Nachts sind alle Schafe schwarz - Heike Abidi - E-Book

Nachts sind alle Schafe schwarz E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Becky würde gerne ein Café eröffnen, Caro wünscht sich einen Luxusurlaub, in dem sie hoffentlich endlich schwanger wird, und Greta hofft auf ihren Durchbruch als Künstlerin. Was den drei Freundinnen fehlt, ist nichts weiter als ein mittelgroßes Vermögen. Aus einer Sektlaune heraus entsteht daher eine absolut haarsträubende Geschäftsidee. Zum Spaß geben sie ein Inserat für ein pseudo-esoterisches Seminar auf unter der Überschrift »Entdecke deine animalistische Balance«. Das schlägt ein wie eine Bombe!

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Heike Abidi

Nachts sind alle Schafe schwarz

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Nachts  sind alle Schafe [...]Statt eines VorwortsBären aufbinden für AnfängerEin Fisch an der AngelSei kein Frosch!Mach mir den Hengst!Der Wolf im SchafspelzGrillen im KopfWeiß der Geier!Hunde, die bellen, schlafen nichtKlappe zu, Affe tot?Noch ein Wolf, noch ein SchafspelzNie wieder Perlen vor die Säue …Schmetterlinge im BauchStatt eines Nachworts
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Nachts  sind alle Schafe schwarz

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Statt eines Vorworts

Eintagsfliegen leben länger

Wann leistest du dir endlich mal einen Kühlschrank mit Eiswürfelspender? Oder noch besser: eine Klimaanlage? Es ist ja unerträglich heiß hier in deinem Künstlerloft«, nörgelt Elisabeth Hildebrandt und nippt an ihrem Likör.

Greta seufzt. »Du könntest es kühl und komfortabel haben bei dir zu Hause, Mamilein«, antwortet sie so gelassen wie möglich.

Mamilein hasst es, so angesprochen zu werden. Am liebsten lässt sie sich Liz nennen. Wie Liz Taylor, ihr Idol. Aber den Gefallen tut Greta ihr nicht.

Missbilligend zieht Elisabeth ihr Operettendiva-Gesicht: geschürzte Lippen, hochgezogene Brauen, affektierte Apfelbäckchen – und straft Greta mit Schweigen. Ungefähr fünf Sekunden lang.

»Ehrlich gesagt, dass du mich heute Abend im Stich lässt, finde ich gar nicht nett von dir!«

Doch damit wirst du wohl oder übel zurechtkommen müssen, denkt Greta. Und überhaupt: Ungebetene Gäste sollten froh sein, wenn sie den bequemsten Sessel bekommen, anstatt sich über mangelnde Zuwendung zu beklagen.

Mit anderen Worten: Greta hat keineswegs vor, sich erweichen zu lassen. Sie freut sich riesig auf den Abend mit ihren Freundinnen. Es ist schon viel zu lange her, dass sie sich getroffen haben, um einfach nur Spaß zu haben. Nicht um zu arbeiten. Genauer gesagt war das vor ziemlich exakt einem halben Jahr.

»Warum gehst du heute nicht zum Bingo? Es ist doch Freitag?«, fragt Greta, während sie ihre langen, kupferroten Locken mit einem moosgrünen Band zusammenbindet.

»Fällt aus«, sagt Elisabeth und greift zur Fernbedienung. »Ach, weißt du was? Schwamm beiseite. Jeder muss nach seiner eigenen Fusion selig werden. Ich schau mir eben einen Film an. Und dir viel Spaß mit deinen Kameradinnen!« Schon flimmert der Vorspann von Die Mädels vom Immenhof über den Bildschirm.

Greta grinst. Auch wenn ihre Mutter sie wahnsinnig macht: Mit ihren verdrehten Sprüchen und ihrem Fünfziger-Jahre-Weltbild wirkt Elisabeth Hildebrandt manchmal einfach urkomisch. Trotzdem wird sie auch dieses Mal drei Kreuze schlagen, wenn sich ihre Mutter wieder mit ihrem aktuellen Lebensabschnittsgefährten versöhnt und endlich nach Hause zurückkehrt.

Heute Abend jedenfalls ist Greta froh, dass sie Caro und Becky sehen wird und nicht Die Mädels vom Immenhof. Doch sie fühlt sich auch ein wenig nervös. Sie muss mit den anderen reden. Unbedingt.

 

Rock oder Hose? Carolin Arnold-Braun steht unentschlossen vor dem Kleiderschrank und schwitzt. Es ist verdammt heiß heute. Über dreißig Grad. Und das Ende September. Sind das schon die Auswirkungen der globalen Erwärmung? Oder ist es nur ein normaler Altweibersommer? Wenn sie nur wüsste, was sie anziehen soll! Warum ist es manchmal so schwierig, die richtige Wahl zu treffen? Seufzend entscheidet sie sich für dünne Leggings und eine bequeme nachtblaue Tunika. Perfekt. Caro findet, dass ihr Spiegelbild darin ein wenig schlanker wirkt als sonst. Fast wie Größe 40, nicht wie 42 oder manchmal, bei engen Schnitten, 44. Ein zufriedenes Lächeln macht sich in ihrem dank der zusätzlichen Pfunde fast faltenlosen Gesicht breit. Trotzdem würde sie, um schlanker zu wirken, im Notfall sogar einen weiteren Schweißausbruch in Kauf nehmen. Rasch schreibt sie Frank eine SMS: »Treffe mich gleich mit Becky und Greta. Wünsch dir eine stressfreie Nachtschicht mit möglichst wenigen Notfällen. Hdgdl Caro«.

Dann hält sie kurz inne. Ist das auch wirklich die volle Wahrheit? Hat sie Frank wirklich noch immer »ganz doll lieb«? Oder hat sie sich schon so sehr ans Flunkern gewöhnt, dass sie selbst gar nicht mehr weiß, was richtig ist und was falsch? Eines aber weiß sie genau: Diese Lügerei muss aufhören. »Heute Abend sollten wir das beenden, was wir vor sechs Monaten losgetreten haben«, nimmt sie sich vor. Wer hätte geahnt, dass aus dem Jux tatsächlich Ernst werden und das Ganze keine Eintagsfliege bleiben würde?

Nachdem sie in die neuen Sandalen geschlüpft ist und vor dem Spiegel ein letztes Mal ihren Lippenstift nachgezogen hat, greift sie nach dem Schlüsselbund und macht sich auf den Weg zum Auto. Sie sitzt schon in ihrem gelben Cabrio und will gerade starten, als sie sich mit der flachen Hand an die Stirn schlägt, wieder aussteigt, zurück zur Haustür stöckelt, im schmucken Einfamilien-Neubau verschwindet und nach wenigen Sekunden erneut auftaucht. Diesmal mit einer Babypuppe im Arm. Achtlos wirft sie die Puppe auf den Beifahrersitz und fährt los.

Ein Staubsaugervertreter, der Carolin Arnold-Braun gerade einen Besuch abstatten will und sie um wenige Sekunden verpasst, schaut ihr schulterzuckend hinterher und beobachtet, wie sie mit grimmiger Miene vor sich hin murmelt. Obwohl sie mit offenem Verdeck fährt, kann er ihre Worte wegen des Motorengeräusches nicht verstehen. »Lächerlich«, schnaubt sie. »Einfach lächerlich.«

 

Der Mensch ist ein inkonsequentes Wesen. Das ist Rebekka Quandt schon lange klar. Früher, als sie jünger und dümmer war, glaubte sie noch felsenfest an die Erziehung ohne Ausnahmen. Sie nahm sich vor, ihre Kinder einmal mit liebevoller Strenge zu erziehen. Nervenstark, unerschütterlich, grundsatztreu. Aber spätestens seit sie tatsächlich Mutter ist, hält sie Konsequenz für ein Konzept, das nur in der Theorie existiert.

»Okay, Nelly, noch eine halbe Stunde Findet Nemo«, beantwortet sie die Frage ihrer fünfjährigen Tochter, »aber dann gehst du ohne zu murren ins Bad. Und anschließend ohne Vorlesegeschichte ins Bett, denn dann ist mein Besuch bestimmt schon da.«

»Hurra!«, brüllt Nelly, schlingt ihre zarten Ärmchen um Rebekkas Beine und drückt ihr einen feuchten Schmatzer auf die nackte Haut.

Dieses kleine süße Monster hat mich voll im Griff, denkt Rebekka. Aber was soll’s? Morgen ist Samstag, da ist sie ganz froh, wenn ihr anstrengendes Sonnenscheinchen ausnahmsweise mal ein bisschen länger schläft. Länger jedenfalls als bis halb sechs.

Nach einem Blick auf die Uhr beschließt Becky, sich zu sputen. Die Kräcker in Schalen füllen, den Quarkdip würzen, das Würfelspiel und die Notizblöcke bereitlegen, Gläser polieren, die Bowle mit eisgekühltem Sekt auffüllen, die halblangen Haare hochstecken, ein wenig Make-up auflegen und dann noch rasch in ein schickeres Outfit hüpfen.

Doch zum Umziehen bleibt ihr am Ende keine Zeit mehr. Sie will gerade mit dem zweiten Bein aus den Shorts steigen, als das Telefon klingelt. Ein Blick aufs Display zeigt ihr, wer zu diesem unpassenden Zeitpunkt anruft.

»War ja klar«, brummt sie verärgert und hat für einen Moment das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Dann atmet sie tief durch und fasst spontan einen Entschluss.

Als sie fünf Minuten später auflegt, ist sie wahnsinnig erleichtert. Der wird sich so bald nicht mehr bei ihr melden, da ist sie sich sicher!

Früher hätte sie sich das nicht getraut. Bevor diese ganze Sache angefangen hat – damals, vor sechs Monaten, als ihre Freundinnen das letzte Mal bei ihr zu Besuch waren. An jenem legendären Abend, an dem alles begann.

 

Vielleicht wäre es wirklich klüger, die ganze Geschichte von vorn zu erzählen? Ja, fangen wir doch einfach ganz am Anfang an.

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Bären aufbinden für Anfänger

Der 31. März war ein fieser Schmuddeltag. Und so was nannte sich nun Frühling! Jedenfalls laut Kalender. Kaum zu fassen. Wo, bitte, blieb die verdammte Erderwärmung? Becky schaute aus dem Küchenfenster und beobachtete die Passanten, die in leicht gebeugter Haltung durch den Schneeregen hasteten, als sei er dadurch angenehmer zu ertragen.

Zum Glück musste sie an diesem Abend das Haus nicht mehr verlassen. Stattdessen stand ihr das Highlight des bislang ganz und gar verkorksten Tages bevor: Besuch von Caro und Greta!

Sie konnte sich keinen schöneren Start in ein Wochenende vorstellen als mit einem ihrer zünftigen Weiberabende. Diese Tradition pflegten die drei seit ihrer gemeinsamen Oberstufenzeit. Wie damals gehörten zu einem solchen Abend nach wie vor Würfelbecher und Kniffelblock, Schampus und Salzgebäck. Nicht zu vergessen viel, viel Geschnatter.

Früher trafen sie sich reihum. In letzter Zeit jedoch war meist Becky die Gastgeberin. Was sie gleich aus mehreren Gründen ziemlich praktisch fand: Erstens begegnete sie ungern Gretas fürchterlicher Mutter, die sich regelmäßig bei ihr einnistete, sich dort aufführte wie eine Diva und mit Kommandostimme das Zepter schwang. Und zweitens hasste Becky den Flüsterton, mit dem man sich in Caros schmuckem Eigenheim unterhalten musste. Nur weil sich der geräuschempfindliche Arzt-Gemahl Frank mal wieder ausruhte, vor oder nach einer 12-Stunden-Schicht in der Klinik. Zartbesaitete Mimosen wie Frank würden es hier bei ihr keine drei Tage aushalten. Das Gegröle aus der Spelunke im Erdgeschoss war oft noch bis tief in die Nacht zu hören. Doch der Hauptgrund, warum Becky lieber Gastgeberin war, saß nebenan im Kinderzimmer und tadelte gerade seine Lieblingspuppe: »Nein, Lisamarie, du musst erst dein Gemüse aufessen, bevor du mit den anderen auf den Spielplatz darfst.«

Du liebe Zeit, Nelly! Sie sollte eigentlich längst im Bett liegen. War das noch zu schaffen, bevor Caro und Greta eintrafen? Rasch schaute sie sich um: In der Küche war alles vorbereitet. Da lag sie gut in der Zeit. Nur sie selbst war noch ungekämmt, ungeschminkt, unmöglich angezogen.

»Nelly, Zeit für die Badewanne«, rief Becky entschlossen.

»Och nö«, versuchte ihr herzallerliebstes Töchterlein ein paar wertvolle Spielminuten herauszuschinden, »nur noch ein bisschen.«

»Okay, ich lasse das Wasser ein, aber wenn ich dann rufe, kommst du sofort«, lenkte sie ein. Ihr war klar, dass sie viel zu schnell nachgab. Man sollte doch meinen, eine Vierunddreißigjährige könne sich gegen ein vierjähriges Kindergartenkind mit Leichtigkeit durchsetzen.

Fünf Minuten später saß ihr Sonnenscheinchen im Badewasser und spielte mit dem Schaum, anstatt sich zu waschen. Das würde Becky gleich übernehmen müssen. Doch fünf Minuten brauchte sie zunächst, um sich selbst ein klein wenig aufzubrezeln. Nicht, dass sie eitel wäre. Nein, sie wollte bloß nicht, dass man ihr den Horrortag ansah, den sie hinter sich hatte.

Schließlich war sie einigermaßen zufrieden mit der Gestalt, die ihr da aus dem Spiegel zuzwinkerte. Becky sah nicht spektakulär aus, aber okay. So bin ich nun mal, dachte sie: mittelgroß, mittelschlank, mittelblond, mittellos.

Na ja, Letzteres stimmte zum Glück nicht ganz. Immerhin gelang es ihr, Nelly und sich über Wasser zu halten.

Apropos Wasser: »Augen zu«, kommandierte sie, »jetzt schäume ich dir die Haare ein.«

Das obligatorische Hilfe-ich-habe-Schaum-im-Auge-Geschrei übertönte beinahe die Türklingel. Ihr brach der Schweiß aus. »Komme!«, schrie sie, während sie mit der Handbrause die Schaumreste aus Nellys Löckchen spülte. Dann hob sie das glitschig nasse Zappelmonster aus dem Wasser, hüllte es in ein extragroßes Handtuch, zog den Badewannenstöpsel und eilte zur Tür.

»Ich bin ein paar Minuten zu früh, aber macht ja nichts, oder? Da kann ich dir noch etwas zur Hand gehen«, strahlte Caro sie an. Der Schneeregen hatte ihr ganz offensichtlich die Laune kein bisschen getrübt. Caro sah großartig aus: Smokey Eyes, weinroter Lippenstift, blauer Wollmantel. Wie aus dem Ei gepellt. Was Becky nicht wunderte, denn so perfekt sah sie immer aus, unglaublich weiblich und einfach nur umwerfend. Sie hätte ein männermordender Vamp sein können, doch dazu fehlte ihr eine kräftige Portion Selbstbewusstsein.

»Hi Caro, komm rein, wie schön, dass du da bist«, begrüßte Becky ihre Freundin ein wenig hastig, »bin gerade noch mit Nelly im Bad und …« In diesem Augenblick begann das Telefon zu klingeln. Na großartig, dachte Becky. Den ganzen Tag über ruft kein Schwein an, aber wenn es ungünstiger nicht sein könnte, ist plötzlich mein Typ gefragt.

»Keine Sorge, ich kümmere mich um Nelly«, bot Caro sofort an, »du weißt doch, wie sehr ich Kinder liebe.«

Bingo.

Ich hätte die Zeit stoppen sollen, dachte Becky. Könnte ein neuer Rekord sein. Weniger als dreißig Sekunden waren vergangen, seit sie die Haustür geöffnet hatte, und schon hatte Caro zum ersten, aber sicher nicht zum letzten Mal an diesem Abend ihre schier unendliche Kinderliebe erwähnt. Manchmal ging sie ihren Freundinnen damit ein klein wenig auf den Wecker, doch in diesem Augenblick war sie Beckys Rettung.

Schon betrat Caro das Badezimmer und übernahm das Projekt Nelly-ins-Bett-Bringen: »Hallo Prinzessin, darf ich dich abtrocknen und dir in den Schlafanzug helfen?«, rief sie fröhlich aus, und Nellys Antwort war ein begeistertes: »Juhuuuu, Tante Caro!«

Unterdessen war Becky losgestürmt, stolperte um ein Haar über Nellys Kindergartentasche, die mitten im Flur lag, unterdrückte einen deftigen Fluch und erreichte schließlich beim zehnten Klingeln das Telefon.

»Ja, hallo, Rebekka Quandt«, meldete sie sich atemlos.

»Na endlich, wo steckst du denn«, brüllte ihr jemand ins Ohr, der es offenbar für überflüssig hielt, seinen Namen zu nennen.

Und damit hatte er völlig recht. Sie erkannte ihn auch so. Niemand außer Paul Segers würde sich schon bei der Begrüßung dermaßen im Ton vergreifen. Alles, was man über Paul Segers wissen musste, ließ sich in einem Wort zusammenfassen: Kotzbrocken. Na ja, fast alles. Denn abgesehen davon war Paul Segers auch Beckys Chef. Inhaber der Agentur WerbePauSe. Mit großem P und großem S in der Mitte. Seinen Initialen. Er war wahnsinnig stolz auf diesen Namen. Wahrscheinlich die kreativste Leistung, die er je vollbracht hat.

Das Positive an ihm war zugleich Beckys Verhängnis: Als einziger Agenturinhaber weit und breit hatte er sich mit einer Homeoffice-Lösung einverstanden erklärt. Alle anderen bestanden auf Anwesenheit in ihren heiligen Hallen – und das meist bis spät abends. Für eine Alleinerziehende ein Ding der Unmöglichkeit. Sie war ihm also auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – jedenfalls kam es ihr manchmal, in ihren trübsten Stunden, so vor.

Das Homeoffice war aber auch in doppelter Hinsicht ein Segen für Becky, denn wer den Choleriker Paul Segers je live erlebt hatte, verstand augenblicklich, warum sie ihn nur in homöopathischen Dosen ertragen konnte. Ihm täglich begegnen zu müssen, hätte ihr den letzten Nerv geraubt. Aber auch am Telefon war er kein erfreulicher Gesprächspartner. Wenn der Apparat am Heiligabend kurz vor der Bescherung läutete oder am Sonntagmorgen um sieben oder irgendwann kurz vor Mitternacht oder an einem Freitagabend, an dem sie Besuch erwartete, dann standen die Chancen neunundneunzig zu eins, dass Paul am anderen Ende der Leitung war. Mit einem supereiligen Auftrag, der am besten schon vorgestern erledigt gewesen sein sollte, oder einer Beschwerde. Einer ungerechtfertigten Beschwerde, so wie an diesem Abend.

»Schrott, was du mir da geliefert hast, Quandt. Hatte ich nicht gesagt, was ich will? Was Neues, was Pfiffiges, was Aggressives! Und du kommst mir mit Schneemännern auf Snowboards. Schrott, einfach nur das Letzte!«

Eine ganz schön gewagte Bemerkung für jemanden, der farbenblind war und den größten Mist verkaufen würde, solange er Kohle einbrachte. Ein waschechter Geschäftsmann, der über Leichen ging. Doch mit dieser Beschreibung wäre Paul Segers, der sich selbst für einen Ästheten hielt, sicher nicht einverstanden gewesen. Objektiv betrachtet konnte er eine kreative Meisterleistung kaum von Murks unterscheiden, im Gegensatz zu Becky, die ein wahrer Augenmensch war und bei der geringsten optischen Disharmonie schon Pickel bekam.

Auch in diesem Fall hatte sie erstklassige Arbeit geliefert. Schade, dass Paul mal wieder den Chef raushängen lassen musste. Wohlgemerkt, es ging um nichts Weltbewegenderes als um ein weihnachtliches Geschenkpapier für Kinder, das Becky am Nachmittag gestaltet hatte. Schneemänner, die auf dem Snowboard Helm und Sonnenbrille tragen, waren im Vergleich zu den Designs vom letzten Jahr (Schneemänner mit Wollmütze und Schal auf traditionellen Skiern) durchaus pfiffig und neu. Fand sie. Und genau das teilte sie ihm auch mit. So sanft sie nur konnte.

Es war nicht erkennbar, dass sich auch Paul Segers um Selbstbeherrschung bemühte. Das lag ihm einfach nicht. Brüllen, toben und vor Wut schnauben dagegen schon eher.

»Am Montag früh brauche ich neue Entwürfe. Ich denke an Roboter, ich denke an futuristische Schlitten, ich denke an Außerirdische mit Engelsflügeln. Kapierst du das, Quandt?«

Tief einatmen – und ausatmen. Einatmen – und ausatmen. Ruhig Blut, Becky, lass dir von ihm nicht den Abend verderben! Schlimm genug, dass er dir gerade eine Wochenendschicht beschert hat.

»Ich verstehe genau, was du meinst, Paul«, zwang sie sich völlig emotionslos zu sagen. Sie würde also den Sonntag am Schreibtisch verbringen und ein Geschenkpapierdesign mit extraterrestrischen, geflügelten Jahresendfiguren entwickeln. Auch wenn sie beim besten Willen nicht verstand, was daran aggressiv sein sollte. E.T. als Engel. Das konnte doch nicht sein Ernst sein?

Es war sein Ernst.

»Das will ich hoffen«, knurrte Beckys Chef und beendete das Gespräch ohne weiteren kommunikativen Firlefanz. Grüße oder gute Wünsche fürs Wochenende waren Pillepalle in seinem Universum. Und Becky konnte darauf auch getrost verzichten. Ein Gruß von Paul Segers macht etwa so glücklich wie eine Steuernachzahlung.

 

Beckys Laune war mittelprächtig, als sie zurück in die Küche ging, um die Cocktails zu mixen. Doch als sich Caro wenig später zu ihr setzte und verkündete, dass Nelly jetzt schliefe und sie sich wahnsinnig auf diesen Abend freue, stieg auch Beckys Stimmungsbarometer sofort wieder an. Sie würde sich von einem Kotzbrocken wie Paul Segers nicht die Petersilie verhageln lassen. Wäre ja noch schöner!

»Was kredenzt du uns heute denn Leckeres?«, wollte Caro wissen. »Sieht ja schon vielversprechend aus!« Becky hatte mal wieder eine Meisterleistung vollbracht, was den Tischschmuck betraf. Diesmal erstrahlte alles in Maigrün, Perlmutt und Zitronengelb. Passend zur Jahreszeit (wenn auch nicht zum Wetter) und zum Drink des Tages.

»Hugo«, verkündete Becky. So hieß ihr aktueller Lieblings-Prosecco-Cocktail mit Holunderblütensirup, Minze und Limetten. Eigentlich ein Sommergetränk, aber sie sah nicht ein, sich vom Kalender diktieren zu lassen, wann sie einen Hugo trinken durfte und wann nicht. Schon gar nicht von einem Kalender, an den sich nicht einmal der gute, alte Petrus hielt. In einem Frühling, der so winterlich war wie dieser, konnte ein Sommer-Cocktail kaum schaden.

Das fand auch Greta, die wenig später eintraf. »Hmmm, sieht lecker aus«, lobte sie Beckys Kreation, die schon rein optisch ein Hochgenuss war. »Besser könnte auch ein waschechter Barkeeper so einen Drink nicht hinbekommen.«

»Becky ist eben eine echte Bree, wenn es um ihre Fähigkeiten als Gastgeberin oder ihren Job geht. Und eine chaotische Susan im Privatleben. Aber mit dem toughen Aussehen einer Lynette«, lachte Caro, die wahrscheinlich der weltgrößte Desperate-Housewives-Fan war.

»Pah – und wo ist dann mein Mike Delfino?«, protestierte Becky in Anspielung auf eine der beliebtesten männlichen Figuren dieser Serie. »Kennt eine von euch einen attraktiven Klempner, der mit einer Bree-Susan-Lynette kompatibel ist?«

»Wer weiß? Vielleicht klopft er eines Tages an, wenn du ihn am wenigsten erwartest. Der Vergleich mit den Hausfrauen ist jedenfalls ziemlich treffend«, lachte Greta und schälte sich aus ihrem dicken graumelierten Strickmantel. Darunter trug sie einen petrolfarbenen Rollkragenpullover, der einen perfekten Kontrast zu ihrer kupferroten Lockenpracht darstellte.

Es gibt drei Dinge, um die man Greta beneiden konnte: ihren unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen, ihre coole Loft-Wohnung und ihre wunderschönen Haare. Worum sie dagegen weder Becky noch Caro beneidete, waren die unerträglichen Dauerbesuche ihrer dominanten Frau Mutter, die schlecht funktionierende Heizung in ihrer zeitweise eiskalten, zugigen Loft-Wohnung und ihr Talent, sich ständig in die falschen Kerle zu verlieben.

»Und an wen denkst du jetzt gerade? Jemanden, den du am liebsten killen würdest?«, fragte Greta und deutete auf die Limetten, die Becky mit gnadenlosen Messerhieben auf dem Schneidbrett zerstückelte.

»An Paul Segers«, gab Becky mit einem beschämten Grinsen zu. Dann erzählte sie den Grund für das Gemetzel, dem zum Glück nur ein paar Zitrusfrüchte zum Opfer gefallen waren.

»Außerirdische mit Engelsflügeln? Der hat wohl einen an der Waffel«, kommentierte Greta kopfschüttelnd. Bei Paul Segers geriet sogar ihr positives Menschenbild ins Wanken.

 

Becky verteilte die Cocktails, und die drei stießen an. »Auf uns!«

Die erste Runde leerten sie innerhalb von zehn Minuten. Becky spürte, wie der Schampus langsam seine tröstliche Wirkung in ihren Blutbahnen entfaltete, und beschloss, das Potenzial dieses Effekts an diesem Abend nicht durch übertriebene Enthaltsamkeit zu bremsen. Deshalb ging sie nach nebenan und holte größere Gläser aus dem Schrank, um nicht so oft neue Hugos mixen zu müssen.

»Die schmecken einfach verdammt lecker«, seufzte Caro, die wahrscheinlich wieder einmal an die versteckten Kalorien dachte, die so ein Drink enthielt. Um sie abzulenken, erzählte Becky von ihrem Horrortag.

Am Morgen hatte sie Nelly zu Fuß zum Kindergarten gebracht, weil Laufen ja so gesund sein soll. Weniger gesund ist es allerdings, auf dem Rückweg in einen Eisregen zu geraten und bis auf die Haut durchnässt zu werden. Trotz einer heißen Dusche und frischen Klamotten fror sie danach noch stundenlang. Den halben Tag verbrachte sie dann damit, das Weihnachtsgeschenkpapier zu designen, das Paul vorhin als »Schrott« bezeichnet hatte. Und kurz vor Feierabend brauchte er dann noch einen Entwurf für eine sommerliche Tischdecke. »Irgendwas mit Erdbeeren«, hatte ihr charmebefreiter Chef ins Telefon gebellt. »Aber zack, zack, Quandt, die brauchen das Layout noch heute!«

Becky schaffte den Abgabetermin. Was sie dagegen nicht schaffte, war, Nelly pünktlich abzuholen. Schon als sie auf den Parkplatz einbog, wusste sie, was ihr gleich blühen würde. Denn dort stand nicht der bunte VW-Bus von Nellys verständnisvoller Lieblingserzieherin, sondern der Sport-Zweisitzer der Einrichtungsleiterin, die ihr gleich einen gepflegten Anschiss verpassen würde. Frau Nette. Becky musste aufpassen, sie nie, wie in Gedanken, mit Frau Unnette anzureden, denn die Einrichtungsleiterin war alles andere als freundlich. Vor allem zu Müttern, die sich verspäteten, und sei es nur, wie diesmal, um lächerliche fünf Minuten.

Frau Nette fand das alles keineswegs lächerlich, sondern vielmehr: »Respektlos! Unerfreulich! Inakzeptabel!«

Einrichtungsleiterin Nette bezauberte nicht gerade durch ihr einnehmendes Wesen. Dafür bot sie aber allerhand Lästerstoff. Becky gab eine schmallippige Frau-Nette-Parodie zum Besten und brachte Caro und Greta damit zum Lachen. Sich selbst schließlich auch.

 

»Genug von Frau Nette«, unterbrach Greta ihre Darbietung, »wer hat Lust auf eine Runde Kniffel?«

Das hatten alle. Wo käme man da auch hin? Kein Weiberabend ohne das Lieblingswürfelspiel!

Wie an einem Tag wie diesem nicht anders zu erwarten, glückte Becky rein gar nichts. Sie verpasste sogar den Bonus um drei läppische Punkte, schaffte weder die große Straße noch Fullhouse und bekam natürlich auch keinen Kniffel – einen jener seltenen Würfe, bei dem am Ende alle fünf Würfel die gleiche Augenzahl zeigen und einem damit fünfzig Punkte auf einmal bescheren.

Caro dagegen kam auf ein ganz ordentliches Ergebnis. Aber Greta hatte in dieser Runde das Würfelglück für sich gepachtet: Ihr gelangen gleich drei Kniffel, wodurch sie uneinholbar gewann.

»Glück im Spiel, Pech in der Liebe«, kommentierte sie trocken und ergänzte dann rasch: »Ich will NICHT darüber reden.«

Das sagte sie immer. Aber damit gaben sich ihre beiden Freundinnen natürlich nicht zufrieden.

»Einspruch, Euer Ehren«, rief Becky.

»Los, raus mit der Sprache«, bohrte auch Caro sofort nach, »wie sollen wir dich trösten, wenn wir nicht wissen, was los ist?«

Schließlich gab Greta nach. Während Becky eine weitere Hugo-Runde zubereitete, berichtete sie von Roy, dem Herzensbrecher. Der bis dato übrigens noch Roy, der Traummann, gewesen war. Roy Sullivan war Kanadier, durchtrainiert, gutaussehend und als Musicaldarsteller am Stadttheater beschäftigt. Greta war auf den ersten Blick in ihn verschossen gewesen. Wohl eher in seinen Luxuskörper, hatten Becky und Caro sie immer geneckt. Aber Greta hatte stets behauptet, vor allem seine sensible Künstlerseele zu lieben, die der ihren so ähnlich sei. Eben diese Künstlerseele jedoch war, wie er ihr am Mittag bei einem Latte macchiato ganz nebenbei mitgeteilt hatte, in einer neuen Phase. Roy Sullivan brauchte mehr Freiheit, mehr Inspiration, mehr Entwicklungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: weniger Greta.

»So ein Depp«, diagnostizierte Caro.

»Volltrottel!«, bestätigte Becky und ergänzte: »Wenn ich Roy Sullivan wäre, würde ich dich sofort heiraten.«

Das rührte Greta zu Tränen und Becky reichte ihr rasch ihr Glas, um sie aufzuheitern. Beziehungsweise anzuheitern. Was eigentlich kontraproduktiv war, denn wenn sie beschwipst war, hatte sie noch näher am Wasser gebaut als ohnehin schon. Aber Becky fiel sonst keine Erste-Hilfe-Maßnahme ein.

»Immerhin laufen deine Jobs ganz prima«, versuchte Caro sie zu trösten und eröffnete die nächste Kniffelrunde mit einem famosen Viererpasch: vier Sechsen und eine Fünf. Besser ging’s nicht. Schniefend sammelte Greta die Würfel ein, ließ sie in den Becher fallen, deckte ihn mit der flachen Hand ab, schüttelte ihn ein paar Mal kräftig und stülpte ihn schließlich auf den Tisch. Eine Zwei, zwei Dreier, eine Vier, eine Sechs kamen darunter zum Vorschein. Damit konnte sie weder auf eine Straße spekulieren noch auf eine andere Wurffigur, die eine hohe Augenzahl versprach.

»Das passt ja perfekt. Denn ungefähr genauso bescheiden sieht meine berufliche Situation momentan aus«, seufzte Greta. »Und damit meine ich natürlich nicht den Job bei dir im Laden, der macht Spaß«, ergänzte sie rasch mit einem Blick auf Caro. In deren Öko-Kindermodenboutique Piccolobello half Greta ab und zu aus. Meist an den Tagen, an denen Frank, Caros Mann, frei hatte. Denn dann wollte Caro mit ihm »etwas unternehmen«. Genauer ließ sie sich über das Arnold-Braunsche Freizeitprogramm nicht aus, aber ihre Freundinnen ahnten, dass diese Unternehmungen wohl mit Caros Lieblingsprojekt zu tun hatten: der Familienplanung.

Greta ließ die zwei Dreien liegen und spielte die drei übrigen Würfel neu aus. Zwei Sechsen, eine Fünf. Das roch nach Fullhouse. Oder nach gar nichts.

»Ich geh auf Risiko«, entschied Greta und nahm nur die Fünf auf. Der Hugo tat seine Wirkung, denn in nüchternem Zustand bevorzugte Greta die Null-Risiko-Strategie.

»Sechs oder drei, sechs oder drei, sechs oder drei«, murmelte sie beschwörend, während sie zum letzten Mal würfelte.

Es kam eine Eins.

»Mistkacke«, stieß Greta hervor. Es war der wüsteste ihrer Flüche. Der kam ihr nur alle Schaltjahre einmal über die Lippen. »Was mach ich jetzt? Notiere ich einen Punkt bei den Einsern?«

»Ich würde 19 Punkte zu Chance schreiben, besser als gar nichts«, schlug Becky vor.

»Chance. Chance! Chance! Wenn ich das schon höre«, stieß sie mit erstickter Stimme heftig hervor, und erneut konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Diesmal flossen ganze Sturzbäche. Mit offenen Mündern starrten Becky und Caro sie an. Derartige Ausbrüche waren sie von ihrer sanftmütigen Freundin nicht gewohnt. Ging es hier überhaupt noch ums Würfeln? Offenbar nicht.

»Diese bescheuerten Tierporträts sollten eine Chance für mich sein, mir als ernsthafte Künstlerin einen Namen zu machen«, klagte Greta trotzig. »Und? Wo ist der Durchbruch? Wo ist der Galerist, der meine Werke ausstellen will? Wie alt darf man sein, um noch als Nachwuchsentdeckung gefeiert zu werden? Leute, ich bin Anfang dreißig. Höchste Zeit für meinen Durchbruch. Oder ich schule gleich ganz um und werde Straßenkehrerin. Denn wenn ich noch einen verdammten Königspudel in Öl malen muss, dreh ich durch!« Woraufhin sie ihr Hugo-Glas in einem Zug leerte.

Gretas Haupteinnahmequelle bestand darin, Porträts von Haustieren zu malen. Meist für ältere, wohlhabende Damen, die ihrem verstorbenen Fifi oder der verschiedenen Minka hinterherweinten und denen es ein paar Hunderter wert war, wenn Greta eine Fotografie der betrauerten Kreatur abmalte. Greta war ausgesprochen gut darin. Aber sie hasste diese Aufträge. Das war keine Kunst. Jedenfalls nicht in ihren Augen.

In Beckys Augen war es das durchaus. Sie bewunderte Greta für ihr Können. Zwar war Becky eine super Designerin, aber ihre Werkzeuge waren PC und Grafikprogramm, nicht Pinsel und Staffelei. Niemand würde ihr je einen Königspudel in Öl abkaufen, so viel stand fest!

»Okay, Süße«, fasste Becky zusammen, »Roy ist also ein Vollidiot, diese Würfelrunde gelingt dir nicht ganz so gut wie die letzte, und du hast keinen Bock mehr darauf, Haustierporträts zu pinseln. Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen sollten?«

»Na ja. Mamilein hat sich noch immer nicht mit Kurt versöhnt und beehrt mich weiterhin mit ihrer Gesellschaft. Und der Knastdirektor hat mich heute früh gefeuert.«

»Er hat was?« Caro konnte es kaum fassen. Und auch Becky riss überrascht die Augen auf. Verdutzt aufschreien konnte sie leider nicht, ihr Mund war voller Kräckerkrümel.

Und dann schilderte Greta eingehend, wie sie es geschafft hatte, ihren einigermaßen lukrativen Nebenjob als Kunsterzieherin in der Justizvollzugsanstalt zu verlieren.

»Eigentlich wollte ich meine Schüler nur ein bisschen motivieren. Mit ein paar Süßigkeiten. Dieses perspektivische Zeichnen ist wirklich ziemlich verzwickt.«

Dummerweise hatte sie sich für Weinbrandbohnen entschieden. Schnapspralinen! Ausgerechnet an diesem Tag wurden ihre Taschen besonders gründlich gefilzt …

»Die taten so, als hätte ich höchstpersönlich Sägen und Sprengstoff in den Knast geschmuggelt, um einen Ausbruchsversuch zu unterstützen«, nuschelte Greta in ein Papiertaschentuch, bevor sie sich dann geräuschvoll schneuzte.

Becky musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. Das war so was von typisch für Greta! Sie war wahnsinnig liebenswert, unglaublich begabt, herrlich spontan und wunderbar optimistisch. Aber diese Kombination kam eben nicht überall an. Bei Justizvollzugsbeamten offenbar weniger gut.

»Ich solle mir vorstellen, was passiert, wenn ein Haufen Bankräuber, Autoknacker und Meuchelmörder durch meine Weinbrandbohnen außer Rand und Band gerieten«, gab sie empört die Strafpredigt des Gefängnisdirektors wieder und zog eine Grimasse. »Pah, als ob ein paar Pralinen solche Kerle ausknocken könnten!«

»Nein, dazu wären schon ein paar Runden Hugo nötig gewesen«, sagte Becky trocken und stand auf, um die Gläser neu zu füllen. Caro half ihr dabei. Aus den Augenwinkeln sah Becky, dass auch sie ein verräterisches Glucksen unterdrückte. So etwas konnte wirklich nur Greta passieren! Sie hatte ein Talent, sich in die unmöglichsten Situationen zu bringen.

»Egal«, verkündete Greta schließlich entschlossen und warf ihre rote Lockenmähne über die Schultern, »ich bin schließlich Künstlerin, keine Gangsterpädagogin. Spielen wir weiter?«

Wortlos nahm Becky den Würfelbecher und schaffte auf Anhieb eine große Straße. Das war aber auch der letzte gute Wurf, der ihr in dieser Spielrunde gelang. Diesmal war Caro mit einigem Abstand die große Gewinnerin.

»Bei dir flutscht’s richtig gut«, sagte Becky anerkennend, nachdem sie die Punkte addiert hatte.

Woraufhin Caro in Tränen ausbrach.

Na klasse!

Was war nun schon wieder los? Hatte sie etwa was Falsches gesagt? Oder waren doch die Cocktails schuld?

Hugo – der Drink, der jede Frau zum Heulen bringt.

»Es will … huhu … einfach … huhu … nicht klappen mit dem Ba-ba-ba-baby«, schluchzte Caro.

Herzlichen Glückwunsch. Damit hatten sie Thema Nummer eins erreicht. Der unerfüllte Kinderwunsch.

»Langsam habe ich das Gefühl, Frank findet mich nicht mehr attraktiv. Bestimmt bin ich ihm zu fett«, klagte Caro. Wobei sie leicht lispelte. An sich ein Zeichen, dass sie ihr No-more-Drinks-Level erreicht hatte, aber an Tagen wie diesem galten Ausnahmeregeln.

»Unsinn«, widersprach Becky, »als ihr euch kennenlerntet, warst du locker zehn Kilo schwerer. Das kann es nicht sein.«

»Meinst du, er hat eine andere? Er behauptet immer, müde zu sein, wenn ich ihn ins Bett locken will.«

»Du meinst, er widersteht deinen Verführungskünsten und schläft lieber ein? Ist er denn blind?«, entfuhr es Becky. Denn Caro war trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer Wonneröllchen eine unheimlich attraktive Frau. Ein echtes Prachtweib. Aber das war natürlich das Letzte, was sie je glauben würde. Ebenso wenig, dass sie diejenige war, die bewundernde Blicke auf sich zog, wenn die drei Freundinnen zusammen unterwegs waren. Dank ihrer Komplexe hielt sie so etwas schlicht für unmöglich – und daher prallten diese Blicke an ihr ab, ohne dass Caro sie auch nur registrierte.

Greta hatte eine andere Theorie: »Ich denke, er hat einfach Schiss vor der Vaterschaft. Schließlich ist er ein Kerl, und Kerle scheuen die Verantwortung.«

»Na hör mal, immerhin hat er als Oberarzt einen total verantwortungsvollen Job!«

»Im Job ist das was anderes. Aber sobald es um Gefühle und Beziehungen geht, sehen Männer rot. Die Hälfte von ihnen macht schon die Flatter, wenn aus einer lockeren Liebelei eine feste Partnerschaft zu werden droht oder plötzlich das böse H-Wort im Raum steht: Hochzeit. Die andere Hälfte bekommt Muffensausen, wenn es um den lieben Nachwuchs geht. Die merken dann auf einmal, dass die schöne Zeit der Jugend vorbei ist. Bye-bye Sturm und Drang, hallo Windeln und Elternabende!«

»Aber er wünscht sich das doch auch«, murmelte Caro verunsichert.

»Sicher?«, fragte Greta gedehnt.

»Noch jemand Prosecco?«, unterbrach Becky die daraufhin entstandene Stille.

»Aber immer her damit«, lautete die einstimmige Antwort.

Eine Runde Kniffel und eine Backofenpizza später hatten die drei mehr als nur einen ordentlichen Schwips. Becky warf die Kaffeemaschine an und machte für jede einen doppelten Espresso. Beim dritten begann die Maschine zu fauchen und zu spucken, schließlich gab sie den Geist völlig auf.

»Schöne Bescherung«, rief sie ärgerlich aus. »Wie soll ich den Tag morgen ohne Kaffee überstehen? Ich muss mir wohl oder übel eine neue Maschine kaufen. Verdammt! Einen Geldschisser müsste man haben!«

Greta prustete laut los: »Einen Geldschisser! Genial. Wenn du den gefunden hast, dann schick ihn vorbei, ich könnte auch einen gebrauchen.«

Als Caro mit ihrer klangvollen Altstimme auf die bekannte Beatles-Melodie »All you need is a Geldschisser« schmetterte, liefen ihr die Lachtränen über die Wangen.

Doch Becky fand das Ganze nicht so lustig wie die anderen. »Das ist mein voller Ernst, hört ihr? Ich meine, jede von uns hat doch einen großen Traum. Einen Wunsch, den man sich nur erfüllen könnte, wenn man das nötige Kleingeld hätte.«

Nun bekam sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Freundinnen.

»Zum Beispiel?«, fragte Greta. »Was ist zum Beispiel dein großer geheimer Traum, von dem wir nichts wissen?«

Volltreffer.

Becky schluckte. Es gab zwar wenig, was die beiden nicht über sie wussten, aber von ihrem Herzenswunsch hatte sie ihnen bisher noch nichts erzählt.

»Nicht lachen«, bat sie. »Ein eigenes Café. In diesem Haus. Ich würde es am liebsten kaufen, renovieren, dann dem Wirt unter mir kündigen und die olle Spelunke in ein wunderschönes Café verwandeln. So eins wie damals in Österreich, als ich mit meinen Eltern im Urlaub war. Ich muss so ungefähr fünf gewesen sein oder sechs. Etwas älter als Nelly jetzt. Das Café Bergglück bot eine atemberaubende Aussicht auf das Tal, die Alpen, die schneebedeckten Gipfel. Aber das Beeindruckendste war die Wirtin Teresa selbst in ihrem adretten Dirndl. Sie hatte das Café mit den karierten Vorhängen, den gestärkten Tischdecken, den handbemalten Bauernschränken, den köstlichen Kuchen und ihrem strahlenden Lächeln in ein echtes Schmuckkästchen verwandelt. Damals als Kind dachte ich sofort: So will ich auch mal werden. Tja, und daran hat sich bis heute nichts geändert. So viel Zufriedenheit auszustrahlen und ein eigenes Café zu führen, genau wie damals Teresa, das ist mein großer Traum. Nur ohne Bauernschränke und Dirndl natürlich, sondern in meinem eigenen Stil. Verrückt, oder?«

»Hast du ’ne Meise?«, fragte Caro euphorisch. »Hast du wirklich gedacht, wir würden dich auslachen? Also wirklich … Schau doch nur, wie du es mal wieder geschafft hast, deine Küche nur mit ein paar hübschen Servietten, Tischläufern und Blumen in eine Frühlingsoase zu verwandeln! Du wirst garantiert besser als diese Teresa. Und deine Liebenswürdigkeit ist an einen Kotzbrocken-Chef wie Paul Segers sowieso verschwendet. Ich sage dir: Diese Idee ist genial!«

»Und sie passt genau zu dir«, fiel ihr Greta ins Wort. »Du vergeudest dein Talent damit, Muster für Tapeten, Servietten, Regenschirme und Geschenkpapier zu designen. Das ist nicht deine Bestimmung!«

Becky lachte. Nicht nur, weil Greta das Wort »Bestimmung« nur mit einiger Mühe über die Lippen brachte. Sondern über die Begeisterung, mit der ihre Freundin sie zu ihrem Lebensglück überreden wollte.

»Und was ist deiner Ansicht nach meine Bestimmung?«

»Du musst raus aus deinem Homeoffice, bevor du darin versauerst. Und unter Menschen! Du bist so lebendig und kommunikativ« – sie sprach es aus wie »lebännnig und kommnkadiv« – »und so warmherzig. Ach, ich würde dich so gerne mal porträtieren!«

»Schade um die Leinwand«, wehrte Becky lachend ab, fühlte sich aber durchaus geschmeichelt. Sehr sogar. Als auch noch Caro in die Lobeshymne über ihren Charakter einstimmte und lispelte, mit Becky könne man echt Pferde stehlen, wurde ihr die Sache peinlich und sie wechselte rasch das Thema: »Apropos Leinwand, was ist denn mit deinem Traum, als Künstlerin groß rauszukommen, Greta? Inwiefern würde dir denn dabei ein plötzlicher Geldsegen helfen?«

»Eine Ausstellung«, antwortete Greta spontan und wirkte auf einmal wieder ziemlich nüchtern. »Ich würde eine Ausstellung organisieren, auf eigene Kosten. In einer spektakulären Location. Eine Ausstellung, die in der Szene niemand ignorieren könnte. Ich käme ins Gespräch und würde beachtet werden. Und die Galeristen würden sich um mich und meine Bilder reißen! Und ich könnte endlich das laute Ticken meiner inneren Uhr ignorieren. Einmal anerkannt, spielt es keine Rolle mehr, wie jung oder alt eine Künstlerin ist. Jahrelang habe ich auf meine große Chance gehofft. Aber was, wenn die niemals kommt? Wenn alles nur ein Wunschtraum bleibt und ich auf ewig Tierporträts male, Aquarellkurse gebe und mich mit Aushilfsjobs über Wasser halte? Sollte ich jemals zu Geld kommen, würde ich es sofort investieren, um dem Schicksal ein bisschen auf die Sprünge zu helfen.«

Caro und Becky nickten. Klang großartig.

Dann rückte auch Caro mit ihrem kostspieligen Traum heraus: »Ich würde Frank zu einem Romantikurlaub in die Karibik einladen. An einen Ort, wo Erotik rund um die Uhr in der Luft liegt. Wo es so heiß ist, dass man sich sowieso am liebsten die Kleider vom Leib reißen würde. Wo er sich weder hinter seiner Zeitung verstecken noch an seinen Schreibtisch verkriechen oder in die Klinik flüchten könnte – und schon gar nicht müde wäre. Jedenfalls nicht vorher.«

Auch wenn ihre Freundinnen ihren Frank nicht besonders gut leiden konnten, was sie ihr so natürlich nie sagen würden: Für eine Frau, die dringend schwanger werden wollte, hörte sich das nach einem perfekten Plan an. Ihr inzwischen nicht mehr zu überhörendes Lispeln verlieh dem Ganzen dabei noch eine gewisse Verruchtheit.

»Aber noch wirft Piccolobello nicht genug Gewinn ab, um so eine Reise wirklich ins Kalkül ziehen zu können.«

Na ja, das klang nicht mehr ganz so verrucht.

Die drei seufzten, schwiegen und nippten an ihren Espressotassen. Becky behielt den Gedanken, ob es vielleicht besser wäre, wenn Caro kein Baby bekäme von einem Kerl, dem sie mit ihrem Gehalt erst das Medizinstudium finanziert hatte und der jetzt jeden Cent für eine eigene Praxis sparte und bis dahin in der Klinik womöglich eine Lernschwester nach der anderen vernaschte, wohlweislich für sich. Ebenso ihre leisen Zweifel an Gretas Plan mit der Ausstellung. Was, wenn er schiefginge? Wenn trotz all des Aufwandes kein Galerist der Welt ihre Bilder mochte? Doch sie sagte nichts. Schließlich hatten die beiden anderen auch nicht an ihrem Traum herumgemäkelt.

Sei’s drum. Es würde sowieso alles reine Fantasie bleiben. Wie sollten sie an all die Kohle kommen? Mit ehrlicher Arbeit jedenfalls nicht, so viel stand fest. Und für Geldfälscherei oder einen Banküberfall reichte ihre kriminelle Energie nicht aus.

Lotto? Darauf hofften Milliarden von Menschen. Vergeblich. Und darauf, dass ausgerechnet sie das Spielglück treffen sollte, wollte Becky lieber nicht setzen.

»Woher nehmen, wenn nicht stehlen?«, lispelte Caro.

»Am besten von denen, die es haben und freiwillig mit vollen Händen ausgeben«, antwortete Greta und schaute triumphierend in die Runde. »Na, wofür berappen die Reichen dieser Welt freiwillig Unsummen?«

»Für Fitness, Gesundheit, Schönheit«, riet Becky drauflos.

»Ja, ja, aber das meine ich nicht«, unterbrach sie Greta ungeduldig, »sondern …«

»Reisen? Autos? Häuser?« Becky stand noch immer auf dem Schlauch.

»Nein, für Persönlichkeitsentwicklung. Coaching. Esoterik«, rief Caro aus und sprang auf. Greta nickte zufrieden.

Becky starrte die beiden verständnislos an. »Ihr glaubt, wir könnten andere Leute darin beraten, wie sie erfolgreicher, zufriedener und glücklicher werden? Wir bekommen ja nicht mal unser eigenes Leben auf die Reihe. Und überhaupt, wir haben keine Diplome, keine Qualifikation, keine Ahnung von alldem!«

Greta stellte die leere Tasse ab, stand auf und lief in der Küche auf und ab, während sie dozierte: »Die Sache ist so: Menschen, die – wie meine Mutter – ihre Wünsche ans Universum schicken, sich teure Horoskope erstellen lassen und bei Vollmond an einsamen Seeufern ihren Engel zu treffen versuchen, interessieren sich nicht für Diplome. Die glauben an diesen Hokuspokus, und das genügt ihnen.«

»Stimmt genau«, nickte Caro heftig. »Je absurder das Angebot, desto größer die Bereitschaft gewisser gut betuchter Kundenkreise, sich so richtig über den Tisch ziehen zu lassen.«

Becky konnte das alles gar nicht fassen. »Und ihr glaubt im Ernst, diese gut betuchten Kundenkreise geben uns freiwillig ihre sauer verdienten Euros, nur weil wir sie lieb darum bitten? Oder weil wir ihnen erzählen, sie sollen über Scherben laufen oder indianische Schwitzbäder machen oder tibetanische Tempeltänze aufführen?«

»Ach, Becky«, lächelte Greta, »dir würde man doch alles abkaufen. Dir und deinen Rehaugen.«

Rehaugen. Lächerlich. Hat man schon mal blaue Rehaugen gesehen?

»Auch Rehe haben scharfe Zähne«, widersprach Becky einfach nur aus Lust am Widersprechen. In Wahrheit hatte sie nicht die geringste Ahnung von Niederwildgebissen. Aber sie fand sich selbst definitiv gefährlicher als ein harmloses Reh!

»Nicht sauer sein, liebe Becky«, beschwichtigte Caro sie. »Steckt nicht in jeder von uns ein bisschen Reh und ein bisschen schwarzes Schaf? Auch Bambi muss mal die Sau rauslassen«, kicherte sie dann urplötzlich.

»In mir stecken vielleicht Reh und schwarzes Schaf, liebe Caro, aber bei dir sind es die fleißige Biene und der Storch, der auf sich warten lässt«, konterte Becky.

»Genau«, japste Caro und deutete auf Greta: »Und du bist eine Löwin in Gestalt eines Paradiesvogels.«

Und auf einmal wusste Becky: »Heureka! Das ist es!«

In diesem Moment war er geboren, der vielleicht verrückteste Trend auf dem Markt des spirituellen Lifestyle-Zinnobers: die animalistische Balance.

Doch so kurz nach der Geburt hatte das Kind natürlich noch keinen Namen. Das Ganze war zunächst einmal nichts weiter als eine vage Idee, ersponnen in einem von Prosecco aufgeweichten Kreativhirn und dann von drei gackernden Mittdreißigerinnen unter Lachtränen ausgefeilt.

 

Eine halbe Stunde später saßen sie an Beckys PC und starteten ihr Layoutprogramm, um ein Inserat zu entwerfen. Ein ganz und gar haarsträubendes Inserat, rückblickend betrachtet. Aber die vielen Hugos hatten die drei übermütig gemacht und ihr Urteilsvermögen getrübt.

Und so tippte Becky mit fetten, großen Lettern die Headline:

Dein innerer Schweinehund ist einsam?

Und als Subhead, etwas kleiner:

Persönlichkeitsentwicklung durch animalistische Balance

Aus ihrem Fundus an lizenzfreien Fotos fügte sie eine Waage ein. Auf die eine Waagschale setzte sie einen Tiger, auf die andere einen Schmetterling. Darunter tippte sie, nach Diktat von Greta und Caro, den wohl albernsten Werbetext, der ihr je untergekommen ist:

Welche beiden Seelentiere prägen Ihre Persönlichkeit? Finden Sie es heraus – mit dem Animalistische-Balance-Charaktertest. Und sorgen Sie dafür, dass Ihr Löwe und Ihre Antilope, Ihre Schlange und Ihr Adler, Ihr Hase und Ihr Igel, Ihre Ziege und Ihr Wolf in Balance sind. Nur wenn keines Ihrer Seelentiere dominiert, können Sie glücklich, zufrieden und erfolgreich leben. Stärken Sie Ihr unterlegenes Seelentier mit Spezialkräutermischungen und in Animalistische-Balance-Seelenseminaren von Sphinx.

Ganz unten fügte Becky zu guter Letzt noch Gretas Telefonnummer ein, das hatten sie so ausgelost, und beendete die Anzeige mit dem Claim:

Sphinx – entdecke dich selbst durch animalistische Balance

Wie schon gesagt: haarsträubend. Schlimmer noch als die hanebüchenen Texte aus Paul Segers’ Feder! Und der Wechsel vom Duzen zum Siezen und zurück war dabei noch der harmloseste Aspekt … Doch die drei waren nun nicht mehr zu stoppen. Becky loggte sich bei der regionalen Tageszeitung ein, um die Annonce hochzuladen. Sie hatten Glück, es war zehn Minuten vor Anzeigenschluss für die morgige Ausgabe.

»Welche Größe sollen wir nehmen?«

»Nicht zu klein«, fand Caro. »Hier, dieses Format sieht doch ganz okay aus.«

»Dann kostet uns der Spaß vierhundertzwanzig Euro plus Mehrwertsteuer«, las Greta einigermaßen entsetzt vor. »Ist das nicht ein bisschen zu viel für einen Jux?«

»Dann eben etwas kleiner«, entschied Becky und wählte ein Format aus, das nur zweihundertsiebzig Euro kostete.

Wäre sie halbwegs nüchtern gewesen, hätte sie spätestens in diesem Moment wieder Vernunft angenommen. Zweihundertsiebzig Euro? Viel zu teuer! Aber in dem Zustand, in dem sie sich befand, hielt sie diese Summe für durchaus fair. Ein Schnäppchen geradezu! Munter gab Becky ihre Bankverbindung an und klickte, eine Minute vor Anzeigenschluss, auf »Bestätigen«.

Wenig später kam die automatisch generierte Antwortmail:

»Lieber Inserent, vielen Dank für Ihren Anzeigenauftrag. Ihre Annonce erscheint in der Ausgabe des 1. April. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Anzeigenredaktion.«

»Stimmt – morgen ist der 1. April«, sagte Caro, »na, das passt ja.«

»Umso besser«, kicherte Greta, »dann wird man die Anzeige für einen Aprilscherz halten.«

Einen teuren Aprilscherz! Inzwischen begann Becky, ihre Spontaneität zu bedauern. War sie noch ganz dicht? So viel Geld für eine alberne Sektlaune aus dem Fenster zu werfen! Man sollte doch meinen, mit Mitte dreißig wäre man zu alt für solche Faxen.

Um die trüben Gedanken zu verjagen, holte sie noch eine letzte Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank und füllte drei Sektflöten.

»Lasst uns anstoßen! Auf die verrückteste aller nur denkbaren Schnapsideen …«

»Wenn wir schon keine geniale Idee haben, um schnell viel Geld zu verdienen, hatten wir doch einen Riesenspaß heute Abend«, lispelte Caro. Vor allem mit dem Wort Riesenspaß hatte sie eine Riesenmühe.

»Keine geniale Idee, um Geld zu verdienen?«, protestierte Greta und stieß beinahe ihr Glas um, »Das muss sich ja erst noch erweisen.« Und mit affektiert verstellter Stimme fuhr sie fort: »Hallihallo, mein Name ist Oberstudienrätin Gloria Fürchtegott-Hassdenteufel, und ich fürchte, meine Seelentiere sind aus der Balance geraten.«

Becky bekam fast einen Schluckauf vor Lachen.

Caro stieg sofort darauf ein und mimte die spirituelle, vom Kosmos beseelte Lebensberaterin: »Ich spüre da etwas«, näselte sie, »deine Antilope ist überdimensional stark, wahrscheinlich ist sie im Magnetfeld verrutscht und hat nun einen falschen Aszendenten. Ich könnte das auspendeln, aber nein, ich empfange Schwingungen, Vibrations von deinem zweiten Seelentier, dem Hund. Er ist schwach.«

»Ja, Meisterin«, wiederholte Greta – beziehungsweise Oberstudienrätin Gloria Fürchtegott-Hassdenteufel – wie in Trance, »mein Hund ist schwach. So schwach. Sooo schwach.«

»Du musst ihn stärken. Ich empfehle, täglich sieben Liter Abführtee zu trinken und sieben mal sieben Stunden lang nicht zu sprechen, nur zu bellen.«

»Wuff!«, machte die Oberstudienrätin und ließ sich dann, schreiend vor Lachen, rückwärts aufs Sofa fallen.

Es herrschte eine Bombenstimmung, als die Freundinnen sich zu sehr später Stunde verabschiedeten. Becky schaute Caro und Greta noch durchs Fenster hinterher, wie sie ins Taxi stiegen und schließlich im nächtlichen Nieselregen davonfuhren. Dann sank sie auf ihr Bett. Die Deckenlampe drehte sich. Sie schaltete das Licht aus, was zur Folge hatte, dass nun das Bett zu kreisen begann. Es wurde immer schneller. Sie schaltete das Licht wieder an und stand auf, um ein Glas eiskaltes Leitungswasser zu trinken. Als sie sich wieder hinlegte und der Drehschwindel wieder einsetzte, hörte sie auf, dagegen anzukämpfen.

Sie erinnerte sich an Gretas Verkörperung der esoterisch angehauchten Oberstudienrätin und Caros improvisierte Rolle der weisen Meisterin. Ob es wohl wirklich Leute gab, die dazu bereit waren, sieben Liter Abführtee zu trinken, sieben mal sieben Stunden lang ausschließlich zu bellen und für diese Demütigung auch noch einen astronomischen Preis zu bezahlen?

Beckys Bett nahm nun richtig Fahrt auf. Eine Runde im Break Dance auf dem Jahrmarkt war nichts im Vergleich!