Neukölln – Ein Elendsbezirk schießt zurück - Kristjan Knall - E-Book

Neukölln – Ein Elendsbezirk schießt zurück E-Book

Kristjan Knall

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Beschreibung

Wenn man durch die Straßen Berlins läuft und sich das Hirn noch nicht weggeworfen, weggezogen, weggedrückt, oder weggesoffen hat, denkt man regelmäßig: „Da krist jan Knall“. Aus dieser Beobachtung heraus entstand eine vielfach gehasste Kunstfigur und mehrere Anti-Berlin-Bücher, die aber eigentlich gar nicht so anti sind. „Neukölln- Ein Elendsbezirk schießt zurück“ enthält nun 47 neue, brisant-bitterböse Beiträge über die Hauptstadt. Bei den typischen Berliner Alltagssituationen, deren absurdeste Auswüchse Kristjan Knall für diesen Band empirisch zusammengetragen hat, kann man sich das Lachen schwer verkneifen, auch wenn man manchmal kotzen möchte. Nicht in sterilen Coworkingspaces oder in Grunewald spielt sich das wahre Leben ab – sondern in Neukölln, auf der Straße und in der U-Bahn. Dort findet man Ziegen, Hipster, Gangster, Junkies und Tempelhofdaddys. Das ergibt eine gleichsam tragische wie urkomische Mischung, die einem hin und wieder um die Ohren fliegt. Denn neben all den lauten und skurrilen hat Berlin auch seine hässlichen Seiten, die uns Reiseführer Kristjan Knall nicht vorenthält. Er versorgt uns zudem mit Tipps und Tricks, um die Reise durch das Universum „Berlin“ unversehrt und möglichst komfortabel zu überstehen. „Neukölln. Ein Elendsbezirk schießt zurück“ ist ein realistisch-überspitzter Survival-Guide, und gleichzeitig eine ironische Ode an die Hauptstadt.

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KRISTJAN KNALL

Kristjan Knall kommt vom Kampfstern Ironika und landete im trostlosesten Jahrzehnt der Geschichte, den 80ern, in Berlin. Die erste Verlegerin fragte ihn: „Du bist’n Wessi, wa?“

Ist bis heute nicht klar.

Er studierte was Langweiliges und arbeitete was Grässliches, darum muss er Dampf ablassen. Den bekommt Berlin (in Berlin zum Abkacken und 101 Gründe Berlin zu Hassen), Europa (Europa ist geil, nur hier nicht) und die lesende Welt insgesamt (Stoppt die Klugscheißer) ab.

Er hasst den Kapitalismus und mag Schokoladenkuchen. Er glaubt, dass Kunst furchtbar ist, Literatur aber das kleinste Übel, zumindest wenn man sie übers Knie bricht.

Kristjan Knall

NEUKÖLLN

Ein Elendsbezirk schießt zurück

www.edition.subkultur.de

Kristjan Knall: „Neukölln - Ein Elendsbezirk schießt zurück“

1. Auflage, Mai 2019, Edition Subkultur Berlin

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Der Inhalt dieses Buches ist Satire. Es enthält Sarkasmus, Ironie und wird stellenweise zynisch. Alle Ereignisse und Behauptungen, die wahr sind, haben entsprechende Bezugsquellenangaben. Darüber hinaus berufen sich der Autor und sein Pseudonym auf die Satirefreiheit und das Recht, eine Meinung zu haben, auch wenn es nicht die eigene ist.

FUSSNOTEN UND HYPERLINKS: Dieses Werk enthält zahlreiche Fußnoten mit Hyperlinks, die auf Seiten im World Wide Web verweisen. Das World Wide Web (kurz WWW) ist Neuland für uns, deshalb der Hinweis, dass diese Verweise nicht auf Inhalte verweisen, die der Verlag oder der Autor beeinflussen können. WIr haben jeden einzelnen dieser Verweise (neudeutsch: Links) geprüft. Doch diese "Links" können sich ändern. Wir übernehmen daher auch keine Haftung für deren Inhalte. Auch benötigen Sie für die Besichtigung der Inhalte einen Zugang zum WWW sowie ein Gerät, das diese Inhalte auch anzeigen kann. Für den Genuss des Werkes haben  diese "LInks" lediglich eine ergänzende Funktion, denn es sind in erster Linie die Quellenangaben zu dirversem Erwähnten.

Lektorat und Projektleitung: Laura Alt

Cover: Thomas Manegold unter Verwendung des Wappens von Neukölln

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943412-45-1

epub ISBN: 978-3-943412-46-8

Nächste Station: Hermannstraße

Mal so richtig schön wem in den Arsch treten. Erst die ganze Nacht mit den Kumpels Meth ziehen, saufen und marodieren, und dann: bäm! Da fliegt die Olle die ganze U-Bahn-Treppe runter. Und ich lache. Oder was Hübsches zum Abendessen? Darf es Zicklein sein? Sich schön einen ansaufen, mit dem Küchenmesser in den Streichelzoo, das Vieh massakrieren. Nachschlag? Dann ab in die S-Bahn, den Schwanz raus und auf eine Ausländermutti pinkeln.

Ein ganz normaler Tag in Neukölln.

Hier bricht die neue Steinzeit an. Die Eigentumswohnung im Hinterhof, Erdgeschoss, geht für Hollywoodpreise weg, ein rosa changierender Tesla wummert den Dauerstau lang, in Restaurants mit „modernem Industriedesign“ kann man sein Essen in Gramm bezahlen. Zum Goldpreis. Aber selbstverständlich nehmen wir auch Bitcoin.

An der Kurfürstenstraße werden Luxusbunker hochgezogen, mit Nuttenblick. Die Berliner Mauer wird weggerissen, weil Menschen meinen, ihr Auto ins Schlafzimmer fahren können zu müssen, damit es nicht angezündet wird. Mitten in Neukölln, Hermannstraße Ecke Flughafenstraße, werden die Bretterbuden eingestampft und durch einen Glaskasten ersetzt. A-Klasse-Büros mit Blick auf den Drogenhandel und die Moschee.

Sagt mal, spürt ihr eigentlich noch was?

Die Einzigen, die nicht funktionieren, sind die Frauentreter, Ziegenschlachter und Muttipinkler. Sind sie deswegen keine Arschlöcher? Nein. Aber sie sind die neuen Wilden. Sie sind der Urschrei gegen die Gentrifizierung. Sie sind der laufende Hass, das laufende Unverständnis, die laufende Gewalt. Sie sind die große Unbekannte in der Rechnung. Und deswegen lieben wir sie.

Von Freital bis Rothenburg ob der Tauber: Die Menschen verbittern. Es passiert einfach nichts.

Jeden Tag Bild, B.Z. und Lü-GeN-PrES-se!

Aber sie wachen auf und sind immer noch dieselben öden Verlierer in derselben öden Verliererwelt. Klar, hätten sie gerne eine Eigentumswohnung in Mitte, einen Tesla, eine goldgepuderte Currywurst.

Denken sie.

Aber unbewusst wünschen sie sich, dass sich unter ihrem Fenster, vor ihrem Sitzkissen, das Leben abspielt.

Dass die neuen Wilden denen, die es sich verdient haben, die Fresse polieren. Ihnen selbst. bäm!

Neukölln ist wie ein Unfall: Gaffen ist geil, aber dabei sein? Nein danke. Hier zeigt sich, ob das neoliberale Experiment funktioniert. Ob wir alle verkaufen und erniedrigen können. Oder, ob wir uns wehren. Und ob in Neukölln, Berlin, und Du-bist-Deutschland nur noch Platz für Sadisten ist.

Zurückgeblieben, bitte!U-Bürgerkrieg

„Der Zugverkehr ist zurzeit unmenschlich. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ – BVG.

Manchmal merkt man den Bürgerkrieg gar nicht. Man sitzt auf dem Balkon, Sonnenschirm, Sonne, Bademantel, wir sind ja alle oh so urban young professional und arbeiten von zu Hause. Nur manchmal hört man die Sirenen vorbeirauschen, dann noch eine und noch eine. Wenn es ganz viel Spektakel gibt, noch den Hubschrauber. Den gerne auch nachts, dann aber bitte richtig, eine Stunde lang. Was passiert? Raub, Mord, gestohlene Hasen vom Balkon? Passionierte kleinbürgerliche Voyeuristen begnügen sich mit der versetzten und bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Weltsicht der Springer Boulevardblätter.1 Alle anderen fahren U-Bahn.

Es ist zehnmal wahrscheinlicher, von einem New Yorker gebissen zu werden als von einem Hai, wahrscheinlich 100 Mal wahrscheinlicher von einem Berliner.2 Für den fortgeschrittenen Masochisten bietet es sich an, so richtig fertig zu sein. Sagen wir, ein 16-Stunden-Arbeitstag, auch in anderen Städten, ganz zum Schluss noch ein Fahrrad im hintersten Wedding kaufen. An der Otawistraße, da, wo die letzte Reihe faulender Altbauten den trüben erdgeschosslosen Wohnbunkern der Bauhausepoche weicht. Aber immerhin haben die Gärten, Licht, und es sind nicht alle Psychopathen. Vielleicht sogar nur 90 %.

Natürlich ist das Rad noch nicht fahrbereit, also ab in die U-Bahn. Bis Friedrichstraße geht auch alles ganz gut. Wobei dieses „Geht ganz gut“ hier eines ist, das fällt, bevor es aufprallt. Friedrichstraße steigt die obligatorische französische Touristengruppe ein. Klar, Dienstag, der Partytag. Richtige Berliner sind da noch zu verkatert, um vor die Tür zu gehen, oder zu drauf, um sie überhaupt zu finden.

Ab dem Motz-Hauptquartier Kochstraße wird es dann voller. Jede Station ein neuer Bettler, aber eben Kreuzberger Bettler. Ältere Leute, die es irgendwie nicht geschafft haben. Unglücksfälle, Stumme, Behinderte, die nicht einfach nur so tun. Und auf der U7 dann sogar der längst verschollen geglaubte U-Bahn-Rapper, der seine Pringlespackung als Mikrofon und Münzbecher benutzt. Wieso hat den eigentlich noch niemand gesigned? Scheiße zu sein hält die doch auch sonst nicht ab, nicht wahr Sido, Bushido und ganz besonders Fler?

Die U6 und U7 sind getaktet. Mehringdamm muss man keine Minute warten. Die U7 und U8 natürlich nicht, damit man volle zehn Minuten lang die Pracht des ehemaligen Bombenbunkers Hermannplatz genießen kann. Wie ein Monument der Kartenhausillusion der Sicherheit im postfaktischen Zeitalter.

Irgendein Sadist hat den U-Bahnhof gelb gekachelt. Nicht direkt die Farbe der Entspannung, aber vielleicht die, auf der man Kotze und Pisse am wenigsten sieht. Natürlich ist ein Kamerateam da. Natürlich werden wild Leute gefilmt und nach irgendeinem Stuss befragt. Erstaunlicherweise kommt gleich die BVG-Repression: Sicherheitsmitarbeiter. Das erste Mal, dass sie nützlich sind. Und dann geht es ab.

Am Wochenende ist die U8 noch der Partytrain, unter der Woche der Zombiezug. Hier fahren keine 20-Jährigen Stuttgarter lang, die zum ersten Mal ein bisschen MDMA gedippt haben und jetzt in eine voll coole Bar gehen wollen, die eigentlich nur eine lustlos aufgehübschte Assikneipe ist. Die, die voll drauf soeben das Konzept des Sitzens erfunden haben. Die dir sagen, das ist wichtig, denn viele Leute haben sich schon hingesetzt, bevor sie es erfunden haben, aber sie haben sich nicht hingesetzt. Nein, jetzt geistern hier die durch, die ganz dringend nach Geschäftsschluss noch was kaufen müssen. Wenn man zum Beispiel Boddinstraße aussteigt, kann es schon passieren, dass neben einem auf der Bank ein Junkie ganz seelenruhig ein Alupicknick abhält. „Seelenruhig“ ist wohl der falsche Ausdruck, er arbeitet konzentriert. Zeit hat er keine zu verlieren. Der Dreck muss rein, sonst verwandelt er sich binnen Minuten in ein zitterndes, schwitzendes Wrack. Schon mal einen Junkie auf Entzug gerochen? Der ein paar Tage lang keine Dusche und kein Klo gesehen oder zumindest zu nichts andrem als zum Fixen benutzt hat? Menschen stinken ja schon, wenn sie fasten. Der Körper drückt alle Giftstoffe raus. Bei Junkies ist der Körper im absoluten Notfallmodus. Es riecht, als würden sie einen verwesenden Wal hinter sich her schleppen. Ein Gestank, grässlicher als Scheiße, Pisse, Kotze.

Es riecht nach Tod.

Die steigen in die U-Bahn ein, jede Station ein neuer. Der maximal 18-jährige Flüchtling, der kaum Deutsch kann. Die Augen weit aufgerissen, der Kiefer macht komische Sachen. Entweder eine Behinderung oder viel zu viel Crack. Sehr, sehr eindringlich fragt er nach Geld für einen Hamburger. Überspezifische Forderung, der ebenfalls gelogene Stiefbruder vom überspezifischen Dementi.3 Der will sich so sehr einen Hamburger kaufen wie eins der rubinroten türkischen Hochzeitskleider in den Läden an der Hermannstraße. Eine Frau, Typ desillusionierte Kreuzberger Hippielehrerin, gibt ihm einen Apfel. Automatisch steckt er ihn ein, es reicht nicht mal mehr für ein „Danke“. An der nächsten Station verschwindet er eilig zum Ausgang, eine Frau kreischt manisch: „Lass mich in Ruhe! Du Wichser! Ich will alleine sein!“ Der U-Bahn-Fahrer zögert kurz mit der Weiterfahrt, ein paar Leute sehen nach draußen. Sie sitzt alleine auf der Bank.

Noch ein, zwei Junkies drehen eine Runde, immer weniger fällt ab. Dann, fast am Ende der Linie, steigt eine Letzte ein. Jung, blond, noch nicht absolut von den Drogen und den giftigen Streckmitteln derangiert.4 Vor allem aber nicht ganz doof. Sie legt los mit ihrem Standardspruch, versucht, so wenig wie möglich zu leiern. Ein Typ wirft Kommentare rein. Er sitzt mit dem Rücken zu ihr, Gelfriese, Lederjacke, Goldkette, wahrscheinlich mit türkischem Migrationshintergrund.

Sie: „Mann, lass mich doch jetzt mal.“

Er: „Wieso bettelst du?“

Sie: „Ich brauche Geld.“

Er: „Du kaufst doch Drogen.“

Sie: „Hör mal, jeder, der hier bettelt, hat ein Suchtproblem.“

Er, scharfsinnig: „Du bist doch drauf.“

Sie: „Nein …“

Er: „Du nimmst doch Drogen.“

Er greift in seine fettige Pommestüte und flutet sein Gehirn mit Endorphinen aus suchterzeugenden Transfettsäuren.

Sie: „Nein, heute nicht.“ … „Gestern das letzte Mal“, lügt sie.

Er: „Wallah, wenn du Drogen nimmst, wieso gehst du dann betteln?“ … Er wird laut: „Geh doch arbeiten! Oder geh in diese Heime! Da kriegst du Dusche, Essen, 70 Cent am Tag, alles!“

Sie: „Jetzt lass mich doch in Ruhe.“

Er: „Halt dein Maul, wieso nervst du misch mit …“

Meine Station, ich will raus. Die Schaulustigen blockieren mir mit dem Fahrrad den Weg. Aus der Bahn höre ich noch: „Jetzt lass sie doch in Ruhe! Was willst du denn?“ Dann kracht es, der Typ steigt aus und fährt einen zwei Meter großen, spindeldürren Studenten an.

Er, klassisch ghetto: „Was sagst du, was hast du gesagt?“

Student: „Mann, was soll denn das?“

Der Typ gibt dem Studenten einen Schlag auf den Brustkorb. Wahrscheinlich hätte der ihn niederstrecken sollen, reichte aber nur für einen hohlen Klang. Kurz entsteht das typische Berliner Gewimmel, der kleine Bürgerkrieg. Auf Seiten des Studenten mischen sich Leute ein, die neue Bourgeoisie. Frauen stellen sich dazwischen. Auf der Seite von dem Typ hält ihn sein Kumpel zurück. Die alten Prolls. Aber wie bei Hunden an der Leine, werden die umso wilder, je mehr man sie zurückhält.

Er: „Nein, was hältst du misch fest, was sagst du mir, was isch machn soll?!“

Sein Kumpel manövriert ihn in eine Ecke. Man hört sie noch krakeelen, als die U-Bahn längst ausgefahren ist und alle anderen die Treppen hochsteigen.

Ein Glück hat er als überhaupt nicht dopaminsüchtiger und seine Aggression völlig unter Kontrolle habender Vorzeigebürger die Autorität, dem Junkiemädchen ihre Drogensucht anzukreiden. Und ein Glück hat er es geschafft, so mit Geld und so, sieht man an seiner Lederjacke und Goldkette. Ein Glück ist er ein aufrechter Bürger und kann in einer Linie mit den Gebrüdern Albrecht, Georges Soros und Donald Trump rechtschaffend auf faule, arme Wehrkraftzersetzer runterblicken. Ein Glück hat das überhaupt nichts mit Kapitalfaschismus nach Max Weber zu tun und ein Glück hätten Faschisten ihn nicht auch gleich ins Lager gesteckt. Vor allem aber ist es schön, dass er erkennt, dass weder er, noch die Junkies schuld sind an der Misere. Ein Glück erkennt er, dass eine Ökonomie schuld ist, die nur noch Selbstzweck ist, und nicht den Menschen im Blick hat. Dass seine Ernährung schuld ist, die dauerhafte Entzündungen in seinem Körper und Gehirn verursacht, sein Testosteron sinken lässt und seine Komplexe anschwellen. Ein Glück erkennt er auch, dass Repression keine sinnvolle Drogenpolitik ist, wie die letzten 150 Jahre gezeigt haben. Ein Glück leben wir nicht im permanenten Bürgerkrieg und ein Glück ist das alles eine Entschuldigung und er kein krasser Spast.

Wäre das ein schönes Ende für den Abend gewesen?

Aber nicht in Neukölln, hier gibt es kein Happy End. Von der U-Bahn-Treppe sehe ich ihn schon. Wieder so ein Ausgemergelter, der sich komisch verrenkt, als er seinen Pullover um die Hüfte binden will. Zu komisch, um als nüchtern durchzugehen. Der Rucksack auf seinem Rücken ist nicht für das MacBook da. Der ist sein Zuhause. Als er mich sieht, gibt er das Knoten auf und kommt viel zu nah ran. Heftig blutunterlaufene Augen, nichts als Panik und Wahnsinn. „Hast du mal Feuer?“ Die ultimative Eröffnung für einen elaborierteren Schnorrversuch. Aber Sozialismus hin oder her, ich habe jetzt wirklich keinen Nerv mehr. „Rauch nicht“, scheppere ich ihm entgegen, mit einem dezidiert misanthropischen Unterton. Keine weiteren Fragen. Die Hipsterfrutte hinter mir labert er hingegen richtig schön zu. Die hat jetzt nicht nur Abendprogramm, sondern einen Freund fürs Leben.

Jetzt, endlich, sieht es aus, wie nach der Zombieapokalypse: keine Menschen mehr. Mit jedem Block, den man weiter von der U-Bahn weg kommt, wird es weniger elend. Drei Straßen weiter fühlt man sich fast wie im Prenzlauer Berg. Diese widerliche Abendschwüle! Deswegen sollten Privatfahrzeuge in der Stadt komplett verboten werden, damit sich die neuen Aristokraten, die hier Wohnungen für den Preis von Mehrfamilienhäusern in anderen Städten kaufen, nicht mehr abschotten können. Bis jetzt existieren Abfuck und Luxus einfach autistisch nebeneinander. Wenn es sein muss, verteile ich auch persönlich Spritzen im Sandkasten.

Während ich meine Narkolepsie pflege, geht mir noch eins im Kopf rum. Ich habe einen Typen vom Max-Planck-Institut getroffen, ex­tre­mer Nerd. Der erzählte vom effektiven Altruismus. Die berechnen ganz einfach, wo dein Geld am meisten nützt. Wo es die meisten Menschen rettet. Wie viel man investieren muss, um ein Menschenleben zu retten. (Ein Mensch ist übrigens 7.500 € wert, ein Kind kann für 30 Cent am Tag vor dem Hungertod gerettet werden.) Sicher, der Ansatz hat auch Probleme. Er stellt die Systemfrage nicht. Aber vielleicht ist das eine gute Ergänzung zum impulsiv-jedem-Knete-in-die-Hand-Drücken, nur um sich besser zu fühlen. Vollendete Zyniker würden allerdings einwenden: Die Schnorrerei finanziert immerhin unser nächtliches Drama.

Praktisches

Also, Handy gut festhalten, nicht mit zu viel Geld fuchteln. Wenn dir wer zu nahe kommt, oder dich gar „antanzt“, sofort Hände in die Taschen auf beides. Wenn man schwarzfährt, nicht den ersten Waggon nehmen, aber den zweiten, für die beste Übersicht beim in-den-Bahnhof-Einfahren. Wenn man es entspannt haben will, möglichst an einer der unwichtigen Stationen, Boddinstraße, Heinrich-Heine-Straße oder Franz-Neumann-Platz einsteigen. Da sind die wenigsten Menschen. Wenn einem langweilig wird, aufs Gleisbett gucken und niedliche Mäuse und nicht so niedliche Spritzen zählen. Wenn man Menschen hasst, die Zeiten von 06:00 Uhr bis 10:00 Uhr morgens und 16:00 Uhr bis 20:00 Uhr abends, in den Hipstergegenden bis ans Ende der Nacht und am Wochenende generell die BVG vermeiden.

1 Geile Unwahrheiten werden 70 % öfter geretweetet als öde Wahrheiten.https://t1p.de/p42m (4.6.18)

2https://t1p.de/kmj7 (30.8.18)

3 Wie von der Telekom: Natürlich nehmen wir diesen Hinweis sehr ernst und haben auch die deutschen Sicherheitsbehörden eingeschaltet. Der Zugriff ausländischer Geheimdienste auf unser Netz wäre völlig inakzeptabel. Einen Nachweis, dass unser Netz in Deutschland und Europa manipuliert wurde, gibt es aber nicht. https://blog.fefe.de/?ts=aae82850 (15.4.18)

4 Opiate sind an sich kaum schädlich, siehe Keith Richards. Das beigemischte Rattengift macht’s.

Romantik in Zeiten von Dosenpfand

„Wat Südkreuz? Dit is Papestraße!“

Recht hat er, wahrscheinlich das erste Mal seit einer langen, langen Zeit, in der er sehr viel saufen musste, um das zu vergessen.

Papestraße war ein Bahnhof mitten in Berlin aber am Ende der Welt. Kaiserreichsbahnsteige, einer schon hart vergammelt. Nicht so vandalisiert, wie man denken würde, weil selbst Vandalen Papestraße vergaßen. Trotzdem konnte es nachts ungemütlich werden. Nicht, weil man abgezogen werden würde, oder, Allah behüte, vergewaltigt. Nein, weil es einfach so verdammt leer war. So leer, dass sie wie zur Buße, nachdem sie den fetten Bahnhof hingeklotzt hatten, aus einem Teil des überwaldeten Gleises einen Naturpark machten. Auf der anderen Seite, zu Tempelhof hin, sind Kleingartenkolonien. Auf denen stehen, wie die letzten Zähne im Maul eines garstigen Greises, finstere Backsteinbauen. Wenn es so was wie schlechtes Karma gibt, dann hier. Denn hier vergnügte sich die SS im Casino. Ein Stockwerk tiefer, im feuchten Keller, wurden Kommunisten, Juden, Journalisten und anderes Geschmeiß totgeprügelt. Das erste KZ. Mitten in Berlin. Die Hinweistafel ist handtellergroß und weit hinter Autowerkstätten versteckt. Man sieht sie aus dem Fenster einer der Werkstätten, direkt neben einem verblichenen Tittenkalender von 1987.

Südkreuz ist ein moderner Alptraum aus Stahl und Glas. Eine Hommage an die Farbe Grau. Das, was man in eine Stadt klatscht, wenn einem wirklich alles egal ist, außer, dass das Schmiergeld für die Baubranche stimmt. Grotesk überdimensioniert, provozierend geschmacklos. Das einzig Passable ist die lange geschwungene Holzbank an der Fernbushalte. Hier soll man sich kennenlernen. Oder verachten. Denn wenn der chronisch genervte Berliner eins nicht braucht, sind es Leute, die ihm auf die Pelle rücken. Schon gar nicht, wenn es die Bahnhofsassis sind.

Sie sitzen auf der Bank, einige stehen, als würden sie auf den Bus warten. Der fährt für fast Nichts an so grässliche Orte wie Magdeburg, Cottbus, Dessau-Roßlau. Vielleicht ist es eine Assigruppe auf Tour? Aber Moment, Assis gehen nicht auf Touren. Sie gehen überhaupt nirgends hin, wenn es nicht Getränke Hoffmann ist. Es ist Nachmittag, die Sonne knallt gut für Frühling. Ich will sterben.

„Ick hab Angst vor Hertha BSC, weiste?“, dröhnt ein fetter Möchtegerngangster: Turnschuhe, ein billiges Markenpulloverimitat, das seine Männertitten versteckt, ganz gefährliche Sonnenbrille.

Er geht mit einem anderen Typen kurz ein paar Schritte weg. Der bittet ihn offensichtlich um etwas. Fetti nickt und öffnet seine obligatorische Bauchtasche. Normalerweise tragen die Gangster. Es gibt kaum ein „Herrenaccessoire“, das abstoßender ist. Man könnte sich gleich einen Tumor nach außen stülpen und in den Schritt hängen. Sich die Eier mit Salzlösung aufspritzen lassen, wie die abgefahrensten „Ballooning“-Fetischisten.5 Oder sich den Dickdarm rausnehmen lassen und ihn als Fäkalientasche nutzen.

Nein, er holt kein Crack raus, sondern Münzen. Mit der Güte eines Louis XIV. schickt er den Typen weg. Nach ein paar Minuten kommt der wieder: drei Pakete Underberg. Ganz viel Vorwand zum Anstoßen, alle anderen nerven, zum Solidarisieren mit dem schlechtesten aller Gründe. Legale Drogen? Wie arm ist das denn? Nebenan, in Neukölln, würde Machmut sich bepissen vor Lachen.

Trotzdem, Fetti ist der Führer seiner illusteren Sturmstaffel. In deren äußerer Umlaufbahn orbitiert ein Kleinwüchsiger. Man weiß nicht, ob er schüchtern oder distanziert ist. Wenn er steht, ist er gerade so groß wie die anderen sitzend. Als einziger sieht er nicht aus, als wäre er aus der Textildiscounter-Hölle geflohen. Er hat sogar so was wie eine Frisur. Selbst ein Gesicht ist erkennbar, noch nicht vollends von Suff und Mistfraß entstellt. Ein weiterer, wohl höher in der Rangordnung Stehender, trägt Arbeitsschuhe. Obwohl man nach dem ersten Blick weiß, dass er nie wieder arbeiten wird, und es auch seit mindestens einer Dekade nicht mehr hat. Das heißt, wenn Bier heben keine Arbeit ist. Sein Pilsator glänzt in der Sonne, er hält es wie ein Gewehr. Die fette Goldkette verrät, dass er über alle Komplexe erhaben und unvorstellbar reich ist. Pilsator trinkt er nur aus Stilgründen. Das Prächtigste aber ist sein Bauch. Er ist hochschwanger. Das ist besonders grotesk, da er sonst nicht massig ist. Es gab einmal einen Inder, der musste seine Eier mit der Schubkarre vor sich herfahren. Als das sonst so böse Internet ihn entdeckte, wurde ihm eine Operation spendiert.6 Bei ähnlichen Fällen im Bauch wurde ein riesiger „gutartiger“ Tumor hervorgeholt. Der war so gutartig wie eine Nahrungsmittelindustrie, die dich aufschwemmt, aber nicht gleich tötet. Oder eine Bundesregierung, die die multitoxische, vergewaltigungsanregende und extrem krebserregende Droge Alkohol legal hält, aber Gras kriminalisiert.

„Du hälst dich aus allem raus, is das Beste wat ma machen kann!“ Ja, nein, das Beste wäre, aufzuhören, zu grölen wie ein Bekloppter. Eine Bekloppte? Eine Robbe sitzt inmitten der Gruppe auf der Bank. Geschlechtslos gesoffen und gefressen. Schirmmütze nach hinten wie in den tiefsten 90ern. Da würde sich selbst Marky Mark mit Grauen abwenden. Dazu ein schön spannendes, rotes Trikot, damit man auch maximal schwitzen kann. Schweißränder heben sich in den Tälern ihrer Röllchen hervor. Sie kräht. Gerne. Alle dürfen teilhaben.

Aber das ist voll gemein und gar nicht gender, dass du dich über Fette lustig machst! Die ist doch nur passiv von negativen chauvinistischen und klassistischen Vorurteilen betroffen!

Alter, fickt euch.

Es hat nichts mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun, wenn man sich total aus der Form säuft. Kann ja jeder machen. Aber dann wunder dich nicht, dass du nicht aussiehst wie Beyoncé. Aber fett sein? Das ist mehr als deine eigene Entscheidung. Nahrung ist ein Verbrechen mit Opfern. Klar, wenn sie es geschafft hat, vegan fett zu werden, dann bitte, hier ist mein Respekt. In allen anderen Fällen ist sie ein egozentrisches, idiotisches, ignorantes Stück Scheiße. Nur weil wir nicht sehen, wie intelligente Lebewesen für nichts anderes als unsere Bequemlichkeit vergewaltigt (Milchprodukte) und getötet werden, heißt es nicht, dass es nicht passiert. Oder, dass man sich nicht schuldig macht. „Wir haben von nichts gewusst“ ist seit 1945 out.

Studien zeigen, dass wenn weniger blaue Punkte zwischen schwarzen zu sehen sind, unser Hirn blaue Punkte dazufantasiert. Heißt, wenn man für Blau Vergewaltigungen, Atomkraftwerke, oder eben Fette einschiebt: Es wird besser, aber unser Gehirn sieht die Besserung nicht.7

Aber es gibt sie noch, die weibliche Rolle. Sie ist mindestens genau so moppelig, vielleicht Ende vierzig (oder Ende zwanzig mit gutem Konsum). Wenn beyond gender eben eine Robbe war, dann ist sie der Wal. Ihrer Gruppenstellung angemessen, präsentiert sie ihr Winkfett in einem froschgrünen Oberteil. Sie sagt wenig, muss sie auch nicht. Schönheit spricht für sich selbst. Sie hat allerdings einen Fotoapparat. Irgendwer muss diese glorreiche Epoche ja festhalten.

„Jetzt komm, Foto jetzt!“

„Nisch ma fürn Axel-Springer-Verlag wurde ich so oft abgelichtet!“

„Oh nein, dassn Handy, ich hab keine Ahnung wie das geht!“, nölt einer, der eine Kamera nicht von einem Handy unterscheiden kann.

Immer schön technikfeindlich bleiben, wollenwa nich, wie die Ausländers oder die Umweltkacke. Sich bloß sich nicht mit Neuem beschäftigen, sonst wird der wertvolle Stumpfsinn vertrieben. Hilft auch niemandem. Besonders, weil Studien nicht schätzen, dass jedes Smartphone 3.000$ jährlich zum BIP von Entwicklungsländern addiert.8

Alle wippen sich in Aufstehposition, Kniegelenke knacken, die Bank ächzt. Sie posen wie unschuldige 14-Jährige. Natürlich beginnt der Köter sofort, wie tollwütig zu kläffen. Natürlich tut niemand was. Das ist unser Spitzi, der darf alles. Nicht wie die viel intelligenteren Schweine, die wir millionenfach vergasen lassen. Den hier streicheln, den da essen. Speziezismus nennen Klugscheißer das. Damit lässt sich auch Sklavenhaltung begründen. Und man muss hoffen, dass wir darüber hinweg sind, bevor die Außerirdischen kommen und das auf uns anwenden.

Der Zwerg hält sich ein wenig abseits. Was geht in ihm vor? Ist er wie Hawking ein Genie? Oder ist er einfach das Omega in der Gruppe, das Allerletzte? Und wenn ja, wieso tut er sich das an? Er hat offensichtlich so viel Spaß wie bei einer mittelalterlichen Zahnbehandlung.

„Wir wollen heiraten, wa?“, kräht es.

„Meine Alte,“ sagt Alpha, „damals hab ich se erst drei Tage gekannt, da hattich schon n Heiratsantrag.“ Kurz sieht er verdutzt um sich wie ein Hund nach der Kopulation. „Ich kann gar nich heiraten, ich bin nämlich Heide.“

Sie: „Ich ooch. Atheist. Meine Eltern waren so arm, die konnten meiner Schwester nur einen Namen geben.“

Lachen. Grundlos. Der Berliner „Humor“ ist das Letzte. Erst nach einem Kasten Bier nicht mehr Clusterkopfschmerzen erzeugend. Kein Wunder, dass der Moabiter Kurt Tucholsky sich mit einer Überdosis weggemacht hat.

„Die Männer, die isch kenne, die sind nich empfehlenswert. Dit geht nisch“, sagt der Alpha. Manchmal der Ritter, immer ein G.

Romantik in Zeiten von Dosenpfand. Bei beiden herrscht definitiv, so grässlich es auch ist, eine sexuelle Spannung. Aber das älteste aller Probleme steht ihnen im Weg: Einer ist vergeben. Ein Glück haben wir die christlich-monogame Tradition. Womit würden wir uns sonst beschäftigen? Mit echten Problemen? Das Drama wirkt nicht wie Romeo und Julia, sondern wie ein absurdes Antistück von Beckett, in dem die Hoffnung schon lange tot ist, sie die Bedeutung mit in den Abgrund gerissen und nur leere Worthülsen zurückgelassen hat.

„Jetzt hörmirmalzu: Ick hab gehört man muss gar nicht zur Kirche, man kann zum Standesamt, 75 € und so“, sagt Alpha.

Ist das eine Anmache? Ein Vorschlag? Hat er wirklich so viel Knete? Und ist die Kirche weiter weg als Getränke Hoffmann? Mittlerweile hat sich ein neuer dazugelurcht. Er trägt einen Ballonseide-Trainingsanzug, der 1986 in der Ukraine sicher mal modisch war. Er kam mit seinem chaotisch geflickten Fahrrad und sitzt auffällig unauffällig neben der Gruppe. In den guten alten Zeiten, als noch irgendwas wichtig war, wäre er ein Spitzel gewesen. Jetzt steht er auf, dreht mit dem Rad eine Runde und hält neben Alpha. Geflüster, er ist um Privatsphäre bemüht. Jetzt endlich: Drogen? Waffen, Nieren, kambodschanische Kindernutten?

„Wat? Nee, dis broochen wa nich!“

Der Neue preist noch kurz sein Produkt an, aber dreht dann ab, wie einer, der nicht gefasst werden will.

„Es gibt hier Leute, nur wegen Toilettenscheinen alter.“

„Ja wat soll denn dit?“

„Ey, dit macht man nisch.“

Alpha: „Ich bezahlt nischts auf der Toilette, weste?! Det is noch nisch mal von unserem Bahnhof hier? Wo hatter det her?“

Ernsthafte und aufrechte Entrüstung. Wenn der Berliner ohne eins nicht leben kann, dann das. Je weiter er unten ist, desto härter muss er treten. Auf einmal ist die Assigruppe eine kleine Hofgesellschaft, die den Narr verjagt hat. Allerdings: Der Narr hat wirklich ein zweifelhaftes Geschäftsmodell. In den Mülleimern nach Toilettenbons kramen und die weiter verkaufen? Wieso kauft er sich nicht davon … Bier?

Solange die KZ-Schlote nicht rauchen, geht die Abgrenzung weiter. Wie bei Imperien: Jetzt hat Stalin die Außengrenzen gefestigt, nun muss die innere Säuberung folgen. 20.000.000 sowjetische Bauern sind jetzt der Kleinwüchsige.

„Du Verräter! Ick hab dir jesagt, wenn dir eina so kommt, sollst du unten gleich reingreifen“, er packt ihn an der Schulter und schüttelt den Kopf. Zu den anderen: „Der kleene Mann hier? Guck ihn dir an!“ Der bringt nur ein schiefes Grinsen raus. Wenn man sich nicht wehren kann, muss man mitlachen.

Dann die große Überraschung: „Man nennt es Joint!“, Alpha zieht ihn hervor. „Nisch meine Meisterleistung, aber isch habe misch dafür entschieden. Solange genug drin ist.“ Ganz der (korrupte) Demokrat, ideales Wahlvieh.

Alpha präsentiert stolz den Beweis seiner Straßentauglichkeit. Und man muss sagen: Es ist wirklich erstaunlich. Normalerweise kiffen Suffis nicht. Die drei alten Knacker ein paar Meter weiter rümpfen schon die Nase. Sie haben sich allen Ernstes ein Deutschlandfähnchen aufgestellt, darunter thront eine russische Wodkaflasche. Nicht nur, dass sich Alpha so seine Persönlichkeit zusammenschustern kann wie ein pubertierender 14-Jähriger, es ist auch ein echter Fortschritt. Noch niemand ist durch Gras gestorben, Alkohol tötet jährlich Millionen. Wer nicht hören will, muss führen. „Wissenschaft entwickelt sich Beerdigung für Beerdigung“, sagte Max Planck.9 Was in Nico Suaves 2001er Hit „Warum bin ich so vergesslich? Ich weiß es nicht! Der Scheiß bringt mich ausm Gleichgewicht!“, schon klar war, ist jetzt endgültig in Stein gemeißelt: Kiffen ist nicht mehr cool. Wenn schon die Bahnhofsassis kiffen, dann muss sich die hippe Crowd was Neues suchen. Fentanyl irgendwer?

Alle heulen ja, wegen der Gentrifizierung gehe das „Urberlin“ verloren. Aber was ist das? So ein Haufen Suffis? Die gleichen stumpfen Witze, seit die Fabriken begannen, die Proletarier zu verheizen?

Selbst Zille wusste: Unterschicht ist nicht geil. Proletarier ist nichts, auf das man stolz sein sollte, es ist der Anfang der Nahrungskette. Und es gibt sie nicht mal mehr. Niemand arbeitet hier, und das ist auch gut so.

Das „Urberlin“ kann nicht gerettet werden, es muss aussterben. Dass es so lange überlebt hat, ist ein Wunder. Die Frage ist, mit was es ersetzt werden soll? Mit dem erstickenden Starbucks-Hochglanz des Hackeschen Markts, der Hippiecalypse Kreuzbergs oder dem „Isch-mach-disch-Messa“-Ghetto des Weddings?

Ein Youngster parkt mit seinem Elektroroller neben der Gruppe.

„Ey, wattn dit, is dis elektro?“

„Ja.“

„Ick meene, mia machen die Angst. Hört ma nich und schwupps, is ma tot.“

„Naja, aber so viele Menschen wie Autos bringen die sicher nicht um.“

„Ja nee, aber dit is doch jefährlich. Det jeht doch nicht.“

Der Typ verschwindet, offensichtlich angewidert von der Redundanz. So läuft das, was nicht ins Weltbild passt, wird wegredundiert. Nicht nur bei Urberlinern, sondern bei allen Idioten.

Ein Glück saufen Roboter nicht.

Praktisches

Wenn du am Südkreuz bist, solltest du auf jeden Fall immer den Mittelfinger nach oben halten und die Kapuze aufziehen, weil hier Gesichtserkennung trainiert wird. Ja, liebe SPD-Wähler, das ist eure Schuld. Ansonsten wurde Südkreuz nur gebaut, damit man schnell wegkommt, und das ist auch richtig so. Das einzig Interessante in der Gegend ist der Gleispark zwischen Südkreuz und Priesterweg. Ein langgezogenes, ehemals verfallenes Gleisbett, wo weniger geschmackvolle Kunst von Natur überwuchert wird. Ganz unten gibt es einige Künstlerwerkstätten und ein Café, wo der Kaffee so gut ist, wie das Essen schlecht.

5 Ja, gibt’s wirklich: https://t1p.de/uzp7 (19.4.18)

6https://t1p.de/vuqa (19.4.18)

7https://t1p.de/nvgy (10.7.18)

8https://t1p.de/3fr5 (3.6.18)

9https://t1p.de/5887 (20.4.18)

Sextrain

„Verpiss dich! VERPISS DICH! ICH SCHLAG DIR IN DIE FRESSE!“

– S-Hermannstraße, Junkiefrau schreit in die Leere.

Heute was anderes: blutige Pillen am Bahnhof. Jeden Tag ein neuer Eindruck, die Welt ist schön. Normalerweise ist es nur Rotze, literweise, und Alufolie, vom Picknick. Morgens liegen sie noch da, in den Schlafsäcken, Wunderkerzen in spe. Zum Frühstück die letzten Reste aus der Folie, dann ab, bevor sie vom den nichtöffentlichen Raum besitzenden Unternehmen weggefegt werden. Gestern saßen hier noch zehn Leute, jeder stiert auf die Folie, „Jetzt ich!“, geiert einer. Eine Frau hängt im Rollstuhl, ihre Stumpen überzogen von Einstichlöchern. Doch der Tag beginnt und es ist heiß, höllisch heiß. Am S-Bahnhof Hermannstraße bei den ersten Bieren gegen 07:30 Uhr morgens. Testosteronitäten werden ausgetauscht. Alte Pisse wird mit neuer Pisse weggeschwemmt. Ein Obdachloser legt sich auf einer Decke unter einen Sonnenschirm. Er urlaubt am hässlichsten Ort der Stadt, alles Einstellungssache. Wir haben keine Probleme außer Pessimismus!

Man steigt ein, an jedem Bahnhof im Elendsbezirk sitzen sie: trostlose, aufgegebene Menschen mit Bier. Mit glasigem Blick stieren sie in das Hamsterrad. Macht kaputt, was euch kaputtmacht? Die müssten sich den eigenen Kopf einschlagen. Viele Alte, aber nicht nur. Alte interessieren keinen, wer nicht arbeitsfähig ist, kann ruhig zu Pillen verarbeitet werden. Aber auch Junge, gerade zwanzig. Menschen, deren Leben vorbei ist, bevor sie lernen konnten, das Verlieren zu genießen. Ein paar der alten Knacker haben Spaß, auch wenn sie es nie sagen würden, für sie ist draußen ein „Lifestyle“. Aber die meisten, die hier landen, sind Ausschuss. Armut, die sich eine reiche Gesellschaft moralisch leistet. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Es muss sein, noch ein Bahnhof. So, wie die nächste S-Bahnfahrt ausfallen muss, weil „Verzögerungen im Betriebsablauf“ stattfinden. Das ist Managersprech für: „Wir koksen lieber unsere fetten Gehälter weg, als in neue Züge zu investieren“. Und wie immer darf die Elite marodieren, der Pöbel nicht. White Collar Crime geht klar, Black Collar nicht. Verschwende Millionensubventionen an Bildschirme voller Antinachrichten, klatsch alles mit Werbung zu, dünne die Fahrpläne aus. Die S-Bahn besaß sogar die Chuzpe, das unter dem Titel „Operative Exzellenz Berlin“ vorzuschlagen.10 Was soll das bedeuten? Die Züge sollten Bahnhöfe auslassen! Was kommt als Nächstes? Waggons mit hölzerner Drittklasse, Dachfahrplätze, Expressdraisine?

Die Verspätung zieht sich, Dinosaurier entwickeln sich, sterben aus, Epochen vergehen. Die Alkis genießen das länger als fünf Minuten bleibende Publikum und legen richtig los: „Mann DIETA, wat hab ick jesacht, FUFFZICH Zent!“ Direkt neben den Wartenden raucht eine Omi gemütlich Crack. Der Rauch zieht herüber, wie geschmolzene Alufolie. Wie lange kannst du die Luft anhalten, Seepferdchen?

Zwei „Zugdurchfahrten“ in das Nirwana eines Fahrplans, der wahrscheinlich von den Alkis selbst entworfen wurde. Als die Bahn kommt, presst sich der Menschenhaufen rein, alle stehen dicht an dicht, man wird vom salzigen Schweiß des Nachbarn angespritzt. Du kannst gesprungene Plomben sehen, wie aus dem Oberarm flüchtende Feigwarzen, es ist tropisch unter den haarigen Achseln. Natürlich quetschen sich noch ein, zwei Bettelnde pro Station durch. Der vorsichtige Flüchtling geht noch, aber der Junkie spürt nichts mehr. Wie eine Mumie rammt er durch die Reihen. Und dann, genau dann, hat die Bahn die Frechheit, die Kontrolleure loszulassen.

Fette Assibratzen mit Markennamen auf der herausstehenden Unterhose und Kragen, bullige Türken, denen die Steroidpickel am Hals aufplatzen, knochige Hellersdorfer, die mit ihrer Provision selbst Meth kaufen wollen. Sie sind selbst nur einen fetten weißen Pseudo-Puma-Turnschuh von den Bettlern entfernt, wie der panisch AfD-wählende Kleinstbürger vom Prekariat, das die bald ins Lager stecken wird. Der Schwarze hat keinen Fahrschein und keine Lust. Er pampt grob zurück, wie sich das gehört. Die rumänische Mutti startet ein Drama von ceauşescuschen Ausmaßen. Sie hätte nicht gewusst! Der Automat war kaputt! Er soll sie nicht anfassen! Der Türke pumpt sich bis kurz vors Platzen auf. Ein Student redet sich lang und breit raus, lacht, „Wie dumm von mir.“ Was er sich nicht zu sagen traut, ist: „Ich bin nicht so ein Abschaum wie die! Wirklich! Hier, ich habe Geld, ich bin ein Mensch, ein Deutscher!“ Eichmann hätte das gefallen.

Manchmal geht es gut, manchmal geht es Berlin. Wie einst am Kotti, als die Kontrolleure einfach anfingen, lustig auf die Schwarzfahrer einzuschlagen.11 Bedauerlicher Einzelfall? Genau, wie der NSU. Es gab alleine 2017 und 2018 30 Fälle, wo Kontrolleure wegen Fehlverhaltens aus dem Prüfdienst abgezogen wurden – angesichts täglich eingesetzter 70 bis 90 Personen! Am Arsch der Welt, in Südende, prügelte ein anderer Kontrolleur einen Flüchtling zu Brei, weil sein Ticket nicht unterschrieben war. Klar kann das auch ein Trick sein, um ein Ticket zu teilen. Aber wenn es jemand so nötig hat, dann ist es zynisch von einer Gesellschaft, ihm das Grundrecht auf Mobilität vorzuenthalten. Was würdest du mit 150 € Taschengeld tun, die Hälfte für eine Monatskarte ausgeben? Jeder Siebte der Knastinsassen in Tegel sitzt wegen Schwarzfahrens.12 Selbst die Grünen sehen ein, dass das Unrecht ist, und plädieren dafür, Schwarzfahren von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen. Aber kostenloser öffentlicher Nahverkehr, der bei gleichen Kosten realisierbar wäre? Das ist was für Kommunisten, nicht für unsere neue FDP.

Wenn die von oben verordnete Unmenschlichkeit so bahnbrechend ist, muss man sich nicht wundern, wenn auf den tieferen Ebenen des Nahverkehrs der volle Horror abgeht. Es geht nicht mal mehr um den U-Bahn-Treter. Den Bulgaren auf Meth, der aus Spaß eine Frau die Treppe runtertrat, dann vor Gericht weinte, weil, wie ihm Verwandte attestierten, nach einem schweren Unfall „[s]ein Kopf […] abgegangen“ war.13 Es geht auch nicht um den Pinkler, der auf eine Migrationshintergrundmutti und ihr Kind pinkelte und dabei standesgemäß „Asylantenpack“ schrie. Es geht um das Pärchen, das die S-Bahn zu seinem Schlafzimmer umfunktionieren wollte. Mit dem vollen Programm, sie fingen mit Oralsex an. Unverständlicherweise beschwerten sich die Fahrgäste. Was also tun? Na klar, denen die Fresse polieren. Aber richtig.14

Der für eine kurze Zeit hippe Romano besang die S-Bahn als „Sextrain“. Dann drehte er bis zur Unkenntlichkeit überproduzierte Werbespots für sie. Für einen mit Steuergeldern hart durchsubventionierten Monopolisten. Eine moralische Bankrotterklärung.

Ein neuer Trend grassiert auf leeren U-Bahnhöfen: Penner anzünden. Meist nachts, wenn sie schlafen, aus einer Halbstarkengruppe heraus. Nicht, dass er wach wäre und man sich zu fünft mit einem wahrscheinlich körperlich Angeschlagenen auseinandersetzen müsste. Nein, in was für einer Welt auch immer das ehrenhaft ist: Man zündet ihn im Schlaf an. Einmal waren es die arabischen Kids Schöleinstraße, bei denen ein „dummer Jungenstreich aus dem Ruder lief“, wie deren Anwalt sagte.15 Dann Unbekannte, die einen Penner im Winter anfackelten. Diesmal mit dem vollen Programm, auch an Hass: Sie übergossen ihn mit Benzin.16 Das Reizvolle der kalten Jahreszeit ist, dass viele der potentiellen Opfer in Schlafsäcken rumliegen. Wer jemals beim Zelten zu nah ans Feuer gekommen ist, wird wissen, was für eine Todesfalle ein brennender Schlafsack ist. Sekundenschnell schmilzt das Plastik und glüht sich in die Haut. Es ist die Freizeitversion dessen, was die mexikanischen Kartelle professionell praktizieren: Menschen in Reifen zu stecken und anzuzünden.

Klar ist die Aufregung in der Boulevardpresse groß. Dass die Fahrpreise fast jährlich steigen, manchmal so exorbitant wie in Potsdam 2017 um 95 %, interessiert die nicht.17 Dass Mobilität ein Grundrecht ist, ebensowenig. Besonders, in einer Stadt, in der man unter einer Dreiviertelstunde nirgends hinzukommen scheint. Und dass es menschenunwürdig ist, einen Kopfgeldjäger auf Schwarzfahrer anzusetzen, schon gar nicht.

Bahnfahren ist nur noch genießbar für Verzweifelte, Partyvolk, und Berlin ist das MMA des Ekels. Wie die Frau, die nachts auf der Bank am Kotti einen Döner desavouierte. Der Bahnsteig war voll, aber niemand setze sich neben sie, sie hatte einen regelrechten Bannkreis. Vielleicht lag das daran, dass jemand neben ihr auf die Bank geschissen hatte. Immerhin hatte er ein Taschentuch drauf gelegt. Am Kotti gilt das schon als gehobenes Ambiente. Sadisten kommen wiederum in der Bahn voll auf ihre Kosten. Man hat Glück, wenn man nur den Frottierern begegnet. Sie sind die Häschen unter den Perversen: Die wollen nur kuscheln. Ohne, dass du es merkst. Und sich dabei anfassen. Wer Pech hat, wird angesprochen:

„Hast du was zu trinken?“, fragt der Obdachlose.

„Nein“, sie kramt nach Geld.

„Danke, aber ich hätte gerne was getrunken, das du hast.“

Sie schreit innerlich.

10https://t1p.de/v8ve (8.7.18)

11https://t1p.de/gook (8.8.18)

12https://t1p.de/0h1k (9.8.18)

13https://t1p.de/anfn (24.8.18)

14https://t1p.de/8tv6 (24.8.18)

15https://t1p.de/8rot (24.8.18)

16https://t1p.de/ekg9 (24.8.18)

17 https://t1p.de/u3cq (24.3.19)

Kulinarik über Alles

„Hätten Sie ein paar Cent?“

„Ich kann dir was zu essen kaufen, wenn du willst.“

„Ja, Hundefutter. Das habe ich am liebsten.“

– Bettlerin vor dem Edeka.

Berlin Lobster

„Beim Sex hatte ich noch nie Tränen in den Augen. Beim Essen schon.“

– Ein Gastrosexueller.

Der Tiergarten ist entspannt, weil er widerlich ist. Ein Wirrwarr von kleinen Flüssen, dichten Büschen und sechsspurigen Straßen – Natur pur. Hinter dem japanischen Blutahorn und dem schwarzen Riesenbambus warten aber nicht nur Entenküken und unerträglich niedliche Kaninchen, sondern auch gebrauchte Kondome, Menschenscheiße und schlafende Penner. Berlin pur.

Glotzt man seit letztem Jahr ins Wasser, vorbei an toten Hechten, treibenden Binden und dem ein oder anderen panisch den Ausweg suchenden Fisch, sieht man sie. Erst leuchtet es rot am Grund, dann sieht man auch einige näher am Ufer, sich am Hecht „degustierend“, dann merkt man, dass unter dem Steg hunderte Krebsküken marodieren.

Schön, denkt man sich, Leben. Wenn einer auf dem Rücken auf dem Weg liegt, dann trägt man ihn ins Wasser. Er zuckt und krampft, die Bewegung, die er im Wasser machen würde, um nach hinten wegzuschießen. Aber es nützt nichts, du wirst jetzt gerettet. Und der Retter begeht eine Straftat. Willkommen in Deutschland, der ordentlichsten Natur der Welt.

Ausgerechnet aus diesem Sumpf mitten in der Stadt soll das neueste angesagte Fressen kommen. Der „Berlin Lobster“, weil „Berliner Sumpfkrebs“ minimal unappetitlich klingt. Wird die Berliner Ratte demnächst auch ein „Berlin Furry“? Für den Namen würde in einer gerechteren Welt jemand erschossen werden, eigentlich heißen die Viecher „Louisiana Flusskrebse“. Sie sind in Berlin ganz richtig, denn sie sind ziemliche Wichser.

Hält man einen Stock ins Wasser, verschwinden sie nicht binnen eines Blinzelns wie die devoten, traditionell hier vorkommenden Arten. Sie greifen an. Wie ein schnittiger Weddinger Spielothekbesitzer in seinem BMW. Größenwahn, der eines Hauptstädters würdig ist.

Sie vergehen sich sogar an Kindern. Genauer gesagt an Laich. Sie packen das Problem der Konkurrenz in der ökologischen Nische an den Wurzeln, alle anderen Arten haben überhaupt nicht mehr die Zeit, aufzuwachsen. Reicht noch nicht? Sie führen den Krieg auch mit biologischen Kampfmitteln: Sie übertragen die Krebspest. Eine Krankheit, die in vielen Gegenden Europas ganze Flüsse entvölkert hat. Mal drauf geachtet, dass man Flusskrebse häufiger mit dem Bauch nach oben als noch am Leben sieht? Es sei denn, sie sind rot.

Natürlich ist der Krebs nicht natürlich. Er wurde ausgesetzt, wahrscheinlich von sadistischen Aquaristen. Ob der Verfassungsschutz die auf dem Radar hat? Jetzt marodieren sie munter durch den Schleim am Grund. Aber die Frage ist, was ist schon Natur? Füchse waren hier im Mittelalter ausgestorben, Kartoffeln kommen aus Südamerika, Tomaten aus Mexiko. Steinobst, also Äpfel, Birnen, Kirschen, so ziemlich alles Essbare vom Baum, kommt aus dem Altaigebirge und wurde von den Römern gezüchtet. Das, was hier vorher wuchs, war der Holzapfel. Der schmeckte auch nach Holz und hatte ungefähr so viel Nährwert. Natur ist keine Natur, sie ist gemacht. Seit 20.000 Jahren. Das wird nirgends so deutlich wie im Tiergarten. Man muss eben aufpassen, wie man sie macht. Aber jedes neue Tier mit dem bösen „Rapefugee“ gleichzusetzen, ist eine minimal bedenkliche Geisteshaltung.

Berlin wusste sich nicht zu helfen und schlug die Endlösung vor. Hat ja schon mal prima funktioniert. Sie wollten alle Teiche ablassen. Klar sterben dann auch alle anderen Lebewesen, aber Ordnung muss sein. Nur eins rettete die Natur vor dem Untergang. Das Einzige, was Deutsche noch lieber mögen, als Faschismus: Kapitalismus. Im intellektuell am rechten Rand kokettierenden schweizerischen Kleingeistmagazin Weltwoche wurde einmal vorgeschlagen, den sibirischen Tiger zu retten, indem man ihn bejagt. Sprich: verkauft. Das Fleisch, das Fell und natürlich den Pimmel. Die Nachfrage würde dafür sorgen, dass die Tiger nicht überjagt würden und sogar neue Tiger gezüchtet werden würden. Soweit die neoliberale Theorie. Hat ja schon bei den Tasmanischen Tigern und dem gerade auf männlicher Seite ausgestorbenen nördlichen Breitmaulnashorn wunderbar geklappt.18 Liberal ist wahrscheinlich einfach ein anderes Wort für Amnesie.

Berlin entschloss sich, die Krebse zu verkaufen. Nach dem Entschluss tauchte komfortablerweise ein Gutachten auf, das bescheinigte, dass der Verzehr unbedenklich sei. Auftauchen im Sinne von: „Das hat der Entscheidungsträger gelesen“, niemand anders. Gesund wahrscheinlich in dem Sinn, dass es nicht so grässlicher Giftmüll ist, wie Schweinefleisch vom Discounter. Es wurden keine Grenzwerte überschritten, hieß es.19 Ach ja? Sicher wurde auch auf Wechselwirkung zwischen Giften getestet? Nein? Das wird auch bei herkömmlichen Nahrungsmitteln nicht getan? Spritzmittel werden trotzdem in Schutzanzügen ausgebracht? Aristoteles würde Hasskopfschmerzen bekommen, es ist ganz einfach: Gift ist Gift. Wem das nicht reicht: „‚Es ist ein Mythos der Chemielobby, dass nur mit Pestiziden die Menschheit ernährt werden kann‘, sagt Hilal Elver, Berichterstatterin für das Recht auf Nahrung bei der UN. Im Gegenteil: Pestizide zerstörten fruchtbare Landschaften. Langfristig könne nur eine ökologische, kleinteiligere Landwirtschaft den Hunger besiegen.“20

Der Tiergarten hat nicht nur Teiche, die mit medikamentenbelasteten menschlichen Extrementen gedüngt werden, sondern auch Flusssysteme. Das sind Abzweige von der Spree. Falls das jemand vergessen hat, wenn es regnet, fließt da der Überlauf der Kanalisation rein. Gerade wollen sie einen Teil bei der Museumsinsel schwimmtauglich machen. Das Wasser dort ist nicht nur nicht trinkbar, es ist nicht badbar. Als in den USA die Menschen öfter Krebs als Husten bekamen, das Wasser aus den Küchenwasserhähnen brannte, obwohl die Frackinglobbyisten sagten, das hätte rein gar nichts mit den Pumpen zu tun, stellten Bauern ihnen ein Glas zum Trinken hin.212223 Überraschenderweise tranken sie es nicht. Ein Modell für Berlin?

Ein Fischereibetrieb aus Spandau wurde mit dem Fangen der Krebse beauftragt, weil die sich mit Deprimierendem auskennen. Sie stellten Reusen auf, im Tiergarten und im Britzer Garten. Der Täter sitzt also der Luftlinie nach wahrscheinlich irgendwo in Tiergarten, Schöneberg, Kreuzberg oder Neukölln. Endlösung für die vier Bezirke, liebe Stadt?

Als Schlichtungsversuch wird Berlin demnächst von 15.000.000 € SED-Vermögen, das in einem langjährigen Gerichtsverfahren lustigerweise der österreichischen KPD abgerungen wurde, Elektrogrills bauen. Was für eine bescheuerte Idee. Die werden im Handumdrehen vandalisiert und geklaut. Wie alles in Berlin. Natürlich auch die Reusen. Es dauerte keine Woche, da fehlte aus dem Tiergarten die erste Handvoll. Die nächste Woche die Zweite. Die arme Firma muss jetzt ernsthaft überlegen, ob sie im Tiergarten weiter fängt.

Die Gegenoffensive ist allerdings ein voller Erfolg: „Vor zwei Wochen, als wir mit dem Fangen angefangen haben, hatten wir noch circa 600 Krebse in den Reusen. Heute sind es noch so um die 100. Die Maßnahme wirkt also.“24 Alle sind glücklich, wenn wieder etwas der Produktivnutzung zugeführt werden kann. Unfassbar glücklich. Mörderisch glücklich. Darmaufwickelnd glücklich. Die Krebse werden jetzt in der Markthalle 9 verkauft, wo denn sonst? Das Kilo kostet den sechsfachen Hartz-IV-Tagessatz von 4,72 €: 29 €25. Bei 40g Gewicht muss man dafür 25 Krebse töten. „Das ist absolut ein Produkt für die Spitzengastronomie“, sagt der Typ vom Stand. Sprich: Nichts für den menschlichen Ausschuss. Postwendend schickt die Morgenpost eine maximal unreflektierte und leicht zu begeisternde Aushilfsredakteurin hin, damit die völlern kann.

Ihr Urteil ist so klischeehaft, dass sich selbst der bemüht nicht snobistische Snob aus der Weinschule an der Wilmersdorfer an den Kopf fassen würde:

„Aber dafür schmeckt es wunderbar frisch. Fest und zugleich zart.“

Fest und zart, ja? Vielleicht auch heiß und kalt? Gut und böse? Ja böse. Denn sie muss das Vieh ja auch noch entleiben:

„Ich gebe mein Bestes: Ich breche den Kopf der Tiere ab. Genauso wie bei Garnelen, denke ich mir. Dann breche ich mit den Fingern den Panzer auf. Der ist überraschend hart zu knacken, orangener Krebssaft spritzt mir über die weiße Bluse. […] Nun noch der letzte Schritt: den Darm aus dem Körper ziehen. Engers beobachtet mich interessiert und amüsiert zugleich.“26

Die erotische Spannung ist knüppeldick. „Gastrosexuell“, nennt man das, und es kann übersetzt werden in: Menschen, die im Leben wirklich nichts anderes mehr zu tun haben.

Gleich gibt es einen Liebesakt auf den Resten von Lebewesen. Aber die Ekstase passiert im Mund: „Beim Sex hatte ich noch nie Tränen in den Augen. Beim Essen schon“, gibt ein Gastrosexueller zu Protokoll.27 „Amüsiert“ schauen wir da, ja? Ist das nicht lächerlich, wenn jemand nicht richtig die Knochen eines Lebewesens brechen kann, oder die Innereien aufwickeln? Da schmunzeln die kannibalischen Batak aus Indonesien. Die brechen dir deine Wangenknochen und lutschen versiert deine Nasennebenhöhle aus.

Es ist unfassbar, wie wenig Leute spüren. Auf der einen Seite über Geschmack fabulieren, auf der anderen Seite (wie Engers zugibt) die Krebse aber tagelang im Wasser hungern lassen, damit sie sich ausscheißen, nur um sie schlussendlich (wie er elegant verschweigt) lebendig kochen zu können. Wenn das nicht sadistisch ist, dann gibt es keinen Sadismus.

Lachs wurde neulich zum giftigsten Essen überhaupt gewählt, wegen der Schwermetalle.28 Die Details sind appetitanregend: „[Der Unterwasserroboter] zeigt eine 15 Meter dicke Schicht aus Ablagerungen auf dem Grund unter den Netzen mit den Fischen. Eine Mischung aus Futterresten, Exkrementen und Chemikalien, die die darüber eingepferchten Lachse belasten. ‚Der Grund des Fjords ist völlig zerstört. Die Mittel, die hier eingesetzt werden, hat man im Zweiten Weltkrieg dazu verwendet, um Menschen zu vergasen.‘“ Ich verwette meinen Arsch darauf, dass die Flusskrebse nicht viel gesünder sind. Quecksilber, Blei und Aluminium lösen so schöne Krankheiten wie Krebs, Parkinson und Alzheimer aus. Geschieht den Leichenconnaisseuren ganz recht, denen kann der Krebs dann den Darm aufwickeln.

Und sie fabuliert weiter: „Vergleichbar mit Garnelen – oder Hummer. Die Großstadt, den Tiergarten oder den Berliner Gewässerschlamm schmecke ich nicht raus. Nur die Frische und Regionalität.“29

Man schmeckt die Regionalität? Wie genau? Wie der Alki vom Späti unter den Achseln? Wie das Aroma von Müllautos an einem stickigen Sommertag? Oder wie ein abstraktes Konzept, das keinen Sinn ergibt und von dem du keine Ahnung hast? Um mit was anderem als Ferraris und Goldketten anzugeben? Da ist sie wieder, diese elende Hipsteraristokratie. Sie denken, sie wären besser, weil sie regional essen. Ach ja? Wäre es besser, wenn ich deinen Hund schlachte, als wenn ich Kängurufleisch aus Australien esse?