Republikanische Reden - Walter Jens - E-Book

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Walter Jens

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Beschreibung

Anknüpfend an die fortschrittliche bürgerliche Tradition, auf den Spuren Lessings und Heines, Mommsens und Virchows, durchmustert Walter Jens das literarische Erbe der Deutschen: Was haben uns die Meister zu sagen? Müssen wir den Olymp der Poesie nicht radikal überprüfen, Klassiker entthronen und, auf der anderen Seite, Autoren ins Licht rücken, die bis jetzt im Schatten stehen? Was kann Literatur bewirken? In wessen Dienst steht sie? Wie groß ist ihre politische Relevanz? In den Reden und Essays des Radikaldemokraten Jens werden Fragen gestellt, um Tabus in Frage zu stellen: Was hat es auf sich mit dem Schlagwort vom »Pluralismus der Wissenschaft«, der »völkerversöhnenden Kraft des Sports«, der »christlichen Politik«, dem »Recht auf Eigentum«? In seinen großen, leidenschaftlich diskutierten Ansprachen, wie dem Rat für den Bundespräsidenten oder der Frankfurter Fußballrede, analysiert Jens Grundprobleme seiner Zeit. Einerlei, ob er die Perspektive eines neuen Humanismus aufzeigt oder nach dem Sinn der christlichen Predigt fragt ... immer erfüllt er, in diesen glanzvollen, vom Geist einer mitreißenden Beredsamkeit erfüllten Reden, das Grundgebot einer auf Emanzipation und Aufklärung bedachten Rhetorik: Sach- und Fach-Fragen den Charakter von Lebens-Fragen zu geben.

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Walter Jens

Über Walter Jens

Walter Jens, geboren 1923 in Hamburg, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Hamburg und Freiburg/Br. Promotion 1944 mit einer Arbeit zur Sophokleischen Tragödie; 1949 Habilitation, von 1962 bis 1989 Inhaber eines Lehrstuhls für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie der Künste zu Berlin.

Verfasser von zahlreichen belletristischen, wissenschaftlichen und essayistischen Büchern (darunter zuerst «Nein. Die Welt der Angeklagten» 1950, «Der Mann, der nicht alt werden wollte», 1955), Hör- und Fernsehspielen sowie Essays und Fernsehkritiken unter dem Pseudonym Momos; außerdem Übersetzer der Evangelien und des Römerbriefes. Walter Jens war seit 1951 verheiratet mit Inge Jens, geb. Puttfarcken. Als «Grenzgängern zwischen Macht und Geist» wurde beiden 1988 der Theodor-Heuss-Preis mit der Begründung verliehen: «Gemeinsam geben Inge und Walter Jens sowohl durch ihr schriftstellerisches Werk wie durch ihr persönliches Engagement immer wieder ermutigende Beispiele für Zivilcourage und persönliche Verantwortungsbereitschaft.»

Über dieses Buch

Anknüpfend an die fortschrittliche bürgerliche Tradition, auf den Spuren Lessings und Heines, Mommsens und Virchows, durchmustert Walter Jens das literarische Erbe der Deutschen: Was haben uns die Meister zu sagen? Müssen wir den Olymp der Poesie nicht radikal überprüfen, Klassiker entthronen und, auf der anderen Seite, Autoren ins Licht rücken, die bis jetzt im Schatten stehen? Was kann Literatur bewirken? In wessen Dienst steht sie? Wie groß ist ihre politische Relevanz? In den Reden und Essays des Radikaldemokraten Jens werden Fragen gestellt, um Tabus in Frage zu stellen: Was hat es auf sich mit dem Schlagwort vom »Pluralismus der Wissenschaft«, der »völkerversöhnenden Kraft des Sports«, der »christlichen Politik«, dem »Recht auf Eigentum«?

Inhaltsübersicht

Karl Knörr zugeeignetVorwortDie christliche Predigt: Manipulation oder Verkündigung?Die Evangelisten als SchriftstellerAntiquierte Antike? Perspektiven eines neuen HumanismusLiteratur: Möglichkeiten und GrenzenWir Extremisten. Antwort an den BundespräsidentenPhantasie und gesellschaftliche Verantwortung. Zur literarischen Situation in der BundesrepublikEhrenrettung eines Kritikers: Sixtus BeckmesserDer Rhetor Friedrich NietzscheDer letzte Bürger: Thomas MannPlädoyer für einen Pluralismus der WissenschaftWider die IsolationPraeceptor Germaniae: Axel Caesar SpringerZehn Pfennig bis Endstation. Der öffentliche Personennahverkehr in Geschichte und GegenwartFußball: Versöhnung mitten im Streit?Vorbei, die Eimsbütteler TageBibliographieWalter Jens: WerkeProsaEssaysWissenschaftliche BuchveröffentlichungenHör- und FernsehspieleÜbersetzungen, Bearbeitungen, NacherzählungenLiteratur über Walter Jens

Karl Knörr zugeeignet

Vorwort

Die in diesem Band zusammengestellten zehn Reden, ergänzt durch fünf Essays – Festvorträge, Ansprachen und Traktate im rhetorischen Stil –, verfolgen ein dreifaches Ziel. Sie wollen, zum ersten, im Sinne Gustav Heinemanns jene radikal-demokratische, bürgerlichfortschrittliche, libertäre und humanistische Tradition ins Blickfeld rücken: das ungeliebte und verleugnete Erbe der Aufklärer, Jakobiner und Achtundvierziger, dessen Wiedergewinnung und Aneignung im Zeichen der zweiten Metternichschen Reaktion unabdingbar ist … unabdingbar in einem Augenblick, da die Konservativen hierzulande unverhüllter als jemals zuvor den Obrigkeitsstaat mit Hilfe von Verbot, Zensur und allgemeiner Schnüffelei wiederherstellen möchten: Zurücknahme der Aufklärung heißt die Devise, Leugnung der gegenläufigen »populistischen« Strömungen in unserer Geschichte, Revokation von Tendenzen, die auf jene freie und uneingeschränkte Demokratie mit allgemeiner Selbstregierung abzielten, für die ein Mann wie Rudolf Virchow – wer, unter all den Bismarck-Apologeten, spricht heute noch von ihm? – an der Seite der Handwerker, Arbeiter und Studenten auf die Barrikaden stieg. Verteidigung der bürgerlichen Radikalität: Das ist das eine Ziel dieser Reden. Darum die Betonung der progressiven Elemente im Neuhumanismus. Darum die Bewertung Thomas Manns als des »anderen« Deutschen. Darum die Verweise auf die revolutionären Aspekte der deutschen Parlaments-Geschichte. Darum die ständige Bemühung der »Nothelfer« Lessing und Heine, Humboldt und Einstein.

Und nun das zweite, vor allem in den Traktaten über die Predigt und über die politische Rolle der Poesie anvisierte Ziel: Die Frage zu klären, mit Hilfe welcher »literarischen« Techniken die fortschrittliche Aneignung des Erbes gelingen könnte – welche Überlegungen angestellt werden müssen, um – ausgehend von den bescheidenen Möglichkeiten, die der Rede und der Schrift gegeben sind – die schwierigste Manipulation durchzuführen, die es für den Rhetor gibt (Rhetor im weitesten Sinn – einen Intellektuellen, den Prediger so gut wie den Schriftsteller, der etwas bewirken will): Die Manipulation zum Guten.

Endlich das dritte Ziel: Es wird versucht, das scheinbar Selbstverständliche zu problematisieren und, mit Hilfe von entschiedener Rettung (des Abgetanen), entschlossener Bezweiflung (des zu Unrecht Verklärten) und konsequenter Neubewertung (des längst Etikettierten), die vertrauten Muster in Frage zu stellen: Deshalb die Betrachtung der Evangelisten als Literaten; deshalb die Ehrenerklärung für Beckmesser; deshalb die Analyse des verhinderten Kanzelredners Friedrich Nietzsche; deshalb – difficile est, satiram non scribere – die Zitierung eines deutschen Christen unserer Tage mit dem Mittel der kirchlichen – und nicht der politischen – »Moralität«. Deshalb aber auch der Versuch, das Phänomen »Fußball« einmal aus einer verfremdend wirkenden Doppel-Perspektive zu analysieren: Von der Geschichte und von der Kunst aus.

Fußball und Nahverkehr, Publizistik und Literatur, Altphilologie und Politik, Wissenschaftstheorie und, im Zentrum stehend, Theologie, in Sonderheit Homiletik: Die Gegenstände wechseln, Blickweise, Akzentuierungsart, politischer Maßstab und rhetorischer Tenor (der Rede-Duktus wurde belassen) bleiben sich gleich. Das, hoffe ich, gibt dem Buch seine Einheitlichkeit – einem Buch, das sich dem Grundgebot verpflichtet weiß, dem die Rhetorik unterliegt: Nicht das absolut Wahre, wohl aber das Wahrscheinliche ins Blickfeld zu rücken und, mit Hilfe einer überraschenden Beweisführung, die Neubewertung strittiger und die Umakzentuierung scheinbar längst erledigter Probleme befördern zu helfen. Das macht ihre Wirkung aus, ihre soziale Verbindlichkeit. Rhetorik, lautet ein alter Topos, gibt, anders als die Philosophie, das Wissen preis. Im Unterschied zu ihrer Schwester, der Dialektik, ist ihre Hand weit geöffnet.

Zu weit, sagen, von Platon bis zur Gegenwart, die Kritiker – aber sie könnten sich irren.

 

Walter Jens

Die christliche Predigt: Manipulation oder Verkündigung?

»Darum wem das Predigtamt aufgelegt wird, dem wird das höchste Amt aufgelegt in der Christenheit. Derselb mag hernach auch taufen, Meß halten und alle Seelsorge tragen; oder so er nicht will, mag er an dem Predigen allein bleiben, und Taufen und andere Unteramt anderen lassen. Wie Christus tat und Paulus und alle Apostel.«

Geschrieben im Jahr 1523. Gültig bis heute. Die Luthersche These, daß »Pfarramt« so viel wie »Predigtamt« heiße und daß Seelsorge, Sakramenten-Austeilung und Liebesdienst nichtig seien ohne die Verkündigung des Gottesworts von der Kanzel – »wo Predigtamt nicht ist, der andern keines folget«… diese im Traktat über Macht und Recht einer christlichen Gemeinde formulierte These ist, allen Akzentverschiebungen zum Trotz, vierhundertfünfzig Jahre lang unangetastet geblieben – und nicht nur unangetastet: sie hat sogar, im Bannkreis der dialektischen Theologie, eine Renaissance ohne Beispiel erlebt.

Die evangelische Dogmatik, daran gibt’s nichts zu deuteln, wurde von Predigern entworfen – und nicht von Vertretern der Systematik: von Kanzelrednern, nicht von Kult-Verwaltern. Erst auf der Kanzel, heißt die Devise, wird die Schrift, in inspirierter Rede, zu Gottes Wort; erst auf der Kanzel, im Verkündigungs-Akt, gewinnt Geschichte die Qualität von Geschehen, verwandelt sich das Reden über Gott in göttliche Rede. Kein Wunder, demnach, daß Luther die apostolischen Briefe über die Evangelien stellte – die Deutung über den Bericht, die Predigt über die historiographische Fakten-Aufzählung; kein Wunder auch, daß Karl Barth das Verhältnis von Dogmatik und Predigt als ein Verhältnis von Etappe und Front etikettierte: Nicht in der Schrift, sondern im Wort spräche Gott unmittelbar, nicht in der Etappe, sondern an der Front werde der Krieg gewonnen oder verloren.

In der Tat, man kann es nicht pointiert genug sagen: Der Mann auf der Kanzel (und nicht der sogenannte »Theologe«, aber auch nicht der Seelenhirt oder der franziskanische Anwalt der Armen) – der Mann auf der Kanzel ist, nach reformatorischem Verständnis, der Stellvertreter Christi in der Epoche zwischen Himmelfahrt und Jüngstem Gericht. Er kämpft, in der Phase, die mit der Auferstehung beginnt und mit der Wiederkehr endet, Jesu Kampf mit dem Teufel. Er sorgt dafür, daß Gottes Wort im Schwange bleibt. (ym schwang, hat Luther gesagt.) Er macht aus der scriptura mortua, dem Verlesenen, Respondierten, Gesungenen, eine lebendige Rede. Er weiß, daß das Evangelium – im Gegensatz zum kodifizierten Gesetz – Botschaft ist und nicht Schrift (Neues und nicht Altes Testament): eine Botschaft, die, in Lehre und Vermahnung, zur viva vox wird – Nachricht, Kunde, Hörensagen, das von den »Mundboten« weitererzählt werden will, von den Aposteln zunächst, dann von den Vätern und dann, nach einer langen Zeit des Interregnums, von den Kanzeln herab: in Räumen verkündet, die für Luther die Bedeutung von »Mundhäusern« hatten.

Mundhaus und nicht Federhaus: Die Kanzel war Rostra, die Kirche war Marktplatz, die Predigt war Rede in der Öffentlichkeit – ein Geschäft, das – in übertragenem und wörtlichem Sinn – »katholisch« genannt werden kann. »Katholisch«, weil der Pfarrer, sofern er ordentlich berufen war, dem Satz vom Allgemeinen Priestertum entsprechend ein Jedermann sein durfte, der zu Jedermann sprach. »Katholisch«, weil die Reformation den tausend Pfarrern gab, was sie dem einen Priester nahm: Vollmacht und Autorität. »Katholisch« aber auch – und vor allem! –, weil an die Stelle des Opfernden vor dem Altar nunmehr der Kanzelredner trat, der das Wort unter der Gemeinde austeilte: das Wort der Schrift so gut wie das Wort, das – im Sinne des johanneischen Prologs – identisch mit jenem Gottessohn sei, dessen Werke und Taten die Predigt repräsentiere. Repräsentiere, jawohl! Wie der Priester, im Vollzug der Eucharistie, Jesus im Geist gegenwärtig sein läßt, so realisiert der Prediger, im Akt der Kanzelrede, das jesuanische Wirken und »braucht« es, wie Luther sagt, indem er den Christus der Überlieferung in den »Christus pro nobis« verwandelt.

Verwandlung drüben, Verwandlung hüben! Anamnesis in zwiefacher Weise: Gedächtnisakt der Eucharistie. Gedächtnisakt auf der Kanzel. (Wie bezeichnend, daß Luther, der evangelischen Verkündigung schenkend, was er dem katholischen Opfer entriß, die Worte »Das tut zu meinem Gedächtnis« als Predigt-Auftrag verstand! Wie charakteristisch, daß er den an Petrus gerichteten Satz »Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben« als eine Sentenz interpretierte, die dem Predigt-Amt der Kirche galt!)

Dem Sakrament drüben entspricht das Kerygma hüben – jene reformatorische Predigt, die, als Verkündigung von Christus eingesetzt und begründet, unabhängig von der Persönlichkeit des Redenden wirkt – ex opere operato und nicht nur ex opere operanti! Luther ist nicht müde geworden, die Diskrepanz zwischen der Größe des Auftrags und dem Versagen des Beauftragten als einen Schein-Widerspruch zu entlarven: Und wenn der Prediger wie Bileams Esel wiehert, ja, wenn Beelzebub selber die Kanzel besteigt – Gott spricht, sofern er will, auch durch Esel und Teufel hindurch. Persönlichkeit und Subjektivität des Redners – Rang und Bildung – sind für Luther ohne Belang: Nur auf die Mitgift kommt es an, auf den Schatten jenes ersten Predigers, dessen Existenz identisch mit seiner Verkündigung sei, auf die Kontinuität des gepredigten Worts und auf die Erinnerung, der selbst die verkommenste Gedächtnis-Rede auf der Kanzel noch dient.

Praedicatio verbi dei est verbum dei, durch den Prediger spricht Gott, diese Devise – formuliert von Bullinger – hat für die reformatorische Homiletik die Bedeutung eines Axioms … mit welcher Konsequenz, das zeigt Luthers Traktat Wider Hans Worst: »Herr, Du weißt, was aus meinem Mund gegangen ist, das ist recht und Dir gefällig … Haec dixit Dominus, das hat Gott gesagt. Et iterum: Ich bin ein Apostel und Prophet Jesu Christi gewesen in dieser Predigt. Hier ist nicht not, ja nicht gut Vergebung der Sünden, als wäre es unrecht gelehret; denn es ist Gottes und nicht mein Wort, das mir Gott nicht vergeben soll noch kann, sondern bestätigen, loben, krönen und sagen: Du hast recht gelehret, denn ich habe durch dich geredet und das Wort ist mein. Wer solches nicht rühmen kann von seiner Predigt, der lasse das Predigen anstehen, denn er leugnet gewißlich und lästert Gott.« Wenn irgendwo, dann wird in diesen Sätzen deutlich, was es heißt (und zu welchen Konsequenzen es führt!), die Transsubstantiation vom Altar aufs Rednerpult zu verlegen, die unio mystica sich, in einem Akt der Inverbation, auf der Kanzel vollziehen zu lassen und das päpstliche Lehramt gegen das pastorale Predigtamt einzutauschen – die ecclesia docens gegen den pastor, per quem deus loquitur.

 

»Das geht zu weit!« rief, konfrontiert mit den Lutherschen Thesen, selbst Karl Barth aus, als er die Hans-Worst-Sätze interpretierte: »Da kann man bei allem Respekt nur mit einem glatten Nein antworten.« Und dann bricht es heraus: Zeugnis geben, ankündigen, das Woher und Wohin sichtbar machen, Erinnerung wachhalten, Erwartung aussprechen – was immer der Prediger täte, sein Wort bliebe menschliches Wort, Wort in Knechtsgestalt, er selber habe keine Verfügung über den heiligen Geist, wenn seine Predigt gelinge, dann sei dies Gottes Verdienst – Gottes, der sich des Redners Mißlingen bediene: nur indirekt, nur im Glauben, sei die Kanzelrede mit der Rede Gottes identisch.

Ein seltsames Schauspiel, fürwahr! Mit welcher Emphase wird hier betont, daß Predigt eins und Offenbarung ein anderes sei, daß unsere Rede von Gott unsere Rede bliebe, wie immer wir sprächen, daß ein gewaltiger Abstand bestünde zwischen Wort-Dienst und Wort, zwischen dem Wort und den Wörtern, daß es keine unio mystica gebe, daß Menschenwort nur ein Mittel sei, ein Behelfs-Instrument, um Gottes eigenes Wort zu verkünden, daß das verbum dei Inhalt der Predigt sei, aber nicht deren Subjekt. Doch dann auf einmal kommt der große Sprung, die kopernikanische Wendung, deren der Redner bedarf, um den Satz: »Die Predigt zeugt von Gottes Wort«, in das Axiom verwandeln zu können: »Die Predigt ist Gottes Wort.« Deus loquitur. Da wird plötzlich von oben nach unten gedacht, da ist nicht mehr von »Korrelat« und »Spiegel« die Rede, da beginnt das Echo selber zu sprechen, »Identität« heißt das rettende Wort – eine indirekte gewiß, aber Identität bleibt Identität, gegen ein Substantiv wie dieses kommt kein absicherndes Adjektiv auf –, da bekennt sich Gott zu unserem Wort, redet selbst und gewinnt den Charakter eines Subjekts, das, in einem kühnen voluntaristischen Akt, von sich selbst sprechen möchte.

Und so geschieht’s nicht nur bei Barth – wohin man schaut, welche Homiletik evangelischer oder katholischer Provenienz man studiert: Der Punkt, wo mystische Entzückung an die Stelle nüchterner Beschreibung tritt, die Transsubstantiation beschrieben wird: das Mysterium der realen Präsenz, die »Heil spendende Gegenwart Gottes unter der Hülle des menschlichen Wortes«… dieser Punkt, an dem der Verkündigte zum Verkünder wird, fungiert in der Theologie unserer Zeit als eine Art von ökumenischem Topos. (»Auch die kritischsten Kritiker«, heißt es in Bastians Traktat Verfremdung und Verkündigung, »pflegen unerbittlich orthodox zu werden, wenn sie von der Verkündigung sprechen und die Selbstbehauptung des Wortes Gottes würdigen.«)

Fast scheint es, als wetteiferten heute die Konfessionen miteinander in dem Bestreben, das sacramentum verbi mit einer Inständigkeit zu beschwören – wobei man sich nicht genug tun kann an Spitzfindigkeiten: Sakrament oder Sakramentale? opus operatum oder opus operantis? –, daß es einem eingefleischten Supranaturalisten das Herz wärmen müßte. Als ob Luthers Schrift Wider Hans Worst – und keineswegs nur sie: deus per me operatur ist eine reformatorischer Kernsatz – nicht mit aller gebotenen Deutlichkeit zeigte, wie schnell aus einer indirekten Identifikation von Herren- und Knechts-Wort eine totale Gleichsetzung wird: Da hilft auch die nachdrücklichste Etikettierung der menschlichen Rede als eines Werkzeugs nicht weiter. Auf das Resultat kommt es an, auf die Gleichsetzung im Sinne der Bullinger-Formel. Auf die Inverbation, die sich angeblich im Verlauf jenes kerygmatischen Aktes vollzieht, der – als eine Verlautbarung besonderer Art, unverwechselbar sei: mit keiner anderen Form verbaler Artikulation – mit dem Ratschlag sowenig wie mit der Rede oder dem Vortrag vergleichbar ist.

Will man den Dialektikern und ihren Gefolgsleuten glauben, dann ist der Pfarrer eine Art von Türhüter (ein Türhüter, wie ihn Kafka beschrieb): In seinem Rücken thront Gott, vor ihm, auf Einlaß ins Gesetz wartend, sitzt die Gemeinde. Ein Bild, wie es Luther in der Torgauer Predigt beschwor: Durch die Kanzelrede spricht Gott zu den Menschen, die Versammlung antwortet ihm in Gebet und Gesang. Das Gesicht zur Gemeinde gekehrt, verkündete der Prediger, was in seinem Rücken, im Innern des ›Gesetzes‹ geschieht. Der Welt zugewandt, weist er sie ab, beleuchtet das Leben von Gott her, höhlt die Wirklichkeit aus, das Humane und die Sozietät, da sie keine Wirklichkeit sei, gibt Zeugnis von der ganz anderen Welt, leugnet Vermittlungen zwischen Himmel und Erde, zeigt die Distanz, trennt, statt zu verbinden, verweigert die erwartete Hilfe – nur wo Gräber sind, sagt er, ist Auferstehung –, verzichtet auf Mission und Pädagogik, auf Erbauung und irdischen Trost: Lebenshilfe mögen andere geben, die sich auf Ratschläge besser verstehen – er sei kein Dorfweiser, sondern ein Prediger, der, christozentrisch und nicht anthropozentrisch sprechend, nur eine einzige Aufgabe habe: Den zu verkünden, der durch ihn spricht. Das allein sei seines Amtes.

Ist das wirklich nur ein Phantom: solch ein Pfarrer? Eine Kunstfigur, aus Lutherschen, Barthschen, Thurneysenschen Versatzstücken zusammengeklaubt? Gesalbt mit dem Öl der dialektischen Theologie und mit der obligaten Prise eines entschiedenen Anti-Liberalismus versehen: Schleiermacher als Beelzebub? Ich fürchte nicht: Das Idealbild des evangelischen Kanzelredners, daran gibt’s nichts zu deuteln, ist realistisch. Das Idealbild, wohlgemerkt, der reformatorische Archetypus. Nicht das Bild des Pfarrers hier und jetzt. Das sieht anders aus – wesentlich anders. In Wahrheit hat die »Fundamental-Homiletik« eines Karl Barth, in deren Folge die Kanzelpredigt zum ens realissimum wurde: zur Christenprobe auf das Exempel, mit der Praxis vor Ort so wenig zu tun, wie jene Form der Kerygmatik, die aus einem hermeneutischen Prinzip einen theologischen Generalschlüssel machte, etwas mit der konkreten Predigt am Sonntag zu tun hat. (Nachzulesen in Dietrich Rösslers Schrift Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit.) Während man hier Meditationen über Art und Weise verbaler Transsubstantiation vorexerziert und, in einer Art von nimmermüdem Glasperlenspiel, den Spannungsbogen zwischen Menschenwort und Gotteswort zu analysieren versucht, wird dort, in der Nacht zum Sonntag, eine Rede geschrieben. Eine Rede, nichts weiter. Ein Manuskript, formuliert von einem Pfarrer, für den das Predigen eine Tätigkeit unter anderen ist – und kein Hauptamt, dem die Unterämter zugeordnet sind: Ein Gemeindepfarrer, der sich an jene Pflichten-Hierarchie hielte, die aus der Über-Akzentuierung des evangelischen »Worts«, vor allem des Kanzel-Worts, resultiert, hörte auf, ein Gemeinde-Pfarrer zu sein.

Unter diesen Aspekten – im Zeichen einer usurpatorisch wirkenden Verkündigungs-Theologie, die in ihrem Absolutheits-Anspruch, ihrer Majestät und ihrer Praxis-Ferne mit der kirchlichen Rede vor Ort heute nichts mehr verbindet – ist der Entwurf einer evangelischen rhetorica nova das Gebot der Stunde: die Konzeption einer Homiletik, die – dies wäre das erste Gesetz – die reformatorische Sentenz »Die Verkündigung des Gottesworts ist das Gotteswort selbst« als christlicher Rede unangemessen, als hybrid und aller Erfahrung hohnsprechend zurückweisen müßte: Ein kurzes Durchmustern der Predigtsammlungen aus wilhelminischer oder faschistischer Zeit sollte genügen, um die Irrelevanz dieses befremdlichen Axioms zu erweisen und, mit dem Blick auf die Texte, deutlich zu machen, daß die These deus loquitur nicht nur angesichts der Lobgesänge auf den Führer als den von Gott gesandten zweiten Messias wie der pure Hohn: wie Gotteslästerung wirkt. Aber selbst wenn man, auf gar zu sinnfällige Häresien verzichtend, von Stoeckerschen oder, im katholischen Raum, von Spellmanschen Kreuzzugs-Predigten absieht und sich mit der Lektüre von höchst alltäglichen orthodoxen, liberalen oder pietistischen Kanzelreden begnügt – ist es nicht Hybris, diese Verlautbarungen unter dem Aspekt der christlichen Verkündigung: als der vermeintlichen Idee kirchlicher Rede und dem Inbegriff verantwortlichen Sprechens von Gott jenen Akten voranstellen zu wollen, dem Wort am Sterbebett, der Liebestätigkeit oder – ich denke an Pater Kolbe – der Stellvertretung im Zeichen des Kreuzes, in denen sich »Verkündigung« weit unmittelbarer realisiert: in actu und nicht in verbo?

Warum, in Gottes Namen, soll ausgerechnet, als sei sie ein archimedischer Punkt, die Kanzelrede als »Zweck und Ziel der Dogmatik« fungieren? Warum nicht genausogut, von Christus zeugend, die Nächstenliebe oder die Zeichen setzende Mildtätigkeit? »Wo Predigtamt nicht ist, der andern (Ämter) keines folget«: Es ist an der Zeit, denke ich, diesen Lutherschen, in unserem Jahrhundert von der Dialektischen Theologie zum Axiom erhobenen Satz in Frage zu stellen. Wenn etwas not tut, hier und heute, dann ist es die Zurücknahme des Predigt-Primats. Dann ist es die Leugnung der These »Die Tat ist – das Wort«. Dann ist es die Revokation jener in der Vorstellung vom sacramentum verbi gipfelnden Tendenzen, in deren Folge sich ein wahrhaft gespenstischer Wort-Kult durchgesetzt hat: Bibelwort und Predigtwort, das Wort der Schrift und das fleischgewordene Wort, das innertrinitarische und das geschaffene, das geoffenbarte und das verkündete Wort: Wie viel geht da wirr durcheinander, sobald die Theologen jenes von Polyvalenz strotzende »Wort« beschwören, das weit mehr noch als der Ausdruck »Gott« den Charakter einer Leerformel hat – eines Zauberspruchs, der alles und nichts sagt … aber auf jeden Fall ausreicht, um den Zweifler zum Schweigen zu bringen: verbum locutum. bellum finitum.

Das Gebot der Stunde heißt: Bescheidung. Absage an die unio mystica auf der Kanzel. Es heißt: Demokratisierung im Bereich der Pfarr-Tätigkeiten. Predigt und Taufe, Rede und Seelsorge, Liebesdienst in Wort und Tat: Da ist jedes Amt wichtig, da gilt die Verkündigung ex cathedra nicht mehr als die Belehrung der Kinder, da tritt die Predigt nicht mehr mit dem Anspruch auf – dem unerfüllbaren Anspruch –, am Sonntagmorgen werde Gott, der Sechstageschweiger, durch den Mund des Herrn Pfarrers das Seinige sagen. Erst wenn die Hierarchie beseitigt ist, kann die Predigt wieder den Charakter einer Rede gewinnen – einer Rede, die zu kritisieren, zu bezweifeln, zu bejubeln (in der ältesten Kirche wurde bekanntlich am Ende der Kanzelrede geklatscht) oder zu beklagen ist. Dann hört der Aberwitz auf, daß jede Predigt mit dem Allerhöchsten, der apostolischen Verkündigung, identifiziert wird: bewertet im Blick auf die Luthersche These, daß der Mund jedes rechtschaffenen Pfarrherrn wesensgleich sei mit dem Mund Jesu Christi.

Dann gewinnt die Kanzelrede wieder menschliches Maß, ist nicht mehr, wie es so gern heißt, »weltschöpfendes Wort«, das ergeht, sobald der Kanzelredner zu sprechen beginnt, sondern das Zeugnis eines Menschen, der, statt priesterlich zu verkünden, sich auf die Ankündigung von Gottes Rede beschränkt: So sage ich und dies hat ER gesagt. Das ist der Text, und dies ist meine Deutung.

Ein Pfarrer ist weder inspiriertes Medium noch eine Art Wunderwesen von der Art, wie es sich offenbar jener zeitgenössische Praktologe vorstellt, der die paulinische Predigt als einen »zeugenden oder(!) gebärenden Akt« etikettiert: Ein Pfarrer ist ein sehr konkretes Individuum, das einer sehr konkreten Gemeinde in einer sehr konkreten Situation mit Hilfe einer sehr konkreten Sprache einen Text zu veranschaulichen sucht – ein Schriftwort, von dem er weiß, daß es, um inmitten von so viel Konkretheit seinerseits zum Konkretum zu werden, nicht nur ausgelegt, sondern ausgeführt werden muß: übersetzt und erweitert, bis zur Gegenwart hin verlängert und appliziert an die gegebene Situation. Statt darauf zu vertrauen, daß das verbum dei, das da »senkrecht von oben« kommt, aus sich selbst wirken werde: keiner Propaganda und Agitations-Kunst bedürftig – »Erste Regel: Keine Beredsamkeit! … Wo Gott verkündigt wird, da steht das Wort nicht zu Gebote«: Eduard Thurneysens These ist immer noch mächtig; statt es zum hundertsten Mal – und immer vergeblich – mit der Sprache Kanaans zu versuchen, weil man das Eingehen auf das »sogenannte Bedürfnis der Hörer« für einen Verrat an der eigentlichen Aufgabe des Predigers hält: Gott zu dienen und nicht dem Menschen; statt sich durch den Satz irre machen zu lassen: »Die größten Prediger Gottes sind gegen ihren eigenen Antrieb redende Prediger gewesen«, darf der »Pfarrer vor Ort« sich nicht scheuen, zunächst einmal von sich selber zu sprechen, wenn er seinen Text ausführt.

Wie sollte er sich auch scheuen? Wo er doch sehr genau weiß – ich folge hier Überlegungen des Schriftstellers und Pfarrers Kurt Marti –, daß die subjektive Brechung des Schriftworts Vorbedingung seiner Ein-Gemeindung ist: daß nur dort, wo persönlich und nicht offiziös gesprochen wird, Offenheit herrscht, nur dort die Möglichkeit zum Dialog besteht, zum Widerspruch und Konsens, nur dort aber auch, durch keinen dreisten Bezug zwischen göttlicher und menschlicher Rede relativiert, das prophetische Zeugnis der Schrift jene Würde und Objektivität wiedererhält, die im Zeichen eines scheinbar überpersönlichen, in Wahrheit plump-familiären Kanzel-Geredes: Gott will, Gott plant, Gott hat etwas vor, aus dem Blick gerückt worden ist. Nicht die Einheitssprache der Kanzel, dieses befremdliche homiletische Esperanto, das heute die Vertreter aller Schulen vereinigt und, ungeachtet der Kontroversen in exegetischen Fragen, Barthianer wie Orthodoxe und Liberale wie Marburger predigen läßt – das gleiche Pathos und die gleiche Bildlichkeit! –; nicht die sogenannte »zeitlose« Rede (sie ist in Wirklichkeit austauschbar und beliebig), sondern nur die persönliche, zeit- und subjekt-bezogene Predigt: formuliert in der Diktion unserer Zeit und nicht in jener unsäglichen Pontifex-Minimus-Sprache, die evangelische Verkündigung so monoton sein läßt – nur die Betonung der ersten Person: Hier! Ich! In diesem Augenblick!, gibt der Rede in der dritten Person, dem autos epha, ihre Glaubwürdigkeit.

In einem Augenblick, da – mit Ernst Käsemann zu reden – die Repräsentanten der Christenheit, die Kanzelredner voran, in ihrer Mehrzahl wie »Bleichsüchtige« wirken, die, allem Enthusiasmus abhold, Farblosigkeit für ehrenwert halten, während sie geistige Selbständigkeit, Vitalität und Humor – das Unverwechselbare der Persönlichkeit also – für unangemessen erachten – »selbst die Laien tragen einen unsichtbaren Talar« –: in einem solchen Augenblick ist es nützlich, die verwegene Keckheit und parteiische Verve ins Gedächtnis zu rufen, mit der Luther nicht nur die papistische Sprache, sondern auch den Tenor der biblischen Texte zensierte – »stroherne Epistel«, »kann ich nicht unter die Hauptbücher setzen«. Und dann erst Spener! Mosheim! Herder: vielleicht der größte – und unbekannteste Homiletiker Deutschlands! Herder: in seinem Kampf gegen die Predigten mit ihren rhetorischen Donnerschlägen und Blitzen, ihrem Pathos und ihren wilden Gebärden. Herder: die »geistlichen Discourse mit ihren Schraubengängen und überraschenden Einfällen« nicht minder präzis attackierend wie die Kanzelhomilien mit »ihrem steifen Anstand« und »ihrer weitschweifigen hermeneutischen Gelehrsamkeit«. Herder, dem die theologischen Abhandlungen »mit ihrem Gerippe einer gründlichen Disposition, ihren Lehr- und Lehn-Sätzen und Citationen« so verachtenswert waren wie die Kanzel-»Expectorationen« mit ihren Ausrufungen und Beteuerungen an Gott, angefüllt mit O! und Ach!: Das klänge, heißt es in der Programmschrift Der Redner Gottes, »als wenn der Mann eben aus dem Himmel käme und denselben wieder stürmen wolle«.

Geschrieben 1765: zu einer Zeit, als Probleme der rhetorica ecclesiastica – weit davon entfernt, nur den eigentlich Betroffenen, den Prediger also, zu provozieren – die Bedeutung einer Affäre hatten, an der sich, in öffentlichem Gespräch, die ersten Geister der Nation beteiligten. Es war kein Anonymus, es war ein Wieland, der im achtzehnten Jahrhundert die Deutschen aufforderte, sich – was die Beredsamkeit der Kanzel angehe – nicht länger von den Franzosen, den Bossuets und Massillons, beschämen zu lassen. Es war ein Lessing, der in einer Replik auf die Wielandsche These den Unterschied zwischen der Virtuosität des Deklamators und dem Lehramt der Predigt akzentuierte: »Der wahre Gottesgelehrte weiß«, heißt es im dreizehnten Literaturbrief, »daß er auf der Kanzel den Redner mit dem Lehrer zu verbinden habe, und daß die Kunst des erstern ein Hülfsmittel für den letztern, nie aber das Hauptwerk sein müsse.« Und eben dieser Lessing war es auch, der im Disput mit seinem Widersacher, dem Hamburger Hauptpastor Goeze, den Vorwurf des Gottesmanns, er, Lessing, sei ein Artist und ein Theatraliker, aber kein Anwalt der Wahrheit, mit dem Satz konterkarierte: »Wer zweifelt wohl, daß Molière und Shakespeare eine vortreffliche Predigt gemacht und gehalten hätten, wenn sie, anstatt des Theaters, die Kanzel hätten besteigen wollen.«

Auf welchem Niveau, mit wieviel Scharfsinn, Emphase und Witz wurde in unserem Land – nahezu vierhundert Jahre lang! – zwischen Luther und Schleiermacher, zwischen Melanchthon und Nietzsche die eine große Frage erörtert: Wie muß der Prediger sprechen, welchen Stil soll er wählen, den lehrhaft-schlichten oder den pathetischen der begeisterten Rede, wie kann er die Unterweisung mit Ermahnung, das Erbauliche mit dem Bewegenden, den Appell an die Vernunft mit dem Appell an die Affekte vereinen, wie soll er auf der Kanzel agieren – zeremoniös? populär? – und was, vor allem, muß er tun, damit die Erschütterung, die seine Worte erregen, sich, durch kirchliche Zucht unterstützt, in stetiger Bewegung fortsetze: ein Problem, das im Zentrum der Lessingschen Betrachtung über die geistliche Beredsamkeit steht. Und nicht allein dort: Auch der Pietismus hat – oft verkannt! – eine ihm gemäße Eloquenz; auch die » Sprache des Herzens« weiß sich der Homiletik verpflichtet: Kein Wunder also, daß gerade Spener über die Sentenz meditierte, nur der Ergriffene sei in der Lage, den Sinn der Hörergemeinde in mildem oder dramatischem Appell zu erregen: nur wenn es dem Redner »vom Herzen« gehe, lautet das Zentral-Gebot der pietistischen Beredsamkeit, werde das Weltkind gerührt: in der Erbauungs-Stunde vor allem, da der predigende Handwerker zeige, was Schwärmerei und entzückte Rede vermöchten.

Kurzum, ob man sich nun auf Luther beruft, jenen Feind der Rhetorik, der ein Schüler Quintilians war – Luther, den »beredtesten Bauern« (so Nietzsche), den Deutschland jemals gehabt hat, ob man der Widerlegung des Kantschen Verdikts »Der Appell an die Affekte ist eine Trugkunst« durch die protestantische Homiletik des neunzehnten Jahrhunderts gedenkt oder die – meist übersehene – Renaissance des aristotelischen Schemas in der Predigtlehre Schleiermachers betont – hier: Rhetor, Rede, Publikum; dort: Pastor, Text und Gemeinde … was immer man aufführt: An Kronzeugen, die Brisanz und Aktualität der jahrhundertelang geführten Debatte um die rechte Predigt dokumentieren, mangelt es nicht. Wenn heute Bekenner, Dialektiker und Existenzialisten ihre Attacken gegen jene christliche Beredsamkeit führen, die sie gern als »sogenannte« etikettieren und dabei die »Verkündigung Gottes« gegen die »Ansprache an den Menschen« ausspielen, dann machen sie nicht nur der liberalen Theologie und jener in der Tat suspekten These den Garaus: der Prediger sei gehalten, sich selbst zuzuhören, um auf diese Weise ein »schönes und tiefes Gefühl« zu empfinden, dann haben sie nicht nur ein Saeculum, das neunzehnte, sondern zwei Jahrtausende in die Schranken zu fordern. Dann müssen sie gegen Augustin antreten und gegen Luther: denn so sehr sie sich im einzelnen auch unterscheiden, die Mystiker, Bußprediger, Lehrer und eifernden Agitatoren von der Spätantike bis in unser Jahrhundert … eins ist allen gemeinsam: Die Absicht, zu »manipulieren«, das heißt: auf Menschen zu wirken. Der petrinische Grundzug. Der Glaube, daß die Predigt ein Fischernetz sei – ausgeworfen, die Bedrohten zu retten.

Die erste Frage hieß nicht: »Was ist eine Predigt?«, sondern: »Wie predigen wir: wir, mit unserem Anspruch, die Menschen belehren und ermahnen zu können – unsere Gemeinde, die uns braucht?« Da sprachen Pfarrer von sich selbst. Da wurde, auf der einen Seite, im Redner Gottes zum Beispiel, das Idealbild eines humanistischen Rhetors beschworen, der, »beredt ohne Pracht« und »weise ohne Gelehrsamkeit«, wie ein protestantischer Sokrates wirkt – ein Christ: wie von Platon entworfen, und da gewann, auf der anderen Seite, jener Verzweifelte Anschaulichkeit, der nicht mehr reden mag, weil er ja doch nichts erreiche … einer, der, wie Luther in Wittenberg, aufgeben und seiner Gemeinde den Dienst kündigen möchte, da er sieht, daß die Menschen, aller Predigt zum Hohn, immer »spitzer und giftiger« werden.

Mit aller Schärfe gesagt: Wenn in den zwanziger Jahren – und auch in der Gegenwart noch! – die Parole umging, in der Predigt werde – bitte sehr! – nicht um das Verständnis des Menschen geworben, keine Psychologie des Predigthörers getrieben und keine Lebenserfahrung vermittelt – keine fremde und schon gar nicht die eigene –, dann wird hier in der Tat, mit einem Federstrich, die Homiletik von Jahrhunderten auf den Index gesetzt.

Oder war Luther, dieser Menschenkenner kat’exochen, etwa kein Psycholog? Die Rücksicht auf die Mutter im Haus, das Kind auf der Gasse, den Mann auf dem Markt; die Reverenz gegenüber den Toren und Unmündigen; der Respekt vor »Hänslein und Gretlein«: vor den »nicht ernsten Christen«, die am Sonntag der Predigt zuhörten; aber auch die jähe Verzweiflung: »Ich kann nicht weiter kommen denn zu den Ohren«. Das waren Wesenszüge eines Predigers, der, die Gemeinde kennend und auf ihre Bedürfnisse achtend, sich bei jedem Wort fragte, ob es verstehbar, nützlich und zuträglich sei: Man soll auf der Kanzel »die Zitzen herausziehen«, hat er gesagt, das Volk brauche Milch! Darum – um der Menschen willen – die kühnen Ackomodationen der Lutherschen Predigt, die Übertragungen biblischer Szenen in kursächsische Realität; darum der Bezug zur Gegenwart: die politische Rede – »Den Sachsenspiegel muß ich Euch predigen!«; darum die Zubereitung des Textes unter sozialen Aspekten – »Gottes Wort an sich«: so etwas kannte der Praktiker nicht: auf das hic et nunc kam es an –, darum die verwegene Applikation in der Polemik: die Papisten wollen der Hölle entlaufen und bleiben in Ewigkeit drinnen; darum die These, daß einer, dem die Unterweisung von Kindern und Bauern obliege, nicht nur der Dialektik, sondern, in Lob und Tadel, auch der Rhetorik bedürfe: Während jene nur lehre, rühre diese das Herz.

Wer predigt, zeigt Luther, muß die Menschen kennen, ihre Gedanken und ihre Sprache, und ihnen auf eine Weise begegnen, die sie begreifen; er muß sich auf die Kunst der Seelenlenkung verstehen: christliche Rhetorik und Psychagogie, das hat Pascal bewiesen, sind ein und dasselbe; er muß aber auch wissen – so schon die Doktrin der mittelalterlichen Ständepredigt –, daß man einen Bischof anders, in höherem Stil, als eine Hure anspricht: den Gelehrten anders als den Einfältigen; er muß also die Schwierigkeit realisieren, die in der Tatsache liegt, daß ihn am Sonntag keine konforme Gruppe wie die Arbeiterschaft oder die gebildete Bourgeoisie, sondern eine gemischte Gemeinde erwartet – »Keine Versammlung«, so der Superintendent Johann Gottfried Herder, »ist verschiedener an Geschmack und Kultur als die Gemeinde unter der Kanzel.« In der Tat, die Beispiele zeigen, daß das scheinbar Moderne – Predigtlehre im Zeichen der Kommunikationswissenschaft – in Wirklichkeit bewährtes Traditionsgut ist: daß man über das Verhältnis von Sender, Empfänger und Nachricht – wenngleich mit Hilfe anderer, dem Arsenal der Rhetorik entnommener Topen – nachgedacht hat (der Aspekt der Angemessenheit!), solange es eine rhetorica ecclesiastica gibt. Mancher Neuerer würde erstaunt sein, wenn ihm, der vom »Vorverständnis der Gemeinde« spricht, vom »homiletischen Klima«, von »Geschichte und Sozialstruktur der Adressaten«, von »Tabus«, »Beziehungsfeldern« und »gesellschaftlichen Prädispositionen«, die der Prediger berücksichtigen müsse, sofern er, »Tradition und Situation« miteinander verknüpfend, den alten Text im Hier und Heute ansiedeln wolle … manch einer würde erstaunt sein, wenn ihm ein Luther oder, was das Zwiegespräch zwischen Prediger und Gemeinde angeht, ein Berthold von Regensburg, sein »Ick bün all dor« zurufen würde.

Die Homiletik, so scheint es, ist in Gefahr, eine Disziplin ohne Geschichte zu werden: eine Wissenschaft, die, da sie keinen Schatten mehr hat, auch keinen Schatten mehr wirft. Hier vegetiert, den Ansätzen der Otto und Rössler, Bastian und Josuttis zum Trotz, ein Fach dahin, dem die Verkündigungs-Theologie die Existenz-Berechtigung bestritten hat: Wenn Historie, im Zeichen des je neuen Mysteriums am Sonntag bedeutungslos wird; wenn nur das »Was« zählt und nicht das »Wie«; wenn die »Inhaltisten« Sprachprobleme für Fragen ansehen, die nicht den Kernbereich von Dogmatik und Exegese berührten, sondern bestenfalls in die Verwaltung des clerus minor (will heißen: der sogenannten »Praktologen«) gehörten; wenn kein Vikar mehr weiß – wie sollte er auch: es gibt ja kein Handbuch, das, Textwort für Textwort, die Predigten der Meister zitiert –, mit welchem Aufwand an Handwerk und Technik, an Dispositionskunst und verbalem Raffinement jene »alterfahrenen und geschulten Prediger«, wie Luther sie nannte, ihre Reden entwarfen: Dann ist die Homiletik in der Tat ohne Amt. Dann mag sie sich, eingeschüchtert durch die Hohepriester der Verkündigungs-Theologie, auch in Zukunft damit begnügen, über das Wesen des Kanzel-Kerygmas zu meditieren und dabei nicht nur den Prediger und die Gemeinde, sondern am Ende auch die Predigt aus dem Blick zu verlieren.

»Denn er redet gewaltig und nicht wie die Theologen«: Die Gefahr ist groß, daß die jesuanische Rede in unseren Kirchen verstummt. Das Verlangen der Kerygma-Apologeten, die Kanzel zum Grab der menschlichen Rede zu machen, wird, sofern man es befolgt, sehr bald zu einem ganz anderen Requiem führen: zur Totenmesse für das Wort Gottes … und um das zu verhindern, gibt es nur eins: Den Aufstand der Praxis. Die Revolte von Pfarrern, die – mit Nachdruck darauf verweisend, daß gerade »Verkündiger« vom Schlage Luthers und Barths als Praktiker ganz anders: »realistisch« und »rhetorisch« predigten – die Tatsache verdeutlichen, daß die Verachtung der »armseligen Versuche menschlicher Redekunst« identisch ist mit der Musealisierung jenes verbum divinum, das – unfähig, sich gleichsam »von selbst« zu bewegen – nur dann überdauert, wenn das verbum humanum es über-setzt, weiterträgt, umdeutet, von Situation zu Situation verlebendigt und neu spricht.

Aufstand der Praxis, das heißt: Es wird gezeigt, daß die Theologie der Verkündigung, wiewohl von Predigern für Prediger entworfen, auf der Kanzel unfruchtbar und folgenlos geblieben ist – und das aus gutem Grund: Über den ganz Anderen läßt sich nun einmal nicht reden … es sei denn mit Hilfe von Tautologien, Gott ist der Andere, weil er der Andere ist, oder in einer Manier, die, wie die Erfahrung lehrt, schon deshalb ihr Ziel verfehlt, weil sie, höchst direkt vorgehend, den deus absconditus durch Kaskaden von Negativ-Attributen unversehens in ein alter ego des liberalen Gott-Vaters verwandelt. Da steht das »Wie« auf gegen das »Was«, die »Sprache« gegen das »Dogma«; da werden die Kerygmatiker, den ganz Anderen in pathetischer Rede beschwörend, zum Opfer ihrer eigenen Ideologie, und es wird sichtbar, daß man dem Verborgenen zuallerletzt mit Ausrufungszeichen beikommen kann. Ferne und Familiarität, hier die Unsichtbarkeit, dort die Genre-Beschreibung, die paradoxe Idyllik des Schreckens: Da löscht eins das andere aus. (Der späte Barth hat dies erkannt und, von »Gottes Menschlichkeit« redend, als Prediger die Konsequenzen daraus gezogen.)

Aufstand der Praxis, das heißt: Es wird gezeigt, daß ein Pfarrer, der von Gott sprechen will, nur eine einzige Artikulationsmöglichkeit hat: jene vermittelte Diktion, die – man mag sie als »Echo-Sprache« bezeichnen oder als »verweisende Rede« – Gott indirekt benennt. Wie die moderne Literatur, den Handlungs-Höhepunkt aussparend, sich auf die Schilderung des »Davor« und des »Danach« beschränkt und das Eigentliche mit Hilfe von objektiven Korrelaten umschreibt, so spricht verantwortliche christliche Rede in der Form der Andeutung und nicht in der Weise des Zugriffs von Gott, gibt, die Welt beschreibend, dem Satz »Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits« Evidenz, ignoriert die Kluft zwischen dem sicheren Oben und dem verwirrenden Unten, spürt Gott in der Alltäglichkeit auf, zeigt die Wirklichkeit in einer Manier, daß erkennbar wird, wie sehr sie der Barmherzigkeit Christi bedarf, verfremdet die Realität aus der Perspektive der Schrift – plötzlich wird deutlich: es gibt keinen Bereich, der nicht von Grund auf revolutionär werden müßte – und rückt so, sehr behutsam, den Bezugsrahmen ins Blickfeld, in dem Mensch und Gott, Mensch und Mensch einander begegnen … macht ihn sichtbar durch den Hinweis auf die Niedrigkeitsgestalt dessen, der, vere deus vere homo, in seiner Mittler-Rolle Kommunikation verbürgt: Interhumanität und Transzendenz. (Ein Doppel-Aspekt, den die vorschnelle Vergöttlichung Jesu freilich nur allzu häufig verbirgt.)

Aufstand der Praxis, das heißt: Es wird gezeigt, daß ein Prediger, der von Gott sprechen will, von der Welt reden muß, von der Lebenswirklichkeit und dem Hier und Heute des Menschen: Hat Jesus von Nazareth anders geredet? (Die Schriftausleger fragten nach dem Ewigen Leben; er sprach von Räubern und Wirten. Die Pharisäer stürmten den Himmel, und er hielt sich an – Jericho.)