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Deutschland im Herbst 1969: Mit Willy Brandt stellt die SPD zum ersten Mal den Kanzler der Bundesrepublik. Ein hochrangiger Mitarbeiter beim BND kündigt seine Stelle, weil er der neuen Regierung nicht mehr vertraut. Finanziert von CDU und CSU sowie großzügigen Gönnern aus der Wirtschaft gründet er einen eigenen Nachrichtendienst. Bis in die 1980er Jahre nutzt die Union seine Dienste, um sich aus dem Ausland geheime, brisante Informationen zu beschaffen. Stefanie Waske, Expertin für die Geschichte der Geheimdienste, enthüllt einen politischen Skandal, der manche Protagonisten der bundesdeutschen Geschichte in einem neuen Licht erscheinen lässt.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Hanser E-Book
Stefanie Waske
NACH LEKTÜRE
VERNICHTEN!
Der geheime Nachrichtendienst
von CDU und CSU im Kalten Krieg
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24276-0
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2013
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Grafik: Peter Palm, Berlin
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
INHALT
Einleitung
Teil 1
Der Kampf gegen die neue Ostpolitik (1969–1972)
Eine unmögliche Mission: Warum ein ehemaliger BND-Mitarbeiter Reden schreibt
Geheime Verbindungen: Karl Theodor zu Guttenberg und der BND
Das Misstrauen beginnt: Wehner und Bahr unter Beobachtung
Ein verlockendes Angebot: Langkaus Idee eines eigenen Nachrichtendienstes
Ehmkes Reformen: Wird der BND »politisiert«?
Umstrittener Anfang: Bahrs Weg nach Moskau
Privat-Initiative: Wie Langkau mit der geheimen Arbeit beginnt
Diskrete Gespräche: Guttenberg und Langkau werben für ihren Dienst
Leidenschaft: Guttenbergs Plädoyer
Konsequenz: Stauffenberg kündigt beim BND
Verdeckte Kontakte: Neue Unterstützer für den Dienst
Kooperation: Langemann und der Mossad
»Ein Monstrum«: Der Moskauer Vertrag
»Steuerfreie Einschleusung«: Geldbeschaffung mit Hindernissen
Die letzte Option: Misstrauensvotum gegen Brandt
Die Ostverträge: Abschied von Guttenberg
Teil 2
Die freie Welt im Abwehrkampf (1972–1982)
Terror in München: Langemann warnt vor Anschlägen arabischer Gruppen
Neustart: Neue Unterstützer für Stauffenberg
Infiltration: Der Dienst berichtet über die geheime Arbeit des Ostens in der Bundesrepublik
Der Dienst wird verraten: Inge Goliath und die Staatssicherheit der DDR
Große Pläne: Lagebesprechung mit Stauffenberg
Guillaume: Das Ende der Ära Brandt
Privatsachen: Was der Stauffenberg-Dienst über Politiker schreibt
Rente für Stauffenberg: Neues Finanzkonzept dank Hans Langemann
Brigitte Mohnhaupt in Beirut? Die Quelle »Spiritus« und die RAF
Arafat, die PLO und Carlos: Die Quelle »Petrus« und der Terrorismus
Erste Enthüllung: Inge Goliath setzt sich in die DDR ab
Neuer Partner: Stauffenberg kooperiert mit Brian Crozier in Großbritannien
Stauffenbergs Coup: Der Dienst berichtet über die Polen-Krise 1981
Abgesang: Das Ende des Stauffenberg-Dienstes
Anhang
Kurzbiografien
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Dank
Personenregister
In einer kleinen, verglasten Kabine im Bundesarchiv in Koblenz nahm diese Recherche ihren Anfang. Dort können die Benutzer verfilmte Akten, sogenannte Mikrofiches, einsehen. Im Jahr 2005 erforschte ich als Doktorandin der Politikwissenschaften die Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes. Mich interessierte, ob und wie die Parlamentarier den Geheimdienst bis 1978 überwachten. Einer der wichtigen Akteure war der damalige CSU-Bundestagsabgeordnete Karl Theodor zu Guttenberg, der Großvater des gleichnamigen Bundesverteidigungsministers (2009–2011) im Kabinett von Angela Merkel. Guttenberg war parlamentarischer Staatssekretär im Bundeskanzleramt während der Amtszeit von Kurt Georg Kiesinger. In seinen Unterlagen fanden sich Briefe, die eine ganz andere Geschichte – fern der Kontrolle – erzählten.
Ich entdeckte den Hinweis, dass die Unionsparteien 1969 einen eigenen Nachrichtendienst gründen wollten. Guttenberg korrespondierte mit einem mir damals unbekannten BND-Mitarbeiter, Hans Christoph von Stauffenberg. Die beiden trieb dieselbe Sorge um: Die Freiheit in Westdeutschland, meinten sie, sei in Gefahr. Sie hielten das Programm von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), »Wandel durch Annäherung«, für fahrlässig. Die »wahren« Absichten des Ostens müsse ein eigener Nachrichtendienst für CDU- und CSU-Abgeordnete, konservative Journalisten und Wirtschaftsführer aufdecken. Der zweite Grund für einen eigenen Nachrichtendienst bestand aus ihrer Sicht darin, dass die sozialliberale Koalition ihren Einfluss mit der Regierungsübernahme im Bundesnachrichtendienst geltend machte. Die konservativen Geheimdienstmitarbeiter sahen sich zunehmend in der Defensive. Leiter des neuen Dienstes wurde schließlich 1970 Hans Christoph von Stauffenberg.
Bald reiste ich wieder nach Koblenz und stellte einen neuen Benutzerantrag. Ich ahnte nicht, dass nun ein mehrjähriges Recherche-Abenteuer beginnen sollte. Vor allem wollte ich erfahren, warum die beiden Freunde die Wirklichkeit im Jahre 1969 ganz anders beurteilten, als es mir geläufig war: Warum sie den Regierungswechsel von den Konservativen zu den Sozialdemokraten nicht als normalen parlamentarischen Prozess, sondern als mögliches Ende der Demokratie sahen. Ich entdeckte, dass Guttenberg und Stauffenberg nicht allein agierten, sondern Freunde, Helfer und Geldgeber hatten. Gleichzeitig verstand ich immer mehr, was die Gruppe antrieb, wie ihre Mitglieder die Welt wahrnahmen. Mehr und mehr ließ sich aus den Akten zahlreicher Archive ihr Netzwerk rekonstruieren, das sich als privat tarnte, um mit konspirativen Mitteln Politik zu machen. Zudem kooperierte ihr Nachrichtendienst mit anderen, sogar internationalen Partnern gegen Brandts Politik. Weder ihr Ziel noch ihre Mittel stellten die Akteure je in Frage.
Ihr Handeln stützte sich auf einen Irrtum: Die sozialliberale Regierung wollte weder die Westbindung aufheben noch ein neutrales Deutschland schaffen.
Die Recherche zeigte: Stauffenbergs Informationsdienst war nicht die einzige privat organisierte nachrichtendienstliche Organisation. Er selbst hatte bereits in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren einen privaten Dienst geleitet, wenn auch nicht derart konspirativ.
Private Nachrichtendienste gibt es wohl ebenso lange wie die staatlichen Pendants. Sie stehen meistens im Dienst von Einzelinteressen. So halfen zum Beispiel Informanten Jakob Fugger, dem bedeutenden Kaufmann der Renaissance, sein Wirtschaftsimperium auszubauen.1 Der Industrielle Friedrich Flick ließ sich über seinen firmeninternen Nachrichtendienst in den 1940er Jahren Auslandsinformationen beschaffen.2 Der Schweizer Fotograf Hans Hausamann erweiterte 1935 seinen Pressedienst um militärische Nachrichtenbeschaffung und klärte gegen den Kriegsgegner Nazideutschland auf.3
Erforscht sind diese Organisationen selten. Wie schreibt der Wissenschaftler Stephan Blancke 2011: »Private Geheimdienste stellen ein bisher kaum in der Politikwissenschaft thematisiertes Phänomen dar. Auch in anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft finden sich keine nennenswerten Untersuchungen.«4 Doch warum sollten die privaten Dienste besser untersucht sein als die offiziellen? Nach wie vor gibt es wenige wissenschaftliche Ausarbeitungen zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes.5 Dies wird erst die unabhängige Historikerkommission für die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes in den nächsten Jahren ändern, die 2011 ihre Arbeit aufgenommen hat.6 Sicherlich wird die Aktenöffnung des BND auch andere Forscher ermutigen, sich diesem Feld zu widmen.
Stauffenbergs Dienst war in Wirklichkeit eine Mischung aus privatem Dienst und Nachrichtendienst einer Partei. Für letzteren gab es ebenso Vorbilder. Manchmal mussten Politiker konspirativ arbeiten, weil die Regierung ihre Organisation verboten hatte, beispielsweise nach den Sozialistengesetzen im Deutschen Kaiserreich. Gleiches gilt für die demokratischen Parteien in der Zeit des Nationalsozialismus. Ebenso mussten SPD, CDU, FDP und DGB im Untergrund ihre Anhänger in der DDR unterstützen. Dafür gründeten sie die Ostbüros, die ebenso im Geheimen operierten.
1969 – zur Anfangszeit des Stauffenberg-Dienstes – verfügten zudem einige Bundestagsabgeordnete über Erfahrungen aus dem Exil oder dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wo sie verdeckt agieren mussten. Für diese Politiker lag es nahe, weiterhin auf konspirative Wege zu setzen, falls das Misstrauen zum politischen Gegner zu groß wurde. Der Dienst ist somit auch ein Zeichen dafür, dass sich noch keine demokratische Normalität eingestellt hatte.
Vielleicht erklärt dies auch, warum das Archiv für christlich-demokratische Politik in Sankt Augustin, das die Überlieferung der CDU verwaltet, die Akten zum Stauffenberg-Dienst jahrzehntelang gesperrt hatte. Ich stellte 2012 zusammen mit der Wochenzeitung »Die Zeit« einen Antrag auf Akteneinsicht. Das Archiv prüfte die Dokumente und hob die Versiegelung auf.
Laut Archiv waren die Unterlagen einst versiegelt worden, weil nicht klar gewesen sei, ob ihr Inhalt auf nachrichtendienstlichem Wege – also vom Bundesnachrichtendienst – beschafft worden war. Anlass für diese Vermutung war ein Artikel des Nachrichtenmagazins »Spiegel«7 von 1982 gewesen. Durch die Öffnung der Akten gelang es, alle Berichte des Dienstes von 1970 bis 1982 einzusehen – für die Forschung ein riesiger Fortschritt. Es gibt aber weiterhin Akten zum Personal und zur Finanzierung, die mit Verweis auf Persönlichkeitsrechte gesperrt bleiben.8
Weitaus länger wartete ich auf die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Fünf Jahre dauerte die Prüfung, weil es sich um Kopien von BND-Dokumenten handelte, die erst freigegeben werden mussten. Umso größer war die Freude, auch diese Akten nutzen zu können.
Ich habe alle vom Dienst verfassten Berichte, die in den Archiven überliefert sind, eingesehen. Insgesamt wertete ich mehrere tausend Seiten Material aus. Somit kann die Geschichte des Informationsdienstes von Hans Christoph von Stauffenberg erstmals umfassend erzählt werden. Anhand der Akten lässt sich zeigen, dass es sich nicht um eine private Gruppe von ehemaligen BND-Mitarbeitern handelte, sondern dass der Dienst als politisches Instrument für die CDU/CSU konzipiert und von den Parteien finanziert wurde. Die Arbeit war teils sehr erfolgreich, und einige Berichte hatten sogar international politisches Gewicht.
Teil 1
DER KAMPF GEGEN DIE
NEUE OSTPOLITIK
1969–1972
Hans Christoph von Stauffenberg sucht nach passenden Worten für die Tagung der praktizierenden Tierärzte. Grußworte schreiben, das ist neu für ihn. Er sitzt an seinem Schreibtisch in der bayerischen Staatskanzlei, und ihm steht der Sinn nach anderem – wenige Tage zuvor hat der Sozialist Salvador Allende die Präsidentschaftswahlen in Chile gewonnen. Lieber würde Stauffenberg an diesem Septembertag 1970 daher die westliche Welt vor dem Kommunismus retten.1 Dafür hat er nun aber erst nach Feierabend Zeit.
Noch wenige Monate zuvor war das anders: Der Freiherr arbeitete beim Bundesnachrichtendienst (BND), dem deutschen Auslandsnachrichtendienst. Dort war die »Gefahr aus dem Osten« das wichtigste Thema oder, wie die Fachleute sagen würden, das entscheidende Aufklärungsgebiet der Agenten. Ohne den Kalten Krieg hätten die Amerikaner nicht die sogenannte Organisation Gehlen gegründet, die Vorläuferorganisation des BND. Und ohne die Auseinandersetzung zwischen den Machtblöcken hätte die deutsche Regierung den Geheimdienst 1956 nicht als Bundesbehörde übernommen. Ohne den Kampf um die Vorherrschaft zwischen Ost und West wäre der Auslandsnachrichtendienst nicht entstanden. Zumindest nicht in dieser Form.
Stauffenberg »rettete« als BND-Mitarbeiter die Welt eher von seinem Schreibtisch aus und nicht wie James Bond: Er wertete Meldungen aus, schrieb Berichte für die Zentrale des Geheimdienstes in Pullach bei München. Auf Fotos wirkt er wie ein aristokratischer Intellektueller: schmal, mittelgroß, die blonden widerspenstigen Haare per Mittelscheitel gebändigt, stets korrekt gekleidet mit Jackett und Krawatte.
Antikommunisten2 wie Stauffenberg galten stets als ideale BND-Mitarbeiter. Bis im Oktober 1969 die Mehrheit im Kanzleramt wechselte: Erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik regieren nun Sozialdemokraten das Land. Manche Geheimdienst-Mitarbeiter glauben, dass sie Worte wie »Bedrohung« oder »Gefahr« ab sofort besser vermeiden sollten, jedenfalls wenn von den Machthabern in der Sowjetunion, der DDR oder Polen die Rede ist. Aus den ehemaligen Feinden sind zwar keine Freunde geworden, die Regierung will jedoch einen Wandel. Der neue Kurs der Entspannung zwischen West und Ost verlangt andere Vokabeln. Kritiker würden sagen: »freundliche Worte«.
Dem Zeitgeist will sich der 58-Jährige nicht anpassen. Den BND-Mitarbeiter schreckt die Vorstellung, die Sowjetunion könnte ihren Einfluss bis in die Bundesrepublik ausbauen. Das jedenfalls ist Stauffenbergs Vorstellung von neuer Ostpolitik nach Art der Sozialdemokraten. Er fürchtet einen Verrat deutscher Interessen, und dass das Land den Schutz der Amerikaner verliert. Dem will er widerstehen, daher trieb es den Baron aus seinem geheimen Beruf hinaus.3 Er hat größere Pläne: Mit ehemaligen BND-Kollegen will er einen eigenen »Kleinen Dienst« gründen – für Menschen, die denken wie er. Vor allem will er den konservativen Parteien helfen, sie mit Nachrichten aus dem Ausland aufklären. Die Politiker von CDU und CSU sollen informiert sein, was der Kanzler Willy Brandt tatsächlich mit den Machthabern im Osten abspricht. Und ob der Sozialdemokrat nicht gar den Frieden in Europa aufs Spiel setzt.
Das ist der Grund, warum Stauffenberg seit dem 1. August 1970 vormittags nicht mehr die Weltlage in passende Worte kleidet, sondern nach gefühlvollen Sätzen für Glückwunschtelegramme oder Beileidsschreiben sucht.4 Er hat eine Stelle im Referat Grußworte der Bayerischen Staatskanzlei gefunden, unterstützt vom CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß.5 Statt Vorlagen für den Bundeskanzler verfasst er dort Reden für den Ministerpräsidenten Alfons Goppel. Die »linke Gefahr« aus dem Osten muss er in seiner Freizeit bannen. Stauffenberg ist jedoch voller Hoffnung, den konservativen Parteien helfen zu können.
Hans Christoph von Stauffenberg kommt am 7. Oktober 1911 als jüngstes von fünf Geschwistern im württembergischen Rißtissen im Familienschloss zur Welt.6 Ganz privat war es hier nie, sondern immer auch politisch. Seine Vorfahren engagierten sich vom Königreich Württemberg bis zur Bundesrepublik in verschiedenen Parteien und Zirkeln. Der Großvater Franz August Schenk von Stauffenberg war Präsident des Bayerischen Landtags und Vizepräsident des Reichstags. Gebildet, liberal und diplomatisch begabt, gründete er die Deutsche Freisinnige Partei. Er engagierte sich gegen die Todesstrafe, gegen eine Fortschreibung der Sozialistengesetze und wurde so zu einem Gegenspieler Otto von Bismarcks. Sein Sohn Franz Schenk von Stauffenberg hingegen war ein konservativer Monarchist, Kommandeur und Genossenschaftsgründer.7 Als einziger Sohn, der das Erwachsenenalter erreichte, musste er eines Tages die Ländereien der Familie übernehmen. Bald hatte der 23-Jährige nicht nur die heimischen Güter in Geislingen bei Balingen, Rißtissen und Wilflingen im Blick. Er unterstützte auch andere, sich wirtschaftlich zu entwickeln: 1909 wurde er Mitgründer und Vorsitzender des gemeinnützigen Energie-Unternehmens Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW).8 In den 1920er Jahren half er, die Stuttgarter Milchwerke, später die Omira Milchwerke, zu gründen.9 Privat hatte der Landwirt und Unternehmer ebenso Erfolg. 1903 heiratete er im Bonner Münster Huberta Berta Gräfin Wolff-Metternich – Hans Christoph von Stauffenbergs Mutter. Eine schöne, elegante Frau, wie eine Fotografie verrät.10 Franz von Stauffenberg widmete sich nach dem Vorbild seines Vaters ebenso der Politik. Von 1906 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war er Mitglied der Ritterschaft, der Ersten Kammer des Stuttgarter Landtags.
In diese sichere Welt hinein wird Hans Christoph geboren. Drei Jahre später existiert sie schon nicht mehr: Der Vater tauscht die zivile Kleidung gegen die Uniform des Bayerischen Infanterie-Regiments und zieht in den Ersten Weltkrieg. Auf ihn wartet die Westfront, die Hölle der Schützengräben von Verdun. Wenige Männer kommen zurück; die Fronterlebnisse haben sie für immer verändert, so auch Franz von Stauffenberg. 1918 wird zu seinem Schicksalsjahr: Im März schwer verwundet, kehrt er als halbseitig Gelähmter nach Hause zurück.11 In ihm brodelt der Hass auf den Friedensvertrag von Versailles.
Die Folgen des Ersten Weltkriegs markieren einen tiefen Einschnitt für die Lebenswelt des Adels: Er verliert für immer seine jahrhundertelange Beteiligung an der Macht des Staates. Die Novemberrevolution 1918 beendet die Monarchie, und eine wackelige wie umstrittene Demokratie entsteht. Die Reichsmark der Deutschen verliert in den frühen 1920er Jahren täglich an Wert. Die Schande, allein am Ausbruch des Krieges schuld zu sein, und das Ächzen unter den Reparationsleistungen bieten den idealen Nährboden für aufbegehrende Nationalisten. All das führt wohl dazu, dass sich Franz von Stauffenberg der neugegründeten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) anschließt. Die Fraktion lehnt den Parlamentarismus ab. Ihre Anhänger eint die »Trauer um das Deutsche Kaisertum«; sie rufen auf zu Sittlichkeit, Christentum, Ehe und Familie und zum Schutz des Privateigentums. Die Sozialisten – oder gar die Bolschewisten – sind ihre erklärten Feinde.12 Franz von Stauffenberg wird 1924 Mitglied des Reichstags, erst für die DNVP, dann für den Bauern- und Weingärtnerbund.13
Passend zu dieser politischen Haltung engagiert er sich in der Adelsvereinigung Gemeinsamer Ausschuss von Industrie und Landwirtschaft, kurz Gäa. Sie bildet die wichtigste Plattform der politischen Rechten in Süddeutschland. Ihre Mitglieder aus Adel, Industrie und Landwirtschaft vereint Reichtum, Einfluss und konservative, teils rechtsextreme Gesinnung.14 Vor allem mit der militärischen Niederlage beschäftigen sich die Anhänger. Sie geben der Revolution die Schuld, die den »siegreichen Truppen« in den Rücken gefallen sei, bekannt wird diese Argumentation als »Dolchstoßlegende«. Vor allem die Sozialdemokraten und die Kommunisten sehen die Mitglieder des Zirkels als Gefahr. Franz von Stauffenberg trifft bei den Sitzungen der Gäa seine Verwandten Georg Enoch zu Guttenberg, Mitglied der Ersten Kammer des Bayerischen Landtags, und Karl Ludwig zu Guttenberg, einen konservativen Publizisten. Die Familien Guttenberg und Stauffenberg eint ihre katholische, konservative und monarchistische Einstellung.15
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Bei dem Namen Stauffenberg denkt jeder wohl zuerst an Claus Graf von Stauffenberg, den Offizier der deutschen Wehrmacht, der am 20. Juli 1944 Hitler töten wollte. Claus war nur vier Jahre älter als sein Vetter zweiten Grades, Hans Christoph Freiherr von Stauffenberg. Die Familiensitze liegen nicht weit voneinander entfernt. Ihre Urgroßmütter und Urgroßväter waren Brüder und Schwestern. Einer der Stauffenbergs erhielt die Würde des Grafenstandes, der andere nicht. So teilt sich die Linie bis heute. Die Freiherren leben vor allem im württembergischen Rißtissen und Wilflingen, die Grafen an ihrem Stammsitz im bayerischen Jettingen.
Claus und Hans Christoph von Stauffenberg kennen sich seit ihrer Kindheit. Mindestens einmal im Jahr trifft sich die Familie.16 Anfang der 1930er Jahre schlagen die Vettern sehr unterschiedliche Lebenswege ein: Claus von Stauffenberg geht aus Überzeugung zur Reichswehr, Hans Christoph von Stauffenberg studiert Archäologie, Kunstgeschichte und Geschichte und tritt bereits im Mai 1933 in die NSDAP ein.17 Hans Christophs Vater Franz zögert hingegen mit dem Parteieintritt bis 193718 und verliert so zwei seiner Ämter, den Vorsitz bei den Oberschwäbischen Elektrizitätswerken und den Vorstandsposten bei der Norddeutschen Hagelversicherung.19 Allerdings lässt er sich 1933 als Gast der NSDAP in den Reichstag wählen, ab sofort nur noch eine Pseudo-Volksvertretung.
1937 soll sich Hans Christoph von Stauffenberg bereits innerlich vom Nationalsozialismus lösen. Er legt das erste juristische Staatsexamen ab und beginnt als Volontär bei der Dresdner Bank. Im November 1937 heiratet er die Britin Camilla Mildred Nichola Acheson. Zwei Jahre später bricht der Zweite Weltkrieg aus. In späteren Jahren erzählt Hans Christoph von Stauffenberg, er habe sich gegen eine militärische Karriere entschieden, um kein Offizier unter Hitler zu werden.20 Dabei verschweigt er, dass ihn die Wehrmacht 1939 als nicht fronttauglich ausgemustert hatte. Schuld ist eine chronische Krankheit. Seine Ausbildung beim Infanterie-Regiment 397 in Berlin-Tempelhof endet schon nach vier Monaten – als Patient des Lazaretts.21 Mehr als ein Jahr arbeitet er wieder als Zivilist bei der Wirtschaftsgruppe Groß- und Außenhandel in Berlin als Länderreferent.22
1942 beruft ihn die Wehrmacht erneut ein, dieses Mal zur Sanitäts-Ersatz-Abteilung der Luftwaffe. Doch pflegt er keine Kranken, sondern arbeitet als Dolmetscher.23 Qualifiziert hat sich Stauffenberg durch sein fließendes Englisch, damals eine Seltenheit bei einem Deutschen.
Auch sein Vater sammelt kriegswichtige Informationen: Er betreibt militärische Spionage für das Amt Abwehr der Wehrmacht in Stuttgart.24 Die Abteilung im ehemaligen württembergischen Kriegsministerium beschäftigt sich mit Sabotage und Sonderaufgaben vor allem in der Schweiz. Sie bildet junge, rechtsnationale Männer aus, die im Falle eines Angriffs Partisanen-Gruppen bilden sollen.25
Schon in den 1930er Jahren lernt Hans Christoph von Stauffenberg als Student den Juristen Helmuth James Graf von Moltke in London kennen.26 Dieser leitet zehn Jahre später eine der wichtigsten Widerstandsgruppen gegen das NS-Regime. Die Gestapo bezeichnet die Anhänger nach seinem Gut in Schlesien als Kreisauer Kreis. Die Gruppe aus Adeligen, Sozialisten, Protestanten und Katholiken will Hitler nicht töten, sondern gefangennehmen und ihm den Prozess machen. Neben Moltke ist Peter Graf Yorck von Wartenburg der wichtigste Kopf des Kreises.27 Ihre Vision eines Staates nach Hitler trägt durchaus sozialistische Züge und wird eingebettet in ein vereinigtes Europa.
Moltke hofft im September 1941, Hans Christoph von Stauffenberg könne ihm einen Kontakt zu Claus von Stauffenberg vermitteln. Dieser ist mittlerweile in das Oberkommando des Heeres der Wehrmacht aufgerückt. Hans Christoph von Stauffenberg überbringt seinem Vetter Claus den Wunsch Moltkes, ihn für den Widerstand gegen Hitler zu gewinnen. Doch damals lehnt Claus von Stauffenberg einen Umsturz ab und lässt Moltke ausrichten: »Während des Krieges darf man so was nicht machen, vor allem nicht während eines Krieges gegen die Bolschewisten. Aber dann, wenn wir nach Hause kommen, werden wir mit der braunen Pest aufräumen.«28 Später ändert er seine Meinung und trifft sich mit Moltke.29
Hans Christophs Vater Franz schließt sich schon 1939 einem Verschwörer-Kreis gegen Hitler an.30 Er hält Kontakt zu Carl Friedrich Goerdeler, einem führenden Vertreter des konservativen Widerstandes und ehemaligen Parteikollegen der DNVP. Franz von Stauffenberg sichert Goerdeler zu, nach einem Mordanschlag auf Hitler die landwirtschaftliche Verwaltung Württembergs zu übernehmen.31
Teilt Hans Christoph von Stauffenberg auch die Gedanken des Widerstandes, in die Attentatspläne seines Vetters Claus ist er nicht eingeweiht. Mittlerweile hat ihn die Wehrmacht in die Auswertestelle West in Oberursel bei Frankfurt versetzt. Hier befragt er amerikanische und britische Kriegsgefangene der Luftwaffe.32 Am 20.Juli1944, dem Tag, an dem eine Bombe Hitler töten soll, beschließen Hans Christoph von Stauffenberg und seine Frau Camilla, ins Theater zu gehen. Sie sehen in Bad Homburg »Die Hochzeit des Figaro«. Plötzlich tritt jemand auf die Bühne und sagt: »Etwas Erschreckendes ist passiert. Es gab einen Mordanschlag auf den Führer.«33
Das Ehepaar Stauffenberg ahnt, was nun folgen wird: die Rache der Nationalsozialisten. Innerhalb kurzer Zeit bilden 400 Beamte die Sonderkommission 20. Juli und nehmen Hunderte Verdächtige fest. Auch die Familien der Verschwörer werden verhaftet, »Sippenhaft« hieß das im NS-Jargon.34 Hans Christoph von Stauffenbergs Frau Camilla lebt zu der Zeit mit den Kindern bei ihrem Schwiegervater Franz von Stauffenberg auf dem Familiensitz in Wilflingen. Sie reist nach der Theateraufführung dorthin zurück und wird mit ihrem Schwiegervater von der Gestapo ins Gefängnis nach Hechingen gebracht, 60 Kilometer südlich von Stuttgart.35 Ihre größte Sorge gilt den Kindern, die mit den Gouvernanten auf dem Schloss in Wilflingen geblieben sind. Der jüngste der drei kleinen Söhne ist nur wenige Monate, der älteste vier Jahre alt.36 Die SS hat das Anwesen besetzt und dort einige Vertreter der geflohenen französischen Vichy-Regierung untergebracht. Das Vermögen von Franz von Stauffenberg lassen sie sperren.37
Hans Christoph von Stauffenberg kehrt nach der Theateraufführung in seine Dienststelle zurück. Der 32-Jährige verbrennt zur Sicherheit einige Briefe. Am Morgen holen ihn Mitarbeiter der Gestapo ab. Sie bringen ihn in das Polizeigefängnis in Frankfurt am Main. Er erinnert sich später: »Sie brachten mich in den Keller. Ich wartete, ob sie die Pistole an meinen Kopf halten würden. Aber sie taten es nicht. Sie sperrten die Türen der Zelle ab. Ich schaute nach Blut an den Wänden. Dann bin ich auf der harten Holzbank eingeschlafen.«38
Auf der Liste des Reichssicherheitshauptamtes zur Sonderkommission 20. Juli steht er als Nummer 324.39 Für ihn war der wohl schärfste NS-Inquisitor vorgesehen: Dr. Karl Neuhaus, Leiter des Kirchenreferats des Reichssicherheitshauptamtes, ein ehemaliger evangelischer Religionslehrer. Bei Verhören soll er einen Folterknecht an seiner Seite gehabt haben.40 Dass es soweit nicht kommt, davor rettet Stauffenberg der Kommandeur bei seiner Luftwaffendienststelle in Oberursel. Der Vorgesetzte erwirkt, dass sein Untergebener bis Oktober 1944 bei ihm im Lager in militärische Haft kommt. So wird Stauffenberg an seinem Arbeitsplatz gefangengehalten, kann arbeiten und einem halbwegs normalen Leben nachgehen.41
Im Herbst 1944 endet seine Haft, auch seine Frau und sein Vater sind wieder frei. Doch nun versucht das Reichssicherheitshauptamt auf andere Weise, Hans Christoph von Stauffenberg loszuwerden: Er wird an die Front zur Sanitätskompanie der Fallschirmjäger ins Rheinland versetzt, obwohl ihm – wie ein Kamerad nach dem Krieg schildert – »jegliche gesundheitlichen und ausbildungstechnischen Voraussetzungen«42 dafür fehlen. Lange muss Stauffenberg nicht an der Front sein: Die amerikanischen Truppen dringen schnell zum Einsatzort von Stauffenberg vor. Sie nehmen ihn am 5.März1945 im südlichen Rheinland – in der Nähe von Euskirchen – gefangen. Über ein Lager in Belgien gelangt Stauffenberg nach Großbritannien ins Camp in Bourton-on-the-Hill in Gloucestershire.43 Im Dezember 1945 kehrt er aus der Kriegsgefangenschaft heim – zurück auf das Familiengut in Rißtissen.44
Die Folgen des Krieges haben seine Heimat verändert: Zahllose Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten suchen eine Unterkunft, das Essen ist knapp. Während andere sich nur um das eigene Überleben kümmern können, will Hans Christoph von Stauffenberg über die Zukunft nachdenken, das Land aufbauen, es politisch gestalten. Er widmet sich, dem Vorbild seiner Vorfahren folgend, der Politik, bewegt sich in einigen politischen Zirkeln, die damals überall entstehen: Da ist zunächst der Laupheimer Kreis – benannt nach dem wenige Kilometer von Rißtissen entfernten Städtchen. Dessen Anhänger liefern wichtige Impulse zu Verteidigungs- und Sicherheitsfragen für die Adenauer-Regierung.45 Stauffenberg wird außerdem Sekretär der Gesellschaft Oberschwaben, die die Region kulturell, wissenschaftlich und wirtschaftlich entwickeln will. Damit nicht genug: Stauffenberg gehört der Gesellschaft Imshausen an, einem überparteilichen Kreis von Werner Trott zu Solz, dessen Bruder Adam die Nationalsozialisten als Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet haben.46
Stauffenberg will noch mehr Verantwortung. Er übernimmt den Vorsitz der Deutschen Union, einer Sammlungsbewegung, die im Januar 1949 aus verschiedenen Zirkeln entsteht. Daher finden sich auf der Gründungsversammlung Sozialdemokraten wie Christdemokraten, ehemalige Anhänger des NS-Regimes wie auch deren Verfolgte ein. Schwer lässt sich das Programm erfassen, das liegt wohl am Anspruch der Organisation, über alle Grenzen von Parteien und Weltanschauungen hinweg »undoktrinär« vermitteln zu wollen. Zum Gründungstreffen in Braunschweig erscheinen 61 Delegierte.47 Stauffenberg verkündet ein umfangreiches Programm: Er setzt auf ein geeintes Europa statt auf Nationalismus, spricht sich für eine Landreform aus, will ein Zweiparteiensystem und ein Mehrheitswahlrecht. Die Deutsche Union soll für alle politischen Parteien offen sein und Gesetzesinitiativen über alle Fraktionen hinweg vermitteln. Er fühlt sich berufen, für die junge Generation die Stimme zu heben, die sich, wie er meint, in der neuen Parteienwelt nicht aufgehoben fühle. »Wir wollen keine Partei werden«48, betont er. Im Gegenteil, die Deutsche Union soll als Alternative zur Parteienlandschaft fungieren.
Diese Position missfällt der britischen Besatzungsmacht. Die Alliierten propagieren im Gegensatz dazu eine Parteiendemokratie.49 Die Mitarbeiter der britischen Kontroll-Kommission, die Partei-Lizenzen vergeben und Versammlungen genehmigen, forschen nach, ob die Deutsche Union wirklich demokratisch ist. Der Chef ihrer Aufklärungsabteilung ist bald überzeugt, das Konzept der Gruppe öffne die Tür für radikale Nationalisten oder »neutralistisch« gesinnte Neo-Nazis. Ein halbes Jahr später warnt die Kontroll-Kommission, rechtsextremistische Anhänger würden in der Deutschen Union mehr und mehr die Oberhand gewinnen.50
Die Rechten bringen die Deutsche Union in der Tat in Verruf: Manche Journalisten behaupten, Stauffenbergs Organisation sei in Wahrheit neofaschistisch und nationalbolschewistisch. Diese Vorwürfe weist der Angegriffene stets zurück.51 Die britische Kontroll-Kommission nimmt Stauffenberg ausdrücklich in Schutz und bezeichnet ihn als »den wohl einzig Liberalen der Bewegung« 52.
Auch der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen beginnt, die Deutsche Union zu beobachten. Vor allem wegen des Gerüchts, der sogenannte Bruderrat ehemaliger hochrangiger Nationalsozialisten unterwandere sie.53 Auch Stauffenberg werden Kontakte unterstellt, beweisen lassen sie sich nicht. 54
Die Deutsche Union verliert zunehmend an Einfluss, die Anhänger wechseln in andere Gruppen und Parteien. Hans Christoph von Stauffenbergs Idee einer Sammlungsbewegung setzt sich nicht durch. Auch privat muss er eine Niederlage hinnehmen, seine Ehe zerbricht. Ein Jahr später heiratet Camilla von Stauffenberg Axel Freiherr von dem Bussche-Streithorst, der zum engen Widerstandskreis des 20. Juli 1944 gehört hat.
Beruflich zieht es Stauffenberg fort nach Neubeuern in Oberbayern. Dort hatte einst seine Patentante Julie Freifrau von Wendelstadt mit ihrer Schwägerin das Knaben-Internat Neubeuern gegründet.55 Hans Christoph von Stauffenberg war hier zur Schule gegangen. Die Nationalsozialisten hatten den Schulbetrieb geschlossen. Stauffenberg setzt sich für den Wiederaufbau des Internats ein, erst als Gründungsmitglied der Stiftung, dann ab 1952 als Stiftungsvorstand und Schulleiter. Seine Söhne folgen ihm als Schüler. Fünf Jahre später geht diese Episode bereits wieder zu Ende. Er will für die Deutsche Partei in den Bundestag einziehen. Die Partei ist am rechtskonservativen Rand angesiedelt und engagiert sich für ehemalige Wehrmachtsangehörige und Vertriebene.56 Doch der sichere Listenplatz geht an einen anderen. Stauffenbergs Parlamentskarriere in Bonn zerschlägt sich. Er entscheidet sich 1957 für einen anderen Weg: für den deutschen Auslandsgeheimdienst BND.
Anders als Hans Christoph von Stauffenberg gelingt es 1957 dessen Freund und Verwandten, wovon er geträumt hat: Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg wird mit 36 Jahren CSU-Bundestagsabgeordneter. Ihn prägen sein christlicher Glaube, die Tradition der Familie und die schmerzhaften Erfahrungen des Nationalsozialismus.57 Seinen Vater Georg Enoch zu Guttenberg, einen überzeugten Monarchisten, holten die Männer der Schutzstaffel (SS) schon 1934 – ließen ihn aber nach Tagen des Verhörs wieder frei. Sein Onkel Karl Ludwig zu Guttenberg gehörte zweifellos zu den wichtigsten Persönlichkeiten des NS-Widerstandes. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) nahm ihn als Verschwörer des missglückten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 gefangen und ermordete ihn.
Auch der Krieg forderte der Familie Guttenberg Tribut ab: Erst starb Karl Theodors Vater an Kriegsfolgen, dann sein Bruder an der Front. Er selbst wurde als einer der letzten Soldaten aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen. Später musste er an anderen Fronten weiterkämpfen.58 Während seiner Kriegsgefangenschaft in Großbritannien wollte Karl Theodor zu Guttenberg seinen Beitrag für den Widerstand leisten: Er wurde Sprecher des Soldatensenders Calais, mit dem die Briten deutschsprachige Propaganda verbreiteten. Auf diese Weise versuchte Guttenberg, die deutschen Truppen zur Aufgabe zu bewegen. Das sahen seine politischen Feinde später als Verrat am Vaterland an.59
Sein politischer Weg begann in der Lokalpolitik: Bereits mit Anfang 30 wird er Landrat im oberfränkischen Stadtsteinach. Guttenberg findet, christliche Politik müsse auch die täglichen Sorgen der Menschen ernst nehmen.60 Im Bundestag reüssiert er jedoch vor allem mit seinem Talent für internationale Fragen: Er reist als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses nach Kanada, Thailand und Taiwan, trifft Politiker wie Charles de Gaulle und John F. Kennedy. Bald kennen viele Deutsche den großen Parlamentarier mit der hohen Stirn, nach hinten gekämmten Haaren, Walross-Schnauzer und Pfeife im Mund.
Guttenberg spaltet die Menschen in ihrem Urteil: Manche bewundern und verehren ihn als Gentleman. Seine Gegner halten ihn für einen reaktionären Reichsritter, der die Interessen der kleinen Leute nicht vertreten könne.61 Manche nennen ihn einen Antikommunisten oder Deutsch-Nationalen.62 Freunde hingegen sehen in ihm eine moralische Instanz. Seine Intelligenz – mit 16 Jahren legte er das Abitur ab63 – bezweifelt niemand.
Spätestens mit seiner Rede im Herbst 1959 im Bundestag kristallisiert sich Guttenbergs Rolle für das kommende Jahrzehnt heraus – als Gegner des Deutschlandplans der SPD. Die Opposition hat damals ein Strategiepapier zur Wiedervereinigung verfasst. Demnach soll in Mitteleuropa eine Zone ohne Militär und Atomwaffen entstehen; Bundesrepublik und DDR sollen gar zu einem neutralen Staat verschmelzen. Herbert Wehner, in der SPD-Bundestagsfraktion verantwortlich für Deutschlandfragen, schlägt eine Gesamtdeutsche Konferenz vor.64 Es beginnt ein heftiger persönlicher Kampf zwischen Guttenberg und den Befürwortern des Deutschlandplans. Der CSU-Abgeordnete hält nichts von einem Staat »in der Mitte zwischen der kapitalistischen Demokratie und der sozialistischen Diktatur«65. Es dürfe keine »Mischform zwischen Knechtschaft und Freiheit« geben.66 Dafür muss er sich als »Scharfmacher« titulieren lassen. Guttenberg betont stets, dass er sich nicht als bloßer Antikommunist oder Antifaschist sieht, sondern als Verteidiger der Freiheit.67 Nicht alle politisch Interessierten verstehen diese feine Unterscheidung: Er will nicht einfach etwas ablehnen, sondern auf einem anderen Konzept, dem der Freiheit, beharren. Diese Grundüberzeugung wird ihn bis an sein Lebensende begleiten.
Jemand, der ähnlich denkt, ist der neue Chef von Hans Christoph von Stauffenberg, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Reinhard Gehlen. Schon für Hitlers Generalstab beobachtete er die Lage beim sowjetischen Gegner: Er leitete die Dienststelle Fremde Heere Ost. Ab 1946 baute Gehlen unter der Regie der Amerikaner einen Nachrichtendienst gegen die kommunistische Gefahr auf. Die Adenauer-Regierung übernahm den Dienst zehn Jahre später als eigene Behörde – der Bundesnachrichtendienst entstand.
Guttenbergs politische Sorge ist somit Gehlens Lebensaufgabe. Noch in seinen Erinnerungen warnt der erste BND-Präsident, nur nicht die »zersetzende Wirkung der kommunistischen Ideologie«68 zu unterschätzen. Ihn treibt wie Guttenberg das Ziel an, die Freiheit des Westens zu verteidigen. So überrascht es nicht, dass Gehlen im Jahr des Mauerbaus, 1961, dem CSU-Abgeordneten einen Brief schreibt. Er lädt ihn zum Gedankenaustausch ein.69 Nur wenige, selbst wichtige Politiker, lernen den Mann an der Spitze des Geheimdienstes näher kennen: Er vermeidet Bilder und schirmt sein Gesicht mit einer Sonnenbrille ab. Den Schnurrbart hat er immer sorgfältig gestutzt.70 Auf dem Kopf, passend zum Klischee, trägt er gerne einen Schlapphut, der seine Halbglatze verbirgt.71
Guttenberg muss sein Gesprächsangebot angenommen haben: Er verfügt bald über einen guten Kontakt zu einem engen Vertrauten, ja einem Freund Gehlens – Wolfgang Langkau leitet die Beschaffung, also die Abteilung, die alle Informationen sammelt. 72 Wenn Gehlen einen Auftrag zu vergeben hat, der besonderes Fingerspitzengefühl erfordert, wählt er ihn. So schickt er Langkau als Verbindungsoffizier zum israelischen Geheimdienst Mossad, eine heikle Mission nach den Jahren des Holocaust.73 Langkau geht stets die wenigen Schritte von seinem Büro zu Gehlen, um mit ihm und seinen engen Mitarbeitern zu Mittag zu essen.74 Er gehört somit zum engsten Machtzirkel in Pullach.
Wenige Bilder existieren von ihm in der Öffentlichkeit. Der Geheimdienstmitarbeiter soll an den Schauspieler Alec Guinness erinnert haben, der die Figur des Agenten George Smiley von John le Carré mimte75: ein kleiner, hagerer Mann mit schütterem grauen Haar, ausgeprägten Geheimratsecken und riesigem dunklen Brillengestell.76 Die, die ihn kannten, beschreiben ihn als einen leisen Menschen, dessen Verstand seine Worte unter Kontrolle hielt. Dem Analytiker Langkau gelingt es 1961, einen hochrangigen BND-Mitarbeiter als Agenten des sowjetischen Geheimdienstes zu überführen. Spötter titulieren den Generalmajor der Reserve, Jahrgang 1903, gerne auch als »Geheimhaltungsfetischisten«.77 Die Autorin Mary Ellen Reese beschreibt ihn spöttisch: »Er liebte es noch mehr als Gehlen, im Schatten zu operieren. Seine Gegner behaupteten, er betrachte sich als so geheim, dass er sich einrede, er existiere eigentlich gar nicht. Außerdem neigte er zur Konspiration – es hieß, er habe gelegentlich die Tür seines Büros abgeschlossen und nur auf ein verabredetes Klopfzeichen geöffnet.«78 Und noch einen zweiten Spitznamen verleihen ihm seine Mitarbeiter: »Doktor der Operationen«,79 weil er es liebt, mit Agenten zu arbeiten.
Im Auftrag des Präsidenten führt Langkau auch noch den Strategischen Dienst des BND. Diese Sonderabteilung hat für die weitere Geschichte eine große Bedeutung, weil ihr Schicksal mit dem Stauffenbergs verknüpft ist. Sie soll – untergebracht im Haus Nummer 3680 in Pullach – nur aus einem kleinen, vom übrigen Haus abgetrennten Korridor bestanden haben.81 Die Mitarbeiter des Strategischen Dienstes beobachten die sowjetische Westpolitik und die amerikanische Sicherheitspolitik.82 Wichtig sind auch deren Verbündete, die Länder des Warschauer Paktes und der Nato. Daher geraten die DDR, Polen und die CSSR ebenso in den Fokus wie Frankreich, England und Italien.83
Zubringer der Informationen sind vor allem einflussreiche Politiker, Wirtschaftslenker und Militärs. Sie verfügen über besonders gute Zugänge zu höchsten Kreisen der Gesellschaft, der Diplomatie und der politischen Elite.84 Im Geheimdienstjargon heißen sie Sonderverbindungen. Erst mit der Zeit wird der Kontakt enger, das heißt, der Geheimdienst führt sie, erteilt ihnen Aufträge. Oft bleibt es auch beim Gedankenaustausch. Manche bezeichnen Langkaus Strategischen Dienst daher kurz als Gruppe Sonderverbindungen.85 Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, warum die Zuträger einen Sonderstatus innerhalb des BND besitzen. Niemand in ihrer Position darf – und will – als Agent arbeiten. Das wäre zu riskant und geradezu unmöglich. Ein bekannter Politiker kann sich nicht mit einem falschen Namen ausweisen oder Tage verschwinden, um einen Kontaktmann zu treffen. Aber er weiß, was ihm sein ausländischer Amtskollege bei einem Glas Wein an der Bar anvertraut hat. Das erzählt er dann zum Beispiel Langkau – für eine Aufwandsentschädigung oder gar ein Honorar. Ausländische Geheimdienstpartner wie die Franzosen sollen allerdings nachgefragt haben, ob das denn wirklich Spionage sei. 86
Der BND-Präsident Gehlen, seine Mitarbeiter Langkau und Stauffenberg sowie der CSU-Abgeordnete Guttenberg sind sich in ihrem Kurs gegenüber dem Osten einig. Das mag erklären, warum Guttenberg bald von seiner Verbindung profitiert: Langkau schickt ihm regelmäßig Unterlagen zu. Er erhält sogar Originalmeldungen, keine offiziellen BND-Berichte, mit Geheimhaltungsstempel und Nummer.87 Wie üblich richtet sich Langkau nach den Interessen seiner Leser. Guttenberg bekommt Informationen zur Deutschlandpolitik, der SPD und ihren internationalen Verbindungen sowie zu Fragen des Vatikans.88 Das entspricht Gehlens eigenem Handeln: Er legt Wert darauf, Vertrauensmänner und -frauen in allen Parteien zu haben.89 Im Austausch bekommen die Politiker Exklusives. Doch Langkaus Beziehung zu Guttenberg wird darüber hinausgehen.
Guttenbergs und Langkaus Verbindung wird enger, als 1966 die Sozialdemokraten erstmals in die Regierung aufrücken und mit der CDU/CSU eine Große Koalition bilden. Nicht alle sozialdemokratischen Minister sind aus der Perspektive von BND-Präsident Reinhard Gehlen politisch zuverlässig – allen voran Herbert Wehner, nun Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Gehlen kauft ihm seine Wandlung vom ehemaligen Kommunisten zum Demokraten nicht ab.
Wehner war 1927 KPD-Mitglied geworden, zog in den sächsischen Landtag ein und brachte es innerhalb weniger Jahre zum Sekretär des Vorsitzenden Ernst Thälmann. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann für ihn ein Leben im Untergrund. Er musste konspirativ für seine politischen Ziele arbeiten. Als dies zu gefährlich wurde, ging er Ende der 1930er Jahre ins Exil nach Moskau. Mit anderen kommunistischen Emigranten wohnte er im Hotel »Lux«. Der sowjetische Diktator Josef Stalin wollte zu der Zeit seine Partei von angeblich Abtrünnigen »säubern«, setzte dabei darauf, dass sie einander belasteten. So wurden aus Gesinnungsfreunden Menschen, die einander bespitzelten und verdächtigten. Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes gingen im Hotel »Lux« ein und aus und notierten die Vorwürfe. Später verschwanden Parteigenossen von Wehner aus ihren Zimmern. Ihnen standen Verhöre unter Folter bevor und Gerichtsverfahren, deren Urteil schon feststand – Arbeitslager oder gar die Todesstrafe. Wehner konnte sich diesem grausamen Spiel nicht entziehen. Um sein Leben zu retten, belastete er Parteigenossen.90 In der Nachkriegszeit argumentierte er, nur das preisgegeben zu haben, was die Befrager aus seiner Sicht schon wussten.
Gehlen irritiert jedoch vielmehr, dass die Kommunistische Internationale (Komintern) Wehner 1941 dann den Auftrag gab, die Kommunistische Partei in Deutschland wieder aufzubauen. Bei den Vorbereitungen in Schweden verhaftete ihn die Polizei wegen Spionage für die Sowjetunion. Der BND-Präsident sieht deshalb in ihm einen Agenten der Komintern, gar den Leiter eines Spionagerings.91 Und so jemand soll die deutsch-deutschen Beziehungen verantworten? Für Gehlen klingt das unmöglich.
Nach dem Krieg war Wehner zur SPD gewechselt. Die Kommunisten hatten ihn wegen angeblichen Parteiverrats ausgeschlossen, Wehner hatte sich innerlich von ihnen gelöst. Der damalige Chef der SPD, Kurt Schumacher, bat ihn dennoch, die Gründe für seinen Sinneswandel darzulegen. Wehners »Notizen« liest Gehlen immer wieder, sie überzeugen ihn nicht. Seine Zweifel füllten mindestens eine Geheimdienstakte.92
Der BND-Präsident ist nicht nur skeptisch, für ihn verfolgt der Sozialdemokrat in Wahrheit hinter den Kulissen ein geheimes Programm.93 Gehlen sieht als erste Phase den von Guttenberg so heftig kritisierten Deutschlandplan. Mit der Regierungsverantwortung in der Großen Koalition habe Wehner die nächste Stufe erreicht. Ziel, so Gehlen, sei die Regierungsübernahme der SPD und bald danach eine Verständigung mit dem Osten. Deutschlands Freiheit wäre dann aus Sicht des BND-Chefs verloren.
Gehlens Sicht ist nicht die von Guttenberg: Der CSU-Abgeordnete nimmt Wehner seine Wandlung zum Demokraten ab, er hat ihn näher kennengelernt, als sie sich zusammen für das Regierungsbündnis ihrer Parteien engagierten. Im Oktober 1961 sondierten sie die Chancen einer Großen Koalition. Nach einem Abendessen im Hause Wehner notiert sich Guttenberg: »Mit diesem Mann bin ich in entscheidenden Fragen einig.«94 1966 ist ihr Projekt Große Koalition Wirklichkeit geworden.
Wehner ist nicht der einzige, der dem BND-Präsidenten gefährlich erscheint. Ihn beunruhigt ebenso der neue Planungschef im Auswärtigen Amt, Egon Bahr. Gehlen wirft ihm vor, schon als Pressesprecher des Berliner Senats »geheime Kontakte in Ost-Berlin«95 wahrgenommen zu haben. Von Bahr stammt die Formulierung »Wandel durch Annäherung«, die er 1963 in der politischen Akademie in Tutzing zum ersten Mal zur Diskussion stellt. Dass er damit beim Geheimdienst Misstrauen erregte, überrascht den Sozialdemokraten in der Rückschau nicht. Mancher habe Annäherung falsch verstanden und als »rote Volksfront« interpretiert.96
Auch der Chef Bahrs, Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt (SPD), erscheint manchem Konservativen fragwürdig – wegen seiner unehelichen Geburt, seiner linkssozialistischen Jugend und seiner Untergrundarbeit im norwegischen und schwedischen Exil. Selbst Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) gelingt es nicht, ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zu Brandt zu finden.97 Zum ersten sozialdemokratischen Justizminister, Gustav Heinemann, besitzt der BND ebenso Unterlagen.98
Doch was unternimmt ein Präsident eines Auslandsnachrichtendienstes, wenn er die Gefahr des Landesverrats innerhalb der eigenen Regierung sieht? Er sucht sich Verbündete. Da kommt Guttenberg ins Spiel. Kiesinger schafft 1967 den Posten eines parlamentarischen Staatssekretärs im Kanzleramt und entscheidet sich für den CSU-Politiker. Nun hat der BND-Mitarbeiter Wolfgang Langkau einen Vertrauten in der Regierungszentrale. Langkau schlägt Guttenberg vor, er solle in wichtigen Dingen weiterhin die Originalmeldungen von ihm bekommen.99 So muss sich der CSU-Abgeordnete nicht allein auf die reguläre BND-Berichterstattung verlassen. Langkau fürchtet vermutlich bereits, dass mit dem Einzug der Sozialdemokraten in die Regierungsverantwortung kritische Meldungen über den Osten spärlicher werden könnten. Vorsorglich weist er darauf hin, es könne zwischen seinen Meldungen und den offiziellen Dokumenten eine »Akzentverschiebung«100 geben. Diesen »kurzen Dienstweg« wird Langkau auch nutzen, wenn er vorfühlen will, ob eine heikle Information für den Bundeskanzler geeignet sein könnte.101 Auch Guttenberg betont, er sei in »Erwartung einer fruchtbaren und engen weiteren Zusammenarbeit«. 102
Ein Jahr später übernimmt noch ein Kritiker einer neuen Ostpolitik eine Schlüsselposition in der Regierung: Karl Carstens, zuvor Staatssekretär im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium, wird Chef des Kanzleramts. Erst in den 1970er Jahren als Bundestagsabgeordneter und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender wird seine deutschlandpolitische Haltung öffentlich bekannter. Er könnte somit ein weiterer Kandidat für Gehlens politische Bastion gegen einen dem Osten zugewandten Kurs sein.
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Der erste Akt im Misstrauens-Drama zwischen den Regierungspartnern beginnt im November 1967. Damals reisen drei Sozialdemokraten nach Rom: Leo Bauer, früher Mitglied der KPD, jetzt SPD und von Beruf Journalist, Egon Franke, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, und der Informationschef der Partei, Fried Wesemann. Sie wollen mit hochrangigen Funktionären der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) sprechen, darunter mit deren späterem Chef Enrico Berlinguer103 und den Mitgliedern des Zentralkomitees, Sergio Segre und Carlo Galluzzi. Die italienischen Kommunisten sind bekannt dafür, dass sie sich vom offiziellen Kurs Moskaus freischwimmen möchten. Bauer, Franke und Wesemann wollen wohl auch sondieren, welche Bedingungen der Osten für eine zukünftige Entspannungspolitik stellen würde.104 Dieser Programmpunkt der Reise interessiert auch den BND.
Daher bleibt die Zusammenkunft nicht so vertraulich, wie KPI und SPD hoffen. Langkau entdeckt in einem Kirchenblatt zu dem Treffen eine Notiz. Sofort versucht er, Näheres herauszufinden. Er fragt bei Mitgliedern der Christdemokratischen Partei Italiens, Democrazia Cristiana (DC), die als Quelle im Kirchenblatt genannt war, nach. Sie bestätigen den unverhohlenen Vorwurf, die SPD versuche über die KPI eine Verbindung Richtung Osten aufzubauen. Langkau schreibt im Dezember einen Bericht für Kanzler Kiesinger und Guttenberg.105 Noch ein weiterer BND-Mitarbeiter sammelt Material, befreundete Geheimdienste ergänzen die Dokumente.106 Das SPD-KPI-Gespräch sorgt für heftigen Aufruhr bei den Nachrichtendiensten. Dies auch, weil der BND-Präsident nicht der Ansicht ist, die beiden Parteien hätten sich allein zum Gedankenaustausch getroffen. Er glaubt, die Zusammenkunft sollte dem Zweck dienen, über Italien »Fäden zur SED und damit auch zur Staatsführung der DDR« 107 zu knüpfen. Als Indizien wertet er, dass zwei der Gesprächspartner – Segre und Galluzzi – im Dezember 1967 zur SED-Spitze nach Ost-Berlin reisen. Dort berichten sie von ihrem Gespräch mit der SPD.108 Spätestens beim Gegenbesuch der Ostdeutschen in Italien sieht sich Gehlen bestätigt. Seiner Meinung nach braut sich eine Verschwörung zusammen. Ende Januar 1968 treffen sich die Delegationen erneut, nun in München zum Weißwurstessen im Hotel »Bayerischer Hof«.109 Neu dabei ist Egon Bahr.
Kanzler Kurt Georg Kiesinger stellt Wehner zur Rede. Der Sozialdemokrat schickt ihm daraufhin seine Version der Italienkontakte. Demnach soll die KPI ihre eigenständige Rolle betont und sich nur für eine deutsche kommunistische Partei engagiert haben, da die KPD seit 1956 verboten war.110
Mit diesem Wissen und den BND-Informationen im geistigen Gepäck startet der Kanzler im Februar 1968 zum Staatsbesuch nach Italien. Für Kanzler Kiesinger ist dies sicherlich eine innere Zerreißprobe. Wem soll er trauen? Auf wen hören? Mit ihm reist Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt, den die Informanten des BND in Rom nicht aus den Augen lassen. Laut den Geheimdienstberichten nach der Reise soll KPI-Chef Luigi Longo abermals den Vorstoß für eine deutsche kommunistische Partei unternommen haben. Im Gegenzug wolle er für die SPD Kontakte in osteuropäische Länder vermitteln.111
Es wundert nicht, dass die Berichte Kiesinger sehr verärgern. Die Sozialdemokraten empören sich, vom Geheimdienst beobachtet worden zu sein. Sie argumentieren, die Gespräche seien eine Angelegenheit der Partei gewesen. Der Konflikt zeigt, dass die beiden Koalitionspartner, je mehr die SPD versucht, eine Idee für eine neue Ostpolitik zu entwerfen, sich desto mehr auseinanderbewegen. In den Augen Gehlens grenzt die Politik der SPD bereits an einen Verrat deutscher Interessen.112
So machen mehrere Zeitungen im April 1968 mit einer aufsehenerregenden Schlagzeile auf: In den vergangenen Monaten habe es zwischen der SPD und der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) Geheimgespräche gegeben. Im CSU-nahen »Bayernkurier« kann der Bürger lesen, erst der BND habe das Kanzleramt über das »Ungeheuerliche« unterrichtet.113
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Kurz darauf kommt es im BND zu tiefgreifenden Veränderungen. Karl Carstens, Chef des Kanzleramtes, schickt den 66-jährigen Gehlen zum 1.Mai1968 in den Ruhestand. Auch Langkaus Zeit im Geheimdienst geht zu Ende und damit die seines Strategischen Dienstes. Gerhard Wessel wird neuer BND-Präsident. Er kennt Gehlen schon aus Zeiten bei Fremde Heere Ost und der amerikanischen Vorläuferorganisation des BND. In den 1950er Jahren hatten sich ihre Wege getrennt. Wessel wechselte zum Amt Blank, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums, und von dort zur Bundeswehr. Er begleitete unter anderem die Gründung des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Später wurde der Generalleutnant zum ständigen Militärausschuss der Nato berufen. Bei der Amtsübergabe hat sich der 54-Jährige bereits von Gehlen entfernt. Er verbreitet diplomatische Weltläufigkeit und militärische Strenge zugleich. Carstens hat mit ihm große Pläne: Er will den Dienst klarer gliedern, neues Personal gewinnen, die Datenverarbeitung verbessern und vieles mehr.114 Zudem warten zahlreiche Beschwerden von verärgerten BND-Mitarbeitern auf eine Antwort. Carstens gibt dem neuen Präsidenten eine Experten-Kommission zur Unterstützung. 115
Im späten Herbst 1968 gibt es weiteren Ärger. Man könnte auch sagen, das Misstrauens-Drama in Sachen SPD geht weiter. Journalisten des »Bayernkuriers« und der konservativen »Welt am Sonntag« melden, der Planungschef des Auswärtigen Amtes, Egon Bahr, unterhalte eine Verbindung zu Mitgliedern des Zentralkomitees der SED. Die »Welt am Sonntag« schreibt, sie habe »aus zuverlässiger Quelle (erfahren), dass der Bundesnachrichtendienst über die Tonbandaufnahme eines längeren Geheimgespräches verfügt, das Bahr zu einem früheren Zeitpunkt im SED-Zentralkomitee in Ost-Berlin geführt hat«.116 Ein brisanter Vorwurf. Bahr bestreitet vehement, zu Geheimgesprächen in die DDR gereist zu sein. »Das ist alles von Anfang bis Ende erstunken und erlogen«,117 empört er sich damals im »Spiegel«. Walter Ulbricht, den Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, und Otto Grotewohl, den ersten Ministerpräsidenten, habe er zuletzt 1945 getroffen. Seitdem habe er keine Gespräche mehr im Osten geführt.
Kiesinger bittet Carstens nachzuforschen, woher das ominöse Material stamme. Der fragt beim BND an und bekommt drei Tage später zwei Meldungen vom November 1968 zugeschickt. Sie geben den Inhalt von Gesprächen wieder, die Informanten des Geheimdienstes mit SED-Funktionären geführt hatten. Das ist für die Zuträger Routine. Seit 1965 halten sie Kontakt zum Machtzentrum der DDR und berichten immer wieder über angebliche Kontakte zwischen SPD und SED.118 Diese beiden Meldungen, notiert sich Carstens, gab die Geheimdienst-Zentrale weder an das Kanzleramt noch an andere Stellen der Bundesregierung ab.119 Nach Ansicht des BND handelt es sich um lanciertes Material, das heißt von der DDR mit Absicht gestreute Informationen, um Unruhe in der Regierung auszulösen. Außerdem gelingt es dem Kanzleramtschef, eine Abschrift des fragwürdigen Tonbands zu erhalten. Carstens schlägt Kiesinger vor, Bahr um eine Aufzeichnung seiner Ostkontakte zu bitten.
Der Sozialdemokrat schreibt tatsächlich die Liste und bespricht sie mit dem Kanzler – ebenso die Abschrift des Tonbands. Der Regierungschef findet die Aufnahme »außerordentlich lückenhaft«, sie bestehe »eigentlich nur aus Wortfetzen«120. Einzige Erkenntnis ist, dass zwei oder drei Deutsche mit mindestens einem Russen sprechen. Wo die Unterhaltung stattfand, wer die Männer waren, bleibt im Dunkeln. Die angeblichen Beweise gegen Bahr sind somit entkräftet. In seiner Autobiografie vermutet Bahr, das Tonband könne bei einem Empfang sowjetischer Journalisten am Berliner Kurfürstendamm aufgenommen worden sein – also im Westen.121 Bahr leitete damals das Presse- und Informationsamt des Landes Berlin.
Carstens bleibt dennoch skeptisch.122 Im Sommer 1969 erhält der Kanzleramtschef eine Meldung aus Prag: Bahr habe sich dort mit zwei Mitgliedern der SED-Führung, Albert Norden und Paul Verner, getroffen.123 Zwei Journalisten sollen Zeuge gewesen sein. Carstens legt die Dokumente zu den Akten.
Langkau bestreitet stets, Bahr bespitzelt und über ihn ein Dossier angelegt zu haben.124 Wahrscheinlich erreichte ihn das Material ohne Auftrag: Im Geheimdienstjargon nennt man das Randerkenntnisse oder Gelegenheitsinformationen.125