz beruhigt sein. Ich habe mich im Vorfeld erkundigt. Es hat schon seit Jahrzehnten keinen Mord mehr in Pütten Damm gegeben.“
„Dann wird’s ja langsam wieder Zeit“, meinte Gerti und machte damit Sandras Bemühungen, Marzena zu beruhigen, zu Nichte.
„Ihr seid wirklich mega anstrengend.“ Marzena verdoppelte ihr Schritttempo und ließ die Freundinnen hinter sich zurück. Sandras Augenrollen und Gertis Schulterzucken nahm sie schon nicht mehr wahr.
„Toll gemacht, Gerti.“ Sandra stieß der Freundin den Ellenbogen in die Seite. „Sie war gestern Abend schon kurz davor, wieder abzureisen, als sie den Wochenplan gelesen hat.“ Das stimmte. Gerti erinnerte sich gut daran, wie Marzena ihre Schmollmiene aufgesetzt und verkündete hatte, das hier wäre ja ein strafferes Programm, als in der Reha. Sie hatte sich erst wieder beruhigt, als Sandra ihr erklärte, dass es sich nur um Angebote handelte, nicht um Pflichtveranstaltungen.
Gerti lenkte ein. „Ich hab’s nicht so gemeint. Sie ist aber auch eine richtige Mimose geworden, oder? So war sie doch damals nicht.“
„Ne, damals war sie nur depressiv, so wie wir alle.“
„Du nicht. Du warst gestört. Wenn ich dran denke, in welche Situationen du uns gebracht hast, nur weil du unbedingt Detektivin spielen wolltest.“ Gerti war sonst nicht nachtragend, aber in diesem speziellen Fall war sie es wohl doch.
„Darf ich dich daran erinnern, dass ich inzwischen staatlich anerkannte Privatdetektivin bin? Vergiss das bitte nicht. Ich darf jetzt offiziell ermitteln.“
„Von mir aus ermittle zuhause, aber nicht hier. Apropos ermitteln: Wieso ist Grießler eigentlich nicht mitgekommen? Immerhin gehört er seit letztem Jahr auch zu unserer Gang.“ Gerti spielte auf die Bademantel-Gang an, zu deren Gründung es vor zwei Jahren während der Reha gekommen war. Nach dem Mordfall im letzten Jahr an der Teufelsmauer hatten die Freundinnen Sören Grießler auf Vorschlag von Sandra zum Ehrenmitglied ernannt. Seine Frau, Billy, hatte herzhaft darüber lachen können, Grießler nicht. Er, als Kriminalkommissar, war immer gegen ihre Einmischungen gewesen. Durch das zweifelhafte Vergnügen, Ehrenmitglied der Gang zu sein, sah sie in ihm wahrscheinlich einen Mitverschwörer. Und jetzt, mit ihrer Lizenz zum Nerven, würde sie ihn gar nicht mehr in Ruhe lassen. Das war aber nicht der Grund, den er ihr genannt hatte und den sie jetzt weitergab.
„Er hat keinen Urlaub gekriegt. Es sind zu viele Kollegen krank.“ Gertis Miene drückte echtes Bedauern aus. Ihrer Meinung nach hätte Grießler so eine Auszeit gutgetan.
Inzwischen hatte die Gruppe den Weg durch die Dünen zum Strand geschafft. Die Spitze des morgendlichen Zuges erreichte gerade das Ende des Zugangs, als plötzlich alles ins Stocken geriet.
„Was ist denn los?“, fragte Sandra. Sie war mit ihren 1,52 m zu klein, um über die Köpfe hinweg etwas erkennen zu können. Die große, schlanke Gerti hatte damit kein Problem. Den Strand einsehen, konnte sie aber auch nicht, weil sie zu weit hinten standen. Langsam schob sich die Gruppe zusammen und verteilte sich rechts und links neben Joris. Sein Lächeln war verschwunden und das verhieß nichts Gutes. Endlich sahen auch Sandra und Gerti, was ihm die sonnige Stimmung verhagelt hatte. Sie waren nicht die Einzigen am Strand. Jemand störte die erhoffte Einsamkeit. Gut hundert Meter links von ihnen hatte es sich jemand im Sand gemütlich gemacht. Angelehnt an ein merkwürdiges Holzgestänge saß eine Person im Lotossitz und meditierte.
Sandra fand nicht, dass einer mehr am Strand was ausmachte. Es war genug Platz für alle da. „Dann gehen wir eben auf die andere Seite“, murmelte sie vor sich hin.
Vielleicht hatte Joris sie gehört, jedenfalls drehte er sich zur Gruppe um und machte klar, dass er anderer Ansicht war. „Tut mir leid, aber ich muss das kurz klären. Wartet bitte hier.“
„Was ist denn das Problemchen?“, wollte Sandra nun wissen.
Joris seufzte, gab dann aber doch eine Erklärung ab. „Es ist leider nicht nur ein Problemchen. Dieser Strandabschnitt gehört zum Kloster und darf nur von uns genutzt werden. Der Durchgang ist gestattet, aber sonst nichts. Ich kenne die Person, die dort sitzt. Sie gehört zum benachbarten Camp. Sie weiß ganz genau, wo unser Strandabschnitt beginnt. Aber, was noch schlimmer ist, sie hat ein Feuer gemacht und das ist streng verboten.“
„Was für ein Camp ist das denn? Kann man nicht mit den Leuten reden?“ Es gab tatsächlich noch Leute, die nichts vom Camp wussten, wie die Frage aus der Gruppe bewies. Kopfschüttelnd wandte sich Joris dem Fragesteller zu. „Haben wir schon versucht. Ist aber eher schwierig, weil sie der Meinung sind, dass der Strand allen gehört und somit auch ihnen. Da ist wohl mal wieder ein klärendes Gespräch nötig.“
Während Joris noch seinen Kommentar abgab, wurde Sandra von Gerti angestupst. Sandra schaute zu Gerti auf und sah, wie die mit den Augen rollte und auf den Strand deutete. Unbemerkt von Joris hatte sich eine Person von der Gruppe entfernt und lief auf die Sitzende zu. Es war Frauke. Ausgerechnet die, dachte Sandra, wunderte sich aber nicht wirklich. War ja klar, dass Madam Übereifrig sich zu Joris’ Sprachrohr machen wollte. Da keiner weiter bisher was von Fraukes Eigeninitiative mitbekommen hatte, sah Sandra sich genötigt, Joris darauf aufmerksam zu machen.
„Joris, ich spüre negative Schwingungen über den Strand rollen. Solltest du das mit dem klärenden Gespräch nicht lieber selber machen?“
Wie ein geölter Blitz fuhr Joris herum. „Oh Shit! Das hat mir gerade noch gefehlt“, schimpfte er und rief laut über den Strand: „Frauke, warte!“ Die Situation entlockte einigen Männern ein Schmunzeln. Man hoffte auf ein bisschen Zickenkrieg.
Joris hatte Frauke fast eingeholt, als die sich vor Freya aufbaute. Gleich würde sie loslegen. Gerti flüsterte unauffällig: „Die wird bestimmt nicht zum Begrüßungstee eingeladen!“ Sandra nickte grinsend, hielt den Blick aber weiter auf die Szenerie gerichtet.
Frauke redete wie ein Wasserfall, Freya meditierte und Joris’ Blick ging sprachlos zwischen den Frauen hin und her. Langsam begann die Gruppe sich auf die Akteure hin zu bewegen, um ja das Finale nicht zu verpassen. Freya machte hingegen immer noch keine Anstalten, ihre Meditation zu beenden. Zu guter Letzt versuchte Joris, mit einer sanften Berührung ihrer Schulter, etwas nachzuhelfen. Was dann passierte, begann völlig lautlos und endete im Chaos. Freya kippte zur Seite, Joris machte einen Satz rückwärts und Frauke schrie.
Sandra begriff sofort, was da gerade passiert war. Gerti allerdings auch. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Sandra an und begann zu fluchen: „So ein Mist! Schon wieder eine Leiche! Sag mir, dass das gerade nicht passiert ist.“ Konnte Sandra natürlich nicht. Ihr blieb nur zu antworten: „Ich glaube doch. Kümmere dich lieber um Marzena, bevor die wieder abreisen will.“
Fraukes Schrei hatte natürlich auch den Rest der Gruppe aufgeschreckt und während einige ängstliche Blicke austauschten, waren zwei Männer sofort zu Joris hinübergelaufen. Einer brachte die völlig aufgelöst schluchzende Frauke zu den anderen, wo sie sofort von allen umringt und bemuttert wurde. Gut, dachte Sandra, die sind beschäftigt. Sie selber bewegte sich jetzt, so schnell es der feine Sand es zuließ, auf Joris und den zweiten Mann zu. Als Joris sie bemerkte, kam er mit abwehrender Geste auf sie zugelaufen. „Komm lieber nicht näher. Das ist kein schöner Anblick.“ Davon ließ sich Sandra natürlich nicht beirren.
„Ist sie tot?“ fragte sie Joris.
„Ich glaube ja“ kam es etwas zögerlich zurück.
„Hast du das nicht überprüft?“
„Ich fass doch keine Tote an!“ Verschwunden war das sonnige Gemüt. Plötzlich hörte Joris sich ziemlich hysterisch an. Das konnte Sandra nur recht sein, erleichterte es ihr doch, die Kontrolle zu übernehmen.
„Ist schon gut. Ich mach das.“ Nach dieser beruhigenden Bemerkung erlahmte Joris’ schwache Gegenwehr. Zur Vorsicht fügte sie schnell noch hinzu: „Ich darf das. Ich bin Privatdetektivin.“
„Echt?“, flüsterte Joris.
„Ja, echt. Ihr solltet den Bereich aber sofort verlassen. Das könnte ein Tatort sein.“ Sie drehte sich zur Gruppe um und rief Gerti zu: „Bring die Leute vom Strand runter. Einer muss Gabi Bescheid sagen. Sie soll den Notarzt und die Polizei anrufen.“ Man sah ihr förmlich an, wie sehr es ihr gefiel, das Kommando zu übernehmen.
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als auch schon Bewegung in die Gruppe kam. Nach Meditation stand sowieso keinem mehr der Sinn. Sandra wandte sich wieder dem leblosen Körper zu, als ihr noch was einfiel.
„Gerti!“, rief sie der Davonhastenden hinterher. „Ich brauche mein Handy, was zu schreiben und ein Lineal. Ach, und in meiner Kosmetiktasche sind Einweghandschuhe und Ziplock-Beutel. Kannst du mir das holen?“
Gerti war stehengeblieben. Man sah ihr an, dass ihr die Frage auf der Zunge lag, wieso Sandra Einweghandschuhe in das Retreat mitgebracht hatte. Doch dann winkte sie resignierend ab und lief, von Marzena gezogen, der Gruppe hinterher.
Nur Sandra und Joris waren noch am Strand. Während der Coach respektvoll Abstand hielt, beobachtete er mit Argusaugen, wie Sandra näher an Freyas Körper herantrat. Angst, irgendwelche Spuren im Sand zu zerstören, musste Sandra nicht mehr haben. Das hatten Frauke und Joris schon getan. Was den Körper betraf, da sah es schon etwas anders aus. Hier konnte sie tatsächlich wichtige Spuren verwischen, wenn sie nicht aufpasste.
Auf den ersten Blick war erkennbar, dass da eine Tote vor ihnen lag. Den Puls überprüfen wollte sie trotzdem und das nicht erst, wenn Gerti mit den Handschuhen zurück war. Sie wusste auch schon wie. Das ging nämlich nicht nur an Hals oder Handgelenk. Man konnte auch am Fuß den Puls ertasten, entweder auf dem Fußrücken oder hinter dem Innenknöchel. Beides versuchte sie, doch, wie nicht anders zu erwarten, ohne Erfolg.
„Du kennst dich wohl gut aus“, hörte sie Joris dicht hinter sich. Skepsis lag in seiner Stimme. Sie antwortete nicht. Sollte er doch denken, was er wollte. Hauptsache, er ließ sie machen.
Freya war durch die Berührung von Joris zur Seite gerutscht und halb auf dem Rücken zum Liegen gekommen. Die Haltung der Arme hatte sich durch den Sturz nicht verändert. Also musste die Totenstarre schon eingesetzt haben. Zumindest teilweise. Dass Freyas Körper in aufrecht sitzender Position gefunden wurde, lag wohl an der Rückenstütze aus Bambus, die hinter Freya im Sand steckte. Durch die leichte Neigung nach hinten, hatte der Körper weder nach hinten noch zur Seite kippen können. Sandra hätte gern überprüft, inwieweit die Totenstarre schon ausgeprägt war, doch dazu müsste sie Freya anfassen. Ohne Handschuhe eine blöde Idee. Hoffentlich kam Gerti bald zurück. Bis dahin galt: Nur angucken, nicht anfassen!
Was ließ sich denn noch mit bloßem Auge erkennen? Freya trug dieselben Sachen wie am Vortag, soweit Sandra sich erinnerte. Dann war da noch die Feuerstelle. Eine Kuhle von circa vierzig Zentimetern Durchmesser im Sand, ein paar Steine als Umrandung und die verbrannten Reste von Holz. Sie schnupperte in die Luft. Es roch nach Rauch und kalter Asche, nichts weiter. Als sie die Hand dicht über die Feuerstelle hielt, spürte sie keine Wärme mehr. Ein Zeichen dafür, dass es schon seit Stunden heruntergebrannt war. Hinzukam eine ständige frische Brise, die sicher ihren Teil zum schnellen Auskühlen beigetragen hatte.
Sandra schaute kurz auf und entdeckte Gerti in einiger Entfernung mit einem Beutel in der Hand. Nervös trat sie von einem Bein aufs andere, nicht bereit, auch nur einen Schritt näherzukommen. Also bat Sandra Joris, die Sachen zu holen. Gern tat er es nicht und auch erst, nachdem Sandra ein etwas energisches „Bitte“ hinterhergeschickt hatte.
Wieder ließ sie ihren Blick über Leiche und Fundort schweifen. Auf den ersten Blick waren weder Verletzungen noch Blut zu erkennen. Die Todesursache konnte etwas sein, was keine äußerlichen Spuren hinterließ und das schloss einen natürlichen Tod mit ein. Aber auch ein gewaltsamer Tod war möglich. Sie schaute sich Freyas Gesicht an. Nicht, weil sie mit einem schmerzverzerrten Ausdruck darin rechnete. So etwas gab es nicht, das wusste sie. Im Tod entspannte sich die gesamte Muskulatur, also auch die im Gesicht und damit verschwand jede Spur eines erlittenen Schmerzes. Sandra hatte es auf etwas anderes abgesehen. Zum einen die Augen. Sie waren eingetrübt, aber es gab keine petechiale Einblutungen, die auf einen Erstickungstod hindeuten könnten. In den Mundwinkeln entdeckte sie etwas Weißes. Das konnten Rückstände von irgendwas sein oder einfach nur eingetrockneter Speichel. Genau feststellen ließ sich das nur im Labor.
Was war noch ersichtlich? Die blasse Haut an allen nicht von Kleidung bedeckten Stellen zum Beispiel. Sie war ein weiteres Zeichen dafür, dass Freya schon vor einiger Zeit gestorben sein musste. Bestimmt würde man bei der Autopsie entsprechende Verfärbungen in den unteren Extremitäten feststellen. Alles Blut war in die untere Körperhälfte gesackt und hatte sich dort angesammelt.
Endlich war Joris zurück und reichte ihr den Matchbeutel, mit allem, was sie brauchte.
„Die Polizei ist alarmiert. Bist du sicher, dass du keinen Ärger kriegst, wenn du dich hier an der Leiche zu schaffen machst?“, fragte Joris, immer noch skeptisch.
Nein, war sie nicht. Oder, eigentlich doch? Sie würde mit ziemlicher Sicherheit Ärger kriegen. Es sei denn, sie fand ein paar Dinge heraus, die wichtig waren und die sie der Kripo schon mitteilen konnte. Sie zog die Handschuhe über und sofort fühlte sie sich etwas sicherer.
Vorsichtig umrundete sie in zwei bis drei Metern Entfernung den Fundort und machte unzählige Fotos. Joris deutete auf das Lineal in ihrer Hand. „Was willst du denn damit? Willst du die Entfernung bis zu unserem Zentrum ausmessen?“ Sandra schaute Joris an, als würde sie ernsthaft an seiner Intelligenz zweifeln. Dann dachte sie: So muss Grießler sich in der Reha gefühlt haben, als ich ihm mit meiner Fragerei auf den Geist gegangen bin. Rückwirkend betrachtet war sie wirklich eine Nervensäge gewesen, was Joris seinerseits zu einer machte.
„Das brauche ich nur, um Größenverhältnisse auf Fotos zu verdeutlichen, falls ich irgendwelche Spuren finde.“
Joris öffnete den Mund, höchstwahrscheinlich, um nachzufragen. Also beeilte Sandra sich, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Ich kann dir das jetzt nicht näher erklären.“
In diesem Moment packte Joris sie an der Schulter. Sein Spielraum war offensichtlich ausgereizt und das zeigte er, indem er sie wegziehen wollte. „Das geht jetzt aber wirklich zu weit.“ Er klang sehr vorwurfsvoll, fast ein bisschen ungehalten.
„Was soll das?“
„Ich denke, du solltest das der Polizei überlassen. Die finden das bestimmt nicht gut, wenn du hier alles durcheinanderbringst.“
„Also, ich bringe hier schon mal gar nichts durcheinander. Das habt ihr nämlich schon getan, Frauke und du. Hast du daran mal gedacht?“ Natürlich war das ein wenig unfair, aber Joris ging ihr mit seiner übertriebenen Vorsicht auf die Nerven, sein sofortiger Protest auch.
„Na hör mal! Wir konnten doch nicht ahnen, dass wir es mit einer Leiche zu tun haben.“
Seinen Einwand nahm Sandra nur noch am Rande wahr. Sie konzentrierte sich wieder auf die Leiche. Jetzt wollte sie versuchen, den Todeszeitpunkt genauer einzugrenzen, indem sie herausfand, wie weit die Totenstarre schon ausgeprägt war. Sie versuchte es zuerst an den Armen. Handgelenke, Ellenbogen und Schultergelenk ließen sich nicht mehr bewegen. Bei den Hüften hingegen spürte sie noch einen gewissen Bewegungsspielraum. Sechs bis acht Stunden brauchte es, bis die Totenstarre voll ausgebildet war, erinnerte sie sich. Nach vierundzwanzig Stunden begann die Starre, sich wieder zu lösen. Sandra schaute auf ihr Handy. Es war jetzt kurz nach 6 Uhr. Sie hatten Freya tags zuvor, also vor ungefähr vierzehn Stunden getroffen. Daraus und aus dem Zustand der Leiche ließ sich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Freya war in der Nacht zwischen 23 und 2 Uhr gestorben. Na, das war doch schon mal was. Nun wandte sie sich Joris zu. „Kanntest du Freya gut?“
Die Stirn in Falten gelegt, schaute Joris sie einige Sekunden an, bevor er antwortete. „Wie kommst du darauf, dass ich sie kannte? Und überhaupt! Woher kennst du ihren Namen? Du bist doch gestern erst hier angekommen.“
Keine Antwort war bekanntlich auch eine Antwort. Und eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten machte Sandra besonders hellhörig. Sie hakte nach.
„Ich bitte dich, Joris. Ihr lebt hier sozusagen Tür an Tür. Ihren Namen kenne ich, weil ich ihr gestern am Strand begegnet bin.“ Die Sache mit den Grüßen verschwieg sie. Gib nichts preis, wenn es nicht sein muss. Stell Fragen, beantworte aber keine. So in etwa hatte es in der Ausbildung geheißen, als es um Befragungstechniken ging.
„Das sind eure Nachbarn, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Natürlich kennst du sie. Fragt sich nur, wie gut. Wenn du mir nicht antworten willst, ist das in Ordnung. Die Kripo wird dich aber garantiert das Gleiche fragen. Also, denk schon mal darüber nach, was du denen antwortest.“
Anscheinend hatten ihre Worte Joris zu denken gegeben, denn er wurde zugänglicher. „Ja, ich kannte Freya natürlich“, gab er zu, schob aber sofort hinterher: „Das hat aber nichts hiermit zu tun.“
„Abwarten. Ob das so ist, wird die Kripo zu entscheiden haben. Du solltest ihnen gegenüber aber besser nichts verschweigen.“
Joris nickte und wollte schon weiterreden, als es am Strand plötzlich ungemütlich zu werden begann. Der Ruf einer einzelnen Person ertönte, zuerst noch etwas entfernt, doch mit jeder Sekunde lauter werdend. Als Sandra sich suchend umblickte, entdeckte sie Gerti am Dünenaufgang stehen und wild gestikulieren. Sie hatte jedoch nicht gerufen. Immer wieder deutete sie über den Strand und wurde dabei immer hektischer. Sandra folgte den Gesten der Freundin mit ihren Augen. Inzwischen war aus der einzelnen Stimme ein Chor geworden. Aus dem Wust von Stimmen hörte Sandra ganz deutlich einen Namen heraus. „Freya!“ Und dann wurde ihr auch klar, wer da rief. Freyas Freunde. Sie mussten nach ihr gesucht haben und gleich würden sie sie finden.
Erste Gestalten waren durch den Dünenaufgang des Camps auf den Strand gekommen. Ihre Anzahl vergrößerte sich zusehends und Joris begann, unruhig zu werden. Er und Sandra waren die einzigen Personen weit und breit. Ihre Silhouetten zeichneten sich deutlich vom Strand ab. Schneller als gedacht, wurden sie entdeckt und die Gruppe kam sofort auf sie zugelaufen. Irgendwann erkannten die Herbeieilenden auch, dass da eine weitere Person im Sand lag. Das konnte nur Freya sein. Wie auf Kommando wurde aus dem Suchtrupp ein Rettungstrupp, allen voran ein Mann mit wutverzerrtem Gesicht. Er war nicht größer als Joris, dafür um einiges kräftiger und er steuerte sofort auf den blonden Yoga-Lehrer zu.
„Was hast du mit ihr gemacht, du Wichser!“, brüllte er schon aus einiger Entfernung. Sandra sah sich hilfesuchend um, doch außer ihr und Joris war keiner zu sehen. Sogar Gerti war verschwunden. Der Wüterich näherte sich immer schneller und schrie: „Ich hab dir gesagt, lass die Finger von ihr, sonst mach ich dich alle!“
Nur noch wenige Meter trennten den Sturmtrupp vom Ort des Geschehens. Sandra sah die Katastrophe kommen und niemand war da, der ihr helfen konnte, es zu verhindern. Joris war regelrecht erstarrt. Von ihm war garantiert keine Hilfe zu erwarten. Alles was er tat, war, eine Abwehrhaltung einzunehmen, in dem er die Hände vor die Brust hob. Dann begann er doch tatsächlich, zur Seite auszuweichen und brachte den Fundort dadurch genau zwischen sich und seinen Angreifer.
„Was hast du mit ihr gemacht?“ Wieder und wieder brüllte der Mann, rasend vor Wut. Er wäre blindlings quer über den Fundort gestürmt, hätte Sandra sich ihm nicht in letzter Sekunde in den Weg gestellt. Was für ein Bild! Er, ein Hüne von bestimmt 1,80 m und einer Schwungmasse von mindestens 100 Kilo. Ihm gegenüber Sandra, ein Zwerg von 1,52 m, deren Spannweite selbst mit ausgebreiteten Armen nicht mal anderthalb Meter betrug. Sie wusste, damit bot sie dem wütenden Mann kein ernstzunehmendes Hindernis. Und dennoch stand sie da und brüllte nun ebenfalls: „Keinen Schritt weiter oder Sie machen sich strafbar! Die Polizei ist gleich da!“
Sandra war zwar leicht zu übersehen, überhören konnte man sie nicht. Lag es nun am Befehlston ihrer Stimme oder an der Entschlossenheit ihres Einschreitens, der Riese stoppte und das gerade noch rechtzeitig. Zwei Schritte weiter und er hätte Sandra über den Haufen gerannt und eventuelle Spuren ebenfalls. Damit es zu keinem Sinneswandel bei ihm kam, legte Sandra ihm vorsichtshalber eine Hand auf die Brust und übte leichten Druck aus. „Bleiben Sie, wo Sie sind. Das hier ist ein Tatort, den dürfen Sie nicht betreten.“
Zum Glück waren die anderen der Gruppe inzwischen auch herangekommen. Zwei Männer schienen den Ernst der Lage begriffen zu haben. Sie flankierten den Mann, hielten ihn fest und Sandra konnte sich entspannen.
„Was ist mit Freya passiert?“, fragte einer der Helfer. „Ist der Krankenwagen schon unterwegs?“
Eine Frau aus der Gruppe trat hervor. „Der Krankenwagen kommt nicht. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat: Das ist ein Tatort und die Polizei ist unterwegs.“
„Was soll das heißen, ein Krankenwagen kommt nicht?“
Sandra beschloss, dass es Zeit für eine klare Ansage wurde. „Ein Notarzt wurde angefordert, der wird aber nichts mehr machen können. Sie ist tot. Tut mir leid.“ Damit hatte sie leider nur Öl ins Feuer gegossen, denn nun erhob sich ein Durcheinander von Stimmen. Von allen Seiten hagelte es Fragen und Beschimpfungen.
„Woher wollen Sie denn wissen, ob sie wirklich tot ist?“
„Wer sind Sie überhaupt und was haben Sie hier zu schaffen?
„Vielleicht ist sie noch zu retten. Man muss es doch wenigstens versuchen.“
„Die haben ihr was angetan und nun wollen sie es vertuschen.“
„Wo bleibt denn die Polizei überhaupt. Wahrscheinlich habt ihr sie noch gar nicht gerufen.“
„Los! Einer muss ins Camp laufen und den Notruf wählen.“
In blinder Verzweiflung hatte Sandra sich dem Ansturm zu entziehen versucht, in dem sie sich langsam in Richtung Dünenaufgang bewegte. Dadurch brachte sie die erregte Menge wenigstens vom Tatort weg. Allerdings standen sich nun Joris und sein Widersacher wieder gegenüber. Joris sah keinen anderen Ausweg, als Sandra zu folgen und für einen Moment sah es aus, als ob das eine gute Idee gewesen war. Doch kaum befand er sich nicht mehr in der Nähe von Freyas Leiche und der Feuerstelle, als sich der Hüne schon mit einem wütenden Aufschrei auf ihn stürzte. Im Nu lag Joris am Boden und Freyas Freund kniete über ihm, die Hände fest um seinen Hals gekrallt. Alle Versuche, den Angreifer abzuschütteln blieben erfolglos. Als Joris die Luft wegblieb, krallten sich seine Finger um die Handgelenke seines Gegners. Zwei Männer versuchen, Freyas Freund von Joris wegzuziehen, doch seine Wut verlieh ihm ungeahnte Stärke und sein Klammergriff lockerte sich nicht. Es wurde langsam brenzlig für Joris. Sein Gesicht lief dunkelrot an und die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Sandra hörte eine Frau schreien und war erstaunt, als sie realisierte, dass sie selber das war. Sie wollte eingreifen, doch die Mauer aus Menschen war zu dicht. Dann ertönte ein weiterer Schrei, nicht von ihr, aber nicht weniger eindrucksvoll.
„Polizei! Sofort auseinander!“
Die Frau, die das gerufen hatte, kam mit langen Schritten über den Strand angelaufen. Sie trug keine Uniform, ihre beiden Begleiter, ein Mann und eine Frau, schon. Die Menge der Beobachter teilte sich und ohne weitere Ansprache, packte die Zivilbeamtin Joris’ Peiniger am Kragen und zog ihn mit einem unsanften Ruck nach hinten. Durch diese plötzliche Bewegung schnürte der Hemdausschnitt dem Angreifer für einen Moment den Hals ein, was ihm die Luft nahm und bestimmt auch weh tat. Immerhin lösten sich nun seine Hände von Joris. Der uniformierte Kollege griff nun ebenfalls zu und gemeinsam gelang es ihnen, den Kampf endgültig zu beenden. Keinen Augenblick zu früh, wie man aus Joris’ Krächzen und Husten heraushören konnte.
Der Zivilbeamtin genügte ein kurzer Rundblick, um zu erfassen, was hier passiert war. Mit undurchdringlicher Miene betrachtete sie die Kampfhähne, deutete dann auf den Tatort und fragte: „Eine Leiche war Ihnen beiden wohl noch nicht genug, was?“
„Er hat mich gewürgt. Ich hab nichts getan“, gab Joris mühsam von sich, während er demonstrativ seinen Hals massierte. Das konnte und wollte der Angreifer nicht so stehen lassen. „Von wegen, nichts getan. Er hat Freya getötet und dann wollten er und die Frau die Spuren verwischen.“
Normalerweise würde Sandra das Ganze als Kindergarten abtun, aber das ging eindeutig gegen sie und die Zivilbeamtin schien die Anschuldigungen ernst nehmen zu wollen. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Sandra, wobei ihr fordernder Blick selbige zum Reden animieren sollte. In früheren Zeiten hätte Sandra spätestens jetzt angefangen, sich zu verteidigen. Heute wusste sie es besser und schwieg. Die Frau quittierte ihr Schweigen mit einem Lächeln, aus dem sie nicht ganz schlau wurde. War es ein offenes oder ein zweideutiges?
Nach kurzer Beratung der drei Polizeibeamten kam endlich Bewegung in die Sache. Die Polizistin führte die Camp-Bewohner zur Seite und begann, deren Personalien aufzunehmen. Zunächst mal nur nach Ansage. Ausweise hatte natürlich keiner dabei. Der Kollege blieb mit der Zivilbeamtin bei den vermeintlichen Hauptakteuren.
Jetzt stellte sie sich vor. „Ich bin Kriminalkommissarin Ella Jansen vom LKA Rostock.“ Nun wussten sie wenigstens, mit wem sie es zu tun hatten. Damit war Jansens Vorrat an Höflichkeiten aber auch schon erschöpft. „Jetzt sind Sie dran“, forderte sie die Hauptakteure auf. „Einer nach dem anderen und schön ruhig. Für den Anfang reichen mir Name, Wohnort und der Grund für Ihre Anwesenheit.“
Jansen nickte Joris auffordernd zu. Sein vollständiger Name war Joris Hellerwein, er stammte aus Coburg in Bayern und gab seine Tätigkeit als Achtsamkeitscoach und Meditations- und Yoga-Lehrer im Bodhi Vihara an. Das alles war für Sandra nicht neu. Sie war gespannt auf den anderen Kerl, den Hippie-Kleiderschrank. Er gab an, Arvid Thomason zu heißen, aus Lauscha am Rennweg zu stammen und in der Kommune zu leben. Was er dort machte, ob er einem Job nachging oder ohne Arbeit war, erwähnte er nicht. Überhaupt war seine Ansprache bei weitem die Kürzeste, aber trotzdem, für Sandra, die Interessanteste. Sein Name klang nicht besonders thüringisch, eher nordisch. War das überhaupt sein richtiger Name? Aber Freya war ja auch nicht gerade ein in Deutschland geläufiger Name. Vielleicht traten die beiden als Straßenkünstler auf und das waren ihre Künstlernamen. Und er hatte das Camp als Kommune bezeichnet. Das, und die fehlende Erwähnung einer Beschäftigung, hatten Jansen jedenfalls nicht überrascht. Über die Bedeutung dessen nachzudenken, dazu kam Sandra nicht, denn jetzt war sie an der Reihe.
„Sandra Büchner, Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Ich bin Gast im Bodhi Vihara.“ Sie ließ ebenfalls alle Ausschmückungen weg und verschwieg auch, genau wie Arvid, ihren aktuellen Jobstatus. Jansen hatte nicht explizit nach dem Beruf gefragt, sondern nur nach dem Grund des Hierseins. Den hatte sie angegeben und das sollte für den Anfang reichen, dachte sie. Leider machte ihr Joris mit einer Zwischenbemerkung einen Strich durch die Rechnung. „Sie hat als einzige die Leiche angefasst. Angeblich ist sie Privatdetektivin.“
Danke, Joris, du alte Petze, formulierte sie in Gedanken, während sie bemerkte, wie bei Jansen die Augenbrauen nach oben gingen.
„Eine Kollegin also. Was für ein Glücksfall. Haben Sie den Täter schon ausmachen können?“
Wieder konnte Sandra nicht erkennen, ob Jansen das ironisch meinte. Bei ihrem Kollegen war sie sich allerdings sicher. Sein Grinsen sprach Bände. Jetzt konnte sie nicht anders. „Ich habe natürlich eine Lizenz als anerkannte Privatdetektivin.“
„Natürlich haben Sie die. Darf ich mal sehen?“
„Die nehme ich doch nicht mit an den Strand. Sie liegt im Zimmer.“
„Dann schlage ich vor, Sie gehen sie ganz schnell holen. Polizeiobermeister Büsing wird Sie begleiten.“
Sehr zu ihrem Leidwesen musste Sandra einsehen, dass sie keine Wahl hatte. Am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie nun den Rest der Befragung nicht mitbekommen würde. Genau das hatte Jansen beabsichtigt. Ihre nächste Bemerkung klang auch nicht optimistischer. „Keine Sorge, wir beide werden uns nachher noch ausführlich unterhalten. So ein richtiges Gespräch unter Kolleginnen.“ Dieses Mal kam die Ironie deutlich rüber.
Sandra trottete in Begleitung von POM Büsing vom Strand. Ihnen kam ein Mann mit einer schwarzen Tasche entgegen, wahrscheinlich der Notarzt. Nun würde sie die Leichenschau auch verpassen. Ihre Enttäuschung wurde noch größer, als sie sah, was sich inzwischen auf dem Gelände von Bodhi Vihara tat. Offensichtlich hatte sich das Geschehen schon herumgesprochen. Gäste, Mitarbeiter sowie Helfer standen in kleinen Gruppen herum und redeten aufgeregt durcheinander. Gerade fuhren ein weiterer Streifenwagen und das Fahrzeug der Spurensicherung auf den Parkplatz. Das alles interessierte Sandra natürlich brennend, doch mit Büsing im Schlepptau, wurde nichts aus einer Beteiligung an den Gesprächen. Im Vorbeigehen hörte sie allerdings, wie Gerti zu Marzena sagte: „So schnell hat Sandra die Kripo noch nie gegen sich aufgebracht. Das ist ein neuer Rekord.“ Und noch jemand hatte Gertis Kommentar gehört: Frauke. War klar, dass die sofort darauf ansprang. „Sie hat schon mit der Polizei zu tun gehabt? Also das wundert mich gar nicht.“
Super hingekriegt, Gerti. Diesen Gedanken teilte Sandra der Freundin durch einen vorwurfsvollen Blick mit. Von Büsing vorwärtsgedrängt, war sie kurz danach außer Hörweite. Was definitiv gut war für Gerti, die gerade mit der Schilderung ihrer abenteuerlichen Mordermittlungen in der Reha-Klinik und in Quedlinburg die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Als Sandra und der Polizist auf dem Rückweg wieder an der Stelle vorbeikamen, hatte sich die ganze Meute schon wieder zerstreut. Aus dem mulmigen Gefühl in Sandras Magen ergab sich auch, wohin. Es war Frühstückszeit und darauf würde sie nun auch verzichten müssen. Ein wenig sehnsuchtsvoll schaute sie zurück zum Haus Amrita, hin und hergerissen zwischen Hunger und Neugier. Büsing bemerkte es, blieb stehen und fragte: „Wollen Sie erst mal zum Frühstück gehen? Ich kann der Kommissarin ja die Lizenz bringen und ihr Bescheid geben, wo sie Sie findet.“ Auf gar keinen Fall wollte sie das. Das Frühstück konnte sie verschmerzen, nur um den Kaffee tat es ihr leid. Sie schüttelte entschlossen den Kopf und lief weiter, direkt in Gabis Arme.
„Liebes!“, flötete sie und drückte Sandra heftig an ihre Brust. „Ich habe gehört, was dir passiert ist. Eine Leiche zu finden und ausgerechnet bei der Morgenmeditation. Das ist ja so furchtbar. Du musst dich schrecklich fühlen.“
„Nicht so schrecklich, wie Freya. Und es war Frauke, die sie gefunden hat“, konnte Sandra nur zurückgeben, während sie sich aus Gabis Umarmung befreite. Gabis Fürsorglichkeit erschien ihr übertrieben. Sie war schließlich nicht das Opfer.
„Natürlich, Liebes. Ich gehe gleich mal zu ihr. Wenn du irgendwas brauchst, komm zu mir, okay?“
Und schon war Gabi weitergelaufen, in Richtung Frühstücksraum. Wahrscheinlich nicht nur, um die Trostspenderin zu sein. Ganz sicher wollte sie vom Tratsch und vom Buffet nichts verpassen. Schon im nächsten Moment tat ihr dieser hässliche Gedanke leid. Sie schob es auf den Hunger und das fehlende Koffein. Was sie Gabi gerade unterstellt hatte, war nicht recht. Das hatte sie nicht verdient. Außerdem war sie bestimmt eine gute Informationsquelle, nicht nur, was das Bodhi Vihara betraf. Wo sie sie doch gerade so freundlich eingeladen hatte, fand sich bestimmt schon bald ein Grund für einen Besuch in ihrem Büro. Mit diesem Gedanken war Sandras Hochstimmung wiederhergestellt.
Von Jansens Stimmung konnte man das nicht behaupten. Die schwankte nach Joris’ Aussage zwischen Ärgernis, Fassungslosigkeit und Belustigung. Als Büsing mit der Privatdetektivin wieder im Dünenaufgang auftauchte, hatte sich die Fassungslosigkeit schon wieder soweit gelegt, dass sie sich voll und ganz darauf konzentrieren konnte, ihren Drang zu lachen, zu unterdrücken und sich ganz dem Ärger hinzugeben. Hoffentlich klappte das, denn eigentlich fand sie die Situation so irre, dass man eher darüber lachen konnte. Bis auf die Tatsache, dass ein Mord geschehen war.
Jansen schaute sich um. Die SpuSi war noch bei den Vorbereitungen. Die zusätzlich herbeigerufenen Polizisten sperrten einen großen Bereich des Strandes ab oder waren damit beschäftigt, die Personalien der Zeugen aufzunehmen und Büsings Kollegin befragte gerade diesen Arvid. Jansen entschied, mit der Frau weiterzumachen.
Als erstes schickte sie Joris weg. Dann nahm sie die Lizenz entgegen und tat, als würde sie sie ausgiebig studieren. Was nicht der Fall war. Sie wusste, wie so ein Ding aussehen musste und die hier war echt. In Wirklichkeit suchte sie nach dem richtigen Einstieg. Es ging um die Entscheidung, wie sie mit dieser Sandra Büchner verfahren würde und das wiederum hing vom Ergebnis ihres Gesprächs ab.
Jansen hob den Blick und schaute Sandra eindringlich an. Ohne etwas zu sagen, reichte sie ihr das Dokument zurück. Das Schweigen hielt an. Sandra wartete auf eine Frage und Jansen wollte sehen, ob ihr Gegenüber auch ohne Frage reden würde. Ein kleiner Test, den sie nur deshalb beide bestanden, weil er von der Polizistin unterbrochen wurde. Jansen ließ Sandra einfach stehen, ging mit der Polizistin ein Stück zur Seite und unterhielt sich mit ihr. Sandra nahm an, dass Jansen sich über Arvids Aussage informieren ließ. Das geschah so leise, dass sie nichts davon hören konnte. Lediglich das, was Jansen darauf erwiderte, bekam sie mit.