Mörderhotel - Wolfgang Hohlbein - E-Book
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Mörderhotel E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

230 Menschen gehen auf sein Konto ...

Herman Webster Mudgett, der unglaublichste Serienmörder aller Zeiten. In Chicago errichtet er eigens ein Hotel, um seine Taten zu begehen. Ein Hotel, in dem es Falltüren, verborgene Räume, Geheimgänge, einen Foltertisch, ein Säurebad und eine Gaskammer gibt. Seine Opfer erleichtert er um ihr Geld und verkauft ihre Leichen an Mediziner. Niemand weiß, was im Kopf dieses Menschen vor sich geht. Bis die Polizei ihm auf die Spur kommt und eine gnadenlose Jagd beginnt ...

Der Roman von Bestsellerautor Wolfgang Hohlbein erzählt die unglaubliche, aber wahre Geschichte um einen der ersten Serienkiller Amerikas

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Inhalt

CoverTitelÜber das BuchÜber den AutorImpressumChicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Gilmanton, New Hampshire, 1865Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Gilmanton, New Hampshire, 1865Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Ann Arbor, Michigan, 1883Chicago, Illinois, 1893Ann Arbor, Michigan, 1883Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Ann Arbor, Michigan, 1883Chicago, Illinois, 1893Ann Arbor, Michigan, 1883Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Ann Arbor, Michigan, 1883Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Newark, New York, 1887Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Whitechapel, London, 1888Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Whitechapel, London, 1888Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Whitechapel, London, 1888Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1890Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1891Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1892Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1892Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1892Chicago, Illinois, 1893Chicago, Illinois, 1893Ann Arbor, Michigan, 1883Chicago, Illinois, 1893Leseprobe - Das Friedmann Haus

Über das Buch

230 Menschen gehen auf sein Konto: Herman Webster Mudgett, den unglaublichsten Serienmörder aller Zeiten. In Chicago errichtet er eigens ein Hotel, um seine Taten zu begehen. Ein Hotel, in dem es Falltüren, verborgene Räume, Geheimgänge, einen Foltertisch, ein Säurebad und eine Gaskammer gibt. Seine Opfer erleichtert er um ihr Geld und verkauft ihre Leichen an Mediziner. Niemand weiß, was im Kopf dieses Menschen vor sich geht. Bis die Polizei ihm auf die Spur kommt und eine gnadenlose Jagd beginnt …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein ist der erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Büchern weltweit.

WOLFGANG

HOHLBEIN

MÖRDERHOTEL

ODER

DER GANZ UND GARUNGLAUBLICHE FALLDES HERMANWEBSTER MUDGETT

THRILLER

BASTEI ENTERTAINMENT

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Jan F. Wielpütz, Bergisch Gladbach

Umschlaggestaltung: Massimo Peter

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock/Eky Studio/Maren Becker/gyn9037

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-1274-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

 

Dieses Buch enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Das Friedmann-Haus« von Peter Martin.

 

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

 

Textredaktion: Nadine Buranaseda

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock | Anna Bogush

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-2680-2

CHICAGO, ILLINOIS, 1893

Am Ende ist es doch auch nur Fleisch«, sagte der große Mann mit dem sorgsam gezwirbelten Schnurrbart. Dann schwang er das Schlachterbeil mit solcher Vehemenz, dass es mit einem Zischen durch die Luft fuhr, ohne spürbaren Widerstand durch Haut, Fleisch und Knochen schnitt und sich tief ins schwarze Holz der Tischplatte grub. Der kleine Finger, die Hälfte des Ring- und die Kuppe des Mittelfingers flogen in unterschiedliche Richtungen davon. Der Schlächter zog sein Werkzeug mit einem Ruck wieder zurück, und ein dünner, aber kräftiger Strahl hellen Blutes schoss aus den Stümpfen wie aus einem zerrissenen Druckschlauch. Er traf die Lederschürze des Bärtigen und zerspritzte zu Hunderten winziger Tröpfchen. Einige davon besudelten die Wange des Mannes, woraufhin dieser zurückwich und sich angeekelt mit beiden Händen durch das Gesicht fuhr. Erschrocken wie er war, vergaß er in seiner Hast das Schlachterbeil, und die Schneide, so scharf wie ein Barbiermesser, kappte nicht nur die Spitze seines Schnurrbartes, sondern hinterließ auch noch eine heftig blutende Wunde in seiner Wange.

Sein ebenso schmerzerfülltes wie zorniges Zischen ging im gellenden Schrei des Mannes unter, der auf dem Tisch festgeschnallt war. Als hätte der grausame Schmerz sein Gehirn mit einiger Verspätung erreicht oder er sich im ersten Moment nicht eingestanden, dass ausgerechnet ihm etwas so Unvorstellbares widerfahren sollte, reagierte er mit Verzögerung, dafür aber umso heftiger. Er stieß einen spitzen Schrei aus und bäumte sich so vehement auf, dass die schweren Ledermanschetten ächzten, mit denen er gebunden war.

Es war ein sehr kräftiger Mann, ein gutes Stück über sechs Fuß groß und um die zweihundert Pfund schwer. Obwohl er nackt war und sich offenkundig mehr gehen ließ, als gut sein konnte, verliehen ihm Entsetzen und körperliche Qual ungeheure Kraft. Aber seine Fesseln waren so überdimensioniert, dass sie selbst dem Wüten eines noch viel Stärkeren standgehalten hätten. Der Mann, der sie angebracht hatte, wusste nur zu gut, wozu Todesangst und Agonie einen Menschen befähigen konnten.

Der Bärtige fuhr sich abermals mit dem Handrücken durch das Gesicht, fluchte ungehemmt, als er den frischen Schnitt berührte, und riss das Beil in die Höhe. Pure Mordlust mischte sich in den Schmerz in seinen Augen.

»Peizel!« Die Stimme war nicht einmal besonders laut, aber so scharf wie das Knallen einer Peitsche.

Das Schlachterbeil, das diesmal auf das Gesicht des Mannes zielte, erstarrte mitten in der Bewegung. Für einen kurzen Moment erschien noch etwas anderes in den Augen des Schlächters, etwas, das schlimmer war als pure Mordlust und sich nicht nur auf sein Opfer richtete, sondern dem Mann auf der anderen Seite der Folterbank galt.

»Gedulden Sie sich, Sie Narr!«, sagte dieser ungerührt. Er war ein gutes Stück kleiner als Peizel, schmächtig und hatte ein ebenso gut aussehendes wie sanftes Gesicht. Er zeigte sich jedoch weder von Peizels Größe noch von seiner brutalen Ausstrahlung im Geringsten beeindruckt. Seine Stimme wurde ganz im Gegenteil sogar noch schärfer.

»Und nehmen Sie das Beil herunter. Sie machen sich lächerlich!«

Peizel – dessen Name nicht wirklich so lautete, für jedermann in diesem Land aber derart unaussprechlich war, dass er sich niemals gegen diese Verballhornung gewehrt hatte – funkelte sein Gegenüber noch eine Sekunde lang auf dieselbe bedrohliche Weise an, doch dann erlosch das kalte Feuer in seinen Augen. Er ließ das Beil sinken, und Trotz löste die Mordlust auf seinem Gesicht ab.

»Bringen Sie ihn zum Schweigen, Sie Dummkopf!«, sagte der kleinere Mann, wohl wissend, dass seine Worte hoffnungslos im Kreischen des gepeinigten Opfers untergehen mussten. »Aber geben Sie acht, dass Sie ihn nicht noch mehr verletzen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er auf dem Absatz herum, ging hinaus und kam mit einem abgewetzten braunen Arztkoffer in der Hand zurück. Der gequälte Mann auf dem Tisch wehrte sich noch immer, doch selbst ohne die Fesseln hätte er wohl keine Chance gegen Peizel gehabt, der zwar nicht einmal außergewöhnlich muskulös wirkte, aber von jener drahtig-zähen Art war, hinter der sich oft mehr Kraft verbirgt als hinter reiner Muskelmasse. Peizel drückte ihn mit nur einer Hand und schon fast verächtlicher Beiläufigkeit auf den Tisch. Mit der anderen Hand hielt er ihm Mund und Nase zu, so dass aus seinem Schreien nur noch ein gequältes Wimmern wurde.

»Passen Sie auf, dass er noch Luft bekommt«, sagte der Mann mit dem Arztkoffer. »Tot nutzt uns Mr Porter nämlich wenig. Und Sie wollen das alles hier doch nicht umsonst auf sich genommen haben, oder?«

Peizel sah ganz so aus, als wäre es ihm schon Lohn genug, sein Opfer qualvoll unter seinen Händen ersticken zu sehen, doch dann zog er – widerwillig – die Hand zurück, senkte sie jedoch auch sofort wieder auf Mund und Nase des gefesselten Mannes, als er schreien wollte. Nach ein paar Sekunden hob er die Hand wieder, und sein Opfer hatte verstanden.

Porter biss die Zähne so fest zusammen, dass die Sehnen in seinem Hals wie dünne Stricke unter der Haut sichtbar wurden. Statt eines Schreies kam nur ein gequältes Schluchzen über seine Lippen.

»Ich hatte gehofft, dass Sie vernünftig sind, Mr Porter«, sagte der Mann. In seiner ganzen Art wirkte er gepflegter und irgendwie zivilisierter als Peizel – eine Beobachtung, die sich einem in Gegenwart des schlaksigen Riesen mit seinen groben Zügen und den schwieligen Händen geradezu aufdrängte, vor allem jetzt, mit Mordlust in den Augen und blutverschmiertem Gesicht.

»Ich bin wirklich froh, dass wir auf drastischere Maßnahmen verzichten können. Mein Assistent neigt manchmal zu etwas groben Umgangsformen … aber das haben Sie ja bereits bemerkt, nicht wahr?« Der Mann schüttelte betrübt den Kopf. »Ich würde es wirklich ungern ihm überlassen, Sie zum Schweigen zu bringen.«

»Damit … kommen Sie nicht … durch«, stieß Porter zwischen zusammengebissenen Zähnen und mit einer Stimme hervor, die vor Angst und Schmerz beinahe brach. »Sie werden den Rest Ihres Lebens … im Gefängnis verbringen, das schwöre ich Ihnen, Mudgett!«

»Halten Sie das für klug, Mr Porter?«, fragte Mudgett und schüttelte betrübt den Kopf. Eine Sekunde lang sah er auf die verstümmelte Hand des Mannes hinab. Er hatte sie inzwischen zur Faust geballt, so dass die Wunden nicht mehr ganz so heftig bluteten. Trotzdem hatte sich eine große rote Lache unter seinen Fingern gebildet.

»Gestatten Sie mir, mich um Ihre Hand zu kümmern, Mr Porter? Ich möchte nicht, dass Sie uns am Ende noch verbluten. Das ist zwar eher unwahrscheinlich, aber ich will doch lieber sichergehen. Und mich bei dieser Gelegenheit natürlich in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Wie gesagt: Mr Peizel ist manchmal ein wenig übereifrig.«

Ohne die Antwort abzuwarten, klappte er den Arztkoffer auf und förderte eine Anzahl altmodisch aussehender chirurgischer Instrumente sowie eine Rolle Verbandsstoff hervor. Mit erstaunlicher Effizienz brachte er die Blutung zum Stillstand und verband die Fingerstümpfe.

»Bitte verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten. Es ist lange her, dass ich als Arzt gearbeitet habe, und meine damaligen Patienten waren … wie soll ich sagen? … ein wenig duldsamer.«

»Sie verdammter … Mistkerl«, stöhnte Porter. »Das werden Sie bereuen!« Sein Gesicht war bleich und mit Schweiß bedeckt. Rosa gefärbte Speichelbläschen erschienen in seinen Mundwinkeln und platzten mit kleinen, schmatzenden Lauten. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem Schmerz auf die Zunge gebissen.

»Ich frage Sie gerne noch einmal«, sagte Mudgett lächelnd. »Halten Sie es wirklich für klug, so zu reagieren? Immerhin haben wir Sie gewaltsam hier heruntergeschafft, Sie gefesselt und Ihnen sehr wehgetan. Und auch wenn ich Ihnen versichere, dass es nicht in meiner Absicht lag, Ihnen bleibenden Schaden zuzufügen oder Sie gar zu verstümmeln, so ist es dennoch nicht besonders umsichtig, jemandem mit Repressalien zu drohen, der schon bewiesen hat, wozu er bereit ist, wenn er muss.«

Porter presste nur die Lippen aufeinander, und sein Kopf sank auf den Tisch zurück. Mudgett konnte nicht sagen, ob er diese Drohung wirklich begriffen hatte. Es spielte aber auch keine Rolle. Nicht für Porter, für den nichts mehr eine Rolle spielte.

»Ich dachte mir, dass Sie vernünftig sind«, sagte Mudgett fröhlich, bekam keine Antwort und hatte auch nicht damit gerechnet. Pedantisch kontrollierte er noch einmal den Verband an Porters Hand, klappte seinen Arztkoffer zu und ging um den Tisch herum. Er sagte nichts, sondern stellte die Tasche neben Porters anderer Schulter ab und wartete, bis der Mann den Kopf drehte und wieder zu ihm hochsah.

»Was wollen Sie, Mudgett?«, fragte er. »Geld? Oder bereitet es Ihnen einfach nur Vergnügen, anständige Menschen zu quälen und zu erniedrigen?«

»Geld«, bekannte Mudgett rundheraus. »Aber keine Angst, nicht so viel, dass es Sie ruinieren würde.«

Porter starrte ihn weiter hasserfüllt an, doch Mudgett entging keineswegs, wie rasch er sich bereits wieder erholte. Für einen mehr als nur leicht übergewichtigen Mann, der die fünfzig hinter sich gelassen hatte und sowohl dem Sherry als auch dem Zigarrenrauchen weit mehr zugetan war, als für irgendjemanden gut sein konnte, war er von erstaunlich robuster Konstitution, dachte Mudgett. Ein Gefühl wohliger Vorfreude durchströmte ihn. Er würde lange durchhalten. Sehr lange.

Mudgett ließ das Schweigen andauern, bis es auch ganz sicher die Grenze zwischen unangenehm und drohend überschritten hatte, und griff dann wieder nach dem Arztkoffer. Nicht ohne ein wohltuendes Prickeln, das ihm wie Ameisen den Rücken herunterlief, registrierte er, wie Porters Blick jeder seiner Bewegungen aufmerksam folgte, als er die Tasche erneut öffnete. Diesmal zog er jedoch kein weiteres Folterinstrument heraus, sondern einen schmalen Briefumschlag, dem er ein einzelnes Blatt entnahm.

»Das hier ist ein Wechsel über fünftausend Dollar, gezogen auf eine kleine Importfirma, die einer Person meines Vertrauens gehört, und ist datiert auf den Zehnten des kommenden Monats. Einen Tag, an dem Sie längst wieder zuhause und im Kreise Ihrer Familie sein werden, wenn Sie vernünftig sind und diesen Wechsel unterzeichnen.«

»Warum sollte ich das wohl tun?«, schnaubte Porter. »Sie bringen mich doch sowieso um, sobald ich dieses Stück Papier unterschrieben habe, Sie Wahnsinniger!«

»Zum einen deshalb …« Mudgett machte eine kaum sichtbare Geste, woraufhin Peizel Porters verbundene Hand ergriff und ihm auch noch den Zeigefinger brach. Es klang wie das Zersplittern eines trockenen Zweiges, doch der Laut ging beinahe sofort in Porters gepeinigtem Kreischen unter. Peizel machte Anstalten, ihm abermals den Mund zuzuhalten, doch dieses Mal hielt Mudgett ihn mit einem strengen Blick zurück und wartete, bis aus den Schreien wieder ein wimmerndes Schluchzen geworden war.

»Zum anderen habe ich nicht vor, Sie zu töten«, fuhr er dann fort, als wäre gar nichts gewesen. »Ich bitte Sie! Ein Mord ist nicht nur eine hässliche Sache und eine Todsünde, sondern sorgt auch für große Aufregung und ein allgemeines Rätselraten. Die Leute stellen Fragen, und die Polizei fängt an, noch mehr Fragen zu stellen und das Unterste nach oben zu kehren.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Daran kann doch keinem von uns gelegen sein. Unterschreiben Sie den Wechsel, und Sie können gehen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

»Was immer das wert ist.«

»Jetzt werden Sie verletzend«, sagte Mudgett. »Wenn Sie schon an meiner Ehrlichkeit zweifeln, dann wenigstens nicht auch noch an meiner Intelligenz. Warum sollte ich für eine derart geringe Summe das Risiko einer polizeilichen Ermittlung in Kauf nehmen? Niemand weiß, dass Sie hier sind. Ich könnte Sie einfach verschwinden lassen, das ist richtig. Aber es wäre dumm, und es wäre Verschwendung. Beides ist mir zutiefst zuwider. Ich nehme mir die Freiheit, Ihre nächste Frage schon vorwegzunehmen, bevor Sie sie stellen. Ich hege keineswegs die Befürchtung, Sie könnten zur Polizei gehen oder andere Maßnahmen gegen mich ergreifen, sobald ich Sie freigelassen habe.«

»Ach, nein?«, presste Porter hervor. »Und warum nicht?«

»Angst, mein Lieber«, erwiderte Mudgett. »Sie ist ein mächtiger Verbündeter. Umso mehr, wenn Sie sich mit der Vernunft zusammentut. Ganz ohne Zweifel wäre es Ihnen ein Leichtes, mich verhaften und ins Gefängnis werfen zu lassen. Doch was dann? Vergessen Sie nicht, ich kenne Ihre Frau, Ihre beiden Töchter und auch Ihre entzückenden Enkelkinder. Ich persönlich verabscheue Gewalt, aber wie Sie bereits herausgefunden haben, gilt das nicht für Mr Peizel. Ganz im Gegenteil fürchte ich, dass er sogar ein gewisses Vergnügen dabei empfindet, Menschen zu quälen. Sie möchten doch bestimmt nicht, dass er Ihrer Familie eines Nachts einen Besuch abstattet, oder dass es einer seiner zahllosen Freunde tut? Also werden Sie diesen Wechsel unterschreiben, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass niemandem aus Ihrer Familie ein Haar gekrümmt wird.«

Porter starrte ihn nur weiter an. Auf seiner Stirn perlte noch immer Schweiß, und nun, da der Schock der Verletzung allmählich nachließ, begann er am ganzen Leib zu zittern. Doch trotz aller Schmerzen und Angst waren seine Augen jetzt klar, und Mudgett konnte spüren, wie seine Gedanken rasten.

Er zog einen schweren Füllhalter aus der Innentasche seiner Jacke, schraubte die Kappe ab und legte ihn neben Porters unverletzter Hand auf den Tisch. »Mr Peizel wird Ihre Hand jetzt losmachen«, sagte er. »Versuchen Sie nicht, etwas Dummes zu tun. Unterzeichnen Sie diesen Wechsel, und Sie können gehen. Mr Peizel wird Sie zu einem Arzt bringen, der sich Ihrer Hand annimmt.«

»Einem richtigen Arzt, meinen Sie?«

Mudgett lächelte nur.

Porter schenkte ihm noch einen trotzigen Blick, nickte aber schließlich, und Peizel machte seine Hand los. Kaum hatte er es getan, da ballte Porter sie zur Faust. Wäre Peizel nicht ein derart brutaler Riese gewesen, hätte er sie ihm ungeachtet seiner Lage ins Gesicht geschlagen. Doch Mudgett hatte recht: Angst und Vernunft waren mächtige Verbündete, machte ihm das eine doch klar, wie aussichtslos jeder Widerstand sein musste, und das andere, was Peizel ihm und seiner Familie antun würde, wenn er ihm einen Vorwand lieferte. Nach abermaligem Zögern nahm er den Stift und setzte seine Unterschrift auf den Wechsel.

»Das war doch gar nicht so schwer«, sagte Mudgett. Bedächtig nahm er Papier und Schreibgerät wieder an sich, steckte beides ein und gab seinem Gehilfen einen Wink, auf den hin dieser Porters Hand packte und erneut mit der Ledermanschette fesselte.

»Ich wusste, dass man Ihnen nicht trauen kann!«, rief Porter.

»Aber, aber«, tadelte Mudgett. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich möchte lediglich sichergehen, dass Sie nichts Unüberlegtes tun und ich Ihre volle Aufmerksamkeit habe.«

»Damit kommen Sie nicht durch«, versprach Porter, der erneut mit den Zähnen knirschte, mittlerweile aber wohl eher vor Wut. »Eine solche Summe …«

»… ist durchaus belegbar«, fiel ihm Mudgett ins Wort. »Ich versichere Ihnen, dass man die entsprechenden Rechnungen ebenso vorlegen wird wie die entsprechenden Lieferscheine und Quittungen über eine Warensendung an eine Ihrer Firmen.«

»Ich sorge dafür, dass Sie damit nicht glücklich werden«, versprach Porter, was vielleicht nicht besonders klug war, aber er konnte wohl auch nicht anders. »Ich weiß noch nicht, wie, aber ich sorge dafür, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

»Kaum. Und es ist schon so, wie man sagt, dass Geld allein nicht glücklich macht, wie ich Ihnen aus eigener Erfahrung versichere. Sehr wohl aber machen es all die wunderbaren Dinge, die man sich damit kaufen kann. Und noch etwas.« Er warf Peizel einen auffordernden Blick zu. »Ich habe gelogen.«

»Was …?«, begann Porter, doch Peizel versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht, der abgebrochene Zähne und Blut spritzen ließ. Porter heulte vor Schmerz und begann zu würgen. Mudgett trat rasch hinzu und drehte seinen Kopf auf die Seite, so dass er Blut und rosa gefärbten Schleim erbrach.

»Jetzt geben Sie doch acht!«, sagte er tadelnd. »Wir wollen doch nicht, dass der gute Mr Porter erstickt.« Nach einer Sekunde und mit einem schmallippigen Lächeln fügte er hinzu: »Wenigstens noch nicht.«

Porter versuchte etwas zu sagen und gab stattdessen ein würgendes Schluchzen von sich, als Mudgett mit spitzen Fingern über sein Gesicht tastete.

»Sie Dummkopf!«, schimpfte er. »Sie haben ihm den Kiefer gebrochen! Das kostet Sie fünfzig Dollar, das ist Ihnen doch hoffentlich klar, Peizel! Für beschädigte Ware bekomme ich kein Geld!«

Porter wimmerte irgendetwas und versuchte sich aufzubäumen, doch Peizel drückte ihn ohne Mühe wieder auf den Tisch zurück.

Wenn man genau hinsah, dann war es gar kein Tisch, sondern ein gewaltiger Quader aus Holz, wie der ins Absurde vergrößerte Hackklotz eines Fleischers oder ein barbarischer Opferaltar. Seine Oberfläche war von zahllosen Schnitten und Kerben übersät und seine ursprüngliche Farbe nur noch an den Seiten zu erkennen, wo das Holz noch nicht völlig schwarz geworden war vom Blut und anderen Körperflüssigkeiten der zahllosen Opfer. Es kam Mudgett sonderbar vor, dass Porter auch nur eine Sekunde lang geglaubt haben sollte, er würde diesen Raum tatsächlich lebend verlassen, angesichts der klebrigen schwarzen Monstrosität, auf der er aufgewacht war. Andererseits wusste er aber auch, dass Angst ein mächtiges Instrument war, das selbst die Vernünftigsten dazu brachte, sich an die unvernünftigsten Hoffnungen zu klammern.

»Aber ich wollte doch nur …«, begann Peizel, wurde jedoch sofort und in scharfem Ton unterbrochen.

»Sie sollten ihn erschrecken, Mr Peizel, doch Sie haben sich hinreißen lassen und die Beherrschung verloren. Das ist unverzeihlich. Disziplin und ein gewisses Maß an Umsicht sind unverzichtbare Tugenden bei dem, was wir tun. Ich habe wenig Lust, Ihretwegen am Galgen zu enden … ebenso wenig wie Sie, nehme ich doch an.«

Peizel sah jetzt eher betroffen als zornig aus, auch wenn da noch immer ein gerütteltes Maß an Trotz in seinen dunklen Augen war. Aber schließlich senkte er den Blick und tastete mit den Fingerspitzen über den Schnitt in seiner Wange, der immer noch blutete.

»Sie müssen vorsichtiger sein«, sagte Mudgett. »Ein solcher Kratzer kann sich wirklich übel entzünden. Sie wollen doch kein Fieber bekommen oder für den Rest Ihres Lebens eine hässliche Narbe zurückbehalten.« Er streckte die Hand nach seinem Arztkoffer aus. »Ich werde die Wunde säubern. Vielleicht muss sie sogar genäht werden.«

»Später«, sagte Peizel. »Wenn wir hier fertig sind.«

Mudgett hob die Schultern und sparte es sich, Peizel noch einmal zu warnen. Seine Worte waren durchaus ernst gemeint gewesen, doch er wusste auch, dass jeder weitere Versuch, ihm ins Gewissen zu reden, nur verschwendeter Atem wäre. Wenn Peizel eines nicht war, dann vernünftig.

Von allen Gehilfen, die er bisher gehabt hatte, war Peizel zweifellos der beste. Und dennoch war er nicht mehr als ein nützliches Werkzeug. Mudgett wurde sich schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass Peizels Zeit zu Ende ging. Er begann Fehler zu machen und – viel schlimmer – gierig zu werden, so wie alle seine Vorgänger es geworden waren, und wie es alle werden würden, die ihm folgen würden. In der Zeit, in der er jetzt für Mudgett arbeitete, hatte er niemals auch nur eine einzige entsprechende Bemerkung gemacht oder sich ihm gar offen widersetzt, doch ihm waren Peizels Blicke nicht entgangen, während er all die Nullen auf den Wechsel schrieb. Und auch die abgetrennten Finger waren kein Unfall gewesen, so wenig wie Porters zertrümmerter Kiefer. Er hatte seine Gier nicht mehr unter Kontrolle, weder die nach weltlichen Gütern noch die nach Blut, und beides war nicht akzeptabel. Wenn man im Geschäft des Tötens unterwegs war, dann waren Geduld und Selbstbeherrschung unabdingbar.

Er würde sich von ihm trennen müssen, dachte Mudgett nicht ohne Bedauern. Vielleicht in einer Woche, vielleicht in einem Monat oder auch erst in einem Jahr, doch er würde sich von ihm trennen.

Der Gedanke erfüllte ihn mit Trauer, was ihn verwirrte. Auf eine komplizierte Art empfand er fast so etwas wie Sympathie für diesen großen, immer ein wenig linkisch wirkenden Mann. Ihn zu töten, würde ihm schwerfallen.

»Ich werde Ihnen den entsprechenden Betrag vom Lohn abhalten müssen, Mr Peizel«, sagte Mudgett. »Aber der Schaden ist nun einmal angerichtet, und wenn Sie schon aus eigener Tasche dafür bezahlen, dann ist es auch nur recht und billig, wenn Sie auch den Nutzen davon haben.«

Er nahm seine Tasche vom Tisch und trat demonstrativ einen Schritt zurück. »Ich werde mich dieses Mal auf die Rolle des Zuschauers beschränken.«

»Mudgett!«, flehte Porter. »Ich beschwöre Sie! Sie können alles haben, was Sie wollen, aber …«

Dann hörte er auf zu flehen und verlegte sich aufs Schreien, als Peizel sich über ihn beugte und zu schneiden begann.

CHICAGO, ILLINOIS, 1893

Nicht wenige glaubten, dieses ebenso laute wie hässliche technische Unikum wäre der Vorbote der neuen Welt, auf die das ausklingende Jahrhundert mit immer größeren Schritten zustürmte – ein Schatten der Zukunft aus lackiertem Metall und geätztem Glas, der die Menschen mit seinem elektrischen Summen und dem lauten Kollern eiserner Räder auf das vorbereitete, was kommen mochte.

Henry Howard Holmes zog an der Zigarre und sah der Hochbahn nach. Der Triebwagen verschwand samt der beiden vollbesetzten Anhänger, und eine kleine Menschentraube kam die Treppe herab. Nur ein Stück dahinter gewahrte er eine schlanke Frauengestalt in einem eleganten weißen Spitzenkleid, mit dazu passenden Handschuhen, einem Beutel und einem beinahe albern großen Hut. Sie nahm die Treppe mit den übertrieben präzisen Schritten eines Menschen in Angriff, der zum allerersten Mal im Leben eine fünfundzwanzig Fuß hohe Treppe sieht, deren Stufen nicht aus gutem alten amerikanischen Hickoryholz bestanden, sondern einem rostigen Gitter, durch das man bis auf den Boden hinuntersehen konnte. Seine Verabredung, nahm er an.

Holmes machte einen raschen Schritt zur Seite, um nicht von einem geschniegelten jungen Burschen mit Melone und Schnauzbart über den Haufen gerannt zu werden. Er musste sich beherrschen, um ihm nicht die eine oder andere Unfreundlichkeit nachzurufen. Aber er war schließlich nicht hier, um irgendwelchen Dummköpfen Nachhilfe in gutem Benehmen zu erteilen.

In dem kurzen Moment, den er abgelenkt gewesen war, hatte seine Besucherin die Treppe bereits überwunden, obwohl sie sich sehr vorsichtig bewegte und darüber hinaus auch noch eine sperrige Reisetasche mit sich schleppte, wie ihm erst jetzt auffiel. Mit einem übertriebenen Seufzen stellte sie das Gepäck vor ihm ab. Anscheinend hatte sie ihn ebenso erkannt wie er sie.

»Miss Christen, vermute ich?« Holmes setzte dazu an, die Hand auszustrecken, begriff seinen Fauxpas aber gerade noch im letzten Moment und wechselte die Zigarre von der Rechten in die Linke.

»Arlis«, antwortete die junge Frau. »Arlis Christen, um genau zu sein. Und um ganz genau zu sein, Arlis Maria Christen.« Sie legte fragend den Kopf auf die Seite, soweit es ihr die weite Krempe des Hutes erlaubte. Als sie einsah, dass er nicht von sich aus reden würde, fragte sie: »Und Sie sind Mr Holmes?«

»Henry Howard Holmes, stets zu Diensten, Miss Christen.«

Außer dabei, mir mit dem schweren Koffer die Treppe hinabzuhelfen.

Christen sagte das nicht laut, aber er las es deutlich in ihren dunklen Augen. Der Moment gewann noch einmal an Peinlichkeit, als ihm mit einiger Verspätung, dafür aber umso deutlicher klar wurde, wie unglaublich die Ähnlichkeit zwischen Endres und ihr war. Da war ein Altersunterschied von gut drei Jahren, wie er wusste, doch er sah ihn eindeutig nur, weil er darum wusste, nicht weil er wirklich zu erkennen gewesen wäre. Hätte ihm jemand erzählt, er stünde Endres gegenüber, die sich als ihre eigene ältere Schwester verkleidet hatte (und das mit wenig Geschick), er hätte es geglaubt.

»Arlis«, sagte sie mit einem Augenzwinkern, das unter dem großen Hut eher zu erahnen als wirklich zu erkennen war. »Bitte nennen Sie mich Arlis, Mr Holmes. Ich komme mir nicht vor wie eine Miss Christen. Dabei fühle ich mich so schrecklich alt. Außerdem sind Sie ein guter Freund meiner Schwester …«

Holmes musste unwillkürlich lachen.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Arlis.

Holmes beeilte sich zwar, den Kopf zu schütteln, konnte das Lächeln aber nicht unterdrücken.

»Nein«, antwortete er. »Es ist nur so, Miss Christen – Arlis –, dass ich unschwer verkennen konnte, dass ich mit Ihnen verabredet bin.«

Als sie mit einem fragenden Blick reagierte, fügte er mit einer entsprechenden Geste hinzu: »Der Hut.«

»Ist es in Chicago nicht üblich, Hüte zu tragen?«

»Nicht solche.« Holmes erwachte endlich aus seiner Starre und nahm die Reisetasche auf. Überrascht stellte er fest, wie schwer sie war.

»Was stimmt nicht mit meinem Hut?«, fragte Arlis. »Ist er aus der Mode? Oder hat er gar die falsche Farbe?«

»Wissen Sie, wie die Einheimischen ihre Stadt auch noch nennen?«

»Chicago?«

»Natürlich. Aber es gibt auch noch einen anderen Namen.«

»Die Weiße Stadt«, sagte Arlis, so hörbar stolz auf dieses Wissen, dass Holmes es nicht über sich brachte, ihren Irrtum richtigzustellen.

»Ja«, bestätigte er stattdessen, während er sich bereits herumdrehte und die Hand mit der Zigarre hob, um William heranzuwinken. »Aber nur, wenn sie mit Fremden über ihre Stadt reden und weil es so mondän klingt. Die, die schon länger hier leben und es besser wissen, nennen sie eher die Windige Stadt.«

»Warum?«, fragte Arlis. In diesem Moment fing sich der Wind in den Stützstreben der Hochbahn und erweckte einen ganzen Chor aus wimmernden Klagelauten zum Leben. Die Böe fegte ihr den breitkrempigen Hut vom Kopf und trug ihn in Richtung Straße davon, wo er zweifellos unter die Räder gekommen wäre, hätte Holmes ihn nicht rasch aufgefangen.

»Frauen aus Chicago tragen nicht solche Hüte«, fuhr er lächelnd fort, während er ihr die Kopfbedeckung zurückgab. »Und wenn doch, dann binden sie sie mit einer Schleife unter dem Kinn fest oder bedienen sich einer Hutnadel.«

»Mit einer Schleife unter dem Kinn?« Arlis sah den Hut an, als befürchte sie ernsthaft, im nächsten Moment von ihm gebissen zu werden. »Aber damit sähe ich aus wie ein kleines Mädchen, das gerade aus der Sonntagsschule kommt, oder eine Farmersfrau aus der Gründerzeit.«

»Ohne die wir allesamt nicht hier wären«, antwortete er.

Arlis sah ihn nur irritiert an, zuckte mit den Achseln und grub einen Moment in ihrem Beutel, bis sie ein schwarzes Samtband gefunden hatte, mittels dessen sie den Hut tatsächlich unter dem Kinn festband. Es sah ziemlich komisch aus; tatsächlich ein bisschen wie ein kleines Mädchen vom Lande, das auf dem Weg zu seinem allerersten Besuch in der Kirche war.

»Ich hoffe, jetzt falle ich nicht mehr jedem auf den ersten Blick als Fremde auf.«

»Ich fürchte doch«, antwortete Holmes.

»Wegen meiner altmodischen Kleider? Oder spreche ich irgendeinen Hinterwäldlerakzent?«

»Wegen Ihres Kleides«, bestätigte Holmes. »Aber nicht, weil es altmodisch wäre oder Ihnen nicht ganz ausgezeichnet stünde. Ganz im Gegenteil. Es sollte mich nicht wundern, wenn die eine oder andere Dame der besseren Gesellschaft bei Ihnen anklopft und fragt, wie Ihr Schneider heißt.«

»Es ist eine Schneiderin«, antwortete sie. »Und ihr Name ist Arlis Christen.«

»Sie haben es selbst genäht?«

»Und entworfen«, bestätigte Arlis. »Und vielen Dank für das Kompliment, auch wenn es gelogen ist. Aber wo ist dann das Problem?«

»Die Farbe.« Holmes machte eine Geste mit der Hand in die Runde. »Niemand hier trägt Weiß. Zumindest niemand, der seine Kleider selbst waschen muss. Oder vorhat, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten.«

Christens Blick folgte seiner Geste, und er konnte sehen, wie es hinter ihren Augen zu arbeiten begann. Tatsächlich entsprach seine Behauptung nicht ganz den Tatsachen. Es gab den einen oder anderen hellen Tupfer, die vorherrschenden Farben aber waren eindeutig Schwarz, Dunkelblau oder gedecktes Grau oder Braun. »Und warum ist das so?«

Statt direkt zu antworten, rieb Holmes die Spitze seines Kragens zwischen Daumen und Zeigefinger. Er hatte ein frisches weißes Hemd angezogen, um sie abzuholen, aber seine Finger hinterließen dennoch einen hässlichen braunen Schmierer auf dem Stoff.

»Ich fürchte, das ist der Preis, den man für den Fortschritt zahlen muss.« Holmes hielt kurz inne. »Und natürlich gibt es noch einen weiteren Grund: Wenn es in dieser Stadt noch eine zweite junge Frau von so außergewöhnlicher Schönheit gäbe, dann wüsste ich das. So wie jeder andere Mann im Übrigen auch.«

»Ich verstehe. Ist das jetzt Chicago-Art, mit einer Fremden vom Lande zu flirten?« Arlis überzeugte sich mit spitzen Fingern davon, dass ihr Hut sicher an seinem Platz saß und auch dort bleiben würde. »Ehrlich gesagt hätte ich Sie für ein wenig eloquenter gehalten, Mr Holmes. Oder ist man in der großen Stadt der Meinung, dass man sich für eine Landpomeranze nicht mehr Mühe geben muss?«

»Ich wollte gewiss nicht …«, begann Holmes hastig und brach dann genauso rasch mitten im Satz wieder ab, als er das spöttische Glitzern in ihren Augen sah. Vielleicht waren es auch Endres’ Augen, da war er nicht sicher. Sehr zu seinem Verdruss spürte er jedoch selbst, wie seine Ohren rot anliefen.

»Ja, ich verstehe«, sagte er zerknirscht. »Selbst wenn Sie sich nicht so sehr ähneln würden, dann wüsste ich spätestens jetzt, dass Endres und Sie Schwestern sind. Sie haben wirklich denselben Humor. Auch auf sie bin ich immer wieder hereingefallen.«

»Ich weiß«, sagte Arlis amüsiert.

»Selbstverständlich wissen Sie das.« Holmes bemühte sich um ein noch zerknirschteres Gesicht. »Ich nehme an, Sie haben sich köstlich amüsiert, während sie Ihnen von all den kleinen und großen Streichen erzählt hat, die sich Ihre Schwester immer wieder hat einfallen lassen?«

Arlis lachte, aber er hatte trotzdem das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, und sie antwortete auch nicht gleich, sondern sah ihn nur auf eine sehr sonderbare und schon fast beunruhigende Art an, auch wenn er nicht einmal sagen konnte, was daran ihn so beunruhigte. Vielleicht nahm er sich zu wichtig. Was, wenn Endres kaum oder vielleicht auch gar nicht von ihm erzählt hatte und ihr seine vermeintliche Vertrautheit Anlass zu gewissen Überlegungen gab, die er ganz bestimmt nicht provozieren wollte?

Holmes war erleichtert, hinter sich die typischen Geräusche einer Droschke und gleich darauf aufgebrachte Rufe zu hören. Als er sich herumdrehte, sah er, wie William vom Kutschbock stieg. Holmes hatte es zwar nicht gesehen, nahm aber an, dass William den Einspänner wie immer mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit in Bewegung gesetzt und gewendet hatte, ohne auf den dichten Verkehr zu achten. Ein zweites Fuhrwerk, das deutlich größer war und von zwei Pferden gezogen wurde, stand schräg vor ihm. Der Fahrer kletterte vom Bock und schimpfte lautstark – zumindest so lange, bis er William gegenüberstand, der die Schultern straffte und aus seiner ganzen Höhe von sechseinhalb Fuß auf ihn herabgrinste.

Der Mann hatte es plötzlich sehr eilig, auf dem Absatz kehrtzumachen und wieder auf den Wagen zu klettern.

Holmes ging hin, reichte William die Tasche und beließ es angesichts Arlis’ Gegenwart bei einem strafenden Blick anstelle der Standpauke, die er sich eigentlich verdient hätte. Stattdessen öffnete er den Wagenschlag.

»Diese Stadt ist nicht nur ausgesprochen interessant und aufregend, sondern kann zuweilen auch gefährlich sein«, sagte er. »Vor allem für eine so schöne junge Frau wie Sie und in Zeiten wie diesen.«

Als Arlis keinerlei Anstalten machte, in den Wagen zu steigen, ergriff er kurzerhand ihren Arm und bugsierte sie mit mehr oder weniger sanfter Gewalt in den Wagen und auf die Sitzbank. Arlis war so perplex über diese vermeintlich plumpe Vertraulichkeit, dass sie nicht einmal versuchte, sich zu widersetzen, auch dann nicht, als er auf der schmalen Sitzbank neben ihr Platz nahm statt ihr gegenüber, wie es sich geziemt hätte. Mit jedem Moment, den sie länger zusammen waren, fiel ihm noch deutlicher auf, wie groß die Ähnlichkeit zwischen ihr und Endres war.

Aber sie war nicht Endres, und er tat besser daran, sich das stets vor Augen zu halten, um sich nicht zu einer Vertraulichkeit hinreißen zu lassen, die ihm nicht zustand. Das war er schon ihrer Schwester schuldig.

»Was genau meinen Sie damit: ›Zeiten wie diesen‹?«

»Die Ausstellung«, antwortete Holmes, während er sich vorbeugte und die Tür schloss. »Sie zieht seit Monaten Besucher aus dem ganzen Land an, sogar aus der ganzen Welt. Aber ich fürchte, nicht alle davon kommen mit lauteren Absichten.«

Der Wagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, und Arlis nutzte die Gelegenheit, um sich aus seinem Griff loszumachen.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht …«

»Das haben Sie auch nicht«, fiel ihm Arlis ins Wort, ohne ihn anzusehen. Angesichts des beschränkten Platzes hier drinnen war es gar nicht möglich, aber irgendwie brachte sie trotzdem das Kunststück fertig, noch einmal weiter vor ihm zurückzuweichen.

Holmes wechselte auf die gegenüberliegende Seite und lehnte sich vermeintlich entspannt gegen die Wand, um die Distanz zwischen ihnen zumindest symbolisch noch weiter zu vergrößern. Natürlich machte er es dadurch nur noch schlimmer, und die restliche Fahrt zurück zum Hotel verlief in eisigem Schweigen.

GILMANTON, NEW HAMPSHIRE, 1865

Hermans erste Begegnung mit dem Tod fand auf den Tag genau eine Woche nach seinem fünften Geburtstag statt – und das unter eher unerwarteten, auf jeden Fall aber höchst außergewöhnlichen Umständen, so wie es für den Rest seines Lebens bezeichnend sein sollte.

Er rannte um sein Leben.

Vielleicht nicht wirklich. Die beiden Burschen, die hinter ihm her waren, würden ihn vermutlich nicht umbringen – wenigstens nicht absichtlich –, aber für einen Fünfjährigen, der von zwei fast doppelt so alten Jungen gehetzt wurde, machte das nicht wirklich einen Unterschied. Seine Lungen brannten, als versuche er gemahlenes Glas zu atmen, seine Muskeln verkrampften sich bei jedem Schritt ein bisschen mehr, und es war, als würden ihm glühende Nadeln in die Seiten getrieben, wenn er Luft holte.

Er rannte trotzdem weiter, grimmig entschlossen, erst anzuhalten, wenn er seine Verfolger abgeschüttelt hatte, oder einfach weiterzurennen, bis sein Herz platzte und er tot umfiel.

Das Geräusch der Kirchenglocke rief die letzten Nachzügler zum Sonntagsgebet, zu dem auch seine Eltern erscheinen würden. Es erfüllte ihn für einen Moment mit neuer, verzweifelter Hoffnung, doch sein Verstand sagte ihm, dass sich Reverend Folsoms kleine Methodistenkirche am anderen Ende der Stadt befand und er nicht einmal den Hauch einer Chance hatte, sie zu erreichen.

Er versuchte es trotzdem, und als wäre die mahnende Stimme der Vernunft noch nicht schlimm genug, erscholl hinter ihm ein triumphierendes Heulen, unmittelbar gefolgt vom Getrappel schneller, harter Schritte. Herman rannte seinerseits noch einmal schneller (oder versuchte es wenigstens), sah über die Schulter zurück und erkannte gerade noch einen seiner Verfolger, der hinter ihm um die Ecke bog. Da verfing sich seine Schuhspitze, und die Schuhsohle riss mit einem Geräusch ab, als würde ihm die Fußsohle vom Fleisch gefetzt. Zumindest in diesem Moment schien es auch genauso wehzutun.

Herman verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin, wobei er sich nicht nur Handflächen und Wange blutig scheuerte, sondern sich auch die Hose zerriss. Er verlor nicht das Bewusstsein, dazu war er nicht einmal annähernd hart genug gefallen, aber für einen Moment stürzte er in einen Abgrund, in dem kein Platz für andere Sinneseindrücke mehr war. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mehr als rote Schlieren sah, starrte er auf ein Paar grober Arbeitsschuhe, das unmittelbar vor seinem Gesicht aus dem Matsch der Straße wuchs. So voller Schlamm, wie sie waren (und vielleicht in naher Zukunft seinem Blut), kamen sie Herman in diesem Moment schrecklicher vor als alles, was er jemals gesehen hatte; allerdings nur so lange, bis er den Kopf hob und in Matthews breites Grinsen hinaufsah. Vielleicht war es auch Frank, so aufgeregt und verstört, wie er war, vermochte Herman diesen Unterschied nicht mehr zu erkennen.

Matthew nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich an seinen Kumpan wandte, der sich lautstark hinter Herman aufbaute. »Ich hab dir gesagt, dass der Kleine zur Kirche zurückrennt, Frankie«, krähte er. »So dicke, wie er mit dem Reverend ist, wird er sich bestimmt hinter dem Altar verkriechen wollen.«

Er versetzte Herman einen derben Stoß mit der Schuhspitze, der nicht einmal besonders wehtat, ihm in seiner Angst aber trotzdem ein leises Wimmern abnötigte, und Frank antwortete im gleichen gehässigen Ton:

»Wenn wir mit ihm fertig sind, dann passt er sogar unter den Altar, da wett ich drauf.«

»Aber ich habe doch nur …«, wimmerte Herman und brach mitten im Satz wieder ab, als Matthew ihm einen zweiten und nun schon deutlich härteren Tritt versetzte.

»Ist mir egal, was du wolltest«, fauchte Matthew. »Wir mögen es gar nicht, wenn sich einer aufspielt, hast du das verstanden?«

Als Herman nicht sofort antwortete, zerrte er ihn mit nur einer Hand und so mühelos in die Höhe, als wöge er nicht mehr als eine junge Katze. Er schüttelte ihn ein paarmal wie eine ebensolche und schlug ihm dann mit der flachen Hand ins Gesicht. »Ob du mich verstanden hast!«

Herman hob schluchzend die Hände vor das Gesicht und versuchte vergeblich, die Tränen zurückzuhalten. Mindestens genauso groß wie seine Angst waren seine Verwirrung und das mit ihr einhergehende Gefühl der Hilflosigkeit. Er wusste ja nicht einmal genau, was er den beiden überhaupt getan hatte. Reverend Folsom hatte Matthew nach einem Bibelzitat gefragt, und Herman hatte ihn ganz automatisch verbessert, als er vollkommen falsch geantwortet hatte. Das war auch schon alles gewesen. Er hatte es ganz bestimmt nicht getan, um den älteren Jungen zu blamieren oder sich gar über ihn lustig zu machen, sondern rein instinktiv. Denn wenn er zuhause nach einer bestimmten Bibelstelle oder einem Psalm gefragt wurde und falsch antwortete, dann drohte ihm zumindest eine gehörige Gardinenpredigt, wenn nicht eine schlimmere Strafe. Nichts anderes, als dies Matthew zu ersparen, war sein Ansinnen gewesen.

Das Ergebnis war allerdings ein anderes: ein allgemeines schadenfrohes Gelächter und ein Blick aus Matthews schmaler werdenden Augen, dessen wahre Bedeutung Herman erst aufgegangen war, als die Sonntagsschule endete und Matthew und sein Kumpan ihm draußen vor der Tür auflauerten. Natürlich nicht direkt vor der Tür – so dumm waren nicht einmal diese beiden –, sondern gerade weit genug von der Kirche entfernt, um nicht mehr von Reverend Folsom gesehen zu werden. Und sie hatten gerade lange genug abgewartet, bis sich die anderen Sonntagsschüler bereits verteilt und auf den Heimweg gemacht hatten. Erst im Nachhinein hatte Herman auf seiner verzweifelten Flucht begriffen, wie schnell sich die lärmende Kinderschar zerstreut hatte, ganz anders als sonst, und vielleicht hatte es auch den einen oder anderen sonderbaren Blick gegeben, den er viel zu spät als das interpretiert hatte, was er wirklich bedeutete.

Als er auch nach einigen weiteren Augenblicken nicht antwortete, stieß ihm Matthew die flache Hand vor die Brust, so dass er hilflos zurückstolperte und gleich wieder gefallen wäre, hätte Frank ihn nicht aufgefangen und ihm den Arm auf den Rücken gedreht. Dieser Schmerz war von allen bisher der schlimmste.

»Anscheinend hat unser kleiner Freund uns nicht verstanden«, sagte Frank. »Oder kannst du nur in Bibelversen reden und dich wichtigmachen?«

Matthew lachte schrill. Dabei war etwas in seinen Augen, das von diesem Lachen unberührt blieb und eine eisige Kälte ausstrahlte. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und Hermans Herz machte einen weiteren erschrockenen Satz in seiner Brust, als er sah, dass die dunklen Flecken auf seinen Knöcheln kein Schmutz waren, sondern eine dicke Hornhaut. Dieser Junge schlug oft und gerne mit seinen Fäusten zu, und überhaupt war Herman plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob Junge die richtige Bezeichnung war. Er mochte gerade einmal zehn oder elf Jahre alt sein, aber trotzdem schon lange kein Kind mehr, sondern etwas anderes, Böses. Vielleicht schon vom Tag seiner Geburt an.

Etwas Sonderbares geschah, das Herman in seiner Furcht und in diesem Moment nicht einmal bewusst registrierte, woran er aber dennoch lange und oft zurückdenken sollte, ohne jemals wirklich zu begreifen, wie sehr dieser eine Moment sein ganzes zukünftiges Leben beeinflussen sollte: Zum allerersten Mal begriff er, dass es das Böse in seiner reinen Form gab – allerdings nicht so, wie es sein Vater und Reverend Folsom ihn gelehrt hatten. Es war keine abstrakte Macht, die hinter den Dingen lauerte und Worte, Gedanken und Taten der Menschen vergiftete, nichts Geerbtes, das vom Vater auf den Sohn und von der Mutter auf die Tochter weitergegeben wurde, und auch keine lächerliche Gestalt mit Hörnern und Schweif und Dreizack, die allenfalls dazu taugte, kleine Kinder zu erschrecken und Reverend Folsoms Beutel mit noch mehr Ablass zu füllen.

Das Böse stand vor ihm. Es hatte eine Gestalt, und es würde ihm wehtun. Nicht weil er ihm einen Grund dafür geliefert oder es gar verdient hatte, nicht einmal weil es ihm Freude bereitete, sondern ganz einfach nur, weil es das konnte.

Und Herman hatte nicht die mindeste Angst davor.

Natürlich spürte er Angst. Sein Herz raste. Seine Knie zitterten so sehr, dass er wahrscheinlich gestürzt wäre, hätte Frank ihn nicht festgehalten. In seinem Mund war ein bitterer Geschmack nach Metall, und etwas Warmes lief an seinen Oberschenkeln hinab. Aber es war nur die Angst vor dem, was Matthew ihm antun würde, die Angst vor seinen Fäusten und dem Versprechen auf kommenden Schmerz. Das andere, Schlimmere, diese reine dunkle Bosheit, die er in Matthews Augen las, das machte ihm keine Angst.

Es faszinierte ihn.

Unter all dieser teilnahmslosen Bosheit, tief in diesen kalten Augen, die ebenso gut einer Maschine gehören konnten, die sich vergeblich bemühte, einen Menschen nachzuahmen, war etwas, das ihn rief.

Es war unheimlich; wie ein kehliges Flüstern gerade unterhalb des überhaupt noch Hörbaren oder auch das Kratzen harter Spinnenbeine am Grunde seiner Seele. Da war etwas … Vertrautes. Etwas, das er selbst noch lange nicht war, aber um jeden Preis sein wollte.

»Was glotzt du mich so an?«, fauchte Matthew. »Glaubst du vielleicht, dass du damit …?«

Er sprach nicht weiter, sondern presste die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen, und etwas blitzte in seinen Augen auf, von dem Herman annahm, dass es ihm eigentlich Angst machen sollte. Er ballte die Hände so heftig zu Fäusten, dass seine Knöchel wie trockener Reisig knackten. Aber aus irgendeinem Grund schlug er nicht zu, wenigstens noch nicht. Vielleicht nicht der Junge, wohl aber die Dunkelheit hinter seinen Augen hatte etwas Vertrautes in Herman erkannt.

»Lassen wir den Kleinen laufen«, schlug Frank mit schriller Stimme und einem bösartig glucksenden Lachen vor, das die Wahl seiner Worte Lügen strafte. »Er klappert ja vor Angst schon mit den Zähnen. Am Ende macht er sich noch in die Hosen, und wir sind schuld, wenn seine Mutter die Sauerei dann waschen muss.«

»Ist schon passiert, wie es aussieht«, feixte Matthew, indem er Hermans nassen Schritt fast behutsam (aber eben nur fast, es tat trotzdem weh) mit der Schuhspitze anstupste, dabei aber auch ein übertrieben angewidertes Gesicht machte. »Der Kleine hat sich in die Hosen gemacht. Was für eine Schweinerei.«

Herman wimmerte vor Schmerz und Scham und versuchte sich wider besseres Wissen loszureißen. Frank verdrehte seinen Arm noch einmal um ein gehöriges Stück. Und doch: Sein Herz schlug so hart, dass es wehtat. Er hatte mehr und größere Angst als jemals zuvor in seinem Leben, und er hatte niemals zuvor so schlimme Schmerzen erlebt. Aber da war auch noch mehr. Ein düsteres Locken und Sehnen, dem er sich weder entziehen konnte noch wollte, und ein Hunger, der stärker war als jede Angst.

»Bitte«, wimmerte er. »Ich will doch nur …«

Matthew schlug ihm so hart mit dem Handrücken auf den Mund, dass seine Unterlippe aufplatzte und Blut über sein Kinn lief. »Ja, ich kann mir vorstellen, was du willst«, fauchte er. »Herkommen und dich aufspielen, nur weil du ein paar Bibelverse aufsagen kannst und deine Eltern es gut mit dem Reverend können, wie? Aber so läuft das bei uns nicht. Wir mögen hier keine Wichtigtuer.«

»Bitte!«, wimmerte Herman noch einmal. »Ich … ich will doch nur … dein Freund sein.«

Matthew riss die Augen auf, starrte ihn an und wollte irgendetwas sagen, brachte aber stattdessen nur ein seltsames Krächzen heraus, und etwas Neues und ebenso Undeutbares wie Erschreckendes flackerte in seinem Blick auf. Dann war es fort, ausgelöscht von rasender Wut, die wie schwarzes Feuer auf seinem Gesicht explodierte.

»Du willst … was?«, krächzte er. »Was hast du gesagt, Bibeljunge? Du willst mein Freund sein?«

Bei nahezu jedem Wort schlug er erneut zu – in Hermans Gesicht, gegen seinen Kopf und seinen Hals, gegen seine Schläfe und die Brust. Wenn Herman später über diesen Moment nachdachte, dann wurde ihm klar, dass er ihn möglicherweise totgeprügelt hätte, wäre da nicht plötzlich eine weitere Gestalt gewesen, die hinter Matthew auftauchte und irgendetwas rief, das niemand verstand, und Matthew zugleich derb auf die Knie schleuderte. Von weit her drang erneut das Läuten der Glocke, und darunter hörte er in noch größerer Entfernung ein ausgelassenes Kinderlachen, das ihm in diesem Moment fast obszön erschien. Dann stürzte er zum zweiten Mal in einen Schlund aus Chaos und Schmerz, in dem nichts mehr Bestand hatte, nicht einmal mehr Zeit.

Allzu lange konnte er nicht in diesem Zustand gewesen sein; vielleicht für die Dauer eines einzelnen Atemzuges oder zwei, denn als er sich unsicher aufsetzte und das Blut wegzublinzeln versuchte, das ihm in die Augen gelaufen war, lag Matthew noch immer auf dem Rücken. Die Gestalt, die ihn niedergeworfen hatte, stand breitbeinig und in leicht vorgebeugter drohender Haltung über ihm. Von Frank war nichts mehr zu sehen; wahrscheinlich war er weggelaufen, denn wie die meisten Schläger war er im Grunde seines Herzens vermutlich ein Feigling.

»Was hier los ist, habe ich dich gefragt, Bursche«, sagte der Mann in diesem Moment und offensichtlich nicht zum ersten Mal. »Was hat euch der Junge getan, dass ihr gleich zu zweit über ihn herfallt und ihn halb totprügelt?«

Matthew antwortete irgendetwas, das Herman aber nicht verstand. In seinen Ohren rauschte das Blut, und das Pochen seines eigenen Herzens schien ihm in diesem Moment als das lauteste Geräusch der Welt, so dass er sich darauf konzentrierte, seinen Retter genauer in Augenschein zu nehmen, schon um nicht endgültig in Panik zu geraten.

Es war niemand aus der Stadt. Herman kannte längst nicht alle Einwohner Gilmantons, aber er erkannte einen Fremden, wenn er einen sah, und dieser Mann gehörte eindeutig nicht hierher. Er war sehr groß und dabei so hager, dass er dadurch noch größer wirkte. Er trug einen elegant geschnittenen, wenn auch schon leicht schäbig gewordenen Anzug und hatte so dunkles Haar, dass Herman unwillkürlich den einen oder anderen Indianer unter seinen Vorfahren mutmaßte. Sein Gesicht konnte er nicht erkennen, denn er wandte ihm den Rücken zu, aber etwas an seiner Haltung war sonderbar.

»Willst du mir nicht antworten, Freundchen, oder hat es dir die Sprache verschlagen, jetzt, wo du mal keinem Schwächeren gegenüberstehst?«, fuhr er Matthew an.

»Was geht Sie das an?«, antwortete der Junge trotzig. Er zog geräuschvoll die Nase hoch, stemmte sich auf die Ellbogen und versuchte rücklings vor dem Fremden wegzukriechen, stellte seine Bemühungen aber auch sofort wieder ein, als dieser eine drohende Geste machte. Vielleicht bedeutete sie auch etwas anderes, da war Herman nicht ganz sicher. Da war etwas Seltsames an dem Fremden, das ihn irritierte.

»Es geht mich etwas an, weil ich es nicht mag, wenn man sich an Schwächeren vergreift«, antwortete er. »Der Junge ist doch höchstens halb so groß wie du. Und du brauchst Verstärkung, um ihn zu verprügeln? Das nenne ich wirklich mutig.« Er beugte sich noch ein bisschen weiter vor und hob die linke Hand. »Warum versuchst du nicht mal, dich mit einem Stärkeren anzulegen, du Feigling? Komm schon! Steh auf! Ich lasse dir sogar die beiden ersten Schläge, ohne mich zu wehren. Du hast mein Ehrenwort!«

Matthew hütete sich, darauf zu antworten, aber seine Augen wurden schmal, und Herman war plötzlich ganz und gar nicht mehr sicher, dass diese Worte klug gewählt waren. Er kroch noch ein kleines Stück weiter zurück und richtete sich halb auf. Da war nicht nur eine plötzliche Spannung in Matthews Gestalt, sondern auch etwas Kleines und Schartiges, das kurz unter seiner Jacke aufblitzte, etwas, das ebenso rostig und scharf wie bösartig war, und dem sich Matthews Hand für einen ganz kurzen Moment nähern wollte.

»Ja, warum versuchst du es nicht, Freundchen?«, fragte der Fremde. »Dann hätte ich wenigstens einen Grund, um dich windelweich zu prügeln.«

Das war vielleicht noch weniger klug, dachte Herman. Matthews Hand bewegte sich weiter auf das Messer zu, aber dann zog er den Arm mit einem Ruck zurück und machte ein trotziges Gesicht. »Das sage ich meinem Vater!«, versprach er. »Wenn er hört, dass Sie mich geschlagen haben, bringt er Sie um!«

»Ja, tu das«, antwortete der Fremde. »Und wenn du schon dabei bist, dann erzähl ihm auch gleich, dass dein Freund und du gemeinsam auf einen halb so alten Jungen losgegangen seid. Ich bin sicher, dass er stolz auf seinen tapferen Sohn sein wird.«

In Matthews Augen stand nichts anderes als reine Mordlust geschrieben. Seine Hand kroch noch einmal an das Messer heran, zögerte kurz und schmiegte sich dann so fest um den Griff der Waffe, dass seine Knöchel wie runde weiße Narben durch die Haut stachen.

»Nur zu«, sagte der Fremde grimmig. »Gib mir einen Grund.«

Für eine Sekunde spürten sie wohl beide, dass Matthew die Herausforderung tatsächlich annehmen und im nächsten Moment aufspringen und sein Messer ziehen könnte. Doch dann verstrich der gefährliche Moment, und die Hand kroch wieder vom Messer weg. Möglicherweise hatte die Vernunft gewonnen – schließlich war der Fremde ein Erwachsener und Matthew trotz allem nur ein Knabe von zehn oder elf Jahren. Vielleicht war es aber auch Feigheit, doch wahrscheinlich machte das in diesem Moment keinen Unterschied. Das Messer würde heute kein Blut schmecken, und das war alles, was zählte.

Seltsamerweise empfand Herman fast so etwas wie Enttäuschung; ein Gefühl, dessen er sich schämen sollte, was er aber nicht tat – und was wiederum zu einer noch größeren Verwirrung führte.

Matthew rappelte sich umständlich auf und funkelte den Fremden weiter verächtlich an, während er sich den Schmutz von der Hose klopfte.

»Meine Hose ist zerrissen«, sagte er. »Dafür werden Sie bezahlen, Mister. Ich sag’s meinem Vater.«

»Ja, mein Freund«, sagte der Fremde lächelnd. »Ich bin im Hotel, falls dein Vater Probleme hat, mich zu finden.«

»Die Sache ist noch nicht vorbei«, versprach Matthew. »Und das gilt auch für dich, Bibeljunge.« Damit fuhr er auf dem Absatz herum und humpelte los. Nach ein paar Schritten wurde es ihm jedoch zu mühsam, und er vergaß das Hinken und rannte stattdessen lieber. Der Fremde sah ihm kopfschüttelnd nach und ließ ihn nicht aus den Augen, bis er hinter der nächsten Abzweigung verschwunden war.

Dann drehte er sich zu Herman um. »Und wie geht es dir, Junge? Du siehst übel aus.«

»Ich … ich bin kein Bibeljunge«, antwortete Herman, vollkommen sinnlos, aber es war auch das Einzige, was ihm in diesem Moment einfiel. Der Fremde sah ein bisschen verwirrt aus, aber dann lächelte er auf sonderbar wissende Art, während Herman selbst spürte, wie er rote Ohren bekam, einen solchen Unsinn zu reden.

»Du bist verletzt«, sagte der Fremde. »Ich sollte dich zu einem Arzt bringen. Gibt es einen Doktor in der Stadt?«

Herman schüttelte den Kopf, und der Fremde fuhr in noch besorgterem Ton fort: »Dann bring ich dich nach Hause.«

Herman sah ihn erschrocken an. »Das … ist sehr nett, aber ich … ich will nicht nach Hause.«

»Weil du Angst hast, dass deine Eltern dich bestrafen«, sagte der Mann. »Aber ich glaube nicht, dass sie zornig werden. So wie du aussiehst, werden sie froh sein, dass dir nicht noch mehr passiert ist.«

Der Mann kannte offensichtlich seinen Vater nicht, dachte Herman. Er würde ihn nicht bestrafen, wenn dieser Fremde ihn nach Haus brachte und erzählte, was geschehen war. Ganz im Gegenteil. Vater würde sich artig bei ihm bedanken und ihm etwas zu trinken anbieten. Vielleicht würde er ihn sogar zum Essen einladen. Aber sobald er wieder fort war, würde die Strafe kommen – und sie würde nur umso schlimmer ausfallen, weil Herman ihn in die unangenehme Lage gebracht hatte, sich bei einem Fremden bedanken zu müssen.

Es war das Läuten der Kirchenglocke, das ihn rettete. »Ich muss zum Gottesdienst«, sagte Herman. »Mein Vater … meine Eltern warten dort auf mich.«

Er konnte dem Fremden ansehen, wie wenig überzeugend seine Worte klangen. Doch der Mann widersprach nicht, sondern sah nur einen Moment nachdenklich in die Richtung, aus der das Läuten gekommen war, und nickte schließlich. »Dann begleite ich dich dorthin«, sagte er bestimmt. »Ich kenne solche Burschen. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie dir auf dem Weg zur Kirche auflauern.«

Herman sparte es sich, noch einmal zu widersprechen, schon weil der Mann vermutlich recht hatte. Er nickte, und sie gingen los.

Auf den ersten Metern sagte der Fremde nichts, sondern beschränkte sich darauf, seinen Schützling besorgt im Auge zu behalten – durchaus zu Recht, wie Herman selber fand. Denn es musste wohl so sein, wie der Mann behauptet hatte: Er musste schlimm aussehen. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihm weh. Das Luftholen bereitete ihm Schmerzen, ihm war schwindelig. Er meinte noch immer jeden einzelnen Hieb zu spüren, den Matthew ihm versetzt hatte. Er konnte nur humpeln.

Zumindest damit war er nicht allein. Auch sein dunkelhaariger Retter zog das Bein hinter sich her, allerdings auf eine Art, die erkennen ließ, wie lange und selbstverständlich er das schon tat. Was sein Gesicht anging, so sah Herman seine Vermutung bestätigt: In seiner Ahnenreihe musste sich mehr als nur ein Ureinwohner dieses Landes befinden, und das letzte rote Blut war spätestens mit seinem Großvater hinzugekommen. Herman war verwirrt und sich seiner eigenen Gefühle nicht sicher. Es war der erste Indianer, den er wirklich zu Gesicht bekam, und er schien nett zu sein – immerhin hatte er seine eigene Gesundheit riskiert, um einem vollkommen Fremden beizustehen, von dem er nicht einmal wusste, ob er nicht sogar verdient hatte, was ihm widerfuhr. Aber der Mann war trotzdem ein halber Indianer, und sein Vater hatte ihm eine Menge schlimmer Geschichten über die Roten erzählt. Man konnte ihnen nicht trauen. Oft taten sie nett und hilfsbereit, verfolgten aber insgeheim ihre eigenen finsteren Pläne. Von seiner Mutter wusste Herman, dass sie noch zu Lebzeiten ihres Großvaters manchmal harmlose Siedler überfallen und grausam zu Tode gefoltert hatten.

»Verrätst du mir, warum die beiden dich verprügelt haben?«, fragte der Indianer, nachdem sie eine Weile gegangen waren.

Herman nickte zwar, sagte aber trotzdem: »Ich weiß es nicht.«

»Ja, das habe ich mir gedacht«, seufzte sein Retter. »Das sind die Schlimmsten, weißt du? Es macht ihnen einfach Spaß, andere zu quälen. Ich komme viel rum, musst du wissen, und fast in jeder Stadt trifft man auf solche Kerle. Und ich habe das Gefühl, es werden immer mehr. Ich weiß nicht, wo die gute alte Zeit geblieben ist. Früher gab es noch so etwas wie Ehre.«

Jetzt wusste Herman gar nicht mehr, was er denken sollte, zumal er zu spüren meinte, dass der Mann auf eine ganz bestimmte Reaktion von ihm wartete. Aber welche? Sollte er ihn fragen, ob es etwa ehrenvoll war, wehrlose Siedler zu überfallen und bei lebendigem Leibe zu verbrennen oder Frauen und Kinder zu häuten und sich an ihren Schreien zu erfreuen?

Der Gedanke erfüllte ihn mit einer sonderbaren Erregung, derer er sich sofort schämte, ohne sie indes abschütteln zu können. Es war ein vollkommen neues, düsteres Gefühl, der morbiden Verlockung gleich, ein brennendes Holzscheit zu betrachten und es anfassen zu wollen, ungeachtet des Wissens, dass nur Schmerz und Verstümmelung am Ende dieser Verlockung warteten.

Herman fragte sich, welche Farbe wohl auf Matthews Messerklinge zu sehen gewesen wäre, hätte er sie in das Fleisch des Indianers getaucht. War das Blut der Wilden auch rot, wie das richtiger Menschen, oder so schwarz wie ihre Seelen?

Hastig verscheuchte er den Gedanken, nickte nur noch einmal dankbar und eilte ohne ein weiteres Wort los, als die Kirche in Sichtweite kam. Er traute sich nicht, zu seinem Retter zurückzublicken, aber er spürte, dass er auf der anderen Straßenseite stehen blieb und ihn beobachtete, ganz wie er es versprochen hatte.

Die Kirche lag am Stadtrand und nur zwei knappe Steinwürfe vom Wald entfernt, der diese Seite von Gilmanton wie eine große grünbraune Hand umschloss. Seine Furcht wollte Herman weismachen, dass Matthew und Frank die Zeit längst genutzt hatten, um ihn zu umgehen und ihm nun verborgen in den Schatten des Waldes aufzulauern. Hermans Verstand sagte aber, dass sie gar nicht hatten wissen können, dass er hierherkommen würde, und dass die Zeit nicht gereicht hatte, sich in einem großen Umweg an ihm vorbeizuschleichen.

Doch was scherte seine Angst die Logik? Für einen kurzen Moment war er ernsthaft in Versuchung, so wie er war, in die Kirche zu flüchten. Doch dann erwies sich die Scham doch als stärker. Er zitterte vor Angst am ganzen Leib, als er den Brunnen in der Nähe der Kirche erreichte. Sein Blick ließ den Waldrand nicht für eine Sekunde los, während er den Eimer in die Tiefe warf und anschließend die quietschende Kurbel betätigte, um ihn wieder nach oben zu ziehen. Selbst wenn die beiden Jungen bisher nicht gewusst hatten, wo er war, musste ihn das laute Quietschen spätestens jetzt verraten.

So rasch und gründlich es das eiskalte Brunnenwasser zuließ, säuberte sich Herman und wusch anschließend auch noch seine besudelten Hosen. Er kam sich unendlich verwundbar vor, wie er halb nackt am Brunnen stand und den groben Stoff immer wieder in den Eimer tauchte und auswrang. Selbst als er fertig war und wieder in die nassen Hosen schlüpfte, wurde es nicht viel besser, denn die Löcher über seinen zerschundenen Knien waren immer noch da, seine Schuhe waren immer noch ruiniert, und der Stoff klebte so kalt auf seiner Haut, dass er mit den Zähnen klapperte.

Wenigstens konnte er sich einreden, dass sein Zittern an der Kälte lag.

Alles in allem hatte er nur wenige Minuten benötigt, bis er schließlich die Hosenträger über die Schultern hob und wieder in die Jacke schlüpfte. Dabei registrierte er, dass einer seiner zahlreichen Stürze auch von ihr seinen Tribut gefordert hatte, aber darauf kam es inzwischen wohl nicht mehr an. Schlimmer – wenigstens in diesem Moment – war, dass er nun auch zu spät zum Gottesdienst kam. Die Glocke hatte aufgehört zu läuten. Reverend Folsom würde schon auf der Kanzel stehen und nicht nur mit seiner Predigt beginnen, sondern auch mit einem einzigen Blick diejenigen seiner Schäfchen registrieren, die nicht zum Gottesdienst erschienen waren. Sein Vater würde mit steinerner Miene auf der harten Bank sitzen und den leeren Platz zu seiner Linken zu ignorieren versuchen, der an diesem besonderen Sonntag für seinen jüngsten Sohn reserviert war.

Aus der Kirche drang die Musik des kleinen Harmoniums, das Reverend Folsom anstelle einer Orgel sein Eigen nannte. Herman ging auf, dass er zumindest noch eine minimale Chance hatte, halbwegs pünktlich neben seinem Vater auf der Bank zu sitzen.

Er rannte los.

Und blieb mit klopfendem Herzen wieder stehen, noch bevor er die halbe Strecke zurückgelegt hatte.

Beiderseits der Kirche tauchten wie aus dem Nichts Matthew und Frank auf. Sie blickten mit einem breiten Feixen zu ihm, das er trotz der großen Entfernung so deutlich sehen konnte, als stünden sie direkt vor ihm.