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Uwe Timm

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Beschreibung

»Ein brillantes Buch.« Main-Echo. Deutsch-Südwestafrika, 1904. Beginn eines erbarmungslosen Kolonialkrieges, den das Deutsche Kaiserreich gegen aufständische Hereros und Hottentotten führt. An der Spitze der für ihre Freiheit kämpfenden Schwarzen steht Jakob Morenga, ein früherer Minenarbeiter. Was damals in dem heute unabhängigen Namibia geschah, hat Uwe Timm in einer geschickten Montage von historischen Dokumenten und fiktiven Aufzeichnungen zu einem grandiosen historischen Roman verdichtet.

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Seitenzahl: 542

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Uwe Timm

Morenga

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

KarteVorzeichenJenseits der BrandungZwei PositionenAllgemeine LageFeindbildNachschub und andere logistische ProblemeGeschäftsweltWenstrups VerschwindenDer ProphetGefechtsbericht 1Gefechtsbericht 2Ferne FeuerLandeskunde 1Von der milderen, menschlicheren ...Sich die Hände schmutzig machenLandeskunde 2Gefechtsbericht 3Wenn Stabsarzt Otto Witze erzählen mußLandeskunde 3DurststreckenAus Namaland und KalahariHintermännerJumpingbean TreeTanzenAllgemeine LageDie wunderbaren WolkenDie VerfolgungDer WunderbuschDas EndeNachtrag
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Vorzeichen

An einem Nachmittag im April 1904 schickt der Farmer Kaempffer den Hottentottenboy Jakobus, der schon seit zwei Jahren im Haus dient, nach dem jüngsten Sohn Klaus, der seine Schulaufgaben machen soll. Jakobus, der Treue, läuft sofort los. Aber weder er noch Kaempffers Sohn kommen. Das Warten wird Kaempffer schließlich zu dumm. Er geht aus dem Haus, um die beiden zu suchen. Seinen Sohn findet er schnell. Er spielt in der Nähe des Kraals. Jakobus aber ist verschwunden. Kaempffer sucht, er ruft, er fragt die anderen eingeborenen Farmarbeiter. Niemand will ihn gesehen haben. Kaempffer geht ins Haus und an den Schreibtisch zurück. Beim Hinsetzen hat er das merkwürdige Gefühl, als habe sich etwas verändert. Schon will er sich wieder seinen Abrechnungen zuwenden, als er vor sich auf der Fotografie, die ihn als Reserveleutnant zeigt, das kleine Tintenkreuz entdeckt, direkt über seinem Kopf.

 

Der Farmer Kruse tritt morgens aus seinem in der Nähe von Warmbad gelegenen Farmhaus, um die Eingeborenen wie gewöhnlich zur Arbeit einzuteilen.

Kein Mensch ist zu sehen.

Er geht zur Eingeborenenwerft hinüber. Alle Pontoks sind über Nacht abgebrochen worden. Ein Feuer glimmt noch. Plötzlich flattert hinter einer Gruppe von Weißdornbüschen ein Schwarm von Kronenkiebitzen auf. Kruse geht schnell ins Haus, verrammelt Tür und Fenster, nimmt das Gewehr von der Wand, lädt es und legt alle anderen Patronen griffbereit auf den Tisch.

 

Auf der Farm »Deutsche Erde« wird dem Farmer Strohmeier von einem schwarzen Arbeiter die Peitsche entrissen, mit der Strohmeier die Eingeborenen bei ihrer Arbeit anzutreiben pflegt. Der Eingeborene droht Strohmeier mit der Peitsche. Der Farmer sattelt sofort sein Pferd und reitet zur nächstgelegenen Polizeistation.

 

Ein Namamädchen sagt zu Frau Krabbenhöft: Wenn jemand nachts an dein Fenster klopft, dann kann nur ich es sein, aber dann mußt du schnell laufen.

 

In den ersten Junitagen des Jahres 1904 geht ein Telegramm in Windhuk beim kaiserlichen Gouvernement ein: Eine Bande bewaffneter Hottentotten hat im Südosten des Landes vereinzelt liegende Farmen überfallen und weißen Farmern Vieh und Waffen abgenommen. Keiner der Farmer wurde getötet. Der Anführer dieser Bande ist ein gewisser Morenga.

 

Wer war Morenga?

 

Auskunft des Bezirksamtmanns von Gibeon: Ein Hottentottenbastard (Vater: Herero, Mutter: Hottentottin). Nennt sich auch Marengo. Beteiligte sich am Bondelzwart-Aufstand 1903. Soll an einer Missionsschule erzogen worden sein. An welcher, konnte nicht ermittelt werden. Zuletzt hat er in den Kupferminen von Ookiep im nördlichen Teil der Kapkolonie gearbeitet.

 

Morenga reitet einen Schimmel, den er nur alle vier Tage tränken muß. Nur eine Glaskugel, die ein Afrikaner geschliffen hat, kann ihn töten. Er kann in der Nacht sehen wie am Tag. Er schießt auf hundert Meter jemandem ein Hühnerei aus der Hand. Er will die Deutschen vertreiben. Er kann Regen machen. Er verwandelt sich in einen Zebrafinken und belauscht die deutschen Soldaten.

 

Telegramm: Am 30. August ist es am Schambockberg zu einem Gefecht zwischen der Patrouille Stempel und der Morengabande gekommen. Leutnant Baron v. Stempel und vier Mann gefallen, vier Mann verwundet, einer vermißt.

 

Der Bezirksamtmann von Gibeon, v. Burgsdorff, hat zu Kaufmann Kries gesagt: Wir müssen um jeden Preis einen Aufstand der Hottentotten verhindern, solange die Herero nicht endgültig niedergeworfen sind.

Das war am 1. Oktober 1904.

 

Am Nachmittag des 3. Oktober erscheinen die Witbooi-Hottentotten Samuel Isaak und Petrus Jod bei dem Bezirksamtmann v. Burgsdorff und übergeben ihm einen Brief ihres Kapitäns Hendrik Witbooi. Der Brief enthält die Kriegserklärung an die Deutschen.

Burgsdorff beschließt, sofort zu Hendrik Witbooi zu reiten. Er hofft, den Kapitän, den er seit zehn Jahren persönlich kennt, umzustimmen. Er sagt zu seiner Frau, er käme am nächsten Tag zurück. Unbewaffnet reitet er, von den beiden Witbooi-Großleuten begleitet, nach Rietmont ab.

 

Als er indessen am folgenden Tag Mariental erreicht, wird er von den dort versammelten Eingeborenen gefragt, ob er den Brief des Kapitäns erhalten habe, und, als er dies bejaht, von einem Bastardhottentotten namens Salomon Stahl hinterrücks niedergeschossen. (Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 2, Berlin 1907, S. 13)

 

Am 4. Oktober 1904 bricht im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika der Aufstand der Hottentotten (richtig Nama) aus, fast genau acht Monate, nachdem sich die Herero erhoben hatten. Damit herrscht im ganzen Land der Kriegszustand. Der deutsche Generalstab muß abermals Truppenverstärkungen in Marsch setzen.

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Jenseits der Brandung

Oberveterinär Gottschalk wurde von einem Neger an Land getragen. Draußen, vor der Brandung, ankerte die »Gertrud Woermann«. Kruneger hatten die Soldaten durch die Brandung gepaddelt. Am Ufer standen Neugierige, darunter viele Soldaten, auch ein paar Frauen waren zu erkennen, Sonnenschirme in den Händen. Gottschalk mußte an ein Seebad denken, Norderney, wo er einmal Urlaub gemacht hatte. Nur die weißen Verbände der Verwundeten störten diesen Eindruck. Als das Boot im seichten Wasser festlief, war Gottschalk einem der dort wartenden Neger auf den Rücken gestiegen. Der Mann war nur mit einer zerrissenen Anzughose bekleidet. Gottschalk fühlte die schwitzende schwarze Haut, er roch den sauren Schweiß. Er ekelte sich. Mit einer sanften Drehung wurde er in den Sand gestellt.

Gottschalk stand auf afrikanischem Boden. Er glaubte, der Boden schwanke unter seinen Füßen.

 

Vor fast drei Wochen war Gottschalk in Hamburg an Bord der »Gertrud Woermann« gegangen. Am Nachmittag des 28. September 1904 hatte ein dünner Schnürregen eingesetzt. Die Pferde waren schon verladen und standen geschützt in dem vorderen Laderaum. Im Achterschiff verschwanden noch immer Munitionskisten, Geschütze und Proviant. Um 18.30 Uhr heulte mit einem weißen Schweif die Dampfsirene. Die Gäste mußten von Bord. Die Luken waren schon verschalt und mit einer Persenning überzogen. Unten, auf dem Kai, standen Hunderte von Menschen, Verwandte, Freunde, Neugierige, von denen man hier oben auf dem Bootsdeck nur die schwarzen Schirme sehen konnte. Gottschalks Eltern hatten geschrieben, sie wollten auf dem Deich bei Glückstadt stehen und winken, er solle das vom Schiff aus ebenfalls tun, am besten mit einer weißen Tischdecke. Eine Musikkapelle der 76er war auf dem Kai aufgezogen und spielte Märsche. Der Lotse kam an Bord. Das Fallreep wurde eingezogen, und plötzlich war im Schiff ein gleichmäßig stampfendes Dröhnen, das jetzt fast drei Wochen anhalten sollte, ein leichtes Vibrieren der Decksplanken, das Klappern eines Flanschs. Aus dem Schornstein quollen schwarze Rauchwolken, die, bei der Windstille und da das Schiff keine Fahrt machte, vom Regen auf das Deck niedergedrückt wurden. Kleine fettige Rußkrümel setzten sich auf Gottschalks grauen Uniformmantel und hinterließen, als er versuchte sie abzustreifen, schwarze Striche. Und erst jetzt, die Trossen waren schon losgeworfen, die Kapelle spielte: Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus – angesichts dieser schwarzen Rauchfahne, die sich langsam und rußend über das Schiff hinwegwälzte, hatte Gottschalk plötzlich den Wunsch, wieder auszusteigen. Da wurde ein Krieg geführt, der ihn, genaugenommen, doch gar nichts anging. Wie war er nur auf den verrückten Gedanken gekommen, sich freiwillig zu melden? Andererseits hatte er sich in den vergangenen Tagen auf Südwest gefreut. Dort begann, während in Deutschland die Tage kürzer und kälter wurden, der Sommer. Seit seiner Kindheit hatte Gottschalk einen Traum: Es gab keinen Sommer. Entweder er hatte ihn verschlafen, oder aber er war aus unerklärlichen Gründen ausgeblieben. Die Offiziere und Mannschaften an Deck brachten ein dreifaches Hurra auf den Kaiser aus. Gottschalk hörte sich dreimal hurra rufen.

Zwei Schlepper zogen den Dampfer vom Kai und in den Strom. Nur verschwommen sah man die Lichter in der regengrauen Dämmerung vom Övelgönner Uferweg. Dort warfen die Schlepper die Trossen los und ließen zum Abschied ihre Sirenen heulen.

Gegen 22 Uhr passierte das Schiff Glückstadt. Gottschalk stand allein auf dem Bootsdeck. Der Regen war stärker geworden, auch ein leichter Nordwest war aufgekommen. Gottschalk konnte in der durchregneten Dunkelheit lediglich das Leuchtfeuer von Glückstadt erkennen. Irgendwo in dieser Richtung standen seine Eltern auf dem Deich, mit weißen Bettlaken. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal die Lichter des Dampfers erkennen können.

 

Während der Überfahrt mußte Gottschalk sich eine Kabine mit dem Oberarzt Doktor Haring und dem Unterveterinär Wenstrup teilen. Oberarzt Haring hatte, gleich nachdem der Steward ihm das Bett zugewiesen hatte, ein Bild auf den einzigen Tisch in der Kabine gestellt. Die Fotografie zeigte – wie er Gottschalk erklärte – seine Frau und seine Töchter Lisa und Amelie. Schon am ersten Reisetag lernte Gottschalk die verwickelten Familienverhältnisse der Harings kennen. Haring hatte seine Cousine geheiratet, die genaugenommen aber gar nicht seine Cousine war. Sein Onkel hatte das Mädchen adoptiert. Auf die Frage Harings, warum er, Gottschalk, noch nicht verheiratet sei, antwortete Gottschalk: Er habe noch nicht die Richtige gefunden.

Wenstrup beteiligte sich an diesen Gesprächen nicht, auch dann nicht, als Haring einmal den Versuch machte, ihn mit einzubeziehen, indem er darauf hinwies, daß man sich bei der schlechten Kabinenbeleuchtung leicht die Augen verderben könne. Wenstrup lag nämlich meist lesend auf seinem Bett.

Gottschalk hätte gern den Titel des Buchs gewußt, das Wenstrup las. Aber das Buch steckte in einem Buchschoner aus Schlangenleder, und fragen mochte er nicht.

Er selbst hatte sich für die Überfahrt drei Bücher mitgenommen. Ein Lehrbuch der Immunologie, eine südafrikanische Pflanzenkunde und einen Roman von Fontane, ›Der Stechlin‹.

Mit der Angewohnheit zu lesen, hatte Gottschalk in seinem alten Regiment anfangs die Witzeleien einiger Offiziere auf sich gezogen. Einmal fand man ihn sogar während eines Manövers an einem Wagenrad im Schatten sitzen, ein Buch in der Hand. Was ihn davor schützte, als Sonderling ins Gerede zu kommen, war, daß er die Leserei als notwendiges Übel herunterspielte, da er wissenschaftlich auf dem laufenden bleiben müsse. Aber es blieb natürlich nicht verborgen, daß er auch Romane las, und zwar zeitgenössische.

Von Gottschalk hieß es, daß er auch schwer lahmende Pferde schnell wieder auf die Beine bringen könne. Truppenoffiziere, die glaubten, sich an diesem Roßarzt die Stiefel abwischen zu können, erlebten meist peinliche Überraschungen. Der Major von Consbruch brüllte auf dem Kaisermanöver Gottschalk an, als der ihm empfahl, sein lahmendes Pferd zu schonen. Später, als die Batterien im Galopp vorgingen, mußte der Major mitten in der Aktion auf ein mitgeführtes Handpferd umsteigen. Der hinter seinen Batterien hergaloppierende Bataillonschef gab kein gutes Bild ab. Er erhielt vom Kommandierenden General persönlich einen Rüffel. Solche Fälle sprachen sich herum, ohne daß Gottschalk damit protzte.

 

Grußvorschrift

Auf Schiffen wird ein Vorgesetzter nur einmal am Tag gegrüßt, und zwar dann, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet. Ein Unterveterinär hat einen Oberveterinär zu grüßen, indem er die Hand an den Mützenschirm bzw. an die Hutkrempe legt. Die gleiche Grußbezeugung macht ein Oberveterinär vor einem Oberarzt. Alle drei Dienstgrade, also Unterveterinär, Oberveterinär und Oberarzt, müssen jedem Leutnant die obig angegebene Grußbezeugung zuerst erweisen.

 

Die »Gertrud Woermann« hatte schon den Ärmelkanal passiert, als Gottschalk mit Wenstrup erstmals auf persönliche Dinge zu sprechen kam.

Es hatte ziemlich aufgebrist, und es gab die ersten Seekranken. Wenstrup bot Gottschalk eine Pille gegen Seekrankheit an. Gottschalk erzählte, daß er in Glückstadt aufgewachsen sei, sozusagen mit Schiffen vor der Haustür. Sein Vater habe dort einen Kolonialwarenladen und sein Großvater mütterlicherseits einen Heringslogger. In seinen Schulferien sei er einige Male mit zur Doggerbank gesegelt.

Gott schütze uns vor Feuer auf hoher See, das war so ein Schnack, den Gottschalks Großvater bei jeder Gelegenheit in einem sperrigen Hochdeutsch abließ.

Wenstrup sagte, er sei Berliner, Landratte also, und habe sich vorsorglich das Mittel eingesteckt.

 

Was Gottschalk erst später bewußt geworden war: daß Wenstrup nur ihm von dem Mittel gegen Seekrankheit angeboten hatte und nicht dem Leutnant von Schwanebach, der sehr litt, auch nicht dem Transportführer, Rittmeister von Tresckow.

Während des Frühstücks behauptete von Tresckow, Kavalleristen würden so leicht nicht bleich werden, dazu gebe es doch zu viele Parallelen zwischen Pferden und Schiffen. Das Mittagessen ließ er ausfallen. Nachmittags stand er auf dem Bootsdeck, klammerte sich an die Reling und starrte in die Ferne. Jemand von der Schiffsbesatzung hatte ihm gesagt, das helfe. Sein Monokel baumelte achtlos an der Schnur, schlug, wenn das Schiff überholte, klirrend an einen Stahlstutzen. Kurz vor dem Abendessen kam Wenstrup in die Kabine und sagte zu Gottschalk, er möge doch mal in die Toilette gehen, dort könne er die Kampfkraft der Gardekavallerie einschätzen.

Gottschalk fand auf dem Boden, die Klosettschüssel umarmend, das grüne Gesicht auf dem weißen Porzellanrand, den Rittmeister von Tresckow. Als Gottschalk fragte, ob er helfen könne, antwortete Tresckow: Danke, Kamerad. Er hob nicht einmal den Kopf.

 

In Gottschalks Tagebuch finden sich von der Zeit der Überfahrt fast nur die täglichen Vermerke über Längen- und Breitengrade, dazu stereotype Angaben zum Wetter: trüb, bedeckt, sonnig, regnerisch. Nur an drei Tagen sind etwas ausführlichere Eintragungen gemacht worden:

 

Tagebucheintragung Gottschalks vom 8.10.1904

Wendekreis des Krebses. An Deck wurden Sonnensegel aufgeschlagen. Überall sind Pferdehaare. Die Tiere verlieren infolge des Klimawechsels ihr Winterfell.

 

10.10.

Nachts, gerade über der Kimm, das Kreuz des Südens. Der Wunsch, allein zu sein, statt dessen abgezirkelte Gespräche in der Messe. Ein Gefühl, als sei man innerlich verschnürt. W. hält sich einfach fern.

 

13.10.

Das Schiff passierte den Äquator. Mittags um 12 Uhr konnte man seinen Schatten, wenn man stand, mit einer Mütze bedecken.

Wenstrup, der sich einen Vollbart stehen läßt, mußte sich anläßlich der Äquatortaufe von einem Gehilfen Neptuns (dargestellt vom Sergeanten Ro., einem alten Schutztruppler) mit einem gewaltigen Holzmesser rasieren lassen.

Wenstrup machte dazu ein todernstes Gesicht, als würde ihm gleich der Kopf abgeschlagen. Alle lachten. Auch ich.

 

Einmal fragte Wenstrup Gottschalk, warum er sich freiwillig nach Südwest gemeldet habe. Gottschalk gab darauf die Antwort: Das habe verschiedene Gründe.

 

Eine Fotografie: Gottschalk sitzt in einer abgetragenen Khakiuniform, eine Schirmmütze auf dem Kopf, vor einem Trainwagen. Von dem mannshohen Holzrad sieht man rechts im Bild vier Speichen. Den linken Arm hat Gottschalk auf einen Holztisch gelegt. Auf diesem Tisch liegen: eine Feldflasche, Papierbögen, Bleistifte, ein Taschenmesser und ein Wachstuchheft (sein Tagebuch). Dunkle Augen, ein dunkler Bart, den er sich offenbar erst einige Tage hat stehenlassen, ein sanft geschwungener Mund. Ein Erinnerungsfoto für die zu Hause in Glückstadt, so hat er sich für den Fotografen hingesetzt. Man könnte glauben, daß er, in die Kamera blickend, die Luft anhält.

Was ist eigentlich Ihr Vater, fragte während des Abendessens Leutnant von Schwanebach.

Kolonialwarenhändler.

Am Tisch wurde gelacht. Man glaubte, Gottschalk habe sich einen Witz erlaubt.

 

Die Waage hing von der Decke über dem Ladentisch. Wenn sein Vater 100 Gramm Safran auswog, benutzte er dazu Kupfergewichte, die in verschiedenen Größen wie kleine Töpfe ineinandersteckten. Was für den kleinen Gottschalk unverständlich war, daß all die Datteln, Feigen, Trockenbananen und Mandeln nicht einfach gegessen werden konnten, wenn man darauf Lust hatte. (Was ihm dann auch seine Spielkameraden nie glauben wollten.) Seine Mutter mußte erst mit seinem Vater verhandeln, wenn sie zum Kochen etwas brauchte. Über die entnommene Menge wurde Buch geführt. Es gab eine unsichtbare Grenze zwischen dem Laden und der Wohnung im ersten Stock, die man nur über eine schmale Treppe vom Laden aus erreichen konnte. Für unten galten andere, strengere Gesetze als für oben, und sie waren dem kleinen Gottschalk drastisch eingebleut worden, nachdem er sich einmal eine Handvoll Mandeln aus einem Glas im Regal genommen hatte. Was hier im Laden in Gläsern, Säcken und Kisten stand und lag, wartete allein darauf, irgendwann einmal ausgewogen zu werden, um dann, gegen Münzen, den Besitzer zu wechseln. Die Familie schien vom Warten zu leben.

 

Am 11. Oktober ankerte die »Gertrud Woermann« in Monrovia. Ein Botschaftssekretär kam an Bord mit der Nachricht, in Südwest hätten sich auch die Hottentotten erhoben. Das ist dann gleich ein Abwasch, sagte ein Oberleutnant.

Fünfzehn Kruneger wurden an Bord genommen. Sie sollten, wenn der Dampfer Swakopmund erreicht hatte, die Soldaten an Land paddeln. Oberarzt Haring erhielt den Befehl, die Neger, die sich auf dem Vorschiff einrichten mußten, zu untersuchen.

Genaugenommen eine Arbeit für unsere beiden Veterinäre, sagte Leutnant Schwanebach. Alle lachten, nur Wenstrup nicht. (Dr. Haring: Der Mann hat etwas Humorloses.) Gottschalk fand, daß er selbst viel zu laut mitgelacht hatte. Genaugenommen war ihm zum Lachen gar nicht zumute gewesen.

 

Sechs Tage später erreichte der Dampfer Swakopmund. Nachts hörte Gottschalk ein lautes Klatschen und dann das Schurren der Ankerkette. Aber er war von etwas anderem aufgewacht. Er brauchte einen Moment, bis es ihm bewußt wurde: Das Fehlen des gleichmäßig stampfenden Dröhnens, des leichten Vibrierens von Planken, Kabinenwänden und dem Bettgestell. Gottschalk überlegte, ob er hinausgehen und zur Küste hinübersehen sollte. Als er dann aber Stimmen auf dem Bootsdeck hörte und sah, daß Oberarzt Haring schon draußen war, blieb er liegen.

 

Als er am nächsten Morgen hinausging, fand er sich zu seinem Erstaunen in einem milchig dichten Nebel. Er konnte nicht einmal das Heck des Schiffs erkennen. Nur das taktmäßige Rauschen und Brausen einer Uferbrandung deutete an, wo die Küste lag. Gegen 11 Uhr lichtete sich der Nebel. Eine graubraune Wüstenlandschaft kam zum Vorschein.

An der Küste lagen verstreut ein paar Backsteinhäuser, Baracken, Wellblechhütten, Zelte. Keine Palmen, keine Bäume, überhaupt kein Grün. Obwohl Gottschalk wußte, was ihn landschaftlich erwartete, war er enttäuscht.

 

Nachdem die Kruneger die Soldaten in Brandungsbooten an Land gebracht hatten, wurden die Pferde verladen. Einzeln wurden sie in Gurten von der Bordwinsch aus dem Laderaum gehievt und dann auf Holzpräme gefiert. Die Präme wurden von einer Dampfbarkasse in die Nähe der Brandung geschleppt, wo die Begleitmannschaft durch Peitschenknallen die Pferde ins Wasser trieb. In Rudeln schwammen sie an Land.

Wenstrup kam mit dem letzten Boot. Er hatte das Verladen der Pferde an Bord überwacht. Als das Boot sich im seichten Wasser festlief, konnte man erkennen, daß er barfuß war. Er lehnte es ab, sich von einem der Neger an Land tragen zu lassen. Stiefel, Degen und Socken in den Händen, watete er an Land.

Rittmeister von Tresckow, der neben Gottschalk stand und die herumtollenden Pferde beobachtete, die von den Mannschaften des Pferdedepots langsam zusammengetrieben wurden, sagte: Die Gäule mögen ja schlagen und beißen wie sie wollen, am Ende kommen sie doch wieder vor einen Wagen und bekommen einen Kutscher oder Reiter, der sie mit Zügel und Peitsche lenkt.

 

In Swakopmund erfuhr Gottschalk, daß er nicht wie vorgesehen zur Nordabteilung ins Hereroland kommen sollte, sondern der 8. Batterie im Süden zugeteilt worden war.

Im Süden sieht es ziemlich finster aus, sagte der Oberleutnant Ahrens.

 

Zwei Lokomotiven zogen den Kleinbahnzug durch die Wüste. Gottschalk hätte bequem neben dem Zug herlaufen können, wäre nicht die Hitze gewesen. Er saß wie die anderen auf Hafersäcken. Über den offenen Güterwagen hatte man als Sonnenschutz eine Plane gespannt.

Allein Rittmeister Tresckow trug noch seine Uniformjacke und umgeschnallt seine Pistole.

Will der die Lokomotive besteigen, hatte Wenstrup Gottschalk bei der Abfahrt gefragt und dabei auf die Reitgerte des Rittmeisters gezeigt. Gottschalk tat, als habe er nichts verstanden. Später, der Zug war schon abgefahren, zeigte sich aber, daß im Griff der Reitgerte ein kleines goldenes Feuerzeug eingebaut war. Eine Spezialanfertigung einer Peitschenfabrik im Allgäu.

Sehr bequem, sagte Tresckow, und das sollte fünf Monate später auch ein Hottentotte sagen, als er nach einem Patrouillengefecht diese Peitsche fand.

Bequem, weil man sich noch kurz vor der Attacke eine Zigarette anzünden konnte, ohne lange in den Taschen wühlen zu müssen. Gottschalk hatte sich in die offene Waggontür gesetzt. Er hoffte, der Fahrtwind würde etwas Kühlung bringen. Es war, als säße er vor der offenen Feuerung eines Heizkessels. Draußen lag in der flimmernden Hitze eine öde, pflanzenlose Ebene, aus der hin und wieder zerklüftete Felsen herausragten und zuweilen, wie hingeschüttet, gewaltige Geröllhalden.

 

Zweimal im Jahr packte Gottschalks Vater eine Segeltuchtasche und fuhr mit der Eisenbahn nach Hamburg. Geschäftsreise nannte er das. In der Segeltuchtasche hatte er sein Auftragsbuch, in dem stand, was und in welcher Menge er bei dem Kolonialwaren-Importeur nachbestellen mußte.

Auf diese Zeit, diese fünf oder sechs Tage im Jahr, freute sich der kleine Gottschalk. Er durfte dann im Laden spielen, und seine Mutter nahm die Glasdeckel von den dickbauchigen Gläsern in den Regalen und ließ ihn hineinriechen: Zimt, braune Borkenstücke aus Ceylon; Vanille, verschrumpelte braunschwarze Schoten aus Guatemala; Muskat, graurillige Fruchtkerne aus Kamerun; der süße, schwere Duft der Gewürznelken, dickstengelige Blütenknospen, die von den Gewürzinseln in der Molukkensee kamen.

Dieses Wort: Gewürzinseln.

Woran denken Sie, wenn Sie Gewürzinseln hören, hatte Gottschalk während der Überfahrt Wenstrup einmal gefragt. Der dachte einen Augenblick nach: ein nach innen gerichtetes Schmecken, dann sagte er: Glühwein, und zu Gottschalk: Ich glaube, der große Moltke war’s, der gesagt hat: Preußens Armee hat keinen Platz für Juden und für Träumer.

 

Nachts hielt der Zug an einer kleinen Wellblechhütte, die ringsum von einem Sandsackwall umgeben war. Daneben ein Wassertank, Kohlenhaufen und ein Holzkreuz. Der Bahnbeamte, der hier Dienst getan hatte, war bei Beginn des Aufstandes von Herero erschossen worden. Das Stationshäuschen war jetzt mit sechs Mann vom Eisenbahndetachement besetzt. Posten wurden aufgestellt. Gottschalk schlief erstmals im Freien. Er konnte nur schwer einschlafen. Um 5 Uhr morgens wurde geweckt, Kaffee ausgeschenkt, dazu gab es Schiffszwieback. Gegen 6 Uhr fuhr der Zug weiter. Nachts könne man nicht fahren, hatte der Lokomotivführer gesagt, die Gegend werde noch immer von versprengten Hererobanden unsicher gemacht.

Nach vier Stunden Fahrt veränderte sich die Landschaft: hügelig mit einigen dürren Büschen.

Doktor Haring und Oberleutnant Ahrens unterhielten sich darüber, wie man dieses Land einmal kultivieren könne.

Wenig später hielt der Zug. Die Schienen waren vom Sand zugeweht. Ein Trupp gefangener Herero schaufelte sie frei. Jeweils zwei waren mit Ketten aneinandergefesselt. Daneben standen zwei Posten. Der eine rauchte eine Pfeife.

Einer der gefangenen Herero trug – vermutlich als Schutz gegen das scheuernde Halseisen – einen abgerissenen Stehkragen.

 

In der Gegend von Karibib wurde der Baum- und Buschbestand dichter. Dazwischen, in Senken und Mulden, wo Wasserstellen lagen, kamen immer wieder grüne Inseln. Das Gras der Ebene hingegen war durch die monatelange Trockenheit auf dem Halm zu Heu geworden. Hier konnte man, das sah Gottschalk, Viehzucht treiben, wenn auch nur extensiv. Die Aufmerksamkeit, mit der er die Landschaft draußen betrachtete, fiel schließlich sogar dem Leutnant von Schwanebach auf, der fragte, ob der Oberveterinär Angst vor den schwarzen Banditen habe oder nach Pavianen Ausschau halte.

 

In Gottschalks Tagebuch finden sich zahlreiche Eintragungen über die Bodenbeschaffenheit und Flora der Gegenden und Landstriche, durch die er gekommen ist. Es finden sich auch Skizzen von Farmhäusern, zumeist mit sechs bis acht Zimmern. Diese Grundrisse sind exakt, wenn auch in architektonischer Hinsicht laienhaft ausgeführt. So wäre nach einem Entwurf die Küchentür gar nicht zu öffnen gewesen, da ein Wassertank sie versperrte.

 

Wonach Gottschalk Ausschau hielt, war Farmland, auf dem er, in einigen Jahren, mit seinem ersparten Geld Rinder und Pferde züchten wollte. Meist abends vor dem Einschlafen richtete er sich schon in dem Farmhaus ein. Es gab eine Bibliothek, ein Wohnzimmer, in dem ein Klavier stand (tatsächlich findet sich in einer der Skizzen ein Piano im Wohnraum), obwohl Gottschalk selbst nur etwas Flöte spielen konnte, aber seine Frau würde Klavier spielen können, später auch seine Kinder. Wobei gesagt werden muß, daß Gottschalk zu dieser Zeit (er war vierunddreißig Jahre alt) keine Frau kannte, die seine Frau hätte werden können. In Hamburg hatte er das gehabt, was man ein Verhältnis nannte, und zwar mit der Frau eines Amtsgerichtsrates.

Für Angehörige der Schutztruppe gab es zinsgünstige Kredite, wenn sie in Südwest Land erwerben wollten. An einem warmen Abend würde sich die Familie im Wohnzimmer zur Hausmusik versammeln, und man würde in der Ruhe des Landes die Sonata ›La Buscha‹ von Johann Heinrich Schmelzer hören. Das war eine jener Situationen, die Gottschalk immer wieder vor Augen hatte, wobei er sich selbst beim Musizieren beobachtete, zugleich aber auch aus der Ferne das Haus mit seinen erleuchteten Fenstern sah und in der nächtlichen Stille das Cembalo hörte. Ob er ein Klavier oder Cembalo kaufen würde, hing jeweils von der Situation ab, die er sich gerade vorstellte, und von dieser Situation wiederum, wie das Zimmer auszusehen habe und dementsprechend das Haus (darum die Skizzen so unterschiedlicher Haustypen) und endlich auch die Zahl seiner Kinder. Bei bestimmten Musikstücken würden drei reichen, bei anderen vier, zuweilen waren sechs notwendig, wobei man wohl später, wenn der Farmbetrieb mit seiner Zucht florierte, eine Gouvernante, womöglich auch einen Hauslehrer einstellen konnte, so daß auch an andere, größere Konzerte zu denken war. Voraussetzung bei einer Bewerbung war, daß der Betreffende ein bestimmtes Instrument spielen konnte, zum Beispiel ein Barockfagott oder ein Naturhorn in Es, damit man auch Telemanns ›Ouverture avec la suite, à sept instruments‹ spielen konnte.

 

Der Bahnhof von Waldau kam, eine Ruine. An der hellbraunen Fassade konnte man über den leeren Fenstern verrußte Brandspuren sehen. Unmittelbar neben der Ruine steckten drei Holzkreuze im Boden.

 

Über seine Pläne hatte Gottschalk mit niemandem gesprochen, und erst recht nicht über das, was man als Träumerei hätte bezeichnen können. Gottschalk hatte Wenstrup sehr wohl verstanden, als dieser Moltke zitierte: Die preußische Armee hat keinen Platz für Juden und Träumer. Dabei war in Gottschalks Auftreten durchaus nichts Vergrübeltes, Kauziges. Seine Umgangsformen waren, wie Rittmeister von Tresckow in einer Beurteilung schrieb: taktvoll, gewandt und sehr höflich.

 

Am quälendsten war der Fischgeruch. Trotz Kernseife und reichlichem Bürsten blieb er an den Händen. Der kleine Gottschalk mußte die Salzheringe aus den Fäßchen, in denen sie von den Heringsloggern zum väterlichen Geschäft gerollt wurden, in ein großes Faß umpacken. Es stand, mit einem Deckel verschlossen, am Eingang. Die anderen Waren sollten nicht den Fischgeruch annehmen. Das Umpacken der Heringe war Gottschalks Aufgabe, auch dann noch, als er zum Gymnasium ging.

Die Hände hielt er in den Hosentaschen verborgen. Hände auf den Tisch, befahl der Lehrer. Heringsbändiger, hänselten ihn die Mitschüler.

Manchmal, nachts, heulte er, wenn er wußte, daß am nächsten Morgen wieder die Fässer kamen, noch vor Schulbeginn.

 

Was von Tresckow aufgefallen war: Gottschalk hatte während der dreiwöchigen Überfahrt eine auffallende Geste Wenstrups angenommen. Und zwar hatte Wenstrup die Angewohnheit, immer dann, wenn er Fragen stellte oder Tatbestände kritisierte, das Gesicht zusammenzuziehen und sich mit dem Zeigefinger in den Kragen zu fahren, als müsse er sich Luft verschaffen. Eines Tages begann auch Gottschalk, mit dem Zeigefinger am Kragen zu zerren.

 

Gottschalk war sich im übrigen durchaus bewußt, daß er bestimmte Sprechweisen, Betonungen, Gesten, womöglich auch mimische Eigenarten anderer Personen übernahm, gegen seinen Willen, denn er hielt das für ein Zeichen von Unreife, von Charakterschwäche. So hatte er auch eines Tages bemerkt, daß er wie Wenstrup mit dem Finger in den Kragen fuhr und, was noch sonderbarer war, daß er bei dieser Geste sogleich auf kritische Gedanken kam, dieses Bohren schien wie eine Verpflichtung zu sein, etwas in Frage zu stellen. Ein Vorgang, über den Gottschalk sich wunderte, der aber dadurch dennoch nicht außer Kraft gesetzt wurde.

Gottschalk hatte, obwohl schon vierunddreißig Jahre alt, noch immer keine festgelegten körperlichen Ausdrucksformen, vom Gang einmal abgesehen, einem zügig schnellen Schritt, den er schon vor seiner Militärzeit hatte und der in keiner Weise dem lähmenden Latschen seines Vaters ähnelte, das ihm schon als Junge, auf den sonntäglichen Spaziergängen durch Glückstadt, unerträglich gewesen war.

 

Tagebucheintragung Gottschalks vom 21.10.04 (abends, auf dem Transportzug nach Windhuk)

Einen Augenblick lang rannte ein Rudel aufgescheuchter Antilopen neben dem Zug, verschwand dann im Gebüsch.

Tr. sagt, das gesamte Stammesgebiet der Herero soll Kronland werden, d. h. für die Besiedlung freigegeben. Angeblich das beste Land in Südwest, gute Weiden und verhältnismäßig viel Wasser. Ein schöner Gedanke, daß es in dieser Wildnis einmal Augen geben wird, die Goethe lesen, und Ohren, die Mozart hören. Die Flüsse heißen Rivier.

 

23.10.04 (Windhuk)

Windhuk, die Hauptstadt der Kolonie: Eine Kaserne mit einem kleinen Dorf. General Trotha zu Pferde. Stabsoffiziere der Etappenstäbe. Die Festung auf der Kuppe sollen die Schutztruppler unter Hauptmann von François mit den bloßen Händen gemörtelt haben. Die Eingeborenen, schwarze (Herero) und braune (Hottentotten), auch viele Mulatten, Bastards genannt, sehen aus wie kleine abgerissene Europäer, aber schwarz.

 

Am nächsten Tag ging Gottschalk zur Kommandantur. Unterhalb des Forts, in der Nähe der Mannschaftsunterkünfte, standen geschminkte Hottentottenfrauen, die dem vorbeigehenden Gottschalk Zeichen machten: Mit dem Zeigefinger in die geschlossene Hand fuhren oder die Zungenspitze züngelnd aus dem Mund fahren ließen oder aber mit ihrem erstaunlich großen Steiß wackelten.

Diese Weiber seien ganz phantastisch, sagte Stabsveterinär Moll, der Gottschalk in seinen Aufgabenbereich einführte, keine Moral und darum richtige Schweine, leider seien die meisten syphilitisch. Über zwanzig Prozent der Truppe habe sich inzwischen infiziert.

 

Am Rande des Orts stand das Vieh in großen Kraalen. Rinder, Schafe und Ziegen, die man den besiegten Herero abgenommen hatte. Der größte Teil sei leider in der Wüste verdurstet. Es sei nicht gelungen, den Herero das Vieh abzunehmen, bevor man sie in das Sandfeld trieb. Jetzt gelte es, den Viehbestand zu sichten und auf Infektionskrankheiten zu prüfen. Täglich würden neue Tiere angetrieben.

Auf die Frage Gottschalks, was man mit dem Vieh zu tun gedenke, antwortete Moll, es sei dafür da, den Fleischbedarf der Truppe zu decken. Der Rest verrecke einfach. Die deutschen Siedler hätten zwar dagegen protestiert, aber es gäbe einen Befehl vom General.

Die Rinder sahen erbärmlich aus, durchweg abgemagert, viele durch Dornen oder Schüsse verletzt, mit eiternden Entzündungen. Allenthalben lagen die Kadaver der verendeten Tiere herum. Es stank nach Aas.

Unmittelbar neben dem Viehkraal war eine große freie Fläche mit Stacheldraht eingezäunt worden. Davor Posten mit aufgepflanzten Bajonetten. Hinter dem Zaun konnte Gottschalk Menschen hocken sehen, eher Skelette, nein, etwas in der Mitte zwischen Menschen und Skeletten. Zusammengedrängt saßen sie da, meist nackt, in der stechend heißen Sonne.

Wie sehen die denn aus, sagte Gottschalk und starrte hinüber.

Das ist unser Konzentrationslager, erklärte Moll, nach den neuesten Erkenntnissen der Engländer im Burenkrieg errichtet.

Aber das sind ja Frauen und Kinder, sagte Gottschalk.

Ja, man sei endlich dazu übergegangen, die Männer von den Frauen abzusondern. Allerdings gebe es ohnehin nur noch wenige Männer. Es sei immer wieder vorgekommen, daß die am hellichten Tag koitiert hätten, und das, obwohl die doch kaum was zu fressen bekämen. Ein hemmungsloser Drang zur Fortpflanzung. Die Sterbefälle überwögen jetzt aber bei weitem die Neugeburten.

 

Gewürzinseln. Sie liegen am Äquator, auf dem 130. Längengrad, in der Molukkensee. Dort wachsen die Gewürznelken, blühen, süßschwer duftend, auf den Feldern im Landesinneren, umschwirrt von Paradiesvögeln, dort werden die Knospen von Malaien gepflückt, getrocknet und von Trägerkolonnen durch das Geschrei des Dschungels getragen, begleitet vom nächtlichen Sammettritt des Tigers. An der Küste werden sie in Booten mit schnellen Stechpaddeln zu den Schiffen hinausgefahren, die vor den Riffen ankern. Die weißen Segel ziehen am Mast auf, schieben, prall gefüllt vom Passat, das Schiff durch die Ozeane, hängen wochenlang schlaff in den Kalmen, zerplatzen wie Kanonenschüsse in der Biskaya. Neue Segel treiben das Schiff durch den Ärmelkanal zur Elbe, an Glückstadt vorbei, nach Hamburg. Die Nelken, in Säcken vernäht, werden in den Speichern gestapelt, bis zwei Säcke, auf den Ewer von Hannes Christiansen verladen, wieder nach Glückstadt segeln, wo sie in das große Glas im Regal kommen, um nach und nach in den von der Mutter gedrehten Tüten abgewogen und in die Häuser getragen zu werden, was meist der kleine Gottschalk besorgen mußte. Dort wurden sie den Bratensoßen und dem Glühwein beigegeben, entfalteten sie endlich auf der Zunge von Doktor Hinrichsen ihren Geschmack und Geruch, der einmal nur Duft war, auf den fernen Gewürzinseln.

 

Woran die sterben, sagte Gottschalk später zu Wenstrup: Ruhr, Typhus und Unterernährung. Die verhungern.

Nein, sagte Wenstrup, man läßt sie verhungern, das ist ein feiner, aber doch entscheidender Unterschied.

Gottschalk vermutete lediglich ein Versagen subalterner Dienststellen.

Wenstrup hingegen behauptete allen Ernstes, dahinter stecke System.

Welches?

Die Ausrottung der Eingeborenen. Man will Siedlungsgebiet haben.

 

Als Gottschalk am nächsten Tag zu den Viehkraalen ritt und an dem Lager vorbeikam, sah er Hände, die sich durch den Stacheldraht ihm entgegenstreckten.

Jemand hatte ein Schild gemalt und an den Zaun gehängt: Bitte nicht füttern.

 

Gottschalk hatte von Stabsveterinär Moll den Befehl erhalten, die Ursachen für das Rindersterben zu untersuchen. Er hatte Blutproben entnehmen lassen, einige der Kadaver seziert und Gewebeteile unter dem Mikroskop untersucht. Der Verdacht auf Rinderpest war unbegründet. Viele der Hererorinder waren gegen die Rinderpest geimpft worden, was man am Schwanz überprüfen konnte. Ein erstaunlich einfaches, aber wirksames Verfahren, das einer der gefangenen Herero, der für die Deutschen arbeiten durfte, Gottschalk erklärte. Man nimmt einen starken Faden, tränkt ihn mit der Schleimmasse eines an Lungenseuche eingegangenen Rindes und zieht ihn dann mittels einer Nadel durch die Haut des Schwanzes. Der Faden wird verknotet und abgeschnitten, so daß ein Teil im Schwanz bleibt.

 

Gottschalk kam in seinem Gutachten zu dem schlichten Ergebnis: Die Rinder seien verhungert.

 

Tagebucheintragung Gottschalks vom 23.10.04

Auf dem Weg am Lager habe ich weiße Maden gesehen, fingerdick, als hätten sie mutiert.

Haring sagte gestern im Casino: Zivilisation ist ohne Opfer nicht denkbar.

 

An diesem Abend erzählte Gottschalk Wenstrup, daß er eine Eingabe an die Schutztruppenintendantur machen wolle, mit folgendem Vorschlag: Man möge die frisch verendeten Tiere den hungernden Gefangenen überlassen.

Wenstrup meinte, ein Versuch könne nichts schaden, er glaube aber nicht an einen Erfolg.

Gottschalk hatte eigentlich erwartet, daß Wenstrup ihm zuraten würde, statt dessen versteckte er sich hinter seinem Pfeifenrauch. Selbstverständlich wußte Gottschalk, daß es unklug war, sich in etwas einzumischen, was geregelt war, was also lief, egal auf welchem Befehl etwas beruhte, egal selbst dann, wenn es gar keinen Befehl dafür gab. Der militärische Apparat war äußerst anfällig immer dann, wenn etwas in Frage gestellt wurde, wenn das, was nun schon einmal lief, nochmals befragt wurde, warum es gerade so liefe. Den Überblick hat man nur an der Spitze, pflegte Gottschalks ehemaliger Regimentskommandeur zu sagen, der auf der Kriegsakademie war: Der Mann vorn ist blind, gerade weil er das Weiße im Auge des Feindes sieht.

Was Gottschalk empörte, war dieser Widersinn, daß Menschen verhungerten, während wenige Meter weiter die Rinder umfielen und verwesten. Er war davon überzeugt, daß der Befehl, den gefangenen Herero kein Fleisch zu geben, auf einer Unkenntnis der tatsächlichen Situation beruhe. Vermutlich hatte man mit diesem Befehl verhindern wollen, daß für die Gefangenen Rinder geschlachtet würden. Tatsächlich aber krepierten die Tiere zu Hunderten an Auszehrung. Sie legten sich auf die sandige Ebene und kamen dann nicht mehr hoch.

 

Nachts schrieb Gottschalk seine Eingabe.

Als Begründung führte Gottschalk zwei Gesichtspunkte an: 1. Die Kadaver würden durch einen Verzehr nicht verwesen, und damit würde die Seuchengefahr für die Schutztruppe und die Gefangenen herabgesetzt. 2. Das Leben von Frauen und Kindern könne gerettet werden.

 

Gottschalk konnte nicht einschlafen. Draußen ging ein Gewitter nieder.

 

Am nächsten Morgen ließ Gottschalk sich in der Schreibstube von Stabsveterinär Moll melden. Er wollte unbedingt den Dienstweg einhalten, also über den Stabsveterinär an den Intendanturrat. Gottschalk hoffte, daß Moll nicht wieder von den Vorzügen der Hottentottenweiber zu reden anfangen würde.

Was Gottschalk nicht ahnen konnte, war, daß er auf einen Moll stoßen würde, der, nach einem häßlichen Anpfiff, in stiller Wut am Schreibtisch saß, einer Wut, die er nicht einmal an seinem Schreibstubenhengst, einem Sergeanten, hatte ablassen können, da der ihm bisher einfach keinen Anlaß geboten hatte. Stabsveterinär Moll war frühmorgens zum Etappenkommandeur Major von Redern befohlen worden, der normalerweise ein gemütliches Schwäbisch sprach, an diesem Morgen aber wie ein Unteroffizier brüllte. Der größte Teil des Hafers, der ungeschützt im Freien lagerte, war bei dem nächtlichen Gewitter naß geworden. Niemand hatte mit Regen gerechnet. Außerdem fehlte es an Planen, mit denen man die Hafersäcke hätte abdecken können. Feuchter Hafer, womöglich angegoren, das wußte Moll als Veterinär selbstverständlich, konnte eine ganze Reiterarmee außer Gefecht setzen. Die Koliken verwandelten auch gut dressierte Dienstgäule wieder in um sich schlagende Wildpferde. Moll sah sich den häßlichsten Vorwürfen konfrontiert: Dilettant, Stümper. Das war schon fast ehrenrührig. Der Major brüllte (das Erniedrigende war, Moll merkte, daß Redern sich vorgenommen hatte zu brüllen, ihn, Moll, zu beleidigen), er habe den Eindruck, das alles grenze an Sabotage. Kollaboration womöglich. Das war das Ungeheuerlichste, daß Redern Moll unterstellte, er könne mit diesen Kaffern unter einer Decke stecken. Mehrmals hatte Moll versucht, sich zu rechtfertigen. Jedesmal, wenn er etwas sagen wollte, fuhr ihm der Major über den Mund: Sie halten den Mund. Sie antworten, wenn ich Sie frage. Dann ließ er Moll abtreten. Auf dem Rückweg in sein Dienstzimmer dachte Moll an seine Pensionierung. Kollaboration. Moll nagte beim Lesen an seiner Unterlippe, einer ziemlich schmalen Unterlippe in diesem dicken Bauernschädel, wie man ihn häufig in Norddeutschland finden kann: breite Kiefer, leicht abstehende Ohren. Gottschalk, den Moll stehen ließ (Moll hatte mittags bei Major von Redern auch stehen müssen), beobachtete, wie sie rot zu leuchten begannen. Während des Lesens knöpfte sich Moll mit einer merkwürdigen Nervosität, die gar nicht zu dem massigen Körper passen wollte, den Knopf der rechten Brusttasche seines Uniformrocks auf und wieder zu, und dann sah er zu Gottschalk hoch. Inzwischen hatte das Gesicht die Farbe der Ohren angenommen. Er starrte Gottschalk an, und dann kam aus diesem Scharnierkiefer zuerst nur ein Wort: Tropenkoller. Moll konnte endlich brüllen.

 

Abends fragte Wenstrup Gottschalk, ob es sich bei der fehlenden Verpflegung der Gefangenen um eine Vergeßlichkeit unterer Dienststellen handle.

Gottschalk sagte, es gäbe Befehle.

Ob Gottschalk seine Eingabe dennoch gemacht habe, fragte Wenstrup ihn nicht.

 

Am 3. November erhielt der Oberveterinär Gottschalk einen Marschbefehl nach Keetmannshoop, das im Süden des Schutzgebietes lag. Er sollte sich der 5. Batterie anschließen, die nach Rehoboth marschierte. Der Weg führte durch das Gebiet der aufständischen Hottentotten.

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Zwei Positionen

Aus der Proklamation des Generals v. Trotha an die Herero vom 2. Oktober 1904: Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen deutschen Kaisers. (Conrad R. Rust, Krieg und Frieden, Leipzig 1905, S. 385)

 

Gouverneur Oberst Leutwein soll sich auch nach dem Kommandowechsel um einen Frieden durch Verhandlung bemüht haben und bezeichnet »die Nation als notwendiges Arbeitsmaterial«. (RKolA 2089)

 

Reichskanzler v. Bülow: Die vollständige und planmäßige Ausrottung der Herero würde jedes zur Wiederherstellung des Friedens in SWA und zur Bestrafung gebotene Maß übersteigen. Die Eingeborenen sind sowohl für den Ackerbau und die Viehzucht als auch für den Bergbau unentbehrlich. (RKolA 2089)

 

General v. Trotha: Ich bin gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, daß die Nation als solche vernichtet werden muß. (12. Dezember 1904, RKolA 2089)

 

Der Generalstabschef, Generaloberst Graf Schlieffen: Daß er die ganze Nation vernichten oder aus dem Land treiben will, darin kann man ihm beistimmen. Ein Zusammenleben der Schwarzen mit den Weißen wird nach dem, was vorgegangen ist, sehr schwierig sein, wenn nicht erstere dauernd in einem Zustand der Zwangsarbeit, also einer Art Sklaverei, erhalten werden. Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen. (Schlieffen an Kolonialabteilung, 23. November 1904, RKolA 2089)

 

Ergebnisse: »Die mit eiserner Strenge monatelang durchgeführte Absperrung des Sandfeldes«, heißt es in dem Bericht eines anderen Mitkämpfers, »vollendete das Werk der Vernichtung. Die Kriegsberichte des Generals v. Trotha aus jener Zeit enthielten keine aufsehenerregenden Meldungen. Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab. Aber als die Regenzeit kam, als sich die Bühne allmählich erhellte und unsere Patrouillen bis zur Grenze des Betschuanalandes vorstießen, da enthüllte sich ihrem Auge das grauenhafte Bild verdursteter Heereszüge.

Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinns …, sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit!« (Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 1, S. 218)

 

Von ehemals etwa 80000 Herero überlebten 15130.

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Allgemeine Lage

Oktober 1904:

Gouverneur Leutweins schiefe Situation

Unmittelbar nach Ausbruch der Feindseligkeiten im Namaland erhält Gouverneur Oberst Leutwein von General Trotha den Befehl, die aufständischen Hottentotten anzugreifen und die eingeschlossenen Orte zu entsetzen. Leutwein ist Gouverneur und wäre somit General Trotha vorgesetzt, zugleich aber ist er nur Oberst und damit General Trotha untergeordnet, also befehlsgebunden. Eine schiefe Situation.

Oberst Leutwein soll mit der 7. Feldkompanie, mit ausgeruhten und kampferfahrenen Mannschaften von Windhuk über Rehoboth nach Gibeon vorstoßen. Dem Oberst wird dann die Kompanie wieder entzogen, er erhält die 3. Ersatzkompanie. Die Kompanie wird eilig mit Schreibern, Militärbäckern und Stabstrompetern aufgefüllt. Viele der Soldaten sind noch nie auf einem Pferd gesessen. Am 7. Oktober wird die Kompanie in Marsch gesetzt. Am 10. Oktober folgt ihr Gouverneur Oberst Leutwein. Am dritten Marschtag schießt sich ein Militärbäcker versehentlich zwei Finger von der Hand. Am selben Tag erhält der Obermatrose Gu. beim Versuch, sein Pferd zu streicheln, einen Hufschlag, der ihm die rechte Kniescheibe zertrümmert. Oberst Leutwein kommt zu der Überzeugung, mit diesen Leuten einen Vorstoß ins Aufstandsgebiet nicht wagen zu dürfen. Er bleibt in Rehoboth stehen. Leutwein versucht nochmals, durch Verhandlungen mit Hendrik Witbooi den Aufstand beizulegen. Hendrik Witbooi lehnt das ab. Gouverneur Leutweins Konzept einer friedlichen Kolonisierung, die eine räumlich getrennte Entwicklung von Weißen und Schwarzen (Reservate) vorsah, war damit endgültig gescheitert. Im ganzen Land herrschte der Kriegszustand. Gouverneur Leutwein resignierte. Er war in eine immer schiefere Situation geraten: Erstens gegenüber General Trotha, der Leutwein für einen schlappen Kompromißler hielt, der als Gouverneur dem eigenen radikalen Pazifizierungsprogramm im Wege stand. Zweitens gegenüber Trothas Vorgesetztem, dem Generalobersten Graf Schlieffen, Chef des Generalstabes, der Leutwein ebenfalls für zu kompromißbereit hielt und darüber hinaus die Befehlsunklarheiten zwischen dem General Trotha und dem Gouverneur Oberst Leutwein als militärisch unmöglich ansah. Drittens gegenüber Seiner Majestät, dem Kaiser, der den Obersten ebenfalls für ziemlich schlapp hielt, weil er immer wieder verhandeln wollte und dann, schlimmer noch, bei Ausbruch des Herero-Aufstandes, als er sich im äußersten Süden des Schutzgebietes befand, statt durch deutsches Gebiet in den Norden zu reiten, den schnelleren Weg nach Swakopmund über den englischen Hafen Port Nolloth mit einem englischen Dampfer gewählt hatte. Und jeder wußte, wie der Kaiser zu England stand. Leutwein stand also außerordentlich schief da.

 

November 1904:

Die weiße Schlange

General Trotha wollte auch das dem Gouverneur nicht ersparen: Er löste ihn als Kommandeur der Südabteilung, jener 3. Ersatzkompanie, die in Rehoboth hängengeblieben war, ab. Oberst Deimling wurde sein Nachfolger. Deimling hatte mit seiner Abteilung den entscheidenden Stoß in der Kesselschlacht am Waterberg gegen die Herero geführt. Deimling erhielt von General Trotha erhebliche Verstärkungen, zwei Kompanien und zwei Batterien. Während Oberst Deimling nach Rehoboth ritt, bereitete Gouverneur Leutwein sich auf seine Heimreise vor, aus Gesundheitsgründen, wie man sagte.

Im Aufstandsgebiet herrscht Ruhe. Die eingeschlossenen Orte werden nicht angegriffen. Während eines Patrouillengefechts bei Kub fallen sieben Mann und fünf werden verwundet. Der Unteroffizier Cza. läuft um sein Leben. Als er die deutschen Linien erreicht, haben zwei Schüsse den Hut, einer den Rock, zwei die Hose durchlöchert, und ein Schuß hat den Gewehrkolben getroffen. Er selbst bleibt unversehrt.

Die Südabteilung unter Oberst Deimling sollte erst einmal Luft schaffen. Deimling galt dafür als der rechte Mann: Energie, Durchsetzungsvermögen, Draufgängertum wurden ihm nachgesagt. Die Witboois nannten ihn die weiße Schlange. Reiste Oberst Leutwein, ein rundlicher Badenser mit einem Zwicker auf der Nase und einem vielgerühmten Weinkeller in Windhuk, seiner Truppe meist nach, war Deimling seiner meist voraus, wenigstens aber an der Spitze. Man muß vorn führen. Dabei beschäftigten ihn zugleich strategische Pläne. Er wollte nicht einfach die eingeschlossenen Orte freikämpfen, er wollte die Witboois in einer Kesselschlacht vernichten.

Aus dem Sprachgebrauch Deimlings, Gefechte und Schlachten betreffend: zerschlagen, zerschmeißen, zerschießen. Oberst Deimlings Plan: Die Witboois zerschmeißen. Dann in den Süden marschieren und Morenga mit seinen Leuten ebenfalls zerschmeißen.

Im Süden belagert Morenga mit seinen Leuten die Ortschaft Warmbad.

 

Dezember 1904:

Deimling stößt vor

General Trotha und sein Stab waren der Ansicht, man solle mit der Großoffensive gegen die Witboois warten, bis die Verstärkungen das Schutzgebiet erreicht hätten.

In sechs Staffeln waren im Zeitraum vom 12. November 1904 bis 18. Januar 1905 abgegangen: 198 Offiziere, Ärzte und Beamte, 4094 Mann und 2814 Pferde.

Trothas Stab dachte an kleine Entlastungsangriffe. Oberst Deimling entschied sich aber am 30. November für die Offensive. Die Truppe sollte in drei Abteilungen gegen Rietmont, den Sitz Hendrik Witboois, vorgehen: die Hauptabteilung von Kub, zwei kleinere Abteilungen von Lidfontein und Jackelsfontein.

Am 4. Dezember kommt es zu einem Überraschungsangriff der Hauptabteilung bei Naris, gegen 3 Uhr nachmittags. Die Artillerie beschießt die Stellungen der Witboois, die sich in schwärzliche Felsgruppen eingenistet haben. In einem Bajonettangriff werden sie geworfen. Die Witboois fliehen. Die geplante Einkesselung mißlingt. Die Pontoks werden nach Brauchbarem untersucht. In Witboois Haus dampft noch der Kaffee. Man findet seine silberne Uhr, Lesebrillen, Briefschaften. Aber Hendrik Witbooi ist mit fast allen Leuten entkommen. Die Pontoks werden angezündet, das Vieh wird, zusammen mit einigen gefangenen Weibern und Kindern, abgetrieben.

Deimling hat mit seinem Sieg über Hendrik Witbooi die Voraussetzung für einen radikalen Kleinkrieg der Hottentotten geschaffen, die jetzt, ohne Rücksicht auf Ortschaften, Ländereien und Vieh, beweglicher operieren können.

Ein Schuß in den Ofen, sagte der Hauptmann i. G. v. Ha.

 

Deimling stößt nach Gibeon vor und verlegt seinen Stab dorthin.

Die rückwärtige Verbindung, über die der gesamte Nachschub läuft, ist von den Witboois bedroht. Vorn, im Karrasgebirge, sitzt Morenga mit seinen Leuten, nach Einschätzung Oberst Deimlings und seines Stabes der gefährlichste Gegner.

Diese Einschätzung teilt der Stab von Trotha.

Trotha selbst will sich nicht festlegen, ob Hendrik Witbooi oder Morenga gefährlicher sei.

Feindbild

1

Was Ende 1904 in den Stäben die Runde macht und mit Verbitterung weitererzählt wird, sind die kleinen Unverschämtheiten der Aufständischen. So schrieb Morenga dem Hauptmann Wehle einen Brief, nachdem er ihm alle Pferde und Maultiere abgetrieben hatte, und bat ihn, seine Tiere in Zukunft besser zu füttern, damit man nicht wieder mit solchen Schindmähren vorliebnehmen müsse.

2

Jakob Morenga, ein Herero-Bastard von dem kleinen im Gainabrevier (östlich der großen Karrasberge) mitten unter den Hottentotten sitzenden Stamme, hatte früher in den englischen Minen in Südafrika gearbeitet, sich einiges Geld und eine für einen Neger nicht geringe Bildung erworben. Er spricht Englisch und Holländisch, versteht Deutsch und hat sich überhaupt im Verlaufe des Krieges als eine ganz ungewöhnliche Erscheinung unter den Negern erwiesen, sowohl durch die Umsicht und Tatkraft, mit der er seine Unternehmungen geführt hat, als insbesondere dadurch, daß er den in seine Hände gefallenen Weißen gegenüber sich der bei seinen nördlichen Stammesgenossen üblichen bestialischen Grausamkeiten enthielt, ja, da und dort sogar eine gewisse Großmut bewies. In mannigfachen Unterhaltungen, die mit ihm gepflogen wurden, zeigte er sich verhältnismäßig zuverlässig. Für seine ungewöhnliche Bedeutung spricht allein schon der Umstand, daß er als Schwarzer eine führende Rolle unter den Hottentotten spielen konnte. (Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 2, S. 5)

3

Schutztruppenreiter Karl Schmodginsky: Die Hottentotten sind durchaus kriegerisch veranlagt und haben im Kleinkrieg eine große Gewandtheit entwickelt. Freilich war ihr bedeutendster Feldherr – Morenga – ein Schwarzer. Im Grunde sind alle Räuber und Viehdiebe. Auch sie, gleich den Herero, zeigten die hervorragendsten Soldatentugenden, wenn es sich um die Sicherung von Vieh und Wasserstellen handelte.

Bewaffnet waren beide Rassen mit modernen Hinterladern, Modell 88, oder doch mit guten Feuergewehren, von denen sie selbst die minderwertigen mit Geschick handhabten. Ihre Feuerdisziplin und Munitionssparsamkeit muß vollauf anerkannt werden. Die Waffen der Wilden, Bogen und Speer, kennt man in Südwest nicht mehr. Dagegen dient das Kiri, eine schwere, meterlange Keule aus härtestem Holze, als Handwaffe.

Beide Stämme trugen vielfach die Uniformen deutscher Gefallener oder solche, die in Transportüberfällen geraubt waren. Sogar deutsche Fahnen führten sie und brauchten deutsche Losungsworte. Im Ertragen von Hunger und Durst waren sie den deutschen Truppen durch von Jugend auf gewohnte Entbehrungen weit überlegen. In unseren Truppen legten fast alle Offiziere die Erkennungszeichen ab, weil die äußerst scharf sehenden Feinde die Führer besonders aufs Korn nahmen. Ja, schon ein leitender Wink mit der Hand genügte ihnen, an dieser Bewegung den Vorgesetzten zu erkennen.

4

Hauptmann i. G. v. Le.: Wir tappen wie die Blinden in diesem Land herum, tasten uns von Wasserstelle zu Wasserstelle vor und suchen einen Feind, der uns immer im Auge hat. Was dieser Neger uns da vorführt, ist eine neue Methode der Kriegführung. Dieses Fach wurde bei uns an der Kriegsakademie vergessen.

5

Interview der ›Cape Times‹ mit Jakob Morenga vom 29.5.1906: Auf die Frage des Reporters, ob er wisse, daß Deutschland einer der mächtigsten Staaten der Welt sei, antwortet Morenga: »Ja, darüber bin ich mir vollkommen im klaren, aber die Deutschen können in unserem Land nicht kämpfen. Sie wissen nicht, woher sie das Wasser nehmen sollen, und sie verstehen nichts von der Guerillakriegführung.«

Nachschub und andere logistische Probleme

Eine der Hauptschwierigkeiten auf der Strecke Lüderitzbucht–Kubub liegt in dem Überwinden der Wanderdünen, die sich in einiger Entfernung von der Küste in einem Gürtel von etwa 5 km Breite hinziehen und infolge des Sandes jede Bewegung erheblich erschweren. Dazu kommt die schlechte Beschaffenheit des Baiwegs selbst, der nur aus Wagenspuren besteht; den Untergrund bildet, soweit der Weg von Felsstücken frei gemacht werden konnte, vielfach tiefer Sand, in dem die Tiere bis an die Knöchel einsinken, und nur mit äußerster Anstrengung vermögen sie ihre Last vorwärts zu schleppen. Bisweilen führt die Pad auch über Geröll und Klippen durch tiefeingeschnittene Riviers und über Steinblöcke, so daß an die Haltbarkeit der Wagen Ansprüche gestellt werden, denen auf die Dauer auch das beste Material nicht widersteht. Die Transportkolonnen kommen unter solchen Umständen nicht nur sehr langsam vorwärts, sie brauchen etwa fünfundzwanzig Tage von Lüderitzbucht bis Keetmannshoop, sondern die Tiere leiden ganz außerordentlich, und die Verluste der auf dem Baiwege fortgesetzt hin und her fahrenden Kolonnen steigern sich dauernd. Bei jedem Ochsenwagen befinden sich mindestens drei Mann Treiberpersonal und zwei Mann als Bedeckung. Diese fünf Mann leben mithin zehn Tage lang von dem auf dem Wagen mitgeführten Proviant. Eine gleiche Verpflegungsmenge ist für den Rückweg abzurechnen. Die Haferrationen für die bei jedem Transport befindlichen Reittiere sind gleichfalls abzuziehen, ebenso die Abgaben an Etappenstationen, Patrouillen, Telegraphen- und Heliographenposten längs des Weges. Dadurch wird die schließlich bis nach Keetmannshoop gebrachte und für die Feldtruppe verwendbare Nutzlast erheblich verringert. Die Transporte verbrauchen sich zum Teil selbst und sind daher sehr kostspielig. (Die Kämpfe der deutschen Schutztruppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 2, S. 34)

Geschäftswelt

Steuergelder

Der Krieg in Südwestafrika kostete die deutschen Steuerzahler 584,78 Millionen Mark. (Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894–1914, Hamburg 1968, S. 193)

 

Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika

Im Geschäftsjahr 1904/05 verkaufte die Gesellschaft für 830000 Mark Waren, was ihr einen Gewinn von 230000 Mark einbrachte. Die Gesellschaft, die seit ihrem Bestehen noch nie eine Dividende ausgezahlt hatte, zog es auch für das Geschäftsjahr 1904/05 vor, keine Dividende zu zahlen, da »die allgemeinen Angriffe gegen die großen Landgesellschaften es nicht angezeigt erscheinen lassen, in diesem Jahr eine Dividende zu zahlen …, zumal zu berücksichtigen ist, daß das laufende Geschäftsjahr ähnliche Gewinne wie das verflossene zu bringen verspricht«.

Das Vermögen der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwestafrika, das sich noch zum 31. März 1902 auf nur 165000 Mark belaufen hatte, schnellte bis zum 3. Oktober 1906 auf 1981000 Mark empor. Im Geschäftsjahr 1905/06 erzielte die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika bereits einen Reingewinn von 752000 Mark. Die erzielten Gewinne setzten die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika in den Stand, für die Geschäftsjahre 1905/06, 1906/07 und 1907/08 jeweils 20 Prozent Dividende, das heißt 400000 Mark, auszuschütten.

 

Die Woermann-Linie

Die Reederei besaß praktisch das Monopol für sämtliche Transporte nach Südwestafrika.

Der Abgeordnete Erzberger wies in seiner Rede vom 24. März 1906 im Reichstag darauf hin, daß die Woermann-Linie rund 3 Millionen Mark für überhöhte Frachtkosten sowie weitere rund 3 Millionen Mark für Liegegelder unrechtmäßig eingestrichen habe.

Am 2. August 1906 präzisierte Erzberger in einem Brief an den Reichskanzler v. Bülow die Angaben anhand neuen Materials. Daraus ging hervor, daß die Woermann-Linie »pro Tonne 185 Mark in derselben Zeit erhält, in welcher ein anderer Dampfer etwa 20 Mark erhält«.

 

Firma Tippelskirch

Teilhaber der Firma Tippelskirch waren unter anderem der preußische Landwirtschaftsminister Podbielski sowie mehrere Legationsräte der Kolonialabteilung. Auf Grund dieser Beziehungen besaß die Firma das Monopol für die Ausrüstung der Kolonialtruppen. Die Qualität der von der Firma Tippelskirch gelieferten Waren galt als minderwertig, die Preise waren überhöht. Proteste der Truppe bewirkten aber nichts. Erst später wurde in einem Bestechungsskandal offenbar, daß der Major Fischer, der für die Bestellung und Abnahme der Ausrüstungen zuständig war, von der Firma größere Geldzuwendungen bekommen hatte.

Die Umsätze der Firma Tippelskirch bewegten sich in den Jahren von 1899 bis 1903 jeweils um 2 Millionen Mark; durchschnittlich wurde eine Dividende von 10,7 Prozent ausgezahlt. Durch den Krieg steigerte sich der Umsatz in den Jahren 1904/05 auf jeweils 11 Millionen Mark. Die Firma konnte in beiden Jahren je 65 Prozent Dividende zahlen. (Angaben nach: Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Herrschaft, Berlin 1966, S. 257 f.)

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Wenstrups Verschwinden

Anfang Januar 1905 war Wenstrup verschwunden. Den genauen Termin seines Verschwindens konnte später niemand mehr angeben. Man wußte nur, daß er am 2. Januar in südlicher Richtung aus Keetmannshoop hinausgeritten war. In seiner Begleitung befand sich sein Bambuse, ein Hottentottenjunge namens Jakobus.

Der Unterveterinär Wenstrup war auf Befehl nach Uchanaris geritten. Dort, in der mit nur wenigen Mann besetzten Militärstation, waren Rinder angeblich an Milzbrand krepiert. Wenstrup sollte diesen Verdacht prüfen und, falls es sich tatsächlich um Milzbrand handelte, Gegenmaßnahmen ergreifen. Da es Zugochsen waren, bestand die Gefahr, daß die Seuche auch nach Keetmannshoop verschleppt würde. Man hatte ihn davor gewarnt, allein zu reiten.

Zwar hatten sich die Hottentotten um Keetmannshoop nicht dem Aufstand angeschlossen, aber es kam immer wieder zu Streifzügen der Rebellen in dieses Gebiet, und zudem konnte man keinem der Hottentotten trauen.

Wenstrup aber wollte nicht warten, bis eine Patrouille nach Uchanaris ging, sondern gleich reiten. Dieser ungewöhnliche Diensteifer war nicht nur Gottschalk aufgefallen. Andererseits hatte Wenstrup sich nicht freiwillig gemeldet.

Vor drei Wochen, also kurz vor Weihnachten, war ein Stabsarzt ebenfalls allein mit seinem Burschen nach Uchanaris geritten, um einem Gefreiten den vereiterten Blinddarm herauszuschneiden. Als Wenstrup aus dem Ort ritt, trug er statt des Truppenhuts einen Chapeau claque und unter seiner grauen Uniform dieses leuchtendrote Halstuch. An diesem Aufzug war nichts Ungewöhnliches. Die meisten Reiter liefen in Keetmannshoop herum wie zu einem Lumpenball kostümiert. Einige trugen Kreissägen aus Stroh, andere abgetragene Paletots. Äußerlich begann sich der Unterschied zwischen Militärs und Rebellen zu verwischen.

Die Versorgungslage sei katastrophal, sagte ein Zahlmeister in Lodenjoppe.

Hier in Keetmannshoop fühlte sich Gottschalk erstmals seit seiner Abreise aus Hamburg wohl. So hatte er sich den Krieg in Südwest vorgestellt, nicht bequem, aber beschaulich und doch abwechslungsreich. Ein wenig begann er die Ereignisse so zu betrachten, wie er sie später einmal Freunden und Bekannten erzählen würde.

Das zeigt sich auch in seinen Tagebuchnotizen. Gottschalk hat einige jener Anekdoten, die ihm alte Schutztruppler erzählten, aufgeschrieben: Die Geschichte von dem Löwen, der schon ziemlich alt und gichtig, einen schlafenden Reiter vom Feuer wegschleppt und erschrocken von seiner Beute läßt, als dieser aufwacht; die Geschichte von einem Riesenfaß, das ein Verrückter in das Land geschleppt hat; die Geschichte von einer Sandviper, die ein Leutnant nach dem Aufwachen in seiner Brusttasche findet. Dazu ausführliche Stimmungsbilder, die das monotone Lagerleben im Ort beschreiben.

Gottschalk konnte sich seinen Dienst frei einteilen. Die Dienstvorschriften, die umständlichen Grußrituale hatten sich in dem eingeschlossenen Ort abgeschliffen. Man verkehrte fast kameradschaftlich sogar mit den Stabsoffizieren. Niemand mochte ausschließen, daß die Rebellen den Ort zu belagern oder gar zu stürmen versuchen könnten. Dennoch war alles ruhig, und manchmal ging Gottschalk auch zur Jagd. Er ging allerdings nur so weit ins Feld, daß er immer noch die Flagge im Auge behielt, die beim Nahen des Feindes heruntergezogen werden sollte. Die Eingeborenen waren freundlich, wenn auch zurückhaltend. Ihr Kapitän hatte sie überreden können, sich nicht am Aufstand gegen die Deutschen zu beteiligen. Der weitschauende Mann sah gute Geschäfte voraus, wenn erst einmal die Truppenverstärkungen der Deutschen ins Land kamen. Dann wurden ortskundige Führer und Wagenfahrer gebraucht. Glücklicherweise hatte die Kommandantur gerade vor Ausbruch des Aufstandes den gesamten Jahresvorrat an Rum und Arrak für das Etatjahr 1905 im voraus geliefert. Abends, wenn es sich abgekühlt hatte, saß man bei einem Glas Rum zusammen. Eine Kapelle aus zwei Trompetern, einem Trommler und zwei Ziehharmonikaspielern spielte abwechselnd Märsche oder Walzer. Eine fidele Zeit, bis die Ablösung von Uchanaris kam. Sie hatte von dem Unterveterinär Wenstrup nichts gesehen und gehört. Drei Tage überfällig sei so ziemlich normal in diesem Land, sagte ein Feldwebel, man muß sich bloß mal bei einer Weggabelung irren.

Was Gottschalk nie so recht verstanden hatte, war, warum Wenstrup sich damals überhaupt freiwillig zur Südfront gemeldet hatte. Eigentlich sollte Wenstrup, da er sich auf Immunologie spezialisiert hatte, in dem neugegründeten Veterinärmedizinischen Institut in Windhuk arbeiten. Statt dessen hatte er die Kommandantur regelrecht bestürmt: Er sei nicht nach Südwest gekommen, um vor dem Mikroskop zu hocken. Er wolle Pulver riechen. Wenstrup hatte das damals selbst erzählt und dabei gelacht, ohne allerdings einen Grund für sein Drängen zu nennen. Der Major habe sich schließlich von der Hartnäckigkeit Wenstrups beeindrucken und den Marschbefehl ausstellen lassen. Dieser Mann glühe förmlich, um für Kaiser, Volk und Vaterland sein Leben in die Schanze zu schlagen, schrieb der Major in seine Beurteilung, in der er zugleich die Beförderung des Unterveterinärs zum Oberveterinär befürwortete, die von Wenstrups ehemaligem Regimentskommandeur zweimal abgelehnt worden war. Hier draußen, im Felde, zeige sich oftmals erst der wahre Kern eines Mannes, dessen rauhe Schale im friedlichen Garnisonsalltag oftmals störend wirke.

 

Am 14. November war die Abteilung, der Wenstrup und Gottschalk zugeteilt worden waren, von Windhuk in Richtung Rehoboth aufgebrochen. Wenstrup behauptete, in dieser verkarsteten Landschaft könnten sich nur verkarstete Geister wohl fühlen. Ein Land, so recht geschaffen für Gemüter mit einem kurzen Docht.

 

Tagebucheintragung Gottschalks vom 15.11.04

Die Landschaft: Der Harz, aber konsequent entlaubt und entwässert. Über den Paß kommend, laufen die Berge sanft geneigt nach Süden in eine Ebene, in die wir durch eine schwebende Glut langsam hineinritten. Überall reicht der Himmel bis auf die gelben Grasspitzen. Die wenigen Sträucher und Büsche stehen prasseltrocken. Die Landschaft öffnet sich dem Auge. Alles, was einen in den Städten bedrängt an sinnlichen Reizen, kommt hier zu einer weiten Ruhe. Anders bei W., der sogar beim Reiten in einer Broschüre blättert.

 

Beim zweiten Biwak hatte Gottschalk Wenstrup gefragt, was er denn da seit Tagen lese. (Gottschalk hatte lange mit sich kämpfen müssen, bevor er fragte. Er selbst mochte auch nicht nach seiner Lektüre gefragt werden.) Das dünne zerfledderte Heft war denn aber keine Agitationsbroschüre der Sozialdemokraten, wie Gottschalk vermutet hatte, sondern ein Lehrbuch für Feuerwerker über die Funktion von Granatzündern. Wenstrup hatte Gottschalk das Heft wortlos herübergereicht. Verständnislos blätterte Gottschalk herum, betrachtete die Zeichnungen und Daten. Was soll das?

In einem Kleinkrieg muß man alles wissen. Stellen Sie sich einmal vor, eine Granate wird auf eine Eingeborenenwerft abgefeuert, und diese Granate detoniert unmittelbar nach Abschuß. Der Zünder ist falsch eingestellt. Fliegt also der Bedienungsmannschaft und den Umstehenden um die Ohren. Da muß man dann doch aufpassen, daß man nicht zu nahe steht. Daß Gottschalk auf dem Marsch nach Rehoboth meist mit Wenstrup zusammen ritt, ergab sich einfach daraus, daß Gottschalk der 5. Batterie zugeteilt worden war und Wenstrup den Befehl erhalten hatte, sich dieser anzuschließen, bis er in Keetmannshoop die Versorgungsstaffel traf, zu der er abkommandiert worden war.

Am dritten Tag trug Wenstrup dieses rote Halstuch. Niemand stellte ihn deswegen zur Rede, obwohl das Tuch zwischen den grauen Uniformen und in dieser grauen Landschaft wie eine rote Signallaterne leuchtete.

Der Krieg kann, wenn man ihn richtig führt, für unsereins auch seine Freiheiten schaffen, sagte Wenstrup. Sehen Sie, die Herren haben vor lauter Diensteifer und natürlich auch vor Angst ihre Augen überall, aber wir sind der schwarze Fleck.

Die Abteilung wurde von einer Avantgarde und einer Arrieregarde gesichert. Seitwärts, rechts und links von der Marschkolonne ritten Patrouillen, und die Offiziere suchten das bebuschte Gelände immer wieder mit Gläsern ab. Besonders der Schwanebach. Dem schien das Glas unter die Stirn gewachsen zu sein.

Ein Oberleutnant, der schon sechs Jahre in Südwest gedient hatte, sagte zu Schwanebach, das Her