Moshé Feldenkrais - Christian Buckard - E-Book

Moshé Feldenkrais E-Book

Christian Buckard

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Beschreibung

In einer kalten Winternacht des Jahres 1918 besteigt der 14-jährige Moshé Feldenkrais in seiner umkämpften ukrainischen Heimatstadt einen Pferdekarren und wird von einem Schmuggler durch ein gefährliches Sumpfgebiet nach Polen gebracht. Seine abenteuerliche Odyssee führt ihn auf die staubigen Baustellen Tel Avivs und mitten hinein in die Straßenkämpfe mit feindlichen Arabern, in das Radium-Institut des Ehepaars Joliot-Curie in Paris, das London des »Blitz« und in die geheime Anti-U-Boot-Forschungsabteilung Churchills im Norden Schottlands. Dank seiner Freundschaft mit dem Judo-Erfinder Jigoro Kano und einer vermeintlich unheilbaren Knieverletzung entdeckt der promovierte Ingenieur, was Gehirnforscher erst seit wenigen Jahren belegen können: dass Körper und Geist eine Einheit bilden, dass es eine "Muskulatur der Seele" gibt und das Gehirn durch bestimmte Bewegungsabläufe beeinflusst werden kann. Christian Buckard erzählt die faszinierende Geschichte jenes Mannes, der das bewusstheitsschärfende Potenzial der leichten Bewegung entdeckte. Seine Methode hilft heute weltweit kranken und gesunden Menschen, ihre Möglichkeiten zu erforschen.

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Für Petra Frisch

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2015

ISBN 978-3-8270-7842-1

© 2015 Christian Buckard

Für die deutsche Ausgabe © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke | Agentur für Autoren und Verlage, www.AenneGlienkeAgentur.de.

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

1  |  Kopfstand in Zion

An einem Septembermorgen des Jahres 1957 legen sich die Journalistin Tikvah Weinstock und ein Fotograf am Strand des israelischen Badeorts Herzliya auf die Lauer. Ihr Auftrag ist es, ein Foto von David Ben-Gurion, dem siebzigjährigen Staatsgründer und Premierminister, zu schießen. Ein besonderes Foto soll es werden, denn die Zeitung Maariv hat erfahren, dass sich der notorisch unsportliche Ben-Gurion angewöhnt hat, am Strand gegenüber dem Hotel Ha-Sharon auf dem Kopf zu stehen. Um 9:30Uhr, nach zwei Stunden Wartezeit, erspähen die Journalisten die Gestalt des stämmigen und weißhaarigen Ben-Gurion, der in Begleitung seiner beiden Leibwächter das Hotel verlässt. Der Premierminister trägt leichte Baumwollkleidung. Er hat offensichtlich noch nicht vor, zum Strand hinunterzugehen. Zuerst steht ein Morgenspaziergang der energischen Art auf dem Programm. In einem Restaurant am Strand weiß man Bescheid: Ben-Gurion wird erst gegen Mittag an den Strand gehen.

Kurz nachdem der Premierminister gegen 12:00Uhr ins Hotel zurückgekehrt ist, tritt seine Ehefrau Pola vor den Eingang. Dann marschiert sie zum Strand hinunter. Die Journalisten wagen es, sich der Frau im Badeanzug zu nähern. Sie haben Glück, denn Pola ist offensichtlich in Urlaubsstimmung und daher ungewöhnlich gesprächig. »Das mit dem Kopfstand«, erzählt sie,

ist wirklich eine ungewöhnliche Sache. Die Idee dahinter ist, dass beim Kopfstand Herz und Lungen besser durchblutet werden. Diese Methode stammt von Dr.Feldenkrais. Er ist Spezialist, wenn es um die Beziehung zwischen Körper und Geist geht. Er sagt, dass man über das Gehirn jeden Muskel des Körpers bewegen kann. Ben-Gurion ist sicher, dass Feldenkrais ihm sehr geholfen hat. Ich selbst mache keinen Kopfstand. Dafür ist mein Kopf zu klein. Ich bin schon froh, wenn ich auf den Beinen stehen kann.1

Im November des vorangegangenen Jahres hatte das noch anders geklungen. Da war die resolute gelernte Krankenschwester Pola noch überzeugt gewesen, dass Dr.Moshé Feldenkrais – den sie »Mr.Hokuspokus« nannte – nur die wertvolle Zeit ihres vielbeschäftigten und leidgeplagten Ehemanns verschwende.2 Schon in seiner Jugend hatte Ben-Gurion unter Rückenschmerzen gelitten, doch seit einigen Jahren traten Anfälle von Lumbago, dem sogenannten Hexenschuss, in immer kürzeren Abständen auf. Die Schmerzen waren mitunter so schlimm, dass er das Bett hüten musste. Nicht genug damit, war Ben-Gurion 1955 zeitweise unfähig gewesen, vom Bett aufzustehen, ohne sofort von Schwindel gepackt zu werden. Auch wenn diese Schwindelanfälle schließlich verschwunden waren, so hatte der Premierminister aufgrund des Lumbago doch zunehmend Schwierigkeiten, in ein Auto zu steigen, und konnte sich vor aller Augen nur noch mit Mühe aus seinem Stuhl in der Knesset erheben. Auf Auslandsreisen erhielt er Spritzen, damit er nicht unter den Schmerzen zusammenbrach. Keiner seiner Ärzte hatte ihm dauerhaft helfen können. Schmerzmittel und ein Stützkorsett, das war die einzige Therapie, die ihnen eingefallen war.3 Und als ihn Anfang November 1956 ein neuer schlimmer Anfall von Lumbago ans Bett fesselte, war Ben-Gurions Energie mehr denn je gefordert: Die israelische Armee kämpfte sich Richtung Suezkanal vor, um die Meerenge von Tiran wieder für israelische Schiffe passierbar zu machen und um gegen die Terroristen vorzugehen, die von Gaza aus fast wöchentlich Israelis ermordeten. Die Aktion war in Koordination mit Großbritannien und Frankreich geplant worden, doch drängte der US-Präsident die Israelis zum Rückzug, und die Sowjetunion drohte mit einer Intervention im Nahen Osten, sogar mit der Bombardierung von Paris und London.4 Und ausgerechnet in dieser angespannten politischen Situation war Ben-Gurion unfähig, auch nur das Haus zu verlassen. Jetzt plagten ihn nicht nur Rückenschmerzen, er litt sogar an einer Lungenentzündung.

Ben-Gurions Freund, Professor Aharon Katzir, besuchte den Premierminister in dessen Haus auf dem Keren-Hakayemet-Boulevard und schlug ihm vor, sich an Dr.Feldenkrais zu wenden.5 Ben-Gurion erinnerte sich, dass er den Namen schon einmal gehört hatte: Einige Jahre zuvor hatte er einen Brief erhalten, in dem ihm ein besorgter Bürger ebenfalls geraten hatte, einen »Dr.Feldenkrais« um Hilfe zu bitten. Er hatte den Brief nicht ernst genommen und weggeworfen. Etwas anderes war es jedoch, wenn Professor Katzir, einer der angesehensten Wissenschaftler Israels, überzeugt von Feldenkrais’ Methode war.6 Vor wenigen Jahren, so konnte Katzir Ben-Gurion erzählen, sei Feldenkrais extra aus London nach Israel geflogen, um den angeblich unheilbar kranken Bruder eines gemeinsamen Bekannten erfolgreich zu behandeln.7 Auch Israels berühmteste Schauspieler Aharon Meskin und Chanah Rovinah sowie Katzir selbst nahmen schon seit Jahren bei Feldenkrais Unterricht. Und welche Wahl hatte der Premierminister schon, da doch die Schulmedizin mit seinem Fall heillos überfordert schien? Entgegen den Warnungen Polas und seiner Ärzte teilte Ben-Gurion dem besorgten Katzir schließlich mit, dass er vielleicht bereit sei, dem promovierten Ingenieurwissenschaftler Feldenkrais eine Chance zu geben.8

Wenige Tage später erschien Katzir wieder in Ben-Gurions Tel Aviver Haus. In seiner Begleitung befand sich ein mittelgroßer, breitschultriger Mann mit freundlichem, breitem Gesicht und den kräftigen Händen eines Bauarbeiters. Offensichtlich war er nicht nur ein Mann des Geistes, sondern auch der Tat. Und obwohl der Mann fließend Hebräisch sprach, verriet sein Akzent, dass er – wie Ben-Gurion selbst – ein osteuropäischer Jude war.

Ben-Gurion war ein Mann, der stets ohne Umschweife zur Sache kam: »Ich habe das größte Vertrauen in Aharon«, sagte er zu Feldenkrais, »aber wie willst du mich davon überzeugen, dass deine Methode wirklich gut ist?« Moshé Feldenkrais akzeptierte Ben-Gurions Skepsis und antwortete ruhig: »Ich kann viele Namen von Leuten nennen, die du kennst und die bei mir gelernt haben. Dann kannst du überlegen, wen davon du befragen möchtest. Oder ich gebe dir Dankes- und Lobesbriefe von anderen ziemlich berühmten Menschen, die bei mir gelernt haben. Oder ich gebe dir meine Bücher zum Lesen. Oder aber du entscheidest dich dafür, meine Methode direkt von mir zu lernen.«

»Und wie lange müsste ich bei dir lernen?«

»Da du kein junger Mann mehr bist und dein Gesundheitszustand auch nicht allzu gut ist, bräuchtest du schon siebzig Unterrichtsstunden«, räumte Feldenkrais ein. »Wenn du aber gar nicht erst vorhast, wirklich alle Termine einschließlich des letzten wahrzunehmen, dann rate ich dir, gar nicht erst mit dem Unterricht anzufangen. Aber«, so fügte er hinzu, »vielleicht bist du ja auch schon zu alt, um dich zu ändern.«9

Dieser letzte Satz war eine gezielte Provokation, denn Feldenkrais war zutiefst überzeugt davon, dass Menschen jeden Alters dazulernen und sich verbessern können. Und vielleicht hatte er instinktiv gespürt, was Ben-Gurion wirklich Sorgen bereitete: die vermeintlich unaufhaltbaren und naturbedingten körperlichen und geistigen Verfallserscheinungen des Alters; das Gefühl, so viel tun zu müssen und gemessen an der Größe der Aufgaben kaum noch Zeit dafür zu haben. Ungeachtet seiner Erfolge stand auch der 52-jährige Feldenkrais selbst zu diesem Zeitpunkt erst am Anfang seiner Pionierarbeit. Auch er musste befürchten, dass ihm keine Zeit mehr bliebe, seine ambitionierten Träume zu verwirklichen. Aber vielleicht würde er einen entscheidenden Schritt weiterkommen, wenn es ihm gelang, Ben-Gurion als Schüler zu gewinnen? Dass er dem Staatsgründer helfen konnte, sich selbst zu helfen, daran dürfte Feldenkrais keine Sekunde gezweifelt haben. Und eine Ehre würde es sowieso sein, Ben-Gurion als Schüler zu haben: Mochten viele Israelis auch über den »Alten« schimpfen und seine Politik kritisieren, so war der weißhaarige Ben-Gurion doch derjenige, der das Unmögliche möglich gemacht und den jüdischen Staat gegründet hatte. Ein sozialistischer Messias in kurzen Khakihosen. Ein Vater, gegen den man rebelliert. Aber eben doch ein Vater.

Ben-Gurion erklärte sich einverstanden, es mit Feldenkrais zu probieren. Er schlug vor, jeden Tag eine Stunde Unterricht bei ihm zu nehmen. Moshé bezweifelte, dass er über zwei Monate lang jeden Tag Zeit für den Premierminister haben würde, doch Ben-Gurion ließ diesen Einwand nicht gelten: »Ich habe jeden Tag Zeit, dich zu sehen, und ich bin genauso beschäftigt wie du!«10 Noch Jahre später schwärmte Feldenkrais:

Seine eigenen Fähigkeiten zu verbessern, das erfordert Zeit. Ohne die Beherrschung der Zeit gibt es kein Wissen, keine Liebe und keine Verbesserung des Könnens. Das Erste, was mich bei unserem Kennenlernen völlig verblüffte, war, wie viel freie Zeit sich Ben-Gurion nimmt. Dieser Mann, der ja wirklich nicht wenig zu tun hat, findet jeden Tag noch viele Stunden Zeit zu lernen und zu lesen. […] Seine Fähigkeit, die Arbeit liegen zu lassen und sich augenblicklich einer anderen Sache zuzuwenden, ist wirklich ganz erstaunlich. Das muss man gesehen haben.11

Schon wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung wurde Feldenkrais Zeuge, wie souverän und lässig sich Ben-Gurion Zeit nahm: Während Levi Eshkol und andere Minister im Salon seines Hauses auf einen Anruf des US-Präsidenten Eisenhower warteten, erschien Moshé zur verabredeten Unterrichtsstunde. Sofort gingen Ben-Gurion und sein Lehrer zum »Feldenkrais-Unterricht« in den ersten Stock. Überraschungen waren ja ohnehin nicht zu erwarten: Der amerikanische Präsident, der sich weigerte, Israel Waffen zu liefern, würde ja nur wieder einmal fordern, dass die israelische Armee sich aus den besetzten Gebieten in Ägypten zurückziehen solle. Natürlich rief Eisenhower genau während der Unterrichtsstunde an, und natürlich unterbrach Ben-Gurion seine Lektion für keine Sekunde. Erst nachdem er und Feldenkrais ihre Arbeit beendet hatten, ließ er sich erzählen, was der US-Präsident gesagt hatte. Dann ging Ben-Gurion zu seinen Ministern und teilte es ihnen mit.12

Ben-Gurions Vertrauen in Feldenkrais Können war spätestens restlos gesichert, nachdem dieser zum Entsetzen Polas und der Ärzte eines Tages vorgeschlagen hatte, einen Fieberanfall des Premiers durch bestimmte Bewegungsabläufe zu senken – und es geschafft hatte.13

Doch so eifrig und vertrauensvoll Ben-Gurion auch bei der Sache war, nach zwei Monaten Feldenkrais-Unterricht schien ihm immer noch nicht ganz klar zu sein, worin der Sinn dieser vorsichtigen und langsamen Bewegungsabläufe bestand, zu denen Moshé ihn aufforderte. »Feldenkrais kam wieder vorbei, um mir die Muskeln zu strecken«, notierte Ben-Gurion am 1.Januar 1957 in sein Tagebuch.14 Immerhin: Dank Moshé war der »Alte« bald seine Rückenschmerzen los. Ebenso wie seine chronische Heiserkeit, die von einer Überanstrengung der Stimme verursacht worden war. Der Premierminister wurde geradezu »süchtig nach dem Feldenkrais-Unterricht«15. Eine Rolle dürfte dabei auch gespielt haben, dass Ben-Gurion inzwischen von Moshé erfahren hatte, bei dem Unterricht gehe es eigentlich weniger um bewegliche Körper als vielmehr um bewegliche Gehirne. »Was Ben-Gurion am meisten bedrückte, war, dass sein Gedächtnis schlechter wurde«, erinnert sich Zeev Zachor. »Sein Gedächtnis war so etwas wie eine politische Waffe. Er war immer in der Lage gewesen, sich daran zu erinnern, was Leute gesagt hatten. Wörtlich! Und in seinen Siebzigern spürte er, dass sein Gedächtnis nachließ. Und so begann er Bücher zu lesen, über die Funktionsweise des Gehirns, über das Gedächtnis, er machte sich da wirklich schlau.«16

Am Anfang der Behandlung hatte Feldenkrais Ben-Gurion versprochen, mit Hilfe seiner Methode »nicht nur Freude am Zionismus, sondern am eigenen Körper« zu finden17. Abwesenheit von Schmerz war zwar schon ein wichtiger Schritt auf diesem Weg, doch Moshé wollte mehr erreichen. Seit langem schon war er davon überzeugt, dass nur derjenige wirklich gesund ist, der es schafft, seine geheimen Träume zu verwirklichen.18 Und bald fand Feldenkrais in Gesprächen mit Ben-Gurion heraus, dass dieser immer schon davon geträumt hatte, einen Kopfstand zu machen.19 Ein Wunsch, der vielleicht auch durch Ben-Gurions Interesse am Buddhismus und seine enge Freundschaft mit dem burmesischen Premierminister U Nu verstärkt wurde. Allerdings traute sich der Mann, der den ersten jüdischen Staat in Eretz Israel, im Land Israel, nach 2000Jahren Exil gegründet hatte, nicht zu, einen Kopfstand zu machen. Er traute sich nicht einmal zu, mit beiden Füßen gleichzeitig von einem Hocker zu springen.20 Mit anderen Worten: David Ben-Gurion hatte, was den eigenen Körper betraf, ein eher kümmerliches Selbstbild. Zwar war er schon als Kind keiner Prügelei aus dem Weg gegangen, doch was sportliche Aktivitäten betraf, hatte er sich nie hervorgetan. Und als Ben-Gurion dann 1906 nach Eretz Israel gekommen war, hatte er harte körperliche Arbeit verrichtet, die er aber – geschwächt von Malaria und Hunger – nicht lange durchgehalten hätte. Das Angebot, für die linke Tageszeitung Achdut zu schreiben, rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Und so hatte er seit 1910 vor allem mit dem Kopf gearbeitet und den Rest seines Körpers notgedrungen mit durchs Leben geschleppt.21 Kein Wunder also, dass er sich im Alter von siebzig Jahren nicht vorstellen konnte, wozu er – ungeachtet seines Alters und der jahrzehntelangen Unterforderung seines Körpers – tatsächlich in der Lage war.

1  Der Lehrer und sein junger Schüler

Ben-Gurion glaubte Feldenkrais zwar, dass dieser in der Lage sei, ihm den Kopfstand beizubringen, aber würde er diesen Erfolg auch überleben? Diese Frage kam nicht von ungefähr, denn als bekannt wurde, dass es in Feldenkrais’ Unterricht mittlerweile darum ging, den Regierungschef auf den Kopf zu stellen, lief das medizinische Establishment Amok. Führende Ärzte warnten Ben-Gurion, dass es seinen sicheren Tod bedeute, wenn er ungeachtet seines chronisch hohen Blutdrucks einen Kopfstand mache.22 Ben-Gurions Feldenkrais-Unterricht wurde plötzlich zur Frage der nationalen Sicherheit, mehr noch, es ging um die Zukunft des jüdischen Staates! Als Ben-Gurion seinen Freund fragte, was er über die Warnungen der Ärzte denke, antwortete dieser:

Ich könnte dir sagen, dass das Risiko für mich größer ist als für dich. Denn wenn du während des Unterrichts stirbst, was kümmert es dich dann, was nach deinem Tod passiert? Doch ich werde nicht sterben, sondern bis an mein Lebensende mit einem Makel herumlaufen, die Leute werden sagen: Seht, das ist der Mann, der Ben-Gurion ermordet hat! Außerdem würde ich bestimmt im Gefängnis landen, denn sowohl du als auch ich wurden ja gewarnt.23

Und dann erklärte Feldenkrais Ben-Gurion, warum es für diesen wichtig sei, auf dem Kopf zu stehen: »Du kannst Leuten Befehle erteilen, und du kannst einen Staat errichten«, sagte er, »aber seit deiner Kindheit bist du nicht mehr wirklich gewachsen, weil du eben nie etwas mit deinen Füßen oder Händen getan hast, woran du Spaß gehabt hättest!«

Natürlich sei Ben-Gurion großartiger als jeder andere Mensch, räumte Feldenkrais ein, aber eben nicht in seinem tiefsten Inneren. Er habe jetzt die Chance, ein größerer und sogar noch großartigerer Ben-Gurion zu werden. »Das will ich dir geben. Und deswegen, gehe und mache es.« Die Antwort des Premierministers war klar: »Ani ma‹amin lecha. Ich glaube dir.«24 Der Glaube seines Schülers reichte Feldenkrais allerdings nicht: Wenn Ben-Gurion nicht zuerst begreifen und dann tun konnte, solle er zuerst tun und dadurch begreifen! Und so würde er beispielhaft erleben, dass er viel mehr konnte, als er sich je zugetraut hatte!

Es spricht für Feldenkrais, dass er das gesundheitliche Risiko für den alten Mann nicht leugnete. Jahrzehnte später beteuerte Feldenkrais, er habe Ben-Gurion zwei Jahre lang behutsam und Schritt für Schritt darin unterrichtet, auf dem Kopf zu stehen.25 Dies war eine leichte Übertreibung, denn bereits am 4.Juli 1957 notierte Ben-Gurion in sein Tagebuch: »Heute begannen wir mit den ersten Schritten zum Erlernen des Kopfstands.«26

Zwei Monate übte Ben-Gurion bereits den Kopfstand, als er schließlich in Begleitung von Pola und »Mr.Hokuspokus« nach Herzliya aufbrach, um dort im Hotel Ha-Sharon sein Verjüngungs- und Gesundheitsprogramm fortzusetzen. Die strenge Diät, die er dort absolvieren wollte, ging allerdings nicht auf das Konto seines Lehrers, denn Feldenkrais hielt grundsätzlich nichts von Diäten. Genauso wenig sah er es ein, mit dem Rauchen aufzuhören. Prinzipien waren nie seine Sache gewesen. Prinzipien und ein offener Geist – das passte seiner Überzeugung nach nicht zusammen. Und so war es sein einziges Prinzip, keine Prinzipien zu haben: »Wer nach Prinzipien lebt, der ruiniert das Leben seiner Mitmenschen!«27 Ein Widerspruch, mit dem Moshé gut leben und noch besser arbeiten konnte.

Am 15.9.1957 schrieb Ben-Gurion an seine Tochter Ranana:

Ich gehe hier jeden Tag schwimmen, und der weiche Sand am Strand eignet sich sehr gut für den Kopfstand. Feldenkrais ist für sechs Wochen nach London gereist. Die letzten Übungen, die er mit mir gemacht hat, betrafen den Kopfstand. In seiner Gegenwart hatte ich den Kopfstand nicht richtig geschafft. Erst hier hat sich mir das Geheimnis offenbart: Weil ich keine Angst mehr hatte zu fallen – fiel ich nicht. Und schaffte es. Jetzt mache ich den Kopfstand auch im Hotelzimmer. Ohne Angst, zu fallen oder wegzukippen.28

So hat die Journalistin Tikvah Weinstock an jenem Septembertag eine realistische Chance, das ersehnte Foto von Ben-Gurion zu schießen. Und dann, endlich, erscheint Ben-Gurion um 12:15Uhr am Strand. In schwarzer Badehose und mit sonnenverbranntem Oberkörper, in der Hand Sandalen und Handtuch. Dann stapft er ins Wasser und beginnt auf dem Rücken liegend zu schwimmen. Der Bademeister sieht anerkennend zu: »Eigentlich schwimmt er richtig gut. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er das seit Jahren nicht mehr gemacht hat.«

2  David Ben-Gurion erfüllt sich einen Traum.

Nach zwanzig Minuten kehrt Ben-Gurion an den Strand zurück und absolviert in Begleitung seiner Leibwächter einen längeren Marsch am Meer entlang. Schließlich kommt er zurück, und nun geschieht endlich, worauf die Journalistin so sehnlich gewartet hat: Ben-Gurion geht herunter auf alle viere, Hände und Kopf auf den weichen Sand gestützt, und dann steht er – nach dem zweiten Versuch – tatsächlich auf dem Kopf. Auch die Leibwächter schauen fasziniert zu und bekennen: »Wir haben es ebenfalls versucht. Aber nicht geschafft.«

Als Ben-Gurion und Pola mit den Leibwächtern wieder Richtung Hotel marschieren, meint jemand, dass »der Alte« wunderbar sei. Worauf Pola sich umdreht und fragt: »Der Alte? Wer ist hier alt?«29

Kein Wunder, dass David Ben-Gurion vor Stolz fast platzte. Auch der Vorschlag seiner Ehefrau, er solle doch einen Zirkus aufmachen, denn damit würde er mehr als im Amt des Premierministers verdienen30, minderte die Freude an seinen neu entdeckten Fähigkeiten nicht im Geringsten. Und er war voll des Lobes für Feldenkrais: »An Geist und Körper spüre ich den Segen seiner Fähigkeiten und seines Wissens. Meine Rückenschmerzen sind verschwunden, und ich bin sicher, dass sie nicht wiederkehren werden.«31

Nachdem Ben-Gurions Lieblingsfotograf Paul Goldman den Kopfstand des »Alten« fotografiert hatte, gingen die Fotos um die Welt. Feldenkrais erfuhr vom Erfolg seines Schülers aus der Londoner Presse. Von nun an würde er der Mann sein, der »Ben-Gurion auf den Kopf gestellt hat«. Doch die Fotos von Ben-Gurion machten Moshé nicht nur berühmt, sie sollten auch zu dem bis heute verbreiteten Missverständnis führen, dass die Feldenkrais-Methode darin besteht, Menschen den Kopfstand zu lehren. Daran änderten auch die vielen Interviews nichts, die Feldenkrais nach seiner Rückkehr aus London geben musste. Ganz Israel wollte nun wissen, wer dieser Mann sei, der Ben-Gurion nicht nur von seinen Schmerzen befreit, sondern ihn auf wunderbare Weise sogar verjüngt hatte. Warum hatte ausgerechnet Feldenkrais dem Premierminister helfen können, obwohl doch alle Ärzte versagt hatten? Worin liegt das Geheimnis seiner Methode? Wer, so fragte man, ist dieser »Mr.Hokuspokus« überhaupt? Wer ist Moshé Feldenkrais?

2  |  Die grünen Hügel von Kremenez

Moshé Feldenkrais hat die zweite Hälfte seines Lebens damit zugebracht, andere Menschen zu lehren, wie man »leichter«, seinen eigenen Möglichkeiten gemäß lebt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er es auch jenen Menschen leicht gemacht hätte, die etwas über seine Vergangenheit herausfinden wollten. Diese Erfahrung musste auch Edward Rosenfeld machen, als er Feldenkrais 1973 interviewte. Auf die Frage nach seinem Geburtsdatum antwortete er noch bereitwillig: »6.Mai 1904.« Dann wurde es schwierig, denn Rosenfeld wollte wissen, wo Moshé geboren wurde. »Wo? In einem Bett!« – »In welcher Stadt, in welchem Land?«, hakte Rosenfeld nach. Selbst dieser Frage wich Moshé aus.1 Nie vermochte er es, während eines Interviews mit Journalisten über die hingemordete Welt der Kindheit zu sprechen. Über die Juden von Slawuta, Kremenez oder Baranowicze (russisch Baranowitschi). Wenn Moshé in Interviews oder Büchern überhaupt aus seiner Vergangenheit erzählte, dann beschränkte er sich auf jene Geschehnisse, die mit seinem beruflichen Werdegang zu tun hatten und geeignet waren, seine fachliche Autorität zu untermauern.

Erst 1982, mit 78Jahren, entschied sich Feldenkrais dazu, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er tat dies allerdings nicht aus einer sentimentalen Laune heraus: Aufgrund seiner Schlaganfälle war es für ihn notwendig geworden, wieder schreiben zu lernen. Mit der rechten und mit der linken Hand. Um Hände und Gehirn in Bewegung zu halten. Um besser zu werden. Das machte ihm Freude. Er liebte es, jeden Tag etwas Neues zu lernen. Und wenn er ohnehin am Schreiben war, dann wollte Feldenkrais die Zeit nutzen und seine Lebensgeschichte aufzeichnen. Nicht die Geschichte seiner weltberühmten Methode, denn darüber hatte er bereits genug Bücher verfasst. Er wollte die Geschichte seiner ersten fünfzig Jahre aufschreiben. Dabei dachte Moshé nicht nur an die Leser in Israel: Wenn das Buch erscheinen würde, dann sollten es auch seine Schüler in der ganzen Welt lesen können. Also schrieb er nicht in hebräischer, sondern in englischer Sprache. In seiner Junggesellenwohnung in Tel Aviv, allein mit seinen Erinnerungen. Denn abgesehen von seiner Schwester Malka und seinem Bruder Baruch war zur Zeit der Niederschrift kaum noch jemand von den Menschen am Leben, die Feldenkrais in seiner Kindheit und Jugend gekannt hatte. Fast alle waren von den Deutschen ermordet worden. Und wer erinnerte sich noch an den Moshé der zwanziger und dreißiger Jahre, in Palästina oder in Paris? Aharon Meskin, sein ältester und bester Freund in Israel, der nur zwei Häuser weiter in der Frug-Straße gewohnt hatte, war vor wenigen Jahren gestorben. Jigoro Kano, der Erfinder des Judo, war schon lange tot. Auch Frédéric Joliot-Curie und dessen Frau Irène lebten nicht mehr. Gut, seine Exfrau Yona, die er in Paris geheiratet hatte, lebte noch. Und jetzt, da er krank war, sahen sie sich wieder öfter. Aber sonst?

Es waren nur noch wenige da, mit denen er Erinnerungen aus ferner Zeit teilen konnte. Und kaum jemand von den jungen Leuten, die ihren kranken Lehrer Feldenkrais in seiner Wohnung in der Frug-Straße 27 besuchten, hatte auch nur eine Ahnung davon, woher er kam. Welche Abenteuer er erlebt hatte, bevor er mit seiner Methode weltberühmt wurde. Und wie er all das, was so offensichtlich und vielleicht gerade deswegen verborgen geblieben war, schließlich entdeckt hatte.

3  Der fünfjährige Moshé mit seinen Brüdern Baruch und Yona, den jungen Eltern und einer Verwandten

Moshé Pinchas war das erste Kind von Sheindel und Ariyeh Leib Feldenkrais.2 Geboren wurde er im ukrainischen Slawuta, das damals noch zum Zarenreich gehörte und in jenem eng begrenzten Gebiet lag, in dem Juden per Gesetz leben durften. In der kleinen Stadt – Slawuta zählte 1904 rund 10.000Einwohner – bildeten die Juden mehr als die Hälfte der Bevölkerung.3 Yechiel Michael Pshater, Moshés Großvater mütterlicherseits und Vater von neun Kindern, besaß dort ein großes Haus. Am Shabbat servierte Großmutter Rivka einen besonderen Kuchen. Und Moshé saß dann auf den Knien des Großvaters, eines gutaussehenden großen Mannes mit weißem Bart. Er bestand darauf, dass sein Enkel stets das erste Stück Kuchen erhielt, erst danach durfte der Rest der Familie zugreifen.4

Das Leben im Haus des Großvaters, eines Holzhändlers und Bankiers, der berühmt für seine Gastfreundschaft und tatkräftige Unterstützung der Armen war, hätte die perfekte Kindheitsidylle sein können. Wie trügerisch dieser Frieden war, erlebte Moshé bereits im Alter von drei Jahren, als Judenhasser ein mörderisches Pogrom in Slawuta veranstalteten. Im letzten Augenblick konnten seine Eltern und Großeltern mit ihm ins Haus eines Onkels flüchten. Dort harrten sie einen Tag und eine Nacht in einem versteckten Kellerraum aus, bis die Kosaken wieder abgezogen waren.5

Die frühe Erfahrung der Todesangst hat sicher Einfluss auf Moshés späteres Leben gehabt. Wann immer er Jahrzehnte später ein Hotelzimmer bezog, soll er sich zuerst über die Fluchtwege informiert haben. Nicht aus Angst, sondern aus dem Instinkt eines Menschen heraus, der einmal gejagt worden war.

Gefährlich waren die Jahre seiner Kindheit ohnehin. Sobald man die relativ sicheren Städte verließ, befand man sich tief im Feindesland. Einmal fuhren Moshés Vater und vier Arbeiter mit der Pferdekutsche durch den verschneiten Wald. Plötzlich wurden sie von Kosaken angegriffen, die zwei der Arbeiter ermordeten. Ariyeh war klar, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Er griff zu einem Holzknüppel und erschlug den Anführer der Mörder, die daraufhin flohen.6

Nachdem der Vater nach Hause zurückgekehrt war und der Familie von dem Überfall im Wald berichtet hatte, begriff Moshé wohl endgültig: Wenn es um dein Leben oder das deiner Familie, deiner Freunde geht, dann darfst du töten. Dann bist du vielleicht sogar moralisch verpflichtet zu töten. Gerade so, wie König David und all die anderen biblischen Helden, deren Geschichten Ariyehs Sohn natürlich kannte, es einst getan hatten. Jahrzehnte später wurde Moshé klar, dass er seinen Vater, als dieser an jenem Abend verwundet nach Hause kam, wirklich tief bewundert hatte. Zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben als Sohn.7

Vielleicht war der Vater nach seiner Heldentat noch viel erstaunter über sich selbst, als sein Sohn es über ihn gewesen war. Denn es war Ariyeh Feldenkrais nicht in die Wiege gelegt worden, sich mit brutaler Gewalt seiner Haut wehren zu können. Und auch sein späteres Leben hatte ihn nicht darauf vorbereitet. Körperliche, rohe Kraft konnte zwar nützlich sein, hatte aber wenig mit dem zu tun, was man in der Welt thoratreuer Juden von einem jungen Mann erwartete.

Michael Pshater hatte Ariyeh zum Bräutigam seiner Tochter Sheindel erwählt.8 Der intelligente junge Mann galt als bester Student der Yeshivah, der Talmud-Schule seiner Geburtsstadt Ostrog. Und dies nicht etwa, weil er den Wortlaut der Thora in- und auswendig kannte oder jedes Problem des jüdischen Gesetzes aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten konnte. Dies wurde ohnehin vorausgesetzt. Ariyeh war deswegen der beste Student, weil er gelernt hatte, »selbstständige Entscheidungen zu treffen und zu unabhängigen Erkenntnissen zu finden«. Denn nur auf diese Weise, so der chassidische Rabbi Berl Edelstein, könne der Gelehrte später »vielleicht einen weiteren Baustein zu dem niemals vollendeten Gebäude der talmudischen Lehre hinzufügen«.9 Eigentlich hätte Ariyeh, der Enkel des sagenumwobenen Rabbiners Yonah Ha-Tov ve-Ha-Meitiv, Nachfolger des Rabbiners in Ostrog werden sollen. Doch nach einem Ausflug in die Metropole Odessa hatte sich Ariyeh zu der Einsicht durchgerungen, dass der Beruf eines Rabbiners nichts für ihn sei. Wenn sein Rabbi ob dieser Enttäuschung verletzt gewesen sein sollte, ließ er es sich nicht anmerken. Er küsste Ariyeh und sagte: »Gott segne dich. Denn das habe ich dich ja gelehrt: ehrlich zu sein.«10

Michael Pshater war es gleichgültig, ob sein künftiger Schwiegersohn Geld hatte. Davon besaß er schließlich selbst genug. Wichtig war ihm jedoch, dass Sheindel einen hochgebildeten Mann heiratete, der ihrer Intelligenz würdig war und sein unabhängiges Denken in der Yeshiva bereits bewiesen hatte. Dass Ariyeh gut aussah, schadete sicher auch nicht, und die Arbeit des Holzhändlers konnte der Schwiegersohn später immer noch lernen. Auch der 1880 geborenen Sheindel war Bildung wichtig. Seit Jahren schon tolerierte der traditionsbewusste Großvater stillschweigend, dass Sheindel bei ihren Hauslehrern nicht nur Hebräisch, sondern auch Russisch und Algebra lernte. Er übersah auch seufzend, wenn sie sich in die öffentliche Bibliothek schlich und russische Literatur verschlang. Mehr noch: Michael duldete sogar, dass seine Tochter später den mittellosen jüdischen Mädchen der Stadt das Schreiben und Lesen in russischer Sprache beibrachte. Um ihnen damit das Tor zu einer anderen Bildung, zu einer säkularen, nicht jüdisch geprägten Welt zu öffnen.11

Womöglich erkannte Michael, dass er gegen den Bildungs- und Lebenshunger der Tochter nicht ankam. Und insgeheim war er vielleicht auch stolz auf sie. »Wir brauchen Tausende, die so sind wie Sheindel«, sagte ein Freund Ariyehs einmal. Und der kluge Mann fügte hinzu: »Ihren Ehemann beneide ich allerdings nicht.«12

Die Armen und Notleidenden zu unterstützen, Frauen zu ihrem Recht auf Bildung zu verhelfen – das waren die Leidenschaften Sheindels. Unangepasstheit und Eigensinn waren der Familie ohnehin nicht fremd: Ein Vorfahre Sheindels mütterlicherseits war der berühmte Rabbiner Pinchas Mi-Koretz, ein Anhänger des thoragetreuen Rebellen Israel Ben Eliezer, genannt Baal Shem Tov, der den Chassidismus begründet hatte. Pinchas war 1791 gestorben, bevor er sich seinen Traum, nach Eretz Israel heimzukehren, hatte erfüllen können. Millionen Juden in Osteuropa verehrten Pinchas Mi-Koretz. Und in Sheindels Familie war es Tradition, Söhne nach dem berühmten Vorfahren »Pinchas« zu nennen. Selbstständig zu denken offenbar auch: »Meine Mutter beachtete immer die jüdischen Gebote, aber sie war nie fromm«, erinnerte sich Feldenkrais Jahrzehnte später. »Für sie war die jüdische Religion die Güte selbst, und was nicht gut war – das war eben nicht jüdisch.« Deswegen betrachtete Sheindel es auch als zutiefst jüdisch, am Yom Kippur nicht mit der Gemeinde in der Synagoge zu beten, sondern stattdessen das Fenster in der Wohnung einer frierenden jungen Mutter zu reparieren und dem Baby warme Milch zu bringen. Als der Rabbiner erfuhr, warum Sheindel entgegen jüdischer Tradition am Versöhnungstag arbeitete, befahl er sofort acht Männern der Gemeinde, ihr zu helfen.13

4  Moshés Geburtsstadt Slawuta

»Vom dritten Lebensjahr an«, so erinnert sich Manès Sperber an die Welt des Shtetls, »mussten die Kinder, die Buben, nicht die Mädchen, in den Cheder, die Schule, in der man hebräisch lesen, beten und schließlich die Bibel übersetzen lernte.«14 Auch wenn die Chassidim die göttliche Gegenwart in der Natur und in Handlungen des Alltags zu erfahren suchten, stand die Bedeutung des Thora-Studiums für sie nie in Frage. Vielleicht begann Moshés Hebräisch-Unterricht jedoch nicht im Cheder, sondern bereits im Haus des chassidischen Großvaters. Denn dass der kleine Sohn mit dem Hebräisch-Unterricht gar nicht früh genug beginnen könne, davon war Ariyeh überzeugt. Sobald Moshé erst einmal auf dem Gymnasium war, würde er dafür ja keine Zeit mehr haben! Und so wurde Hebräisch sehr früh zu Moshés Zweitsprache, neben dem Jiddischen, seiner Muttersprache.15

Vermutlich konnte Moshé bereits hebräische Buchstaben lesen, als er im Alter von vier Jahren mit den Eltern in die nicht weit entfernte Stadt Kremenez zog, wo die Familie des Vaters inzwischen lebte. Im Gegensatz zu Slawuta, das noch ein Shtetl war und dessen modernste Errungenschaft die englische Waschmaschine der Großmutter Rivka Pshater darstellte16, befand sich Kremenez immerhin auf dem Weg ins 20.Jahrhundert. Und dies ungeachtet seiner uralten windschiefen russischen Holzhäuser und der Straßen, die sich im Herbst in knöcheltiefen Schlamm verwandelten. Kremenezer Juden besaßen eine moderne Papierindustrie, und die Holzprodukte der Stadt wurden weit über die Stadtgrenzen hinaus verkauft.

Woran erinnerte sich Feldenkrais, als er über siebzig Jahre später an seine frühen Jahre in Kremenez dachte? An die faustgroßen Hagelkörner, die einen mit Eiern beladenen Holzwagen tief in den Morast der Straße sinken ließen. Und wie besorgt er war, dass der Kutscher nun die zerstörte Fracht ersetzen müsse. Er erinnerte sich auch an eine schaurige Geschichte von einer verstorbenen polnischen Adligen, die im nahe gelegenen Schloss angeblich von den Toten wiederauferstanden war. Und er sah noch Jahrzehnte später den kranken alten Mann mit dem Stock vor sich, dessen Anblick ihn als Kind jedes Mal in Angst und Schrecken versetzt hatte. Überhaupt schien es Moshé zu verstören, wenn er offensichtlich kranken Menschen begegnete. Ihr Anblick weckte in dem kleinen Jungen Schuldgefühle, vielleicht weil er wusste, dass er ihnen nicht helfen konnte.17

5  Der jüdische Friedhof in Kremenez, auf dem auch Angehörige aus Moshés Familie ruhen

Aber natürlich gab es in Kremenez auch Stunden harmonischer Ruhe für Moshé, etwa im Obstgarten der Familie oder auf den grünen Hügeln, wo man ausgelassen herumtoben konnte. 1915 schrieb Moshé in sauberer hebräischer Schrift in sein Schulheft:

Als ich ein Kind war, erschien mir der Himmel wie ein Winterhut. Während wir in Kremenez wohnten, stiegen wir auf die Hügel, die die Stadt einrahmen. Es schien mir, als reichte der Himmel bis auf die Erde. Ich lief dann gegen den Himmel, um den wunderbaren blauen Stoff, aus dem der Himmel gemacht ist, mit meinen Händen zu fühlen. Ich bin gelaufen, bis ich, müde geworden, zum Ausruhen gesessen bin …!18

In Kremenez ging Moshé in seine erste Schule, in den Cheder.

In der Schule in Kremenez waren zwei Lehrer. Einer war Litauer, »S« genannt, der andere kam aus Wolhynien und hieß »B«. »B« war ein großer Mann mit gelbem Bart. Er war immer gut gekleidet. Im Cheder waren etwa zweihundert Knaben, aufgeteilt in vier Gruppen. In dem Raum für die erste Gruppe standen fünf gelbe Bänke und eine schwarze Tafel. Vor der Eingangstür war ein schöner Gang, in dem eine schöne Garderobe stand. Besonders schön war das vierte Zimmer. Dort standen fünfzehn rote Bänke und auch ein Kantor-Tisch und zwei Stühle. Damit sich der Junge, der in der Ecke stehen musste, nicht zu schämen brauchte, wenn jemand hereinkam, gab es dort in der Mauer eine Art Kasten mit Schloss.19

6  Kremenez heute

Dass Schüler im Interesse der Disziplin eingeschlossen wurden, hat den kleinen Jungen ebenso wenig erstaunt wie die Tatsache, dass er als Jude auf eine besondere Schule ging. Sein Judesein war für Moshé so selbstverständlich wie die Tatsache, dass er einen Kopf und zwei Beine besaß. Für die Juden in Slawuta und Kremenez galt, was Manès Sperber über die Juden seines eigenen kleinen Shtetls schrieb, wo die Juden die Mehrheit bildeten: Dort »gab es nicht die Spur eines Minderwertigkeitsgefühls wegen der Zugehörigkeit zum Judentum und daher nicht die geringste Neigung, das eigene Wesen zu verhüllen oder wie die anderen zu werden«.20

In den Jahren, in denen die Familie Feldenkrais in Kremenez wohnte, wurde die Stadt von Pogromen verschont. Doch existierte in der Stadt ein Ort, der die Juden stets daran erinnerte, dass sie im Feindesland lebten.

Um den Hof der Synagoge zieht sich eine breite Mauer. Im Hof befindet sich ein uraltes Gräberfeld. Der Zahn der Zeit hat viele Grabsteine gezeichnet, viele haben sich zur Seite geneigt. Auf dem Friedhof sind jene Juden begraben, die von Chmelnyzkyj, dem Anführer der Kosaken, ermordet wurden.21

Die Morde von Chmelnyzkyjs Kosaken und die sich daran anschließenden Pogrome in den russisch-polnisch-schwedischen Kriegen hatten Kremenez Mitte des 17.Jahrhunderts heimgesucht. Auch während Moshés Kindheit gehörte der Judenmord zum christlichen Brauchtum im Zarenreich. Da die Juden Russlands nicht das Glück gehabt hatten, von Napoleon befreit zu werden, war ihnen die gesetzliche Gleichstellung versagt geblieben, die sich in Frankreich und den übrigen westeuropäischen Ländern trotz Reaktion und Restauration schließlich doch, wenn auch oft nur auf dem Papier, durchgesetzt hatte. Dies bedeutete aber auch, dass die meisten Juden Russlands nie die im Westen verbreitete Illusion hegten, von der christlichen Mehrheitsgesellschaft eines Tags vollkommen akzeptiert und toleriert zu werden. Die Lage der Kremenezer Juden war besonders prekär, da sie außerhalb des für Juden erlaubten Ansiedlungsrayons lebten. Sie waren geduldet auf Abruf.22 Im Frühjahr 1912, inzwischen waren Moshés Brüder Baruch und Yona geboren, entschied sich die Familie Feldenkrais, nach Amerika auszuwandern. In das sogenannte »zweite Amerika«23 – die junge und moderne Stadt Baranowicze.

3|Im Weltenbrand

Als Mendl, der »Meschuggene«, zum ersten Mal am Bahnhof von Baranowicze ankam, wurde er sofort gefragt, woher er stamme. Worauf Mendl antwortete: »Ich bin ein Sohn der Stadt! Wer hierherzieht, der wird sofort ein Eingeborener!«1

Dieser kluge Satz des »Meschuggenen« erklärt vielleicht auch, warum Feldenkrais später stets Baranowicze und nicht etwa Slawuta als Geburtsort angab. Denn was immer man vorher gewesen, woher auch immer man gekommen war: Ganz wie Amerika, so verhieß auch Baranowicze einen Neuanfang, ein neues Leben.

7Baranowicze

Im Jahre 1912, als die Familie Feldenkrais nach Baranowicze zog, war die weißrussische Stadt eine Art Boomtown. Seit dort Ende des vorangegangenen Jahrhunderts ein Eisenbahnknotenpunkt mit internationalen Verbindungen entstanden und eine große Garnison errichtet worden war, vermochte nichts mehr die Entwicklung der Stadt aufzuhalten. Und seit die russischen Machthaber 1903 endlich auch Juden offiziell erlaubt hatten, sich in Baranowicze anzusiedeln, war die jüdische Gemeinde der Stadt rasant angewachsen. Da eine moderne Stadt natürlich Holzkohle brauchte – und sei es nur zum Destillieren des lebenswichtigen Wodkas–, konnte der von seinem Schwiegervater erfolgreich angelernte Ariyeh in der neuen Heimat einer gesicherten Zukunft entgegensehen.

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