Nach Amerika - Susann Bosshard-Kälin - E-Book

Nach Amerika E-Book

Susann Bosshard-Kälin

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Beschreibung

Der "Heimwehbub" Jürg Padrutt reist mit einem Touristenvisum in die USA ein, dann kauft er eine Farm und bleibt. Stefan Kälin, Mitglied der Schweizer Ski-Nationalmannschaft, steht an der Golden Gate Bridge und beschliesst, nie wieder als Elektriker zu arbeiten. Philip Gelzer macht ein einjähriges Praktikum in New York, Weltbankökonom Heinz Bachmann wollte gar nie auswandern, Melkersohn Franz Portmann wollte nur eines: weg. Und alle leben sie heute in den USA. Sie kamen aus Einsiedeln, Neuhausen, Chur oder Unterwasser, sie waren Bauer, Banker, Liftboy oder Käser und wurden Farmer, Professor, Wirt oder Fotograf in New York City, Aspen oder New Glarus. "Nach Amerika" dokumentiert dreizehn Lebensgeschichten, erzählt von den Auswanderern selbst. Neun davon hat Susann Bosshard-Kälin nach Gesprächen aufgeschrieben, dazu kommen vier autobiografische Texte. Es sind sowohl einzigartige wie typische Auswandererschicksale des zwanzigsten Jahrhunderts, in dem Amerika wohl wie nie zuvor ein Traumland für viele Schweizer war.

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Susann Bosshard-Kälin,geboren 1954, lebt als Autorin und Journalistin in Egg bei Einsiedeln. Mehrere Buchpublikationen, u. a. mit Leo Schelbert: «Westwärts. Begegnungen mit Amerika-Schweizerinnen».

Leo Schelbert,geboren 1929, lehrte an den Universitäten in Newark und Chicago. Im Limmat Verlag ist von ihm «‹Alles ist ganz anders hier›. Schweizer Auswandererberichte des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten» lieferbar.

Dank

Unser gemeinsames, Kontinente und Generationen umspannendes freundschaftliches Gemeinschaftswerk wurde in allen Phasen durch grosszügige Unterstützung und Sympathie begleitet. Der Dank geht zunächst an die Zeitzeugen im ersten Teil unseres Buches, die offen und engagiert über ihr Leben und ihre Erfahrungen in der alten und neuen Heimat berichtet haben. Besonderer Dank geht an Annina Bosshard, welche die ausdrucksstarken, aktuellen Bilder der Zeitzeugen realisiert hat. Im weiteren geht grosser Dank an Konrad Basler von der Basler & Hoffmann Stiftung und an Gérard Paroz aus Cincinnati sowie an Carl Elsener, Victorinox, und Ruedi Bettschart für ihre wertvolle finanzielle Unterstützung. Dank geht auch an unsere beiden Familien, die uns bei der Realisierung stets geduldig und mit Umsicht begleitet haben, besonders Virginia Schelbert und Jürg Bosshard. Dank auch an Mirjam Weiss, erste Leserin der Texte, weise Kritikerin und Mutmacherin auf dem Weg zum Buch. Der Dank geht schlussendlich an den Limmat Verlag in Zürich, speziell an Erwin Künzli, der unser Projekt mit Sorgfalt und Professionalität begleitet und realisiert hat.

Susann Bosshard-Kälin

Leo Schelbert

NACHAMERIKA

LEBENSBERICHTE VON SCHWEIZER AUSWANDERERN

NACH AMERIKA

Gesprächsprotokolle

«ICH FÜHLTE MICH AUF EINMAL ZU HAUSE IN NEW YORK.»

Philip Gelzer, 1927

Von Basel-Stadt nach Greensboro, North Carolina

«ICH TRAGE DEN ROTEN SCHWEIZER PASS IM HERZEN.»

Donald Tritt, 1931

Von Columbus, Ohio, nach Granville, Ohio

«AMERIKA WAR DAMALS FÜR VIELE SCHWEIZER EIN TRAUM.»

Heinz Bachmann, 1933

Von Neuhausen am Rheinfall nach Comus, Maryland

«MIT TOURISTENVISUM EINGEREIST, GELANG ES MIR, EINE FARM ZU KAUFEN.»

Jürg Padrutt, 1936

Von Chur nach Decatur, Illinois

«ENGLISCH SPRACH ICH NICHT, ABER AMERIKA WAR MEIN TRAUM.»

Albert Zeller, 1939

Von Waldkirch nach Peoria, Illinois

«ICH WOLLTE RAUS, WEG AUS DER ENGE, SO SCHNELL WIE MÖGLICH.»

Franz Portmann, 1940

Von Günikon-Hohenrain nach Hockessin, Delaware

«ICH STAND BEI DER GOLDEN GATE BRIDGE UND SAGTE MIR: ‹ICH GLAUBE, ICH BIN NIE MEHR ELEKTRIKER!›»

Stefan Kälin, 1942

Von Einsiedeln nach Aspen, Colorado

«DIE BEAMTEN SCHRIEBEN ‹BEAR› INS FORMULAR, UND SEIT DA HEISSE ICH ‹BEAR›.»

Ruedi Bear, 1944

Von Wädenswil nach Mancos, Colorado

«VERRÜCKT, ICH DER UNERFAHRENE BERGBUB, DURFTE NACH AMERIKA!»

Hans Lenzlinger, 1947

Von Unterwasser nach New Glarus, Wisconsin

Autobiografische Berichte

«AMERIKA HAT MIR IN MEINEM LEBEN VIELES ERMÖGLICHT.»

Albert Daub, 1899–1991

Von Zürich nach Westwood, New Jersey

«ICH KAM DOCH NICHT NACH AMERIKA, UM TELLERWÄSCHER ZU WERDEN.»

Paul Grossenbacher, 1904–1990

Von Burgdorf nach New Glarus, Wisconsin

«ICH VERSICHERTE IHM, ICH HÄTTE KEINE ABSICHT, IN AMERIKA ZU BLEIBEN.»

Gustav T. Durrer, 1911–2001

Von Luzern nach New York City

«ELLIS ISLAND WAR EIN GEFÄNGNIS, DARÜBER BESTAND KEIN ZWEIFEL.»

Walter Angst, 1919–1999

Von Zürich nach Silver Spring, Maryland

Nach Amerika

Im Jahre 2000 lebten fast 700 000 Menschen mit Schweizer Pass im Ausland – im 27. Kanton, wie es Leo Schelbert nennt. Nach Frankreich und Deutschland waren die USA mit 70 000 Schweizer Immigranten das dritthäufigste Ziel der Schweizer, die es aus den verschiedensten Gründen ins Ausland zog. 1950 waren es noch weniger als 30 000 gewesen, da die globale Wirtschaftskrise und die Jahre des Zweiten Weltkrieges Auswanderung zum Teil unmöglich machten.

Die Lebensgeschichten, die in diesem Buch vorgestellt werden, sind einzigartig wie auch typisch. Sie sind eine kleine Auswahl aus ungezählten Auswandererschicksalen, wie sie sich weltweit ereigneten und die ebenso in ihrer Verschiedenartigkeit aufgezeigt zu werden verdienten. Die vorgelegten Berichte stellen dreizehn Lebenswege von Auswanderern vor, deren Geschick nicht nur von ihrer Individualität, sondern auch von der schweizerischen und amerikanischen Umwelt des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt wurde. Zusammen mit Susann Bosshard-Kälins Frauen-Porträts in «westwärts. Begegnungen mit Amerika-Schweizerinnen» (in Englisch: «Westward: Encounters with Swiss American Women») setzt dieses Buch eine Dokumentation fort, wie diese auch in Leo Schelberts «‹Alles ist ganz anders hier›. Schweizer Auswandererberichte des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten» oder in Peter Michael-Caflischs «‹Hier hört man keine Glocken›. Geschichte der Schamser Auswanderung nach Amerika und Australien» auf Grund von Briefen vorgelegt wird.

Im Buch «Nach Amerika» berichten dreizehn Schweizer Männer von ihrem Leben im Zeichen der Auswanderung in die Vereinigten Staaten des zwanzigsten Jahrhunderts. Im ersten Teil porträtiert Susann Bosshard-Kälin acht Auswanderer und einen in den Vereinigten Staaten geborenen Sohn eines Schweizer Auswanderers. Die Geschichten zeigen, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Auswanderung beruflich geprägt wurde, da die kontinentale Eroberung zu Ende war und es eigentliche Siedlungswanderungen kaum mehr gab. Die Berichte sind keine abschliessenden Biografien, sondern subjektiv geprägte Aufzeichnungen aus Erzähltem, Erinnertem, Erfahrenem – Ausdruck von Freuden, Krisen, Verlusten, Erfolgen und Träumen. Die Gespräche, die den Lebensgeschichten zugrunde liegen, waren zu Beginn oft etwas verhalten und zögernd – als Mann einer fremden Journalistin das Leben zu erzählen, ist kein Leichtes – wurden aber bald zu offenen und herzlichen Begegnungen. Oft, und oft unerwartet, rief das Erinnern Emotionen wach – ein besonderer Vertrauensbeweis.

Die vier Texte des zweiten Teils sind eine Auswahl von Lebensberichten, die Leo Schelbert über die Jahre hin angeregt und als Herausgeber der Zeitschrift der Swiss American Historical Society in englischer Fassung veröffentlicht hatte. Vier der von ihm übersetzten Texte werden hier in einer vom Verlag revidierten und gekürzten Form vorgelegt. Die von den Autoren approbierten autobiografischen Texte (wie auch die ins Englische übertragenen Porträts von Susann Bosshard-Kälin) sind vollständig im Buch «Emigrant Paths. Encounters with 20th Century Swiss Americans» enthalten, das von der Swiss American Historical Society 2013 veröffentlicht wurde.

«westwärts» und «westward» wie auch «Nach Amerika» und «Emigrant Paths» hoffen verschiedene Aspekte des Auswanderungsgeschehens im zwanzigsten Jahrhundert Lesern nahezubringen.

Susann Bosshard-Kälin / Leo Schelbert, im Januar 2014

Gesprächsprotokolle

Philip Gelzer, 1927

Von Basel-Stadt nach Greensboro,North Carolina

«ICH FÜHLTE MICH AUF EINMAL ZU HAUSE IN NEW YORK.»

‹IAG› – in Amerika gewesen! Wer das von sich sagen konnte, wurde beneidet und hatte im Berufsleben – besonders in Bankenkreisen – bessere Karten. Der Bankkaufmann Philip Gelzer schnupperte 1950 für ein Jahr USA-Luft und blieb in der Neuen Welt. Er ist Amerikaner und Heimwehbasler und kriegt heute noch feuchte Augen, wenn er in akzentfreiem Baslerdialekt von seiner Heimatstadt schwärmt. Seit ein paar Jahren bewohnt er mit seiner zweiten Frau, Joe, eine Vierzimmerwohnung in einem exklusiven Alterszentrum in Greensboro, North Carolina. Er findet, dass sich Auswanderergeschichten immer irgendwie ähneln. Ob dem so ist?

Mein Urgrossvater Johann Heinrich Gelzer zog als Theologe und Historiker von Schaffhausen nach Basel, habilitierte an der Universität und vermählte sich mit einer Sarasin-Tochter. Damit wurde er aufgenommen in den Basler «Daig», ins vornehme Bürgertum. Später, nach Jahren als Professor in Berlin und zurück in Basel als Schriftsteller, Politiker und Diplomat, erhielt er sogar das Ehrenbürgerrecht der Stadt. Mein Vater Heinrich, Sohn von Pfarrer Karl Gelzer-Vischer, ist im Pfarrhaus der «Dalbekirche» aufgewachsen und studierte auch Theologie. Er wurde Rektor des Theologischen Seminars der Basler Missionsgesellschaft. Der junge Pfarrer wagte noch vor dem Ersten Weltkrieg den mutigen Schritt, eine deutsche Pastorentochter aus Stassfurt zu heiraten. Meine Mutter, Charlotte Luedecke, Leiterin eines von ihrem Vater gegründeten Waisenhauses und preussischen Ursprungs, wurde der Liebling in unseren weitverzweigten Basler Familien. Sie war bestrebt, sich gut zu assimilieren und sprach bald Basler Dialekt. Mutter war eine energische, aber fröhliche Frau und eine grosse Verfechterin des Frauenstimmrechts. Und sie war eine Pfarrfrau im alten Stil: «2 für 1», hiess das. Den Pfarrer stellte man ein und die Frau, die ihren Mann meist engagiert unterstützte, ohne Entlöhnung mit dazu.

Die eine meiner Welten war im Basler Missionshaus, die andere bei der vornehmen Verwandtschaft in der «Dalbe». Die beiden Milieus hätten verschiedener nicht sein können. An den grossen Vischer-Familientagen waren die Nachkommen der «hinein-geheirateten» Gelzers sowie die Iselins, Staehelins, Burckhardts, Christs, Albrechts eingeladen. Wir waren die «Missionshäusler». Ich war als Bub sehr sensibel auf solche Zuschreibungen, auch auf den in der weiteren Familie oft zitierten Scherz: «Alle Jahre wieder kommt ein Gelzer-Kind!» Als zehnköpfige Familie stachen wir in der Verwandtschaft heraus. Am ersten Januar machte man nach altem Basler Brauch Neujahrsbesuche bei der «oberen Generation», den Grosseltern, Onkeln und Tanten. Das ganze «Gelzer-Zygli» – mein Vater mit Zylinder – machte sich zu Fuss auf den Weg in ihre Stadtvillen – meine Eltern sowie Michael (1916), Monika (1918), David (1919), Jakobea (1921), Lea Barbara (1924), Priscilla Rahel (1925), ich (1927) und Justus (1929). «Gutzi», warme «Baschtetli» und Wermut waren die Höhepunkte und die Belohnung bei diesen Pflichtbesuchen. Meine Grosseltern hatten überdies ein Landgut oberhalb von Eptingen. Es gehörte sich, dass man ein Sommerhaus besass, mit einem «Lärchenmann», der auf dem Gut lebte und dieses betrieb. Wir durften einen Teil der Sommerferien dort verbringen. Ich weiss heute, dass Onkel Benedikt Vischer, Associé bei der Bank Sarasin, meinen Eltern finanziell immer wieder unter die Arme griff. Ich denke, ohne seine Hilfe hätten sie die grosse Kinderschar nicht durchgebracht.

Als siebtes und zweitletztes Kind der Familie kam ich am 4. Oktober 1927 im Frauenspital in Basel zur Welt und wurde Philipp Christian Renatus getauft – nach Philipp Melanchthon, einem Kollegen Martin Luthers, und nach Christian Renatus Zinzendorf, dem Sohn des Gründers der Herrnhuter Brüdergemeine. Unsere Familie wohnte im Missionshaus beim Spalentor, dort wo auch die Administration der weltweit tätigen reformierten Mission, heute Mission 21, ist. Die Basler Mission war ein Gemeinschaftswerk deutscher, elsässischer und Schweizer Missionsleute und bot eine Ausbildung für Missionare in aller Welt. Leitende der Mission und die Lehrer am Seminar lebten mit ihren Familien im Komplex, und natürlich auch die Seminaristen. Einer meiner besten Freunde war der Sohn eines Mitarbeiters meines Vaters, und auch meine erste Sandkastenfreundin kam aus einer Missionarsfamilie. Eine Tür führte von unserer Wohnung direkt ins Seminar, und die künftigen Missionare konnten bei uns jederzeit an die Tür klopfen, sei es auch nur, um von Mutter einen Knopf angenäht zu bekommen. In unserer Wohnung gab es eine einzige primitive Toilette für die ganze Familie, kein Badezimmer, nur eine kleine Badewanne in einem Kasten drin. Es war alles sehr einfach. Aber wir kannten nichts anderes.

Wir hatten ein offenes Haus, ein von der Religion geprägtes Daheim. Die Fasnacht war tabu. Den Seminaristen war sie verboten und leider auch uns Kindern. Ich durfte nie eine Larve anziehen, «drummeln» oder pfeifen. Mutter erzog uns mit preussischer Konsequenz. Sie hatte ab und zu eine lose Hand, und wenn man sich in Vaters Studierstube stellen musste, wusste man, was es geschlagen hatte. Ausschliesslich als Familie sassen wir selten am Esstisch. Oft waren Leute aus den Missionen, deutsche Verwandte, Hilfsbedürftige oder Flüchtlinge da, und immer natürlich unsere Donna, das «Dienstmädchen». Sie war als Bedienstete Teil der Familie, was damals in den besseren Basler Kreisen nicht üblich war.

Bei Verwandten in Mürren im Winter 1934; Philip bei der Mutter sowie Justus und Priscilla.

Philip, Lea und Justus 1937 (von links nach rechts).

Vater hat uns seine Anspruchslosigkeit für alles Weltliche und Materielle vorgelebt. Das Gegenteil von dem, was heute in Amerika praktiziert wird. Er trank keinen Alkohol und brauchte wenig für sich selber. Eines seiner grossen Vorbilder war Bruder Klaus, ein Katholik. Mutter sagte jeweils, der habe es sich leicht gemacht, sei in ein «klei Hüttli» gegangen und habe seine Familie zurückgelassen! Vater dachte ökumenisch und hatte sehr viel Humor – diesen speziellen Basler Humor, den viele Schweizer nicht verstehen. Ausserdem meinen sie, Baseldeutsch sei eine Fremdsprache.

Meine Kindheit war im Schutz der grossen Familie glücklich, aber der Zweite Weltkrieg war in der Grenzstadt doch prägend: Ich wurde Meldebote im internen Luftschutz. Vater war als Luftschutzchef dafür besorgt, dass bei Alarm alle vierzig bis fünfzig Personen aus dem Missionskomplex in den Keller gingen, Studenten, Lehrer und all deren Familien. Eine Zeitlang kamen die Flieger jede Nacht. Wir mussten verdunkeln, denn die beleuchtete Schweiz wäre ein wichtiger Hinweis für die Bombardements der Amerikaner im nahen Deutschland gewesen. Deutschland hatte seine Munitionsfabriken nahe an der Schweizer Grenze gebaut; so waren sie sicher, dass sie nicht bombardiert würden. Wenn alle im Luftschutzkeller unten waren, fuhr ich mit dem Velo bei dunkler Nacht ins Spalenschulhaus zum Luftschutzposten. Ich war stolz, die Armbinde tragen zu dürfen, die mich autorisierte, während des Alarms allein durch die Stadt zu fahren. Angst verspürte ich nie.

Was ich beruflich machen würde, war für mich schon als fünfjähriger Bub klar: Ich wollte Pfarrer werden wie mein Vater und meine beiden Grossväter. Aber der Schuldruck im Humanistischen Gymnasium wurde unerträglich. Ich strengte mich an, aber nach kurzer Zeit fingen die Probleme an. Im zweiten Jahr hatte ich Mühe und im sechsten Jahr am «Gymmeli» wurde es dramatisch. Für mich war der Schulstoff schwierig, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik, einfach alles. Hebräisch wäre in der siebten Klasse noch dazugekommen. Vater sprach mit mir über die schulischen Schwierigkeiten: «Man muss aufpassen, dass man nicht etwas durchzwängt, was vielleicht nicht Gottes Wille ist.» Ich rang innerlich mit mir und entschied: Pfarrer zu werden war nicht mein Weg! Ich erlebte mein Versagen als grosse persönliche Niederlage. Was nun?

Freunde halfen mir und meinen Eltern im Entscheid, meine weitere Schulbildung an der Ecole Supérieure de Commerce in Neuenburg fortzusetzen. Ich wohnte bei einer liebenswürdigen welschen Familie in Saint-Blaise. Plötzlich ging mir der Knopf auf – das Lernen fiel mir leichter. Ich erlebte die Neuenburger Jahre als befreiende Zeit und kehrte mit dem Handelsdiplom nach Basel zurück. Um nicht verwandtschaftlich verbandelt zu sein, riet mir mein Onkel von der Bank Sarasin, die weitere Ausbildung bei der Schweizerischen Volksbank zu absolvieren. Das dreijährige Praktikum und der Unterricht beim kaufmännischen Verein wurden mehrmals unterbrochen durch die Rekrutenschule, dann die Unteroffiziers- und anschliessend die Offiziersschule in Bern, die letzte übrigens, in der die Infanterieaspiranten den Umgang mit Pferden und das Reiten lernten. 1948 wurde ich im Berner Münster zum Leutnant brevetiert. Meine Eltern konnten sich das Zugbillett nicht leisten. «Wir sind im Geist bei dir», liessen sie mich wissen und waren sehr stolz auf ihren Zweitjüngsten.

Die Direktion der Schweizerischen Volksbank ermutigte mich, nach Amerika zu gehen. Wenn man weiterkommen wollte, gehörte ein US-Jahr dazu. Amerika galt als grosses Vorbild. Die Leute fragten nicht, was man dort machte. «IAG» im Zeugnis war einfach wichtig für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn!

Walter Schiess, ein Vetter meines Vaters, war Anwalt für die damals führende Schreibmaschinenfirma Remington. Er half, einen Kontakt zu seinem amerikanischen Anwaltskollegen zu knüpfen, der mir versprach, bei seiner Firma in New York ein gutes Wort für mich einzulegen.

1949 gab ich auf der US-Botschaft in Bern für ein Visum ein. Untätig zu warten, bis ich nach Amerika ausreisen konnte, kam für meine Eltern nicht in Frage. Mutter hatte eine Bekannte in Paris, die mich als Tellerwäscher in die Mensa der Pariser Universität vermittelte. Paris – immer noch gezeichnet von den harten Kriegsjahren – war bedrückend. Viele Menschen bettelten auf den Strassen. Am Desk des YMCA, wo ich wohnte, stand in grossen Lettern: «Nous attendons une aire nouvelle où la justice reignera».

Ich war ein guter Arbeiter in der Uni-Mensa, und es gab für mich gratis Essen und ein paar Francs Lohn. Wenn ich im Café die Studenten beim Hinausgehen kontrollieren musste, ob sie Besteck klauten, war das sehr unangenehm. An den Nachmittagen streifte ich durch die Stadt, besuchte den Louvre. Mit anderen Menschen hatte ich wenig Kontakt; allein zu sein, machte mir wenig aus.

Ich hatte noch einen zweiten Job, für den ich morgens um sechs Uhr aufstand. An den Schaltern der Folies Bergère im Quartier Latin musste ich Tickets kaufen und sie einer Agentur zum Wiederverkauf bringen. Nach sieben Monaten endlich kam das versprochene Visum für Amerika.

In dritter Klasse auf der S. S. De Grasse reiste ich Ende Dezember 1949 in sieben Tagen über den Atlantik nach New York. Ich war trotz stürmischem Meer nie seekrank. Ein Amerikaner, der mit mir die Schiffskoje teilte, fand es naiv, dass ich aufgrund eines äusserst vagen Job-Versprechens nach Amerika reiste. «I hope you succeed!», liess er mich wissen. Für mich war klar, die Einladung des Anwalts «come and see us» war quasi ein Arbeitsvertrag.

Niemand holte mich am Hafen ab. Mit einem Taxi fuhr ich ins YMCA, und eine Woche später fand ich in Manhattan an der 87th West Street bei zwei älteren Damen für sieben Dollar die Woche ein Zimmer. Ich genoss das Dolcefarniente in der Grossstadt. Als der Remington-Anwalt mich am Telefon abfertigte: «I am away for the next two weeks, come and see me later … – ich bin die nächsten zwei Wochen weg, kommen Sie später!», wurde ich nicht hellhörig, keinerlei Warnlampen blinkten. Wie naiv und unerfahren war ich! Nach seiner Rückkehr lud er mich zum Lunch in ein teures Restaurant ein. Ich sprach miserabel Englisch, wir diskutierten über alles Mögliche, nur nicht über eine Anstellung. Am Schluss fragte ich schüchtern, wie es denn mit der versprochenen Arbeit sei. «Let me think about it – I am leaving for Washington.» Er war auf dem Sprung nach Washington, und mir ging endlich ein Licht auf: Der will mich loswerden!

Mir wurde mulmig zu Mute, ich geriet in Panik, denn ich hatte nur noch knappe achtzig Dollar in der Tasche. Auf dem Schweizer Konsulat wurde mir geholfen, einen Brief aufzusetzen. Ich sei nach Amerika gekommen, um zu arbeiten. Die Antwort aus dem Anwaltsbüro war knapp und eindeutig: «If you can’t wait until things work out, you better take the next boat back! – Wenn Sie nicht warten können, bis sich die Dinge klären, nehmen Sie besser das nächste Schiff zurück!» Zurück? Nie und nimmer. Das hätte mir mein Stolz nicht zugegeben.

Ausgerechnet in jenen Tagen schrieb Mutter, die Union Trading Company in Basel habe sich nach meiner Adresse wegen eines Stellenangebots erkundigt. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen: Zwölf Monate Amerika, dann komm ich heim, war mein Entschluss. Ich musste es einfach schaffen. Mit meinem Résumé in der Hand ging ich an der Wall Street von Tür zu Tür. Ich meldete mich jeweils unten beim Pförtner an: «I am looking for a job.» Bei den Schweizer Banken hiess es «complete an application form», ohne feste Zusage. Bei der American Express liess man mich umgehend wissen: «Sie können morgen anfangen!»

Wie dankbar war ich für die 24 Dollar, die ich ab Ende Januar 1950 pro Woche verdiente. Als Ausläufer ging ich mit Amexco-Checks unter dem Arm zu den anderen Banken. Paketweise verschob ich Checks und lief die Wall Street rauf und runter. Ich arbeitete sehr speditiv und war meist am frühen Nachmittag mit meiner Runde fertig. Das bot mir Gelegenheit, eine bessere Stelle zu finden. Nach vier Wochen bei American Express trat ich eine Stelle an im Commerical Credit Department der privaten, englischen J. Henry Schroder Banking Corporation. Hier lernte ich sehr viel, auch im Umgang mit hilfreichen, unkomplizierten amerikanischen Kollegen. Noch heute gehen viele meiner freundschaftlichen Beziehungen auf diese Zeit zurück.

Und ich fühlte mich auf einmal zu Hause in New York – die Stadt war ein grosses Wunder. Ich stieg auf alle Wolkenkratzer, lief stundenlang durch die Hochhäuserschluchten. Am Mittag ass ich jeweils im «Automaten-Restaurant», einer neuen Erfindung. Man schob die Nickel rein, und aus dem Türchen kamen Kaffee oder Sandwiches.

Nach dem ersten US-Jahr zog es mich nicht heimwärts. Ich hatte noch zu wenig erlebt und gesehen. Aber, so fragte ich mich, gibt es neben den Jobs in der amerikanischen Bankenwelt etwas in der Industrie für mich? Eine Kollegin auf der Bank half mir, ein Bewerbungsschreiben aufzusetzen, das ich verschiedenen Firmen in Manhattan vorlegte. Zur gleichen Zeit wurde ich von einem Vetter zweiten Grades meines Vaters, Karl Suter, damals Executive Vice President von Geigy in New York, zu ihm nach Hause eingeladen, zusammen mit einer Gruppe anderer junger Schweizer. «Nur die Banken, das ist nicht Amerika», meinte er. Ob ich im Personalbüro von Geigy vorsprechen wolle?

Mein Enthusiasmus war nicht eben riesig. Die Arbeit in einer Schweizer Firma lockte mich nicht, aber Geigy bot mir 65 Dollar die Woche und eine Stelle im DDT-Department. Dort verkauften sie unter anderem das Insektizid Dichlordiphenyltrichlorethan in den USA und in Südamerika. DDT war seit Anfang der 1940er-Jahre als Kontaktund Frassgift sehr gefragt und wegen seiner guten Wirksamkeit gegen Insekten, der geringen Toxizität für Säugetiere und dank des einfachen Herstellungsverfahrens das weltweit meistverwendete Insektizid. Ich wurde Assistent des Exportmanagers, eines gemütlichen Amerikaners, der mir sofort sympathisch war. Unser gemeinsames Büro war in einem alten Gebäude an der Barclay Street in der Nähe der Wall Street im vierten Stock. Ohne Lift. Mit einem Korb zog man die Post an einem Seil nach oben. Das Geschäft von Geigy bestand 1951 hauptsächlich aus Farbstoffen und Chemikalien. Daneben gab es eine kleine pharmazeutische Abteilung und «unser» Insecticide Department.

Am Ende des Korea-Krieges, 1953, wurde ich in die US-Army eingezogen. Geigy wollte mich künftig auf Geschäftsreisen ins Ausland schicken, und wenn ich ausgereist wäre, hätte ich als Dienstverweigerer und «undesirable alien» nie mehr nach Amerika einreisen können. Dem Aufgebot auszuweichen, indem ich nach Basel zurückkehrte, kam für mich nicht mehr in Frage. Im Kontakt mit dem Hauptsitz in Basel kamen mir die Arbeitsmethoden dort bürokratisch vor und der Weg nach oben zu langsam. In Amerika hingegen stand mir die Welt offen. Alles war unkomplizierter, und Geigy bot mir eine berufliche Zukunft. Die wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Meine Mutter war total Amerika-begeistert und meinte, das sei der Preis, den ich für das freie Amerika zu zahlen hätte.

Ich kam auf einem Lastwagen nach Montgomery, Alabama, in das No-Man’s-Land eines Rekrutencamps, zusammen mit einer Menge Immigranten aus aller Welt. Viele wollten mit dem Einsatz für die Armee die Chance nutzen, zu einer neuen Identität zu kommen. Denn mit dem Abschluss der Rekrutenschule wurde man automatisch amerikanischer Staatsbürger. Es gab undurchsichtige Leute darunter, die «gottenfroh» waren, dass sie ihre Staatsbürgerschaft abgeben konnten und ihr Leben nicht mehr als Tschechen, Polen oder Deutsche leben mussten. Ich durfte mein Schweizer Bürgerrecht behalten und wurde zu Philip R. Gelzer. Meinen Vornamen Renatus konnte in den USA ohnehin niemand aussprechen. Im Rückblick finde ich es schade, dass ich das Doppel-P bei Philipp weggegeben habe.

Dank meiner deutschen Sprachkenntnisse hiess es nach der Ausbildung: «Gelzer, Korea does not make sense – you go to Germany». Aus meiner Kompanie war ich der einzige, der von 1954 bis 1955 als GI zur Security Police nach Schweinfurt kam. Es ging in erster Linie darum, das Renommee der Amerikaner in Deutschland zu verbessern. Nachts fuhren wir mit unseren Camions zu den Beizen und luden die GIS auf, die sich zu lärmig aufführten. Ich war oft als Übersetzer tätig. Junge deutsche Frauen in der Region hatten ein Baby mit einem GI – die Mütter meldeten sich mit ihren Babys bei uns auf dem Posten und erklärten: «Der Soundso ist der Vater meines Kindes». Die amerikanischen Streitkräfte gingen fürsorglich mit diesen jungen Deutschen um, und meist entschied die Militärjustiz, dass der Soldat die Mutter finanziell unterstützen müsse. In Franken, wo wir in den Manövern waren, kamen auch Mütter mit schwarzen Babys. Ich war beeindruckt, wie Amerika sich in den Fünfzigerjahren bemühte, das eigene Image zu verbessern.

Als Administrative Clerk der Regimental Headquarters Company der 16. Infanteriedivision 1954/55.

Die Zeit bei der US-Army war für mich sehr wichtig, und ich wurde bald Wachtmeister, Sergeant, Bürochef in der Regimental Headquarter Company der 16th Infantry Regiment in der First Infantry Division of the United States. Von Deutschland aus durfte ich heimreisen. In der US-Uniform war dies allerdings ein heikles Unterfangen. Prompt stand eines Morgens die Schweizer Militärpolizei vor der Tür. Jemand hatte mich gesehen und verpfiffen. Bis heute weiss ich nicht, wer es war. Die Anklage auf dem Posten lautete: «Schwächung der Schweizerischen Landesverteidigung». Die Situation wurde brenzlig, zumal ich so schnell wie möglich zu meiner Einheit nach Deutschland zurückkehren musste. Advokat und Oberst Emanuel Iselin, engagiert von der Firma Geigy, half mir. Die Sache wurde noch dadurch verschärft, dass ich seinerzeit den Feldstecher aus dem Schweizer Armeebestand mit nach Amerika genommen hatte. Der Vorfall belastete den Prozess gegen mich zusätzlich, und der Feldstecher musste umgehend ins Zeughaus zurück. Ich konnte ausreisen, und der Prozess ging in absentia des Angeklagten über die Bühne. Das Verfahren wurde dann schliesslich dank Iselins geschickter Intervention eingestellt.

Geigy war per Gesetz verpflichtet, meine Stelle freizuhalten; ich reiste nach New York zurück. Beruflich fing ich wieder unten an, diesmal in der Abteilung Farben und Chemikalien. Die Geschäftsleitung überzeugte mich, in der Abteilung Farben und Chemikalien wären meine Chancen, vorwärts zu kommen, am besten.

Einer meiner ehemaligen Dienstkameraden bei der US Army forderte mich zu einem «Blind Date» mit zwei seiner Arbeitskolleginnen im Sozialdienst auf. Die eine der beiden jungen Damen imponierte mir auf den ersten Blick. Lorayne Helfer war im Begriff, ihre Stelle aufzugeben und an der Harvard University einen Master Degree in Education zu erwerben. Sie war lebensfroh und ambitioniert, und ich blieb mit ihr in Kontakt. Ihr Vater, ein österreichischer Emigrant, ursprünglich Modezeichner mit eigenem Atelier in New York, flüchtete zu Beginn der grossen Depression in den Zwanzigerjahren «upstate New York» und erwarb eine Hühnerfarm. Hier wuchs Lorayne auf und half als Kind bei der Hühnerpflege mit.

Ihre Eltern waren gegen unsere Heirat; mein Schwiegervater fand es eine Dummheit, dass seine Tochter einen Ausländer heiratete. In der historischen Kapelle der Herrnhuter Brüdergemeine (Moravian Church) in Bethlehem Pennsylvania heirateten wir im Jahr 1958. Wir hatten eine ganz wundervolle Ehe, und ich liebte meine Frau sehr, die mir drei Töchter schenkte – Naomi, Gabrielle und Claudia. Leider starb sie 1982 an Leukämie. Wir hatten alles versucht, aber sie war unheilbar krank. Nach dem Tod meiner Frau habe ich mich komplett in die Arbeit gestürzt. Sicher habe ich die Kinder in jener Zeit vernachlässigt, was mir heute noch leid tut. Dieser Tod war für mich ein schwerer Schock. Ich brauchte lange, um wieder aufzustehen. Es ist ein Glück, dass mich eine gute Freundin von Lorayne später mit Joe bekannt machte. Wir heirateten 1984. Sie ist auch Amerikanerin und eine liebenswerte Partnerin.

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, waren die schwersten Zeiten die Jahre auf dem Gymnasium und das Sterben meiner ersten Frau. Aber immer wieder ging es irgendwie weiter. Ich glaube, meine Glaubensüberzeugung hat mich durch die Jahre gebracht – durch Leid und Freud. Ohne den Schutz, die Liebe und die Führung durch eine höhere Macht, für mich ist es ein identifizierbarer Gott, wäre ich nie so weit gekommen. Ich glaube an einen gütigen, nicht strafenden Gott, der uns immer wieder neu anfangen lässt. Versöhnung ist mir so wichtig. Und das zweite ist die Fürbitte. Ich bin in so vielen Situationen beschützt worden, im Privatleben, im Militärdienst, in der Karriere, in der Ehe – ich bin immer tief unter dem Eindruck gestanden, dass andere für mich gebetet haben. Die Vergebung und die Fürbitte, das sind die zwei Anker meines Glaubens, und die haben mich nie verlassen.

Die berufliche Tätigkeit wurde ein Stück weit meine Heimat. Die fünfundzwanzig Jahre im Farben- und Chemikaliengeschäft – Geigy war diesbezüglich weltweit eine der führenden Unternehmungen – waren gekennzeichnet von zwei besonders herausfordernden Perioden, die ich als Leiter der Planung und Administration der US-Division intensiv miterlebte: 1970 die Fusion mit Ciba – Antitrust-Gesetze bedingten den Verkauf von Cibas Farbstoffgeschäft in den USA an eine Drittfirma – und 1973 die Verlegung der neu organisierten Ciba-Geigy Dyestuffs and Chemical Division von New York in den Süden nach North Carolina ins Zentrum der Textilindustrie. Anfangs hatten wichtige Spezialisten unter unseren Mitarbeitenden grosse Bedenken, mit ihren Familien nach Greensboro, dem gewählten Standort, zu ziehen. Es hiess, die Schulen seien dort schlecht. Überdies hatten sie Angst vor dem Ku-Klux-Klan, dem rassistischen Geheimbund in den Südstaaten, der sich vor allem die Unterdrückung der Schwarzen auf seine Fahne geschrieben hatte und seit der Integration in den Fünfzigerjahren wieder unerwarteten Aufschwung verzeichnete. Aber der Standort Greensboro wurde für Ciba-Geigy zum Erfolg. Ja, auch die grosse Agricultural Division von Ciba-Geigy entschloss sich zum Umzug nach Greensboro in die grosse Anlage, die wir dort erworben hatten. Schliesslich zogen vierhundert Familien hierher. Ich selber kam als Erster mit meiner Familie am 1. Januar 1973 – es war der Beginn einer spannenden und wichtigen Zeit in unserem Leben.

«It is very necessary to get a break» – ein amerikanisches Sprichwort. Es ist wichtig, im richtigen Moment an die richtigen Leute zu gelangen und dann zuzupacken. Das hat nichts mit Vetterliwirtschaft zu tun. Bis in die oberste Leitung der Firma habe ich es nicht geschafft. Und ich musste mich behaupten neben Harvard- und Princeton-Absolventen. Neben ihnen hatte ich es mit weniger Ausbildung und schlechterem Englisch nicht einfach. Ich brauchte oft mehr Zeit für meine Entscheidungen. Aber ich schaffte es ohne Universitätsstudium. Und ich wusste immer, wo mein Platz war. Als es einmal um einen höheren Posten ging, für den ich im Rennen war, sagte mir der Präsident, ein alter Kollege: «Du bist zu nahe bei den Leuten, darum kannst du sie nicht rauswerfen».

Ich verstand die Kritik. Ich musste mich wohlfühlen in meiner Haut und mir treu bleiben. In den Grossfirmen Amerikas ist es wichtig, beruflich immer höher zu steigen. Die Karriere zählt. Aber ich weiss, man kann sich auch verlieren, überschätzen und dann unweigerlich abstürzen.

1989 bin ich als Vice President und Direktor der Greensboro-Niederlassung von Ciba-Geigy zurückgetreten. Ich war 62 und fühlte: Man muss gehen, bevor der «burnout» einsetzt. Heute will man nicht mehr, dass die Leute jahrelang in derselben Firma bleiben und dann für die geleisteten Dienste eine Uhr bekommen. Sie wollen keine Sesseldrücker feiern. Der Gründer von Apple, Steve Jobs, suchte den ständigen Turnover – Leute mit neuen Gedanken und unbelastet von Vergangenem. Das ist Gedankengut des 21. Jahrhunderts. An der Abschiedsparty bei meinem Rücktritt staunten jüngere Mitarbeitende: «Wir können es nicht fassen, dass Sie so lange bei der gleichen Firma blieben.»

Von Zuhause aus erzogen, Verantwortung im öffentlichen Leben zu tragen, war ich während der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre – bis zu meinem 77. Geburtstag – weiter in verschiedenen lokalen und regionalen Organisationen tätig, so unter anderem im Vorstand einer Gruppe von Spitälern der Region und im Aufsichtsrat für Kinderhorte und Tagesheime. Daneben hatte ich ein Mandat als Vorsitzender der Stadtund Bezirkskommission für Planung und Wirtschaftsentwicklung der Region. Ciba-Geigy unterstützte mich in dieser Tätigkeit fürs Gemeinwohl und überliess mir grosszügig ein Büro. Meine grosse Befriedigung ist, dass heute Dinge in Greensboro und Umgebung wahr geworden sind, die wir damals angedacht und geplant haben.

Jetzt ist mein Leben mit Joe ruhiger geworden. Ihre und meine Kinder besuchen uns, oder wir sind zu ihnen und unseren achtzehn Grosskindern unterwegs nach New York, Washington, Boston, Rhode Island und Arkansas. Die Reisen in die Schweiz werden seltener. Aber Heimweh nach Basel, nach dem Münsterplatz und nach den Bergen habe ich immer wieder. Und wenn ich ans Hotel Edelweiss in Mürren mit direktem Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau denke, wird mir warm ums Herz. Doch zurück in die Schweiz, um dort zu leben, das könnte ich nicht mehr. Ich fühle mich heute zuerst als stolzer Amerikaner, aber gleichzeitig auch als treuer Auslandschweizer und Basler. Das ist alles vereinbar.

Donald Tritt, 1931

Von Columbus, Ohio, nach Granville, Ohio

«ICH TRAGE DEN ROTEN SCHWEIZER PASS IM HERZEN.»

Donald Tritt bedauert, nicht auf Schweizerdeutsch erzählen zu können. Er ist in den USA geboren, als Kind von Schweizer «Secondos», und hat es verpasst, Deutsch zu lernen. Aber seine Liebe zur Schweiz und zum Simmental, wo seine Vorfahren herkommen, ist gross: «I am American, but I feel Swiss very, very much», sagt er mit ruhiger, angenehmer Stimme und zeigt stolz auf seine fünfhundert neuen Schweiz-USA-Pins, die er auf eigene Kosten anfertigen liess. Quadratisch und nicht rechteckig, wie üblich, sollte dabei das Schweizer Wappen auf dem Pin sein – das Schweizer Kreuz sei ja schliesslich so.

Mein Bild von der Schweiz ist nicht realistisch, sondern idealistisch. Schweizer Freunde hier in Amerika weisen mich gelegentlich schmunzelnd darauf hin, wenn ich mal wieder in den höchsten Tönen von diesem Land schwärme. Ich möchte das Land meiner Vorfahren wirklich kennen. Und schön wäre es, ich hätte den Schweizer Pass. Vater war es damals als Einwanderer der ersten Generation nicht bewusst, dass er für meinen Bruder und mich die Doppelbürgerschaft hätte beantragen sollen. Und trotz intensiver Bemühungen scheint es unmöglich, dass ich noch Schweizer werden darf. Das ist und bleibt für mich eine herbe Enttäuschung.

Zum Trost trag ich den roten Schweizer Pass in meinem Herzen und versuche, so viel wie möglich für die Schweizer Belange in den Vereinigten Staaten zu tun. Ausserdem kann ich jederzeit aus meiner Bibliothek ein Buch über die Schweiz hervorholen. Dann fühl ich mich irgendwo dort – in ihrer Geschichte, in ihren Geschichten aber auch in ihrer Kunst oder in ihren Gegenwartsfragen. Und wenn ich hier am Waldrand in mein Haus eintrete, sehe ich als Erstes die markante Kapelle von St. Stephan und fühle mich ins Simmental versetzt, wo meine Ursprungsfamilie herkommt. Ich habe die Gegend um den Weiler St. Stephan über mehrere Meter hinweg an die Zimmerwände malen lassen – das kleine Dörfchen mit den Wiesen, Feldern und dem Wald.

Vor über dreissig Jahren begann ich mit Bekannten am Küchentisch mit der Familien- und Ahnenforschung der Tritt oder Tritten. Wann immer ich in einer neuen US-Stadt war, stöberte ich in den Telefonbüchern nach Leuten, die so hiessen. Schliesslich hatte ich auf meiner Adressliste etwa zweihundert mit meinem Namen in den Vereinigten Staaten. In einer fünfzehnköpfigen Forschergruppe tasteten wir uns Schritt für Schritt vorwärts, um mehr über unsere Wurzeln zu erfahren. Auf einer Studienreise ins Berner Oberland stiessen wir auf Zivilstandsämtern und in alten Pfarreibüchern im Simmental auf Quellen, die unsere Familie bereits 1562 erwähnen. Stolz sind wir auf die beiden Familienbücher, die unsere Gruppe aus den Forschungsergebnissen geschaffen hat; weitere werden folgen. Wir sind uns nun sicher: Wer Tritt oder Tritten heisst, kommt definitiv aus St. Stephan im Simmental. Als Hobbyhistoriker interessiert mich auch die Geschichte unserer in Amerika weit verzweigten Familien, die ab 1739 aus dem Berner Oberland ausgewandert sind. Wir haben rund 21 000 Namens- und Lebensdaten. Aber über ihre Schicksale, wo sie wohnten und was sie in ihrem Leben taten, wissen wir erst bruchstückweise Bescheid.

Donald Tritt als Einjähriger mit seinen Eltern in Columbus, Ohio.

Mein Schweizer Urgrossvater liess sich 1864 in Columbus am Scioto-Fluss nieder. Er war Mitbegründer des Helvetia Unterstützungsvereins, und meine Urgrossmutter gründete die Ladies Aid Alpenrösli Gruppe – beides Organisationen, die bis heute existieren.

Ich bin es nicht gewohnt, so viel von mir zu reden. Meist höre ich in meinem Beruf als Psychotherapeut anderen Menschen zu und helfe ihnen, durch Nachdenken über die eigene Situation sich in ihrem Leben besser zurechtzufinden.

Meine ersten Lebensjahre waren nicht eben leicht. Ich bin am 2. Juni 1931 in Columbus im Staate Ohio geboren. Als ältester Sohn von Gustav Jakob und Ruth Weaver Tritt. Mein Bruder Paul kam zwei Jahre später auf die Welt. Ich war ein einsames Kind, und meine Mutter kannte ich nur als kranke Frau. Sie litt an Tuberkulose, war oft in Sanatorien und wenig daheim bei uns. Und wenn sie da war, durften wir Kinder jeweils nur bis an ihre Zimmertür. Es war nie heimelig mit ihr, kuscheln oder sie umarmen war wegen der Ansteckungsgefahr verboten.

Im Alter von 29 Jahren verstarb Mutter. Paul war fünf, ich sieben Jahre alt. Ich weiss noch genau, wo ich stand, als ich meinem Bruder sagen musste, dass Mutter gestorben war. Was es bedeutete, verstand ich nicht. Ich wusste nur, es war sehr schlimm. Mutter würde nie mehr zu uns zurückkehren. Ich fühlte mich innerlich leer und allein-gelassen.

Als Achtjähriger mit seinem kleinen Bruder Paul und seiner Schweizer Tante aus Beggingen, Schaffhausen.

Ein Gefühl von Familienliebe und Geborgenheit spürte ich beim Besuch bei unseren älteren Schweizer Verwandten, meine Schweizer Tanten waren ein beglückendes Bindeglied zur Schweiz. Ich erinnere mich, dass ich sie als Kind vor dem Einschlafen bis weit in die Nacht hinein auf Schweizerdeutsch Geschichten erzählen hörte. Sie redeten von einem weit entfernten Land, über das frühere Bauernleben dort und über zahme Hasen, die sich in der Scheune tummelten; über die heimatliche Geschichte auch, das Alltagsleben und über die schweizerische Verbundenheit mit der Neuen Welt. Und die Grosseltern sagten «Buebe» zu uns. Als Kind war mir nicht bewusst, wie unglaublich wichtig der Schweizer Hintergrund einmal für mich sein würde.

Vater verdiente als Handsetzer in einer Buchdruckerei mehr schlecht als recht und kam als Witwer mit uns Buben und der ganzen Situation nicht zurecht. Schlechtmachen will ich ihn nicht. Er wusste es nicht besser. Er hatte seine eigene Mutter schon mit vier Jahren verloren und fühlte sich unsicher und überfordert mit der Erziehung seiner beiden Söhne. Wenn mein Bruder und ich herumtollten und es laut zu und her ging, schimpfte er mit mir, dem Älteren, ich sei ein schlechter Mensch. Und ich glaubte ihm. Das hat tiefe Narben hinterlassen.

Gute Stunden mit Vater hatten Paul und ich im schweizerischen Schützenverein in Columbus. An diesen Treffen und bei den gelegentlichen Tanzanlässen mit reichen Essgelagen an langen Tischen fühlte ich mich wohl. Es gab Gebäck und Süsses für uns Kinder. Und ich hab den Bierduft und die klebrigen Holztische, an denen gejasst wurde, in guter Erinnerung.

Ansatzweise Unterstützung erhielt ich auch in der evangelischreformierten Kirche und bei den Pfadfindern. Da wurde ich ernst genommen, konnte mich beweisen und mit den anderen Buben um Auszeichnungen kämpfen. Vor allem aber bekam ich dort Anerkennung. Auch die Schule wurde für mich eine wunderbare Möglichkeit, aus dem tristen Zuhause auszubrechen. Ich erinnere mich an eine Lehrerin, die mir als etwa Zehnjährigem sagte: «Don, du hast ein schönes Lächeln.» Wie war ich glücklich! So etwas Persönliches hatte bis dahin nie jemand zu mir gesagt.

Es hätte viel schiefgehen können damals. Ich war ein unsicherer, scheuer und introvertierter Bub und hätte leicht auf die schiefe Bahn geraten, verbittert und sogar gewalttätig werden können. Um etwas Geld zu verdienen, trug ich als Jugendlicher in aller Frühe auf drei Routen Zeitungen aus und züchtete Kaninchen, die ich an Ausstellungen zeigte und entweder als Zuchttiere oder als Hasenpfeffer verkaufte. An Ostern, Muttertag und Weihnachten trug ich Blumen aus für 25 Cents pro Strauss überall in Columbus.

Als ich vierzehn Jahre alt war, fragte ich mich: Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Austauschen konnte ich mich mit niemandem, und ich nahm an, ich hätte meine Lebensprobleme alleine zu bewältigen. Mein Bruder nahm die Dinge eher, wie sie waren. Ich wusste, es wäre ein Leichtes, über mein Schicksal zu klagen. Aber was würde es ändern? Als Schüler lag ich in der Klasse etwas über dem Durchschnitt. Ein besonders auffälliger Junge war ich nie, weil ich scheu und zurückgezogen blieb. Wer weiss, vielleicht erbte ich von meinen Schweizer Vorfahren dennoch ein gewisses Verantwortungsbewusstsein. Und ich war irgendwie neugierig aufs Leben und wusste instinktiv: Das Leben muss mehr sein und Grösseres bieten! Ich wollte Lernen und Neues erfahren.

Vater fühlte sich anfänglich durch meinen Lerneifer bedroht. «Reicht es nicht, wenn du Drucker wirst wie ich? Warum willst du denn studieren?» Mein Unbehagen und meine Angst vor Vaters Wutausbrüchen war gross, und da ich damals mager war, reizte mich sein beständiger Druck, mich zum Essen zu zwingen, zum Äussersten. Eines Abends beim Essen, als er mich wieder einmal bedrängte, nahm ich einen Stuhl in die Hand und schwang ihn über seinem Kopf. Vater verklagte mich umgehend beim Jugendgericht. Und das Erstaunliche geschah: Der Bewährungshelfer redete ruhig und respektvoll mit mir. Er riet mir, von daheim wegzuziehen und eine höhere Schule zu besuchen.

Er fragte mich tatsächlich: «Was möchtest du jetzt tun?» So etwas war ich noch nie gefragt worden. Dass es etwas wie ein Ich gab, von dem aus man antworten konnte, war mir völlig fremd. War das ein Erlebnis! Es brach damals Erstaunliches in mir auf. Erst später wurde mir bewusst, dass dies der erste Mensch in meinem Leben gewesen war, der mir zugehört hatte und mich ernst nahm. Und alles, was in den Jahren vorher geschehen war, wurde für mich bedeutungslos. Es lag nun an mir, meine Zukunft zu gestalten.

Nach dem Abschluss an der High School im Südosten von Columbus, 1949, immatrikulierte ich mich an der Ohio State University. Ich war glücklich. Während einer Routineuntersuchung stellte man fest, dass ich infolge von Tuberkulose weisse Zellen in meinem Urin hatte. Der Entscheid war bald gefallen: Mir musste eine Niere entfernt werden.

Im Jahre 1952 entschied ich mich, Psychologie zu studieren. Das Gebiet rund um das menschliche Innenleben zog mich magisch an; diese Studienwahl hatte sicher auch einiges mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun. In Amerika gab es damals noch kaum Psychologen, und als Forschungsgebiet war es wenig bekannt. Ich erhielt ein Stipendium und eine Einladung an die Universität von Chicago. Noch nie hatte jemand aus unserer Familie ein College besucht, geschweige denn an einer Universität studiert. Jeder universitäre Kurs war spannend, oft auch beängstigend, aber immer faszinierend. Ich studierte klinische Psychologie – erfuhr unendlich viel über unser Handeln, Denken, Fühlen und Begreifen. Für mich war alles äusserst interessant. Psychologie war kein populäres Studium. Aber es kümmerte mich wenig, wenn es etwa hiess: «Verrückt, dass er so etwas studiert!»

Ich durchlief während meines Studium natürlich auch selber eine Therapie, was mir viel Klarheit und Versöhnung mit meinem eigenen Leben gab. Eine Metapher besagt: «Man kann eine Pflanze nicht wachsen machen. Aber man kann Bedingungen schaffen, die sie wachsen lassen – guter Boden, Wärme, Licht, Sonnenlicht.» So lernt man, so strebt man danach, die Bedingungen für mögliches Wachsen zu schaffen. Es geht auch im psychotherapeutischen Prozess darum, für Klienten gute Bedingungen zu schaffen. Die Person selbst muss den Weg gehen, man kann sie nicht dazu zwingen. Jeder Mensch ist einzigartig und hat das Recht auf seinen eigenen Weg. In meiner Tätigkeit war es entscheidend, genau hinzuhören, wonach meine Klienten strebten. Ich nenne mein Gegenüber Klient, nicht Patient. Patient tönt zu passiv, zu hierarchisch. Ich finde, der Austausch muss auf gleicher Ebene stattfinden. 1959 schloss ich mit dem Doktorat ab. Und mein Beruf wurde zu meiner Berufung.

Als Achtzehnjähriger in der Pfadfinderbewegung (Mitte hinten).

An der Universität in Chicago lernte ich Carl Rogers kennen, den weltberühmten Psychologen und Begründer der Humanistischen Psychologie. Ich spürte, seine und meine Denkweise waren sehr ähnlich; ich hatte das Gefühl, einen verwandten Geist gefunden zu haben. Obwohl er war 29 Jahre älter war als ich, arbeiteten wir viel zusammen und wurden gute Freunde. Er lud mich später ein, mit ihm an die Universität Wisconsin zu ziehen und dort weiter zu forschen. Ich entschied mich dann aber, meinen eigenen Weg zu gehen, und nahm einen Ruf hierher an die Denison University in Granville, Ohio, an, in der Doppelfunktion als Fakultätsmitglied und Direktor des Psychologischen Diensts. Rogers war damals sehr einflussreich, und er verhalf mir zu meiner beruflichen Position. Er war zeitlebens mein Mentor und Kollege, und er nominierte mich später sogar für die Akademie der amerikanischen Psychotherapeuten.

Und die Liebe meines Lebens wurde auf Umwegen meine Frau. Marilyn, die Tochter eines Arztes aus Columbus, lernte ich in einer Tanzschule kennen. Sie war vierzehn und ich achtzehn Jahre alt. Wir gingen miteinander aus, dann aber trennten sich unsere Wege. Sie hatte sich später mit einem anderen verlobt. Ihre Mutter war es, die uns nach sieben Jahren wieder zusammenbrachte. Sie ahnte, schwerkrank, wie sie war, dass wir einfach zusammengehörten. Neun Tage nach unserer Hochzeit starb sie an ihrer Krebskrankheit. Marilyn und ich waren seelenverwandt, und ich liebte sie innig. Nach fünf Jahren adoptierten wir zwei Kinder; Barbara kam zu uns, als sie sieben Tage, und Stephen, als er sieben Monate alt war. Und dreieinhalb Jahre später kam Jeffrey zur Welt. Barbara hat einen Master in Pädagogik und arbeitet als Lehrerin für behinderte Kinder, Stephen ist Finanzvorstand in einer internationalen Unternehmung und Jeffrey hat einen Master in Organisationsentwicklung und ist Vizepräsident in einer internationalen Werbeagentur.

Nach Abschluss meiner Studien zogen Marilyn und ich hierher nach Granville Ohio. Es ist ein wundervoller Ort zum Leben und Arbeiten und etwa dreiviertel Stunden von Columbus entfernt. Neben meiner Universitätstätigkeit eröffnete ich eine Privatpraxis und war Berater an der Mental Health Klinik des Bezirks. Ich hatte Glück in meinem Beruf. Ich war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. An der Denison-Universität, einer Schule, die Leute von weither anzieht und an der Studierende aus mehr als zwanzig Nationen immatrikuliert waren, konnte ich experimentieren und kreativ lehren. Anstatt die üblichen Vorlesungen zu halten, bei der die Studierenden im hinteren Teil des Raums schlafen, arrangierte ich die Sitze im Raum kreisförmig. Das war damals völlig unorthodox. «Veranstaltest du eine Séance, eine spiritistische Sitzung?», wurde ich belächelt. Mir war einfach wichtig, so zu lehren, wie ich es für richtig hielt und wie es für die Studierenden attraktiv war. Ich darf sagen, für meine Kurse gab es oft Wartelisten; der am meisten nachgefragte war jener über die «Theorien der Persönlichkeit». Darin zeigte ich die verschiedenen Wege auf, wie Jung und Freud und all die anderen europäischen Psychiater und Psychologen arbeiteten und forschten. Ich arrangierte mit den Studierenden auch Studienreisen und viele Diskussionen, teils sehr persönliche. Mir war wichtig, dass diese jungen Leute lernten, selber zu denken und Fragestellungen schöpferisch anzugehen, statt nur auswendig zu lernen. Da die Psychologie als Universitätsfach damals in Amerika noch in den Kinderschuhen steckte, war viel Entwicklungspotenzial für mich vorhanden, was mich sehr beglückte. Einer meiner Kurse befasste sich mit kulturübergreifender Psychologie; ich legte den Studierenden die unbewusst wirksamen kulturellen Einflüsse auf das menschliche Tun dar. Die erste Lehrveranstaltung, die ich 1973 anbot, stand unter dem Titel «Encounters with Switzerland». Wen wunderts!

Im Jahre 1976 kauften meine Frau und ich eine fünfundzwanzig Hektar grosse Farm ausserhalb der Stadt, auf der eine aus Zedernholz gebaute Blockhütte stand. Wir bauten sie als Sonnenenergie-Haus mit nach Süden gerichteten Fenstern um und nutzten das Grundwasser für die Wärmegewinnung. Bald galten wir mit unserem Projekt weit herum als Beispiel für alternative Energiebauweise – damals ein Novum in Amerika. Für uns war es immer wichtig, in der Natur draussen zu sein. Unsere Kinder wuchsen im Grünen auf, inmitten von Vieh, Schafen und Hühnern, die wir selber aufzogen und pflegten. Das Leben auf dem Land war ein herrlicher Kontrast zu meiner akademischen Tätigkeit an der Universität. Meine Frau war eine so wunderbare Partnerin und im sozialen Umgang viel spontaner als ich. Sie lud Menschen ein, liebte es, Gäste auf unserer Farm zu bewirten.

Als wir aufs Land zogen, absolvierte Marilyn an der Ohio State University das Masterprogramm in Psychiatrischer Pflege. Und sie wurde wenig später mit dem Aufbau einer Krankenschwesternschule am Central Ohio Technical Collage beauftragt. Sie stieg in die Schulleitung auf und wurde Dekanin der akademischen Abteilung. Bis bei ihr 1990 Brustkrebs diagnostiziert wurde. In den nächsten fünf Jahren kämpften wir alle um ihr Leben. Es war traumatisch. Ich liess mich frühpensionieren, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. Ihr Tod, 1995, war unglaublich hart für mich – ich glaubte, nicht mehr weiterleben zu können. Marilyn vermisse ich heute noch genauso stark wie vor siebzehn Jahren. Sie wollte unbedingt, dass ich gut weiterlebe. Und ich musste mit meinem Schicksal irgendwie fertig werden.

Mit 41 Jahren auf seinem 28-Tage Marsch durch die Schweiz – von Montreux nach Sargans.

Es ist schon so, ab und zu fühle ich mich einsam im Haus hier am Waldrand, das ich mir später kaufte. Glücklicherweise habe ich meine Familie, Freunde, Bücher, diverse Forschungs- und Schreibprojekte, meine Begeisterung an langen Wanderungen und meine Leidenschaft für die Schweiz.

Ja, die Liebe zum Land meiner Vorfahren ist ungebrochen. Meine erste Reise dorthin konnte ich mir erst leisten, als ich dreissig Jahre alt war. Ich wollte alles sehen. Ich erinnere mich an die unglaubliche Schönheit, jede Strassenecke brachte neue Entdeckungen, jeder Wanderweg eine neue Szenerie. Durch all jene Dörfer und Landschaften wollte ich wandern, von denen ich gehört oder die ich auf Bildern gesehen hatte. Später kam oft auch meine Familie mit. Um die Welt meiner Familie aber wirklich hautnah kennenzulernen, wanderte ich 1972 allein quer durch die Schweiz. Mein Freund Hugo Lüscher aus dem Kanton Aargau half mir mit topografischen Karten, die Route zu planen. Nach sechsmonatigem Training begann ich mein Abenteuer in Montreux und erreichte nach 13 Bergpässen und 26 Wandertagen Sargans, an der Schweizer Grenze zu Liechtenstein. Diese Wanderung wurde zu einer einmaligen Pilgerreise für mich.

Mehr aus Spass habe ich vor ein paar Jahren die Umrisse der Schweiz auf eine US-Landkarte gelegt. Dieses Fleckchen Land ist verschwindend auf unserem Kontinent, aber die Leistungen der Schweizer hier sind gross, die Geschichte der Einwanderer aus der Schweiz ist eine unglaubliche. Ich bin seit über fünfundzwanzig Jahren Mitglied und jetzt auch Treuhänder der Columbus Swiss Home Association. Und auch die Sammlung alter Dokumente, Fotografien und Protokolle von Schweizer Einwanderern, oft in schlechtem Zustand, liegt mir am Herzen, deren Übersetzung und Sicherstellung. Ich habe mit recht vielen Schweizern, die in Amerika leben, Kontakt, nicht zuletzt durch mein Engagement bei der Swiss American Historical Society. Und obwohl ich anfänglich aus verschiedensten Kreisen ziemlich Gegenwind hatte und viele skeptisch reagierten, war ich von der Idee eines Swiss Center of North America, eines Dokumentations- und Informationszentrums für die Schweiz in Amerika, überzeugt. Ich engagierte mich für dessen Errichtung und Finanzierung. Diese Institution ist mittlerweile in New Glarus, der wohl authentischsten Schweizer Gemeinde in den USA, eingerichtet. Es ist wichtig, dass die Dokumente der Auswanderer aller Epochen an einem Ort gesichert und archiviert werden. Meine persönliche Bibliothek, die inzwischen etwa viertausend Schweizer Bücher und siebzehntausend Schweizer Postkarten umfasst, werde ich dem Swiss Center of North America schenken.

Ich kann es nicht leugnen, dass ich mich schweizerischer fühle als mancher Schweizer, der in den USA lebt. Ich bin Amerikaner, aber der Reiz ist für mich gross, einmal für längere Zeit dort leben zu dürfen, wo meine Vorfahren herkommen – etwa auf dem abgelegenen Hof «Schürgut», das meinen Vielfach-Ur-Ur-Ur-Ur-Grosseltern Christina Griessen und Hans Tritten Mitte des 17. Jahrhunderts gehörte.