Nationalliteratur und Weltliteratur – von Goethe aus gesehen - Walter Jens - E-Book

Nationalliteratur und Weltliteratur – von Goethe aus gesehen E-Book

Walter Jens

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Beschreibung

Der Essay «Nationalliteratur und Weltliteratur – von Goethe aus gesehen» von Walter Jens erschien erstmals 1988 in «Kindlers Neues Literatur Lexikon».

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Seitenzahl: 53

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Walter Jens

Über Walter Jens

Walter Jens, geboren 1923 in Hamburg, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Hamburg und Freiburg/Br. Promotion 1944 mit einer Arbeit zur Sophokleischen Tragödie; 1949 Habilitation, von 1962 bis 1989 Inhaber eines Lehrstuhls für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie der Künste zu Berlin.

Verfasser von zahlreichen belletristischen, wissenschaftlichen und essayistischen Büchern (darunter zuerst «Nein. Die Welt der Angeklagten» 1950, «Der Mann, der nicht alt werden wollte», 1955), Hör- und Fernsehspielen sowie Essays und Fernsehkritiken unter dem Pseudonym Momos; außerdem Übersetzer der Evangelien und des Römerbriefes. Walter Jens war seit 1951 verheiratet mit Inge Jens, geb. Puttfarcken. Als «Grenzgängern zwischen Macht und Geist» wurde beiden 1988 der Theodor-Heuss-Preis mit der Begründung verliehen: «Gemeinsam geben Inge und Walter Jens sowohl durch ihr schriftstellerisches Werk wie durch ihr persönliches Engagement immer wieder ermutigende Beispiele für Zivilcourage und persönliche Verantwortungsbereitschaft.»

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

»Es giebt 3 Hauptmenschenmassen ...

»Es giebt 3 Hauptmenschenmassen – Wilde – zivilisirte Barbaren – Europaeer. Der Europaeer ist so hoch über den Deutschen, wie dieser über den Sachsen – der Sachse über den Leipziger. Über ihn ist der Weltbürger. Alles Nationale, Temporelle, Locale, Individuelle läßt sich universalisiren, und (derart) … canonisiren und allgemein machen«[1]: So lautet, formuliert am Ende des 18. Jahrhunderts, die Notiz eines sächsischen Salineninspektors, die ebenso rasch wie griffig niedergeschriebene Maxime Friedrich von Hardenbergs, alias Novalis, in der jene Dialektik von Nationellem und Weltbürgerlichem, Provinziellem und Universalem definiert wird, die sich in Deutschland, zwischen Aufklärung und Romantik, thematisiert sieht und heute, im Zeichen der one world, entschiedener als je zuvor debattiert werden will.

Wie, lautet die Frage, ist das Spannungsverhältnis zwischen Partikulärem, dem Selbstbehauptungswillen junger Völker, und dem Allgemeinen, der transnationalen Weltkultur, fruchtbar zu realisieren? Wie muß eine Zivilisation beschaffen sein, die das Eigenständige und Unverwechselbare nicht unterdrückt, ohne dadurch die Kommunikation innerhalb der Völkerfamilie zu gefährden? Wie kann einer zugleich Leipziger (oder, in unseren Tagen, Kolumbianer, Nigerianer, Indio) und, als Partizipant der modernen, das abgelegenste Dorf erreichenden Massenmedien, Weltbürger sein?

Der Prozeß zunehmender Universalisierung der Literatur, soviel scheint sicher, ist irreversibel – ein Prozeß, der am Ausgang des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im deutschen Sprachraum inauguriert wurde, als, mit dem Blick auf die geeinten, kulturell selbstbewußten Nationen des Westens, Engländer und Franzosen, die Vorredner des zersplitterten, hauptstadtlosen und gesellschaftlich unorganisierten Landes die Frage stellten, mit welchen Mitteln eine Nicht-Nation, wie die deutsche, die sich abzeichnende europäische Kultur mitbestimmen, ja, vielleicht sogar anführen könnte.

Ließe sich’s denken, lautete die Frage, von Hardenberg oder von Schiller artikuliert, daß die zu spät Gekommenen die Ersten sein würden: Deutschland, die letzte Nation, Europas Herz – Deutschland, vom Schicksal bestimmt, wie Schiller 1797 im Fragment Deutsche Größe formulierte, »die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranz zu vereinen«? Die Deutschen – Habenichtse, deren Armut plötzlich, im Rahmen europäischer Gesittung, ins Königtum umschlüge?

»Jedem Volk der Erde« – noch einmal Schillers Vision – »glänzt … sein Tag in der Geschichte, wo es strahlt im höchsten Lichte und mit hohem Ruhm sich kränzt. Doch des Deutschen Tag wird kommen, wenn der Zeiten Kreis sich füllt.«[2]

Wieder und wieder wird am Ende des 18. Jahrhunderts die Aufhebung jener deutschen Misere, wie sie Goethe, politische Zerstückelung benennend, im Literarischen Sansculottismus, oder Wieland im Traktat Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National-Charakter zu geben etc. beschrieb … wieder und wieder wird die Verwandlung der deutschen Bettler in die deutschen Könige, die große Metamorphose der verhinderten Nationalschriftsteller in Protagonisten einer europäisch, ja, weltbürgerlich bestimmten Allgemein-Literatur vorgetragen: »Der Deutsche«, so Friedrich von Hardenberg, »ist lange das Hänschen gewesen. Er dürfte aber wohl bald der Hans aller Hänse werden.«[3]

Werden? Erst werden? Oder stand, aller Welt sichtbar, das kleine Hänschen nicht schon hier und jetzt als ein mächtiger Hans da, an dessen Hof sich die Völker, vertreten durch illustre Geister aus aller Welt, ein Stelldichein gaben? Der König, der da kommen sollte, Hans I., präfiguriert in einem Schriftsteller, der, in Theorie und Praxis, die Dialektik von Aktualität und Potentialität, will heißen: von National- und Weltliteratur, exemplarisch dargestellt hatte?

In der Tat, wenn einer den um 1800, im Kreis der Romantiker, beschriebenen Umschlag von nationaler Poesie in eine (aus Deutschland kommende) progressive Universalliteratur gültig und zeichensetzend formuliert hatte, dann ist es Goethe gewesen: Goethe, der die schwärmerische Antizipation einer allgemeinen, von den Deutschen vorweg bestimmten Dichtung ins Praktikable, Nüchtern-Wirkliche kehrte. Keine Rede von jenen Deutschen, die, nach Schiller, vom Weltgeist erwählt seien, »nicht im Augenblick zu glänzen …, sondern den großen Prozeß der Zeit zu gewinnen«; keine Rede auch vom Novalisschen Deutschen, der dabei sei, sich mit allem Fleiß »zum Genossen einer höheren Epoche der Cultur« zu bilden (»und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Uebergewicht über die Anderen im Lauf der Zeit geben«[4]); statt dessen gelassene Meditation über die Frage, wie sich aus partikulärer Abgeschiedenheit und borniertem Für-sich-Sein schrittweise (organisch und nicht mit einem spekulativen Salto mortale) eine zu allgemeiner Partizipation fähige kommunikable Kultur machen ließe.

Wie das geschehen könne? Bedachtsam auf jeden Fall, im Prozeß jenes allmählichen Aufstieges, dessen Stationen Goethe, nicht lange vor seinem Tod, in einem Promemoria benannte, das, bei der Einweihung des Weimarischen Lesetheaters, dem Kanzler von Müller zur gefälligen Berücksichtigung bei einer Rede oder einem festlichen Gedicht dienen sollte.

Drei Stufen, so Goethe, seien zu überschreiten, ehe sich der Wanderer (der, frei nach Novalis, vom Leipziger zum Weltbürger aufsteigen wolle) am Ziel dünken könne. Zunächst gelte es, den engen Zirkel einer – idyllisch genannten – Epoche zu verlassen und aus Kreisen zu scheiden, wo man nur dem Freunde vertraue und die Geliebte besänge: häuslich-familiären Kreisen, in denen die Muttersprachler sich, nur an ihre eigene Existenz denkend, allem Fremden gegenüber versperrten.

Danach, in einer zweiten, der sozialen oder civischen