Neapel - Dieter Richter - E-Book

Neapel E-Book

Dieter Richter

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Beschreibung

Richter beschreibt die Metropole Neapel als einen Ort der Verschmelzung von Kulturen seit Anbeginn, vorzüglich aber auch aus der Sicht ausländischer Reisender, für die dieses Zentrum des europäischen Tourismus zur bedrohlichen und zugleich faszinierenden Erfahrung eines anderen, dem klassischen Bild widersprechenden Italiens wurde. Und umgekehrt schildert Richter den Einfluss der »Fremden« auf diese Stadt, von den griechischen Einwanderern über die spanischen Höflinge und die Salons der europäischen Gesandten bis zu den englischen Konstrukteuren der Vesuv-Eisenbahn und zu den schweizer oder deutschen Industriellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts samt ihres Vereins- und Fürsorgewesens, das sich zum Teil bis heute erhalten hat. Das abwechslungsreiche Bild einer europäischen Metropole, nicht nur den bekannten Quellen nachgeschrieben, sondern oft auch frisch aus dem Staub unbekannter Polizeiakten und Gästebücher gezogen.

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E-Book-Ausgabe 2022

© 2005 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.

Covergestaltung Julie August unter Verwendung des Bildes »Neapel« von Hubert Sattler (InvNr. 261/30)

© 2004 Salzburger Museum Carolino Augusteum.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143471

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2509 5

www.wagenbach.de

EINLEITUNG

Neapel, der Nil

Wer in der Altstadt von Neapel durch jene schnurgerade, in die Häuser fluchten eingekerbte Straße geht, die ungeachtet ihrer verschiedenen offiziellen Namen hier einfach Spaccanapoli heißt, stößt unweit der Via San Gregorio Armeno mit ihren unzähligen Krippenfiguren, den berühmten pastori, auf die monumentale Steinfigur eines ruhenden, bärtigen Mannes auf marmornem Sockel. Das könnte neapolitanisches Barock sein, ein Werk im Stil des großen Bernini, dessen Arbeiten man hier immer wieder begegnet. Aber die Figur ist älter. Sie stammt aus römischer Zeit und stellt den Flußgott Nil dar. Piazzetta del Nilo heißt auch der kleine Platz, wenigstens offiziell, hier zweigt die schmale Via del Nilo ab, und natürlich gibt es an der Ecke auch eine Bar Nilo. Aber eigentlich heißen Figur und Umgebung ganz anders – und schon dieses »eigentlich« führt zu jenen unklaren Identitäten, wie sie dem Besucher aus dem Norden in Neapel immer wieder begegnen, nicht nur in den variablen Namen der Dinge, sondern auch in ihren unterschiedlichen kulturellen Deutungen.

Corpo di Napoli sagt man zu der Statue des Flußgottes Nil, also »Körper« oder »Leib Neapels«. Neapel als Nil? Der Nil als Neapel? Vermutlich kam die Skulptur ursprünglich mit alexandrinischen Kaufleuten nach Neapolis, die hier, am Decumanus inferior des antiken Stadtzentrums, ihre Handelskolonie hatten. Vielleicht verdankt sie ihre Existenz auch dem im 1. Jahrhundert im Römischen Reich in Mode kommenden »Ägyptenkult«, von dem im nicht weit entfernten Pompeji der Isis-Tempel zeugt. In den dunklen Jahrhunderten des Niedergangs des Römischen Reiches ging die Figur dann verloren und wurde erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts wieder aufgefunden, allerdings ohne Kopf. In dieser verstümmelten Form wurde sie von den mittelalterlichen Chronisten und von der populären Tradition als weibliche Figur gedeutet: eine Mamma, die ihre Kinder (die kleinen Putten auf dem Schoß) nährt – und mit Neapel identifiziert. Aus Vater Nil ist also Mutter Neapel geworden: corpo di Napoli, bis heute. Dabei hatte kunsthistorischer Sachverstand bereits vor Jahrhunderten die »Wahrheit« ans Licht gebracht: 1667 wurde die Skulptur restauriert und von neuem mit dem originalen Männerkopf versehen. Gleichzeitig wurde der Sockel mit einer prachtvollen Marmortafel geschmückt, feierlich erinnernd vetustissimam Nili statuam ab Alexandrinis olim ut fama est [...] positam. »Uralt« (vetustissima) also erscheint die Figur schon damals, und ihre Herkunft verkleidet sich in einem »man sagt, daß« (ut fama est). Viel mehr weiß man auch heute darüber nicht. In Neapel löst sich Historie immer wieder in erzählte Geschichte, in Geschichten auf, in jene fama, die den an Genauigkeit gewohnten Besucher aus dem Norden in Labyrinthe lockt, in denen sich seine Begriffe verwirren.

Denn in Neapel leben die Dinge im Fluß der Geschichte, verändern ihre Gestalt, bleiben aber, auch als vergangene, Teil der Gegenwart. In jeder anderen Stadt Italiens oder Europas wäre die antike Statue des Nil ein kostbares museales Objekt. In Neapel ist sie Teil eines Straßenbildes, Gegenstand öffentlichen Gebrauchs. Muschel- und Fischhändler bauen auf dem Postament ihre Plastikwannen auf, verwandeln die Statue in einen Teil ihrer Dekoration. Im Winter kommt eine ambulante Strumpfhändlerin mit ihrem Stand, spannt eine Leine zum Kopf des Nil, um eine bunte Markise daran zu befestigen. Manchmal kleben Werbeplakate auf dem alten Sockel, manchmal haben Straßenkinder das Denkmal erklettert, sitzen – lebendige Putti neben denen aus Marmor – im Schoß der Statue und bewerfen von oben die Passanten. Und fast immer ist die Statue eingehüllt in den Strom der Menschen, die sich durch die Straße drängen, in das Geknatter der Motorini, die Abgase der Autos, die hier eigentlich nicht fahren dürften, denn der Straßenabschnitt ist, wiederum offiziell, zona pedonale, Fußgängerzone.

Die Statue des Nil, genannt »Corpo di Napoli« in der Altstadt. Ein Händler mit Büchern und Zeitschriften nutzt sie als Verkaufsstand.

Stadt der Metamorphosen

Neapel ist überreich an Musealem, aber Neapel ist kein Museum. Das unterscheidet diese Stadt von anderen Städten Italiens und macht die Annäherung schwierig. »Dem reisenden Bürger, der bis Rom sich von Kunstwerk zu Kunstwerk wie an einem Staket weitertastet, wird in Neapel nicht wohl«, schrieb Walter Benjamin 1925.1 Kunstwerke präsentieren sich hier ohne jene Aura, die ihnen andernorts eigen ist. Wer in Florenz vor dem Palazzo Strozzi, in Rom vor dem Palazzo Braschi steht, kann sich von einem historisch gebildeten Reiseführer ausmalen lassen, welches bunte Leben sich einst hier abspielte. Wer hingegen in Neapel einen der historischen Paläste wie beispielsweise den barocken Palazzo Serra di Cassanobesucht, wird rasch merken, daß die Gegenwart dort noch immer ihren Platz hat: Geschäfte, Autowerkstätten, Imbißbuden, Verkaufsstände und andere Etablissements sind Bestandteile dieser Paläste; zahlreiche Menschen leben noch immer in ihren Mauern, gehen hier ein und aus, Reiche und Arme unter ein und demselben Dach. »In Neapel« – schreibt der neapolitanische Ethnologe Marino Niola – »kann der städtische Raum als eine Ansammlung von Zeiten angesehen werden, als eine vielschichtige, unebene Landkarte, markiert durch die Risse und Einprägungen der Epochen.«2 Solche Überschneidungen von Räumen und Zeiten müssen ästhetisch durchaus nicht ansprechend sein. Unweit der Statue des Nil kann man die Reste des antiken Theaters sehen, in dem Kaiser Nero einst seinen großen Auftritt als Sänger hatte: Sie sind heute in ein modernes sechsstöckiges Gebäude »eingebaut«, die antiken Bogen öffnen sich zu einem banalen Aufzug und einer häßlichen Garageneinfahrt. Und selbstverständlich macht kein Hinweisschild den Touristen auf die berühmten Altertümer aufmerksam. Es scheint, als sei in Neapel die Erhaltung der Zeugnisse der Vergangenheit ohne ihren aktuellen Gebrauch kaum denkbar. Im Osten der Stadt, am Golf von Pozzuoli, liegen die Stufe di Nerone, ein antikes Dampfbad, bis ins 19. Jahrhundert eine der großen Sehenswürdigkeiten der Grand Tour. Heute hat hier eine vielköpfige Familie Wohnung bezogen, nutzt die heißen Dämpfe, die aus dem Felsen strömen, als Heizung und die in den Stein eingehauenen antiken Ruhebetten als Kleiderschränke.

So existieren die Dinge dieser Stadt in beständigen Metamorphosen: Vater Nil verwandelt sich in Mutter Neapel, Vergil wird im Mittelater zum Zauberer, die Grabkapelle des Naturforschers Raimondo di Sangro zum modernen Gruselkabinett, die antiken Kavernen zum Schlupfwinkel der organisierten Kriminalität. Im Blutwunder von San Gennaro, dem Patron der Stadt, nimmt diese beständige Metamorphose sichtbare Gestalt an. Nichts bleibt als das erhalten, was es einmal war, die Idee des Klassischen, auch des klassischen Monuments, ist dieser Stadt fremd, auch wenn Denkmalschützer neuerdings daran arbeiten.

Die Präsenz der Toten

Sigmund Freud, der Rom sehr, Neapel hingegen überhaupt nicht schätzte, hat in »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) die menschliche Seele mit der Ewigen Stadt verglichen, die Arbeit des Psychoanalytikers mit der des ausgrabenden Archäologen, der das Verschüttete wieder ans Tageslicht bringe. Freud, zeitlebens selber archäologisch interessiert, ging dabei von einem klassischen Modell aus, dem geordneten Übereinander der einzelnen Tiefenschichten: »Derselbe Raum verträgt nicht zweierlei Ausfüllung.«3 Für Neapel gilt ein anderes Modell (und sowohl Archäologen wie Psychoanalytiker können sich inzwischen darin wiederfinden): die Vermischung der Schichten, das Chaos der historischen Erinnerungen. Die Geschichte setzt die einzelnen Elemente immer wieder neu zusammen, und zum Vorschein kommt »fast wie in einer Überblendung, eine außerordentliche Beständigkeit von Figuren und Formen, von mentalen und sozialen Gewohnheiten, von Verhaltensmustern und Symbolen« (Niola).4

Die Präsenz der Toten, allgemeiner gesagt dessen, was mit einem durchaus an die Psychoanalyse erinnernden Begriff Napoli sotteranea, also das »unterirdische Neapel« genannt wird, macht diese Überblendungen von Gegenwärtigem und Vergangenem besonders deutlich. »In Neapel gibt es die oberirdische Welt, Wohnort der Menschen, und es gibt die unterirdische Welt, Wohnort der Seelen, der Geister, der Stimmen« (Raffaele La Capria).5 Die Stadt ist auf einem weichen, porösen Tuffsteinfelsen erbaut, der an zahl losen Stellen von teils natürlichen, teils künstlich gegrabenen Stollen, Höhlen, Katakomben und unterirdischen Friedhöfen durchsetzt ist. So gibt es neben dem sichtbaren Teil der Stadt immer auch ihr dunkles, unterirdisches Spiegelbild. Und es gibt zwischen der oberen und der unteren Welt, der Tag- und der Nachtseite der Stadt, den beständigen Austausch. Jedes Haus des alten Zentrums verfügte einst über einen eigenen, schmalen Brunnenschacht, den pozzo, der etwa 30 bis 40 Meter in die Tiefe führte, wo er mit einem verzweigten System von Aquädukten und Kavernen verbunden war. In seiner Grundform rührte dieses System der Wasserleitung bereits von den Griechen her und wurde durch die Spanier im 17. Jahr hundert erweitert. Diese unterirdische Welt war das Reich der pozzari, der »Brunnenmänner«: schwarzer, schmutziger Gesellen, die in der Tiefe ihre Arbeit verrichteten, die Schächte und Kanäle warteten und manchmal wie Kobolde aus der Tiefe in den Häusern auftauchen konnten. In dieser Form funktionierte das System bis zum Bau der »modernen« Wasserleitung in den 1880er Jahren. Aber abgetan war es auch dann noch nicht. Im Zweiten Weltkrieg erinnerten sich die Neapolitaner ihrer città sotteranea von neuem: Zu Zehntausenden flüchteten sie sich vor den alliierten Bombenangriffen in die sichere Tiefe – in Luftschutzbunker aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert! Die Graffiti und Haushaltsgegenstände, die sie dort damals hinterlassen haben, sind inzwischen selber wieder archäologische Objekte.

Unterirdischer Friedhof: Der Cimitero delle Fontanelle, 2010

Natürlich war und ist die Unterwelt Neapels vor allem eines: der Ort der Toten. Daß in der Gegend am Vesuv, in dieser verworfenen, porösen Landschaft, die Alten den Eingang zur Unterwelt lokalisierten, daß auch der fromme Aeneas beim Avernersee den Weg zur Welt der gestaltlosen Schatten fand, ist leicht zu verstehen. Aus dem Reich des Hades ist inzwischen die unterirdische Welt der christlichen Toten, der anime del purgatorio, geworden, der Armen Seelen im Fegefeuer. Ihr Kult steht in Neapel so hoch im Kurs wie in keiner anderen Stadt. Aber auch die unterirdische Welt der Toten ist kein Museum, ist in beständiger Bewegung, in stetem Austausch mit der oberen Welt. Nirgends sind die Toten so präsent wie in Neapel, im populären Kult ebenso wie in Kunst und Architektur. Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Verstorbenen in den Krypten der Kirchen, in damit verbundenen Höhlen oder in den großen Katakomben beigesetzt. Erst 1837 wurde der erste »moderne« Friedhof eingeweiht. Aber die Toten in den unterirdischen Friedhöfen wurden weiter besucht, ihre Schädel, geschmückt und umsorgt, zu Objekten frommer Verehrung. Es ging um persönliche Fürsorge für eine Arme Seele im Fegefeuer, um eine ins Totenreich verlängerte Schutz- und Treuebeziehung, wie sie für die familiale Mentalität im Süden typisch ist. Und es ging, vice versa, um die Hoffnung, aus dieser freundschaftlich-klientelen Beziehung zu einem Abgeschiedenen selbst entsprechender Gnaden würdig zu werden. Auch pietà schwingt mit, das Mitgefühl für die anime abbandonate, die »verlassenen« Seelen, die keine Angehörigen mehr unter den Lebenden haben, keine Familie, in deren schützenden Gedächtniskreis sie gehören. So ist die Sorge um die Armen Seelen nicht Pflege der Erinnerung an Vergangenes; sie bedeutet vielmehr die Aufhebung des Vergangenen im Gegenwärtigen. »Es gibt keine Toten« kann man auf einem Grabstein auf der Insel Capri lesen.6

Die katholische Kirche hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einiges unternommen, um diesem populären, heterodoxen Kult Einhalt zu gebieten. Die meisten der unterirdischen Friedhöfe sind heute (wieder eine vage Zeitkategorie) geschlossen, verfallen, in restauro, wie man das hier gern freundlich nennt. Nach einem Dekret des Erzbischofs vom Juli 1969 mußten die Gebeine aus den unterirdischen Friedhöfen entfernt und »schuldigst beigesetzt« werden. Aber die offiziell verordnete Verwandlung der Untoten in Tote gelang nur schwer. 2010 erzwangen die Anwohner des Viertels die Wiedereröffnung des Cimitero delle Fontanelle. Noch immer leben die Toten dort weiter, noch immer werden sie besucht, von Mädchen und Frauen, Schülerinnen, jungen Paaren, schwangeren Müttern; sie kommen mit Kerzen, schmücken und streicheln die offen oder hinter Glas ausgestellten Schädel, stecken ihnen Bitten und Wünsche zu. Dann steigen sie aus der Unterwelt wieder nach oben ins Verkehrs- und Einkaufsgewühl der großen Stadt.

Die Kraterlandschaft des Golfs von Pozzuoli im Westen Neapels, Kupferstich, 1782

VERSCHMELZUNG DER KULTUREN

Eine kosmopolitische Geschichte

Parthenope, Neapolis, graeca urbs

Neapel ist die Hauptstadt der kosmopoliteia, der Vermischungen von Sprachen, Völkern und Kulturen. Viele haben hier ihre Spuren hinterlassen, sichtbar bis heute. Die erkennbaren Anfänge der Stadt liegen im 5. vorchristlichen Jahrhundert. Griechische Siedler, entweder aus dem benachbarten Cumae oder aus dem hellenischen Mutterland selber, ließen sich am Golf nieder, nannten ihre Ansiedlung Neapolis, »Neustadt«. Zuvor hatte bereits eine »Altstadt« existiert, auf dem Pizzofalcone, dem wehrhaften »Falkensporn«: Parthenope, eine griechische Gründung des 7. Jahrhunderts. Der alte Stadtname, nach dem Mythos der Name einer Sirene, ist bis heute ein klangvoller Beiname Neapels geblieben, nicht nur unter gebildeten Neapolitanern: città partenopea. Natürlich reicht der »Brunnen der Vergangenheit« noch in entferntere Tiefen. In der Gegend des fruchtbaren Kampanien lebten vor der griechischen Ansiedlung die italischen Völker der Osker, der Samniter und der später eingewanderten Etrusker.

Neapel, die »Neustadt«, war wie fast alle Küstenregionen Unteritaliens Teil Großgriechenlands, der Magna Graecia. Die Verkehrssprache war griechisch. Noch lange Zeit nach der Romanisierung Unteritaliens bleibt Neapel die graeca urbs, die »griechische Stadt«, wie sie Tacitus nennt1, die ihren Charakter aus einer dezidiert griechisch-römischen Mischkultur gewinnt. Als Kaiser Augustus nach Capri kommt, freut er sich, wie Sueton berichtet, daß er hier noch eine Anzahl alter griechischer Ephebenschulen vorfindet, und er macht sich ein Vergnügen aus einer Art von bikulturellem Wechselspiel: Er verlangte nämlich, »daß die Römer sich griechisch kleideten und auch griechisch sprächen, und die Griechen umgekehrt«.2 Die griechische Sprache sollte sich in einigen Bergdörfern Kalabriens bis heute erhalten.

Antike HafenstadtWandgemälde aus Pompeji, Kupferstich Neapel, 1760

Im 3. vorchristlichen Jahrhundert wird Neapel Teil des Römischen Weltreichs. Das benachbarte Puteoli (heute Pozzuoli) wird in der Kaiserzeit Roms wichtigster Hafen, die Verbindung mit der Welt des Orients. Der große, für die Geschichte der abendländischen Zivilisation so wichtige ost-westliche Handels- und Kulturweg, der von China über Indien, das Zweistromland und das östliche Mittelmeer führte, mündete in Puteoli in die lateinischwestliche Welt. Nicht nur materielle Güter wie der Wein, die Kirsche, das Elfenbein, die Rose, der Weihrauch haben diesen Weg genommen; auch das Christentum kam über Puteoli ins Abendland. Der Apostel Paulus landete hier, aus Malta oder Korfu kommend, auf seiner Reise nach Rom.

Antiker LeserWandgemälde aus Pompeji (Kupferstich Neapel, 1779)

In der römischen Kaiserzeit entwickelte sich die Gegend am Golf von Neapel zu einem der wirtschaftlichen und sozialen Zentren des Römischen Reiches, vor allem aber zu einer vielgerühmten Region des Luxus und des Müßiggangs. Zahlreiche vermögende Römer hatten dort ihre Villen, zogen sich während der heißen Sommermonate hierher zurück. Der Name des Posillipo (aus griechisch pausylipon, »der Sorgen Ende«, »Sanssouci«) erinnert noch heute daran. Die heißen Thermen in Baiae ließen ein florierendes Bade leben in schönster kampanischer Landschaft entstehen. Nullus in orbe sinus Baiis praelucet amoenis, »keine Bucht auf Erden überstrahlt Baiaes Reize«: So gibt Horaz die allgemeine Meinung wieder.3 Vor Kap Misenum hatte die römische Flotte ihren Stützpunkt, und 11 Jahre lang, zwischen 26 und 37 n. Chr., war der Golf von Neapel sogar das Regierungszentrum des Römischen Reiches: Kaiser Tiberius hatte in dieser Zeit seine Residenz nach Capri verlegt.

In und bei Neapel lebte auch Roms größter Dichter, Vergil. Dulcis Parthenope, »süße Parthenope« nennt er die Stadt.4 Die »Eklogen« und die »Georgica« sind hier entstanden, und Vergils hymnisches Lob der Campania felix hat den Ruf dieser »glücklichen« Landschaft für alle Zeiten geprägt. In seiner »Aeneis« läßt er Aeneas und die Seinen den Boden des gelobten italischen Landes nicht in Rom betreten, sondern am Golf von Neapel.5 In der Unterwelt, am Avernersee, empfängt er die Prophezeiung von Roms künftiger Größe. Hier, so Vergils Botschaft, in der Magna Graecia, liegen die geistigen Wurzeln des Imperium Romanum. Vergil selber wurde in Neapel begraben; sein Grab neben der antiken Grotta di Posillipo wurde schon in der Antike ein Wallfahrtsort, und er ist es bis in die Neuzeit geblieben. In der mittelalterlichen Volksüberlieferung Neapels lebte Vergil als eine Art Stadtpatron weiter, als großer Heilkundiger, Kräutermagier, Zauberer und Erbauer der Grotte durch den Posillip.6

In der öffentlichen Meinung war die Campania felix zum Inbegriff eines bestimmten Lebensstils, zu einer »geistigen Landschaft« (Ekkehard Stärk) geworden. Es war die Landschaft des otium und der luxuria, der sinnenfrohen Vergnügungssucht und einer morbiden Dekadenz, wie sie im Gegensatz stand zu altrömischer Strenge und Einfachheit. Litora quae fuerint castis inimica puellis nennt der eifersüchtige Properz die Gegend von Baiae7: »Strände, die den anständigen Mädchen gefährlich werden.« Und Seneca meint, ein weiser Mann habe dort nichts zu suchen, wozu dienten ihm schließlich Thermen, Schwitzbäder und andere Verweichlichungen der Sinne und Versuchungen der Tugend.8 Liest man die Berichte späterer Neapel-Reisender, in denen ganz ähnliche Töne anklingen, ist man versucht, von einem genius loci dieser Landschaft zu sprechen.

Neben Griechen und Römern bevölkerten auch die Angehörigen anderer Sprachen und Kulturen die große Handelsstadt: Juden, Alexandriner, Ägypter, Karthager, Phönizier und Syrer. Wie keine andere Stadt im Westen des Imperiums war sie ein einzigartiger kultureller melting pot. Das Zentrum des kosmopolitischen Lebens war das Forum, die heutige Piazza San Gaetano. Wer heute dort die Kirche San Paolo Maggiore betritt, schreitet durch die monumentalen korinthischen Säulen, die hier einst den Tempel des Castor und Pollux schmückten. In der benachbarten Kirche San Lorenzo Maggiore kann man in die Tiefe steigen und die aus dem Untergrund herauspräparierten Schichten der Vergangenheit bewundern: zunächst das römische, darunter das griechische Straßenniveau. Ähnliches kennt der Besucher von anderen Ausgrabungsstätten, zum Beispiel in Rom. Was er dort allerdings nicht findet, ist die lebendige Gegenwart der griechisch-römischen Antike in der modernen Topographie: Die Straßenführung der Altstadt korrespondiert exakt mit der antiken Anlage der Stadt und ihrer linearen Gliederung in drei west-östlich verlaufende Decumani und die sie verbindenden Cardines. Selbst die Kirchen fügen sich, anders als in Rom, in dieses Raster ein.

Goten, Langobarden und die Wunder des Orients

Es gehört zu den Besonderheiten Neapels, daß es, anders als Rom, im Lauf seiner langen Geschichte nie zerstört wurde, auch nicht in den tumultuarischen Jahrhunderten der Völkerwanderung und der Gotenkriege, die im 6. Jahrhundert auch Süditalien heimsuchten. Dabei wurde die Gegend von Neapel dramatischer Schauplatz der letzten Niederlage der Ostgoten in Italien: In der Ebene zwischen dem Vesuv und den Monti Lattari wurde im Jahr 553 Totilas Nachfolger Teja vom oströmischen Heer unter Narses geschlagen; das Ende der Geschichte der Goten in Italien war damit besiegelt.

In der Folgezeit kommt Neapel unter byzantinische Herrschaft; erneut lassen sich griechische Ansiedler nieder, bis ins 8. Jahrhundert bleibt das Griechische in Sprache und Kultur dominant. Und erst 763 erkennt die Stadt die Autorität des Papstes in Rom an. Gleichzeitig machen sich in Kampanien seit dem 6. Jahrhundert die Einflüsse einer ganz anderen, einer »nördlichen« Kultur breit. Es sind die Langobarden, die die Gegend am Golf von Salerno beherrschen, dazu Nocera, Capua, Benevent, also so gut wie das gesamte Umfeld von Neapolis. Die Abtei Santa Trinità bei Cava dei Tirreni ist eine langobardische Gründung, die Bibliothek bewahrt bis heute den Codex Legum Langobardorum auf.

Im 9. und 10. Jahrhundert erleben dann Sizilien und Süditalien das Vordringen der Araber. In dieser Zeit ist Neapel nach der allmählichen Lösung von Byzanz ein politisch selbständiges Herzogtum (763–1139) und führt eine Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen mit den »Ungläubigen«. Auf der anderen Seite unterhält die Stadt – ähnlich wie die Seerepublik von Amalfi – intensive Handelskontakte mit eben diesen »Ungläubigen«. Unteritalien wird neben Spanien die wichtigste »Brücke« zwischen Orient und Okzident. Mit der überlegenen arabisch-orientalischen Kultur kommt im hohen Mittelalter eine Reihe von technischen Neuerungen in den Westen – das Papier, die Keramik, der Kompaß, das Mühlenwesen, die Terrassenkultur, die Gewölbearchitektur: Errungenschaften einer technologischen Modernisierung, die auch das Gesicht der Landschaft nachhaltig verändern. Mit den Arabern kommen ferner die Dattelpalme, die Baumwolle, die Seidenraupenzucht, der Zitronenanbau, kommen Gewürze, Spezereien und Genußmittel wie der Kaffee und der Zucker und nicht zuletzt zahlreiche Neuerungen im Bereich der Medizin, des Gesundheitswesens, der Mathematik und der Philosophie. Der Seehandel macht die Gegend reich, erneut breitet sich eine raffinierte Kultur des Luxus und des Wohlstands aus. Süditalien steht im hohen Mittelalter an der Spitze der europäischen Entwicklung der Kultur. Neapel hat in dieser Zeit rund 35–40.000 Einwohner.

Normannen, Schwaben, Franzosen

Seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts mischt sich dann erneut eine nördliche Ethnie in die Geschicke Unteritaliens und Neapels ein: das Volk der Normannen. Warum sie, ursprünglich in Skandinavien beheimatet, dann in England und Nordfrankreich ansässig, ausgerechnet im Süden Italiens ihr »merkwürdiges Reich« (Ferdinand Gregorovius) errichteten, bleibt rätselhaft. Es mag als romantische Träumerei erscheinen, wenn Gregorovius schreibt, daß sie angelockt worden seien »von dem ewigen Frühling des Landes, den süßen Früchten und den Schätzen, welche tapfere Männer dort erbeuten könnten«9 – eine plausiblere Erklärung läßt allerdings bis heute auf sich warten. Jedenfalls unterwarfen sie im Verlauf weniger Jahr zehnte den gesamten Süden Italiens einschließlich Siziliens und vereinigten auf diese Weise den Mezzogiorno zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einem einzigen großen Königreich. Nach einer hartnäckigen Belagerung ergab sich Neapel 1139 dem Normannenkönig Roger. Er war der erste in einer langen Reihe fremder Konquistadoren, die seitdem als Könige die Geschicke Neapels bestimmten.

Um 1100 bewegt sich Neapel also im Kräftefeld von Griechen, Langobarden, Arabern und Normannen. Es hat in der Geschichte Europas keine andere Region gegeben, in der so heterogene kulturelle Einflüsse eine ähnlich kosmopolitische Mischkultur entstehen ließen – eine Form der »Globalisierung« ante litteram. Auf die Phänotypen der verschiedenen mittelalterlichen Völker kann man noch heute im Straßenbild von Neapel treffen.

Nach dem Tod des Normannenkönigs Tankred 1194 meldet nun auf dem süditalienischen Schauplatz auch eine »deutsche« Macht ihre Ansprüche an: die Hohenstaufen. Kaiser Heinrich VI., der mit der Normannenprinzessin Konstanze verheiratet ist, erobert das Reich im Süden und wird in Palermo zum König gekrönt. Jetzt kommen deutsche – oder, wie die Italiener sagen: suevi, »schwäbische« – Ministerialen und Soldaten in den Süden. Heinrichs Sohn Friedrich II. wird mit 17 Jahren König von Sizilien. Die Zeit seiner Regentschaft (1212–1250) verkörpert jene große Koiné von Sprachen und Kulturen, wie sie den Glanz seines Reiches ausmacht, die Verbindung von Arabisch-Orientalischem mit Lateinisch-Germanischem. Im Milieu von nicht weniger als sieben lebenden Sprachen ist der Kaiser aufgewachsen: toskanisch-umbrisch, schwäbisch, normannisch, sizilianisch, griechisch, arabisch und aragonesisch.

Friedrichs Hauptstadt war Palermo, aber Neapel wurde unter seiner Herrschaft zur geistigen Metropole des Reichs. 1224 gründete er hier die Universität, die heute seinen Namen trägt. Es war die erste staatliche, das heißt laizistische Universität Europas. Sie sollte fähige Köpfe heranbilden, die ohne klerikale Indoktrination den öffentlichen Diensten zur Verfügung zu stehen hätten. Auch der Stadt Neapel galt Friedrichs Fürsorge. Er verbesserte die Mauern, verstärkte die Befestigungen der Stadt und erneuerte das normannische Castel Capuano und das Castel dell’Ovo, letzteres bis heute die eindrucksvollste Reminiszenz der »schwäbischen« Periode.

Mit Friedrichs II. Tod begann der Niedergang der schwäbischen Herrschaft in Unteritalien. Der Papst übertrug das normannische Königreich dem Franzosen Karl von Anjou, der 1266 in der Schlacht bei Benevent Friedrichs Sohn Manfred besiegte. Der Versuch seines jungen Neffen Konradin, das Reich zurückzuerobern, scheiterte. Konradin wurde nach der Schlacht bei Tagliacozzo im Castel dell’Ovo gefangengesetzt und auf Befehl Karls 1268 in Neapel hingerichtet. Sein Grab sollte im nationalen 19. Jahrhundert zum »Pilgerziel« vieler deutscher Neapel-Reisender werden. Damit beginnt in Neapel die Herrschaft des französischen Hauses Anjou, die epoca angioina. Neapel wird nach der »Sizilianischen Vesper« (1282) anstelle von Palermo die Hauptstadt des Reiches; Sizilien löst sich ab und fällt dem Haus Aragon zu.

Die angioinische, also »französische« Epoche (1266–1442), die Zeit des ausgehenden Mittelalters und der französischen Gotik, hinterläßt eindrucksvolle baukünstlerische Spuren im Stadtbild von Neapel. Es ist die Zeit der Ausbreitung der Bettelorden, die sich auch in Neapel mit Konventen und großen Begräbniskirchen verewigen. Die Franziskaner errichten Santa Chiara und San Lorenzo Maggiore (wo Boccaccio seiner Fiammetta begegnete und Petrarca wohnte), die Dominikaner San Domenico Maggiore (in der Thomas von Aquin lebte), die Kartäuser die hochgelegene Certosa di San Martino. Neapel wird damit zu einer Hauptstadt der gotischen Architektur in Europa. Große toskanische Künstler wie Giotto, Simone Martini, Arnolfo di Cambio und Perugino arbeiten zu dieser Zeit in der Stadt. Die Bevölkerung wächst jetzt auf 60.000 Einwohner.10 Karl von Anjou errichtet 1279 als Wehrburg am Hafen das monumentale Castel Nuovo, auch Maschio Angioino genannt, sein Enkel Robert 1329 das die Stadt dominierende Castel Sant’Elmo. Die Gegend zwischen dem Pizzofalcone und der antik-mittelalterlichen Altstadt wird mit dem Castel Nuovo zum politisch-administrativen Zentrum der Stadt und ist dies bis heute geblieben.

Vom Neapel der Anjou haben wir die schönsten literarischen Zeugnisse aus der Feder von Boccaccio. Sein Vater hatte 1328 den damals 15jährigen in der neapolitanischen Filiale des Florentiner Bankhauses der Bardi als »Lehrling« untergebracht. Zwölf Jahre lebte er in Neapel. Er studierte die Rechte, kam in Kontakt mit dem Hof des kunstsinnigen Robert des Weisen. Ein Besuch an Vergils Grab soll ihn auf den Weg der Dichtkunst gebracht haben. In Neapel entstanden seine frühen Werke; die »Stadt der Städte Italiens« (Boccaccio) ist auch der Schauplatz seiner idealischen Liebe zu Fiammetta. Die Gärten und Liebeshöfe der Stadt, die Ufer des Golfs sind seine Kulissen. Daß manches Mädchen, das als keusche Lukrezia nach Baja kam, als geile Kleopatra zurückkehrte11: Mit dieser Feststellung aktualisiert Boccaccio einen Topos aus den Zeiten der Antike.

Auch ein anderer großer Toskaner lebte eine Zeitlang im Neapel der Anjou: Francesco Petrarca. Vor seiner berühmten Dichterkrönung auf dem Kapitol 1341 hielt er sich am Hof König Roberts des Weisen auf, ließ sich hier prüfen und der Ehre des poeta laureatus für würdig befinden. Und natürlich besuchte auch er die klassischen Erinnerungsstätten am Golf und erwies dem Grab des Vergil seine Reverenz.

Das Jahrhundert der Aragonesen

Es bietet sich an, die neuere Geschichte Neapels am Leitfaden seiner jeweiligen fremden Herrscher zu erzählen, und in diesem Sinne bildet das Jahr 1442 eine weitere Zäsur. König Alfons aus dem katalanischen Geschlecht der Aragon erobert die Stadt und gibt sich den Titel rex utriusque Siciliae, »König beider Sizilien«. Bis 1503 werden die Aragonesen das wiedervereinigte Königreich beherrschen, zahlreiche Katalanen lassen sich nun im Umkreis des Hofes nieder.

Ähnlich wie in anderen italienischen Residenzen der Renaissance entwickelte sich auch in Neapel der Hof zu einem Zentrum der Prachtentfaltung und der Pflege der Künste. Hier wirkte als bekanntester neapolitanischer Dichter der Epoche Jacopo Sannazarro, der Autor der Arcadia. Die Epoche liebte das Zeremoniell der großen, öffentlichen Prachtentfaltung. Als im Jahr 1452 der deutsche Kaiser Friedrich III. – der letzte, der in Rom gekrönt wurde – auf seinem Italienzug nach Neapel kam, richtete man ihm dort ein zehntägiges Fest aus, während dessen Weinbrunnen flossen und andere spektakuläre Lustspiele veranstaltet wurden, die bereits auf die barocken »Schlaraffenland«-Inszenierungen der Folgezeit verweisen.

Im Stadtbild hat die kurze aragonesische Epoche (in Europa das Zeitalter der Renaissance) so gut wie keine Akzente gesetzt – mit Ausnahme des prächtigen, marmornen Triumphbogens für König Alfons am Castel Nuovo: ein Hauptwerk der Hochrenaissance in Unteritalien.

Ein anderes dramatisches Ereignis jener Zeit wird allerdings für lange Zeit mit dem Namen Neapels verknüpft sein: das erste Auftreten der Syphilis. Als der französische König Karl VIII. im Jahr 1495 vor Neapel stand, brach in seinem bunt zusammengewürfelten Heer diese bis dahin unbekannte Krankheit aus, die die Europäer aus Amerika eingeschleppt hatten. Als mal de Naples wird sie sich von hier aus in ganz Europa verbreiten.

Spanische Herren. Die Kapitale des Barock

In der aragonesischen Epoche hatte sich die Stadt weiter vergrößert, um 1500 zählte sie rund 100.000 Einwohner, eine Zahl, die der Größe Londons entsprach. Città nel vero celebre e famosa, costumata e abondevole di tutto quello che imaginar si puole: So nennt sie 1553 der Venezianer Straparola, »eine wahrhaft herrliche und berühmte Stadt, von guten Sitten und überreich an allem, was man sich nur denken kann«. Wobei er nicht vergißt, dem alten Muster folgend, süffisant hinzuzufügen: copiosa di leggiadre donne, »reich an leichtfertigen Frauen«.12

Mit dem Ende der aragonesischen Erbfolge wurde das Königreich Neapel zum Zankapfel zwischen Franzosen und Spaniern, ein Streit, den 1503 die letzteren für sich entschieden. In diesem Jahr nimmt der spanische General Gonzalo Fernández für Ferdinand den Katholischen von der Stadt Besitz. Dessen Erbe tritt 1516 Kaiser Karl V. an. Für mehr als zwei Jahrhunderte wird nun Neapel Teil des spanisch-habsburgischen Weltreichs, wird neben Lissabon, Madrid und Wien eines seiner großen Machtzentren. Es wird Regierungssitz eines Vizekönigs; das Spanische wird Hof- und Beamtensprache.

Die zwei Jahrhunderte der spanischen Herrschaft in Unteritalien (1503–1707) gehören zu den glänzendsten und zugleich turbulentesten in der Geschichte Neapels. Sie haben das Aussehen der Stadt, die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner, die religiösen Sitten und auch die Sprache nachhaltig beeinflußt. Neapel wird jetzt zur Stadt des Barock, eine Stilrichtung, die hier bis heute in besonderer Weise präsent ist.

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten wird Neapel im 16. Jahrhundert zum Schauplatz einer eingreifenden urbanistischen Umgestaltung. Unter dem Vizekönig Don Pedro Alvarez de Toledo (1532–1553), einem Sohn des Herzogs von Alba, wird die Stadt über ihre alten Mauern hinaus auf das Doppelte ihres bisherigen Umfangs erweitert. Westlich der Altstadt entsteht die große Süd-Nord-Achse, die, auch nach ihrer Umbenennung in Via Roma im Jahr 1860, bis heute nach ihrem Schöpfer il Toledo heißt: eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. Parallel dazu entstehen die sogenannten Quartieri spagnuoli: als Unterkünfte für die Soldaten der spanischen Besatzungsmacht gebaut, heute eines der umtriebigsten, populären Wohnviertel. Ein erweiterter Mauerring wird angelegt, der bis zum Castel Sant’Elmo hinaufreicht und Pizzofalcone und das Castel dell’Ovo einschließt. Neapel erhält jetzt jenen eigentümlichen urbanen Charakter, der geprägt ist durch die gewaltigen Massen der drei Kastelle, die die Stadt von der Berg- und von der Seeseite her dominieren, in Schach halten. Später kommt noch der Palazzo Reale hinzu, 1600–1602 von Domenico Fontana im neuen repräsentativen Viertel der Stadt errichtet.

Auch die soziale Struktur Neapels verändert sich. Die in der Provinz ansässigen Feudalherren und Latifundienbesitzer ziehen mit ihrem Anhang in die Hauptstadt, übernehmen repräsentative Funktionen und wetteifern im Umkreis des Hofes in Wohlleben und Prachtentfaltung. Ofanità, ein Lehnwort aus dem spanischen ufanidad, ist im Neapolitanischen synonym mit »Gefallsucht« und »Eitelkeit«: der Haltung der großen Pose. In einer Ekloge seines »Pentamerone« (1634/36) hat der neapolitanische Ritter Giambattista Basile, selber einer jener Aufsteiger, diesen Typus des Höflings und geschniegelten Parvenus, der in der Residenz den großen Herrn spielen will, aufs Korn genommen: »Die Kleider aus Seide und Goldbrokat,/und beim Essen muß man ihm fächeln,/und er hat einen Nachttopf aus Silber«.13

Der Cavaliere Giambattista Basile, Abenteurer und Autor des »Pentamerone«

Auf der anderen Seite der sozialen Skala gibt es die verarmten Massen, die unter dem Namen der Lazzaroni in ganz Europa bekannt werden sollten. Von Gelegenheitsarbeiten lebend und vom Hof mit Brot und Spielen bei Laune gehalten, spielte sich das Leben dieser unteren Volksklassen im wesentlichen auf den Straßen ab. Glaubt man den Berichten zeitgenössischer Reisender, die fast ausnahmslos das Phänomen der Lazzaroni erörtern, handelt es sich dabei um »eine Menschengattung, die keine einzige Stadt der Welt besitzt«.14 Selbst ein Reisender, der, wie der weltkundige Samuel Sharp, aus einer Stadt wie London kam, kann sein Erstaunen angesichts dieses Anblicks nicht verbergen: »Die Volksmenge Neapels ist so hervorstechend, daß ein Fremder, der zum ersten Male bestimmte Teile der Stadt passiert, meinen möchte, das Volk habe sich zu einem außerordentlichen Anlasse auf den Straßen versammelt.«15

Nichts charakterisiert das Spannungsverhältnis zwischen dem »reichen Mann« und dem »armen Lazarus« im barocken Neapel besser als jene Volksbelustigungen, wie sie unter dem Namen Cuccagna (»Schlaraffenland«) damals in Mode kamen: spektakuläre Inszenierungen, bei denen vor dem Palazzo Reale eine gewaltige, eßbare Landschaft errichtet wurde, die dann von den Volksmassen auf ein Zeichen des Königs hin erobert werden durfte, während sich die Angehörigen des Hofes auf dem Schloßbalkon am grotesken Anblick der gegeneinander um die besten Bissen kämpfenden Hungerleider weideten.16 Es ist die alte Verbindung von »Sozialpolitik« und »Vergnügen«, das mediterrane Muster des panem et circenses.

Im Gegeneinander von höfisch-aristokratischen Schichten auf der einen Seite, den plebejischen Volksmassen auf der anderen wird sich bis in die bourbonische Ära das soziale und politische Leben in Neapel gestalten. Nur zögernd entwickelt sich hingegen – anders als in anderen europäischen Großstädten – eine bürgerliche Mittelschicht. Damit verliert Neapel – ähnlich wie andere Metropolen des spanisch-habsburgischen Weltreichs – allmählich den Anschluß an Entwicklungen, wie sie sich in dieser Zeit im Norden, vor allem in Ländern wie Frankreich und England vollziehen.

Die Bevölkerung der Stadt wächst in der Zeit der spanischen Herrschaft kontinuierlich, obwohl immer wieder Epidemien ausbrechen. Ende des 16. Jahrhunderts zählt die Stadt rund 225.00017, um die Mitte des 17. Jahrhunderts rund 350.000 Einwohner und ist damit neben London und Paris die größte Stadt Europas18. Besuchern aus dem Norden fällt die starke Präsenz von Mönchen und Klerikern im Stadtbild auf; in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zählt man 304 Kirchen und 144 Klöster mit fast 5.000 Geistlichen19. Die neuen Orden der Gegenreformation haben sich mit Konventen und opulenten Kirchen etabliert, allen voran die Jesuiten mit der prachtvollen Kirche Gesù Nuovo, die Oratorianer mit der Girolamini-Kirche und die Theatiner mit San Paolo Maggiore. Die älteren Kirchen, auch der Dom, werden im barocken Stil umgestaltet. Für das Volk entstehen zahlreiche wohltätige Stiftungen wie der Pio Monte della Misericordia (mit Caravaggios Gemälde der »Sieben Werke der Barmherzigkeit«), Hospitäler (wie das berühmte, bis heute existierende degli Incurabili, »der Unheilbaren«), ein Findelhaus mit 1.000 »Säugammen«20, ein großes Syphilitiker-Hospiz21, dazu zahlreiche Kongregationen und Begräbnisbruderschaften. Da ein königliches Dekret die Ansiedlung außerhalb der Stadtmauern untersagt hatte, war das Stadtbild in den populären Quartieren von drangvoller Enge bestimmt; große, stille Räume gab es hingegen in den Konventen mit ihren ausladenden Kreuzgängen und in den großangelegten Kirchen. Der Kontrast zwischen dem Engen, Umtriebigen der profanen Welten und dem Monumentalen, Verhaltenen der religiösen Sphären vermittelt sich noch heute als Erfahrung des städtischen Raums.

Neapolitanisches Barock. Die Kartause San Martino

Die großen Plagen. Das Feuer des Vesuv

Neapel ist im 17. Jahrhundert nicht nur la nobile beziehungsweise, aus der gegenteiligen Wahrnehmung, die Stadt der Lazzaroni, ist nicht nur die Stadt höfischer Prachtentfaltung, spektakulärer Feste und einer gigantischen architektonischen Modernisierung – es ist zugleich eine Stadt der Katastrophen. Innerhalb einer einzigen Generation, zwischen 1631 und 1656, wird Neapel von drei schrecklichen Ereignissen ganz unterschiedlicher Art heimgesucht: einer Naturkatastrophe, einer sozialen Revolte und einer Epidemie.

Am 16. Dezember des Jahres 1631 bricht der Vesuv aus. Genauso wie im Jahr 79 n. Chr., als der Berg die Städte Herkulaneum und Pompeji verschüttete, traf auch dieser Ausbruch die Bevölkerung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Seit dem späten Mittelalter hatte der Berg geschwiegen, galt als erloschen. Seine Hänge hatten sich wieder begrünt, auch im Innern des Vulkans wuchsen Bäume, auf dem Kraterboden sprudelten warme mineralische Quellen. Der Ausbruch von 1631, der verheerendste nach jenem in der Antike, zerstörte zahlreiche Ortschaften am Fuß des Berges und forderte etwa 3.000 Todesopfer. Aus Angst vor der Pest wurde den anströmenden Flüchtlingen der Zutritt nach Neapel anfänglich verwehrt; schließlich drangen etwa 40.000 Menschen in die Stadt ein. Für mehrere Tage wurde die gesamte Gegend durch den Aschenregen in Finsternis gehüllt.

Es ist dies die Stunde von San Gennaro, dem großen Heiligen und Wundertäter der Stadt. »Auf Anordnung des Erzbischofs ward eine feierliche Prozession verkündet, in welcher das Haupt und das Blut des Märtyrers umhergeführt werden sollten«, so ein zeitgenössischer Bericht.22 Einhunderttausend Menschen, so der Chronist, sollen daran teilgenommen haben, an der Spitze der Vizekönig und der Hof. Ein zufälliger Zeuge der Ereignisse, der württembergische Rentkammer-Rat Hieronymus Welsch, zeichnet ein dramatisches Bild von der Bewegung des Volkes: »In der ganzen Stadt war anders nichts als Bußpredigen, Beten, Litaneisingen, Beichten, Kommunizieren. Alle Gewerb und Kram-Läden waren gesperrt, die Gassen überall voller Prozessionen, darbei viel tausend Menschen sich geißelten, schwere hölzerne Kreuz trugen, mit ausgespannten Armen herumb liefen, eiserne Ketten an den Hals hängten und also vermeinten, ihre Sünd abzubüßen«.23 Der Erzbischof trägt die Phiole mit dem Blut des Heiligen dem brennenden Berg entgegen, und das Wunder geschieht: Das rote Blut bringt das rote Feuer zum Stillstand. Neapel wird verschont. »War nicht Gennaro bei Lebzeiten in den Feuerofen geworfen und daraus errettet worden, auf daß er nun berufen sei, der Flammen Meister zu werden?«24 Blut gegen Feuer: Das ist die Inszenierung der neapolitanischen Katastrophenabwehr. Der Ort des Geschehens war der Ponte della Maddalena, eine kleine Brücke über das Sebeto-Flüßchen am Stadtrand. Ein Denk mal des heiligen Gennaro, der, den rechten Arm hoch aufgereckt, dem Vesuv entgegentritt, markiert die Grenze des Bösen. Blumensträuße und andere Devotionalien, die dort noch immer niedergelegt werden, zeugen bis in unsere Tage von fortdauernder Erinnerung an die Rettung.

San Gennaro beschützt die Stadt vor dem Feuer des Vesuv, Kupferstich, 1635

Der Vesuv-Ausbruch von 1631 wurde ein Schlüsselereignis für die jüngere Geschichte der Stadt.25 In seiner oben skizzierten »kanonischen« Deutung wurde das Geschehen Teil des kollektiven Gedächtnisses der Neapolitaner. Dichtung, Malerei und bildende Kunst hielten das Ereignis fest – im Straßenbild erinnert neben dem erwähnten Denkmal auch die Giuglia di San Gennaro, eine monumentale Gedenksäule, an den Wundertäter. Sein Blut wird auch weiterhin für die Stadt fließen, für Neapel, die Stadt des Blutes. Und auch spätere Vesuv- Ausbrüche werden ähnliche Reaktionen der Volksfrömmigkeit hervorrufen.26 Der Vesuv bleibt, als immerwährende Bedrohung, in der Mentalität der Neapolitaner präsent. Posteri, posteri, vostra res agitur, »Ihr Nach kommen, um Euch geht es!«, so mahnt ein Gedenkstein, den der spanische Vizekönig 1631 in Portici setzen ließ27: Wenn der Berg erneut Feuer zu werfen, die Erde zu beben beginne, »dann kehret Euch nicht an Eure Häuser, nicht an Euer Vermögen, sondern rettet Euer Leben durch eine rasche Flucht!« Es ist, in der Sprache der apokalyptischen Warnungen, der erste Katastrophenplan einer Regierung.

Natürlich machten die katastrophalen Ereignisse vom Dezember 1631 in Europa die Runde. Und natürlich förderten sie – ähnlich wie die gleichzeitigen Katastrophen des 30jährigen Krieges in Deutschland – jenes Bewußtsein der Vanitas, das Teil der todesverliebten Geistigkeit des Barock ist.28

San Gennaro bannt die Lava. Denkmal am Ponte Maddalena, 1767

Von dem neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello

Die zweite große Katastrophe des 17. Jahrhunderts, die Neapel und ganz Europa erschütterte, spielte sich auf politischem Gebiet ab: die Revolte des Masaniello im Juli 1647. Die »Dramaturgie« der Ereignisse war derartig singulär, ihr Ablauf entsprach so sehr dem barocken Emblem vom »Rad der Fortuna«, daß das Schicksal des Revolutionärs, el maior monstruo del mundo (wie ihn eine Bildunterschrift nennt29) geradezu zeichenhafte Bedeutung annehmen konnte. Ein gänzlich unbekannter Mann aus den untersten Volksschichten, der Fischhändler Tommaso Aniello, bietet der Macht des spanischen Vizekönigs Paroli, wird »König von Neapel« und am Ende von seinen eigenen Anhängern ermordet – und dies alles in einem Zeitraum von nur zehn Tagen.

Masaniellos »wahres Abbild« auf dem Frontispiz der englischen Übersetzung von Giraffis Le rivolutioni di Napoli (1647). Der comandante erscheint in der Kleidung der neapolitanischen Fischer.

Den Hintergrund des Geschehens bildet die soziale und politische Situation der Stadt im spanisch-habsburgischen Weltreich. Wirtschaftliche Auspressungen durch die Eroberer führen zu beständigen Geldentwertungen, zu Teuerungen und Hungerkatastrophen. Immer wieder macht sich der Unmut des Volkes in spontanen Aktionen Luft. Ein eher zufälliger Anlaß war es auch, der am 7. Juli 1647 das Signal zur Revolte gab. Ihr Schauplatz war die Piazza del Mercato, der Marktplatz der Stadt. Wegen einer vom Vizekönig erlassenen neuen Obststeuer entsteht ein Tumult unter Obsthändlern und Marktbesuchern. Eine Schar Jugendlicher aus den umliegenden Gassen, unter ihnen der 26jährige Masaniello, mischt sich ein; Feigen und Äpfel fliegen durch die Luft, Masaniello wirft den ersten Stein gegen den herbeieilenden Stadtvogt. Der Ruf »Keine Steuer, keine Steuer!« ertönt, auf dem Markt läuft das Volk zusammen.

Am nächsten Tag nimmt der Vizekönig die Steuer zurück, die Tumulte greifen dennoch weiter um sich. Masaniello erklärt sich zum Capitano generale del Popolo, es kommt zu Gewalttätigkeiten und Morden. Längst haben sich inzwischen andere Kräfte in das Spiel eingemischt, falls sie es nicht, wie manche Autoren vermuten, sogar selber angezettelt und Masaniello nur als Werkzeug benutzt haben: Es geht um eine von Angehörigen des städtischen Patriziats um Don Giulio Genoino eingeforderte neue Machtverteilung innerhalb der seggi, der alten »Viertelregimenter« der Stadt. Der König beschwört dann auch eine entsprechende Vereinbarung.

Der letzte Akt des Dramas spielt im Dom. Bei der feierlichen Messe zum Carmine-Fest erklimmt Masaniello die Kanzel, spricht wirre Prophezeiungen und entledigt sich dabei seiner Kleider. Es ist unklar, ob es sich dabei um einen charismatischen Auftritt handelte oder ob der Capitano del popolo im buchstäblichen Sinne den Verstand verloren hatte. Er wird getötet, sein Kopf aufgespießt durch die Straßen getragen, sein Körper in eine Abfallgrube geworfen, später in der Carmine-Kirche an der Piazza del Mercato beigesetzt.30

Es war nicht so sehr die lokale politische Bedeutung, es war vielmehr die gleichsam emblematische Dramatik der Ereignisse von Aufstieg und Fall, von bestrafter Insurrektion gegen die Regeln des göttlichen und des menschlichen Ordo, und es waren natürlich auch die barocken Grausamkeiten und Bizarrerien der Geschichte, die die Mär von der Revolte des Masaniello in ganz Europa verbreiteten. Masaniello mit der roten neapolitanischen Fischermütze wird der Held zahlreicher Kupferstiche, Einblattdrucke und Gemälde, von historischen Berichten und phantastischen Biographien. Alessandro Giraffis Chronik Le rivolutioni di Napoli (1647), eine Hauptquelle der Ereignisse, wurde sogleich ins Deutsche (1649), ins Englische (1650) und ins Niederländische (1650) übersetzt.31 Und natürlich eignete sich der Stoff in besonderer Weise für die barocke Gattung der Tragödie. Schon 1649 erschien in London The Tragedy of Massenello, angeblich von einem Augenzeugen der Ereignisse; das Frontispiz zeigt das im Netz des aufrührerischen Fischers gefangene Neapel und die Blitze der göttlichen Rache über der Stadt.32 In Amsterdam erschien 1669 das Drama Op- en Ondergang van Mas Anjello, »geachtet wie ein Fürst, erschlagen wie ein Hund«33, und in Deutschland machte 1683 Christian Weises Trauer-Spiel von dem neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello die Geschichte bekannt. 1706 folgte die Oper Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung (Reinhard Keiser/Barthold Feind)34. Der neapolitanische Fischer wurde zur Modellfigur der politischen Insurrektion in ganz Europa.

Masaniellos Fama wirkte auch unter veränderten politischen Vorzeichen weiter. Die rote neapolitanische Fischermütze mit dem runden, nach vorn geneigten Zipfel wurde von den französischen Revolutionären 1789 als »phrygische Mütze« wieder aufgegriffen und schmückt seither als Freiheitssymbol die Allegorie der französischen Marianne. Nicht mehr als gottlosen Aufrührer, sondern als begeisterten Freiheitshelden zeichnet auch Daniel Aubers Erfolgsoper La muette di Portici (Paris 1828) den Fischer aus Neapel. Die Aufführung 1830 im Brüsseler Théâtre de la Monnaie war Auslöser für die belgische Revolution und die Erklärung der Unabhängigkeit des Landes. Auch im Revolutionsjahr 1848 kam es, in Paris und in verschiedenen deutschen Städten, bei Aufführungen der »Stummen von Portici« zu Freiheitskundgebungen.

Es verwundert nicht, daß der Streit um Masaniello auch in seiner Heimatstadt selber nicht zur Ruhe kam. Nach der Niederschlagung der »Parthenopäischen Republik« 1799 ließ der zurückgekehrte König Ferdinand IV. das Grab Masaniellos in der Carmine-Kirche zerstören und die Gebeine des Aufrührers zerstreuen: Rache am Geist der Revolution anderthalb Jahrhunderte später! Inzwischen erinnert dort ein neuer an den alten zerstörten Gedenkstein.

Der Schwarze Tod

Auch die dritte der großen Plagen im spanischen Neapel fügt sich in das barocke Weltbild von der Vanitas mundi. Im Jahr 1656 suchte die Pest die Stadt heim und forderte eine Zahl von Opfern, deren Größenordnung nur schwer vorstellbar ist: Von 200.000 Toten ist die Rede, was praktisch einer Halbierung der Bevölkerung gleichgekommen wäre.35 Neapel trifft damit das Schicksal vieler anderer großer Städte der frühen Neuzeit, und ähnlich ist auch hier der Umgang der Menschen mit der ihnen unerklärlichen Krankheit: die anfänglichen Versuche der Obrigkeit, die Existenz der Krankheit zu leugnen, die Lynchjustiz gegen vermeintlich Schuldige, die Verrohung der Begräbnissitten, der Zusammenbruch der Moral und der öffentlichen Ordnung.36 Erschwerend kam in diesem Fall hinzu, daß die Stadt besonders volkreich und in den populären Vierteln sehr eng gebaut war, die Möglichkeiten der Ansteckung also besonders groß waren. Einige Bevorzugte freilich konnten sich retten: Die Mönche der hochgelegenen Kartause San Martino schlossen sich samt dem Erzbischof in ihr festungsartiges Kloster ein und blieben auf diese Weise von der Krankheit verschont. Ein bei dem Maler Micco Spadaro in Auftrag gegebenes Votivgemälde37 zeigt die offizielle spirituelle Deutung des Geschehens: Die Kartäuser haben sich vor dem Hintergrund der Stadt zum Gebet versammelt; eine häßliche, halbnackte Frau – die Allegorie der Pest – versucht, zu den Männern vorzudringen, wird jedoch durch das Eingreifen der Heiligen, darunter des Ordensgründers Sankt Bruno, daran gehindert. Auch die Kartäuser auf Capri entgingen auf diese Weise der Pest, auch wenn die erboste Bevölkerung wiederholt Pestleichen über die Mauern der Kartause warf.38

Die künstlerische Verarbeitung der Pest spielt in der neapolitanischen Barockmalerei eine große Rolle. Die Bilder zeigen mit naturalistischer Detailfreude die abstoßenden Szenen der Epidemie auf den Straßen und Plätzen der Stadt: Sterbende, verunstaltete Leichen, Pestkarren, Pestfeuer und die verschiedenen karitativen Bemühungen. Auf der anderen Seite betonen sie – im Sinne gegenreformatorischer Frömmigkeit – die Rolle der Heiligen bei der endlichen Erlösung von der Plage: Sie sind es, die Christus, der über den Wolken die Pestpfeile gegen die Stadt schleudert, entgegenfliegen und die Stadt retten.39

Sicherlich waren es die Erfahrungen der großen Katastrophen, die der neapolitanischen Barockmalerei ihre charakteristischen »dunklen« Züge gegeben haben, die Vorliebe für Massenszenarien und Szenen der Gewalt – so bei Francesco Solimena, Micco Spadaro, Jusepe de Ribera, Mattia Preti, Luca Giordano und Salvator Rosa. Der letztere ist am ehesten über die Grenzen Süditaliens hinaus bekannt geworden: Mit seinen »idealen Landschaften« hat er die Entwicklung der europäischen Landschaftsmalerei nachhaltig beeinflußt.

Während der Zeit der spanischen Herrschaft in Unteritalien wurde Neapel auch zum Anziehungspunkt für eine Reihe von Malern aus den Niederlanden und aus Deutschland, die mit ihren Werken hier in Kirchen und Museen ihre Spuren hinterlassen haben. Zwischen 1590 und 1594 arbeitete der flämische Maler und Architekt Wenzel Cobergher (Antwerpen 1561–Brüssel 1634)40 im Vizekönigreich; es folgten, ebenfalls aus den Niederlanden kommend, Matthias Stomer (Amersfoort 1600–Sizilien um 1650)41 und Hendrick van Somer (Amsterdam 1607–1684)42 sowie, aus Deutschland, Johann Heinrich Schönfeld (Biberach 1609–Augsburg 1683)43 und Johannes Lingelbach (Frankfurt 1622–Amsterdam 1674). Zu nennen ist in diesem Zusammenhang aber vor allem Gaspar van Wittel (Amersfoort 1653–Rom 1736), der sich auf Dauer in Italien niederließ und hier Vanvitelli nannte: der Vater des späteren klassizistischen Architekten Luigi Vanvitelli, des Erbauers des Schlosses Caserta44. Alle diese Namen sind die ersten in einer lange Reihe von Künstlern aus Nordeuropa, die sich für kürzere oder längere Zeit am Golf von Neapel niedergelassen haben und von denen später noch die Rede sein wird.

Fliegende Heilige. Micco Spadaro: Die Mönche der Kartause San Martino danken für die Bewahrung vor der Pest, 1657

Die Hauptstadt der Oper

Für die europäische Kunstentwicklung besonders einflußreich war Neapel im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Feld der Musik, vor allem der Oper. Nur das Venedig Monteverdis konnte sich unter den italienischen Städten in diesem Zeitraum mit der Stadt am Golf messen.

Es ist verständlich, daß in einer glanzvollen, großstädtischen Residenz wie Neapel die junge Kunstform der Oper schnell Beachtung finden mußte. 1621 wurde als erste Opernbühne das Teatro di San Bartolomeo (1621–1737) gegründet, an dem später Alessandro Scarlatti, seit 1694 Direktor der Capella Reale, seine Triumphe feierte. Mit seinem Namen und mit dem des ebenfalls lange Zeit in Neapel tätigen Giovanni Battista Pergolesi (dessen La serva padrona 1733 im San Bartolomeo uraufgeführt wurde) verbindet sich der Begriff der »neapolitanischen Musikschule«: einer Richtung, die sich in einem erregten, »modernen« Stil und besonderen dramatischen Effekten gefiel – der sogenannte »neapolitanische Sextakkord« der musikalischen Harmonielehre erinnert bis heute daran.

Ebenfalls der Oper widmeten sich das Teatro Nuovo (1724–1935) und das Teatro San Giovanni dei Fiorentini (1618–1941), letzteres lange Zeit ein Zentrum der Opera Buffa. Ihr Schauplatz war das zeitgenössische Neapel mit seinem typisierten Figurenensemble; die Sprache war das Neapolitanische, das auf diese Weise, vermittelt über wandernde Opern- und Commedia-dell’arte-Truppen, als »Kunstsprache« in weiten Teilen Europas bekannt wurde.

Das dritte und berühmteste der neapolitanischen Opernhäuser stammt aus der Zeit der Bourbonen, die sogleich an die große musikalische Tradition der spanischen Epoche anknüpften: Es ist das Teatro San Carlo, das älteste bis heute existierende Opernhaus der Welt. Es wurde 1737, bereits drei Jahre nach dem Regierungsantritt Karls III., errichtet und am Namenstag des neuen Herrschers mit der Oper »Achille in Sciro« von Domenico Sarro und Pietro Metastasio eröffnet. Auch andere Erfolgsopern des damals hochberühmten Metastasio (der seit 1719 in Neapel wirkte) gingen im San Carlo über die Bühne. Später war der Neapolitaner Domenico Cimarosa hier tätig (1793–1799), im 19. Jahrhundert kamen Gioacchino Rossini (1815–1822) und Gaetano Donizetti (1829–1838), dessen »Lucia di Lammermoor« 1835 hier uraufgeführt wurde.

Neapel als eines der großen Zentren des europäischen Musiktheaters wurde im 18. Jahrhundert auch bevorzugtes Ziel reisender Musiker aus dem Norden. Zu den Besuchern gehörten Christoph Willibald Gluck, Johann Christian Bach sowie Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart. Die beiden letzteren hielten sich im Mai und Juni 1770 in der Stadt am Golf auf, wo sie von der Königin Maria Carolina empfangen und von den Honoratioren der Stadt hofiert wurden.45 Natürlich besuchten sie auch das San Carlo, wo gerade Jommellis »Armida abbandonata« gegeben wurde. »Das theatter ist schön, der könig [...] steht in der opera allkeizt [= allzeit?] auf einem schämerl, damit er ein bissel grösser als die königin scheint«, schreibt der kecke 14jährige Wolfgang an die Schwester Nannerl.46 Der kleine König macht sich größer: Natürlich gehört die Inszenierung der eigenen Person auch unter den Bourbonen ebenso zur Oper wie die Musik selber.

1816 wurde das San Carlo durch Feuer zerstört, bereits im Januar 1817 aber wiedereröffnet. Unter den ausländischen Gästen der Zeremonie