2,99 €
Neun Jahre bei den Indianern von Herman Lehmann ist eine fesselnde Autobiographie, die den Leser in die abenteuerliche und oft haarsträubende Welt des Wilden Westens führt. Die Geschichte beginnt im Jahr 1870, als der 11-jährige Herman, Sohn deutscher Einwanderer in Texas, von Apachen entführt wird. Anfangs verzweifelt, fügt er sich bald in die fremde Welt der Mescalero-Apachen ein und wird Teil ihrer Gemeinschaft. Vier Jahre später schließt er sich den Komantschen an und wird einer ihrer Krieger. Nach seiner Rückkehr zu seiner Familie im Jahr 1878 muss Herman sich der schwierigen Aufgabe stellen, sich wieder in die Welt der Weißen einzufügen. Lehmanns Erlebnisse sind weit mehr als spannende Abenteuerlektüre. Sie bieten tiefe und authentische Einblicke in die Kultur, das Leben und den Überlebenskampf der amerikanischen Ureinwohner im späten 19. Jahrhundert. Die teilweise haarsträubenden Beschreibungen, wie das dramatische Gefecht mit den Texas Rangern, Jagdzüge und Überfälle ziehen den Leser in ihren Bann und lassen ihn die Herausforderungen und das Überleben in der Wildnis hautnah miterleben. Dabei entbehren sie jeder Karl-May-Romantik und konfrontieren den Leser schonungslos mit der Härte des Überlebenskampfes der letzten freilebenden Ureinwohner der amerikanischen Prärie. Herman Lehmanns Autobiographie, die zuerst 1927 veröffentlicht wurde, ist ein wertvolles historisches Dokument, das die komplexen Beziehungen zwischen den amerikanischen Ureinwohnern und den Siedlern beleuchtet und den Überlebenswillen eines jungen Mannes zeigt, der zweimal gegen seinen Willen entwurzelt wurde und sich in für ihn fremden und unerklärlichen Welten und Kulturen zurechtfinden musste. Diese neu übersetzte Ausgabe wird durch zahlreiche Fußnoten und einen umfangreichen Anhang ergänzt und ist ein Muss für alle, die sich für die Geschichte des Wilden Westens und die faszinierenden Kulturen der amerikanischen Ureinwohner interessieren. Dieses Buch enthält explizite Gewaltdarstellungen und ist daher für Kinder und jüngere Jugendliche nicht geeignet. Es richtet sich an eine Leserschaft ab 16 Jahren.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Vorwort zu dieser neu übersetzten, kommentierten und ergänzten Ausgabe
Anmerkungen zur Übersetzung
Vorwort der Originalausgabe
1. Meine Entführung
2. Wir reiten weiter
3. Willis Flucht
4. Indianische Folter
5. Wir erreichen das Dorf
6. Ich werde zum Indianer
7. Fluchtversuch
8. Meine Familie kommt gerade noch einmal davon
9. Mein erster Raubzug
10. Auf Raubzug
11. Ich skalpiere einen Mexikaner
12. Ein Kampf gegen die Komantschen
13. Beratungen und Friedensschluss
14. Abenteuer
15. Wieder im Reservat
16. Handel und Raub
17. Sie halten uns auf Trab
18. Indianische Sitten und Gebräuche
19. Ein wilder Ritt
20. Ich entdecke eine Goldmine
21. Raub einer Rinderherde
22. Kampf gegen Ranger
23. Der Kampf auf den Concho Plains
24. Schneestürme, Plünderungen und mehr.
25. Wir brechen aus
26. Carnovistes Tod
27. Mein Leben als Einsiedler.
28. Ein neuer Sattel
29. Ich werde ein Komantsche
30. Mein erster Raubzug mit den Komantschen
31. Kannibalen
32. Quanah Parker
33. Ein Kampf
34. Im Galopp durch ein Lager der Bleichgesichter.
35. Wir töten einen Büffeljäger.
36. Eine Beinverletzung
37. Ein Pfeil im Knie.
38. Von Hunden gehetzt
39. Soldaten töten unsere Frauen
40. Ein Anschlag auf mein Leben
41. Meine Rückkehr
42. Triumph der Mutterliebe
43. Ich schließe Frieden mit der Zivilisation
44. Zivilisatorische Einflüsse
45. Andere Entführte
46. Ich bin Mitglied in Quanah Parkers Familie
47. Zum Schluss
Anhang 1: Auszüge aus "Indianology“ der ersten Ausgabe der Erinnerungen von Herman Lehmann
Anhang 2: Der Kampf auf den Concho Plains – Bericht von Dan W. Roberts
Anhang 3: Der Kampf auf dem Concho Plains –Bericht von James B. Gillett
Anhang 4: Zivilisation und Wildnis, Friedrich Gerstäcker
Anhang 5: Bericht über Comanche
Anhang 6: Bericht eines deutschen Siedlers der Kolonie Dolores am Rio Grande an seine Freunde in Deutschland.
Literatur
Impressum
Der Autor widmet dieses Buch der Jugend seines Landes, in der Hoffnung, dass sie die Lebensweise ihrer Eltern und Großeltern und die wechselhaften Beziehungen zu den Indianern besser verstehen mögen.
Herman Lehmann, 1927
All people same anyway, God say.
Quanah Parker
Winnetou und Carnoviste waren Häuptlinge der Mescalero-Apachen.[1] Im Unterschied zu Winnetou, der Karl Mays Fantasie entsprungen ist, hat Carnoviste tatsächlich gelebt. Auch ansonsten haben beide nicht viel gemeinsam. Carnovistes Taten stehen etwa im krassen Widerspruch zu dem Verhalten, das wir von Winnetou erwarten. Carnoviste raubt, stiehlt, foltert und tötet. Er ist grausam. Auch zu uns, denn er zerbricht gnadenlos jenes idealisierte und infantile Bild von amerikanischen Ureinwohner, das wir vor allem in Deutschland, ich behaupte bis heute, tief verinnerlicht haben. Dieses durch und durch romantisierte Bild der amerikanischen Ureinwohner im Allgemeinen und der Apachen im Besonderen löst sich auf, wenn wir den Bericht Herman Lehmanns lesen. Im Alter von elf Jahren wird er von Mescalero-Apachen entführt, lebt die nächsten Jahre bei ihnen, verlässt sie, als er in Ungnade fällt, und schließt sich einer Gruppe von Komantschen [2] an.
Wir lernen Carnoviste als Krieger kennen, der nicht davor zurückschreckt, Kinder zu entführen, und auch nicht davor, sie zu töten. Chivat, einer der Krieger, die Carnoviste bei der Entführung Hermans halfen, beschreibt Carnoviste als eingebildet, geltungssüchtig und gewalttätig auch gegenüber Kindern. Und tatsächlich lässt er den Kindern gegenüber kein Zeichen von Mitgefühl erkennen. Er zwingt sie, sich von besonders ekelerregenden Speisen zu ernähren: von den noch körperwarmen Eingeweiden frisch geschlachteter Tiere oder - schlimmer noch – von zu Quark geronnener Milch aus dem Magen eines Kalbs. Das alles aßen Apachen zwar, aber sie essen auch Fleisch, Beeren, Zucker, Brot und andere Speisen, die für ein Kind erträglicher gewesen wären.
Apachen haben geraubt, vergewaltigt, gefoltert und getötet, und Hermans Bericht strotzt nur so von Grausamkeiten, die er selbst erleiden musste, aber auch von solchen, die er selbst begangen hat. Die Schilderungen vieler dieser Taten machen uns zu Recht fassungslos.
Waren die Apachen, war Carnoviste also besonders grausam? Bevor wir darüber ein Urteil fällen, müssen wir uns klarmachen, in welcher Lage sich Carnoviste, seine Apachen und andere Ureinwohner befanden. Sie führten einen jahrzehntelangen Abwehrkampf gegen eine übermächtige fremde Zivilisation, die im Begriff ist, ihre letzten Lebensgrundlagen zu zerstören. Von Kindesbeinen an ist ihr Leben von Grausamkeiten und Gewalterfahrungen geprägt, die der Kampf gegen europäische Siedler, Soldaten und die Angehörigen anderer Stämme mit sich gebracht haben. Die Mitglieder ihrer Familien wurden dezimiert durch unerklärliche Krankheiten, durch Überfälle und Kriege. Und sie sehen sich gezwungen, diesen hohen Blutzoll durch den Raub von Kindern auszugleichen.
Auch wenn wir von den Gewaltschilderungen überwältigt werden, ist es wahrscheinlich, dass die Handlungen, die uns zurecht schockieren, nicht völlig sinnfrei und willkürlich sind. Carnoviste mag etwa durch rohe Behandlung geprüft haben, ob er in Willi und Herman brauchbare künftige Krieger gewonnen hat. Das Verstümmeln und grausame Foltern von Kriegsgefangenen und anderen Opfern mag darauf abgezielt haben, potenzielle Angreifer abzuschrecken, damit sie sich vermeintlich friedliebendere Opfer aussuchten. Und Überfälle auf andere Stämme werden zumindest teilweise auch dem Zugang zu mehr und besseren Ressourcen gedient haben.
Natürlich verbietet es sich, Gewalttätigkeiten gegeneinander aufzurechnen. Aber wir müssen uns bewusst machen, dass das, was wir dort als besonders grausam geißeln, hier eine Konstante unserer Geschichte darstellt. Die Geschichte der alten Welt mit ihrer sogenannten Zivilisation ist getränkt von dem Blut der Opfer unzähliger Kriege. Gewalt und Grausamkeiten waren in unseren Breiten die Regel und sind es zum Teil auch noch heute. So auch in Amerika. Der Bürgerkrieg mit all seinen Exzessen, der sich nur wenige Jahre vor den hier geschilderten Vorkommnissen ereignet hatte, bildete damals einen traurigen Höhepunkt an Leid, das Menschen anderen Menschen antun können. Das Ausmaß an Grausamkeiten, die Menschen sich im Verlaufe dieses Krieges zugefügt haben, steht denen der Apachen in nichts nach. Aber auch die brutale Verschleppung und völlig selbstverständliche Versklavung von Millionen von Menschen aus Afrika mag als Beispiel dafür dienen, dass wir vorsichtig sein müssen, wenn wir andere Kulturen als barbarisch brandmarken.
Das gilt insbesondere dann, wenn wir das Jahrhundert betrachten, das dem der Entführung Herman Lehmanns folgen sollte. In den Mühlen der Kriege und der Völkermorde, die das 20. Jahrhundert erleben musste, wurden Menschen jeden Alters und Geschlechts in Massen zerquetscht und zermahlen. Das Leid, das diese Menschen durchleben mussten, übersteigt jede menschliche Vorstellungskraft. Und es war dies überwiegend ein gesichtsloses Töten, durch Artilleriebeschuss, im Bombenhagel und nicht zuletzt in Lagern und in Gaskammern.
Maßloses Töten hielten auch amerikanische Ureinwohner für grausam. In den vielen Kämpfen, insbesondere während der Überfälle auf die Dörfer der Indianer, war es das unterschiedslose Töten, das die Ureinwohner besonders schockierte. Es kämpften nicht Krieger gegen Krieger. Amerikanische Soldaten, Texas Ranger und die mit ihnen verbündeten Indianerstämme unterschieden in der Regel nicht zwischen Männern, Frauen, Kindern und Alten. Im Gegensatz zu den indigenen Stämmen, töteten sie bei mehreren Gelegenheiten alle Stammesangehörigen, derer sie habhaft werden konnten. Der ausgeweidete Körper des Indianermädchens Nooki und die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche ihres Vaters Batsena, der sie auf die letzte Patrone verteidigt hatte, legen darüber ein grausiges Zeugnis ab.
Zurück zu Carnoviste. Er erscheint uns unberechenbar – und auch das mag den Eindruck der Grausamkeit seiner Taten zu verstärken. Er spielt mit Herman, so dass dieser glaubt, er sei vielleicht doch „ein ganz verträglicher Bursche“. Nur kurz darauf aber wird er erneut von ihm geschlagen. Chivat schildert in einem Bericht, dass er nicht verstanden hat, warum Carnoviste die beiden Kinder überhaupt zu einem – aus seiner Sicht so unpassenden – Zeitpunkt entführen wollte. Carnoviste und seine Begleiter waren gerade mit einer Herde erbeuteter Pferde auf dem Heimweg. Es gab Hinweise, dass sie bereits von Texas Rangern verfolgte wurden. Aus diesem Grund erschien es naheliegend, beweglich zu bleiben und sich nicht mit entführten Kindern zu belasten. Chivat kam es absurd vor, in dieser Lage noch weitere Verfolger auf sich zu ziehen. Aber Carnoviste war der Anführer der Gruppe. Und damit hatte er das Sagen.
Chivat irritierte nicht die Tatsache, dass Carnoviste überhaupt Kinder entführte. Lediglich die Umstände erregten sein Missfallen.
Die Entführung von Kindern war unter den Völkern der Prärie, wie auch unter weiten Teilen der übrigen amerikanischen Ureinwohner gängige Praxis. Herman berichtet von zahlreichen weiteren Stammesangehörigen sowohl bei den Apachen als auch bei den Komantschen, die anderer Herkunft waren, wie etwa Europäer, Mexikaner und Angehörige anderer Stämme. Chivat war zum Beispiel gebürtiger Lipan Apache. Apachen hatten keine Vorstellung von einer „Rasse“, wie sie sich im 19. Jahrhundert in der sogenannten zivilisierten Welt etablieren sollte. Der Bericht Herman Lehmans unterstreicht, dass diese Vorstellung absurd ist. Nicht das „Blut“ ist entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Nur die Anschauung der Gruppe und des Individuums selbst sind entscheidend. Ein Komantsche ist ein Komantsche, wenn andere Komantschen ihn als solchen anerkennen und er sich auch selbst als solchen wahrnimmt.
Die Grenzen sind hierbei fließend. Das Schicksal Hermans ist ein Beispiel, dass es möglich war, zwischen diesen Welten zu wechseln. Eine Gruppe Frauen der Apachen, die von Komantschen entführt worden war, konnten diese nach ihrer Befreiung entscheiden, ob sie bei den Komantschen bleiben wollten. Und einige blieben, weil sie sich inzwischen mit Männern liiert hatten.
Chivat und Pinero waren gebürtige Lipan Apachen. Sie wurden zu Mescalero Apachen. Und dann schließlich zu Komantschen. Herman verstand sich zunächst als Kind deutscher Einwanderer, dann als Mescalero Apache, später als Komantsche und schließlich, wenigstens in der Wahrnehmung seiner texanischen Mitmenschen, als mehr oder weniger erfolgreich wiedereingegliederter amerikanischer Bürger. Für die Angehörigen seines Stammes bestanden dagegen nie Zweifel, dass Herman Lehmann ein Komantsche namens Montechema war und für den Rest seines Lebens auch blieb.
Auch Herman selbst sah sich so. Auch wenn er in seiner Schilderung mehrfach betont, wie froh er gewesen sei, wieder unter „Seinesgleichen“ leben zu können. An mehreren Stellen des Buches scheint er (oder sein Herausgeber) besonders betonen zu wollen, wie gut er sich wieder integriert habe und wie sehr er das Leben als „Wilder“ und die Taten, die er begangen habe, inzwischen bedauere. Allein, sein weiterer Lebensweg spricht eine andere Sprache. Es fiel im nach seiner Rückkehr sehr schwer, einen Platz in der sog. zivilisierten Welt zu finden. Er versuchte sich in mehreren Berufen, die er alle wieder aufgab. Er heiratete zweimal und zog mit seiner zweiten Frau zu den Komantschen nach Oklahoma. Dort erkämpfte er sich sein „Head-Right“, eine Landzuweisung, auf die er als Mitglied des Stammes Anspruch hatte. Auf dieser Parzelle lebte er, bis er gegen Ende seines Lebens auch dieses Heim wieder verließ, um die letzten Jahre seines Lebens bei seinem Bruder zu verbringen. Bei jenem Bruder Willi, der mit ihm einst von Carnoviste entführt worden war.
Sein Lebensweg blieb der eines Entwurzelten. Zweimal war Herman in seinem noch jungen Leben aus einer vertrauten Umgebung gerissen worden. Zweimal musste es sich auf eine völlig neue und fremde Kultur einlassen. Zu Beginn seines Lebens war er ein deutsch-texanisches Kind auf einem Bauernhof im Grenzgebiet der Zivilisation. Später war er ein Sklave namens En-da (weißer Junge).
Auch als er später Krieger und schließlich Führer einer Gruppe wurde, blieb an ihm doch immer der Makel haften, Eigentum eines anderen zu sein. Einige Apachen erinnerten immer wieder an seine stammesfremde Herkunft und daran, dass er nicht über die gleiche soziale Stellung verfügte, wie andere Krieger. Der Medizinmann, der Carnoviste tötete, habe ihn vorher oft misshandelt, berichtet Herman. Im Rausch macht sich ein anderer über ihn, das ehemals geraubte Kind, lustig. Als er mit anderen am verlassenen Haus seiner Kindheit vorbeikommen, provozieren und verspotten sie ihn. Im Scherz fordern sie ihn dazu auf, zu seiner Familie und in sein altes Leben zurückzukehren. Aber nicht nur stand das Haus, das einst sein Heim gewesen war, inzwischen verlassen und leer. Auch hätten sie ihn auf der Stelle getötet, wenn er versucht hätte, ihren Spottreden nachzukommen.
Als Carnovistes Frau stirbt, soll er, ganz so als wäre er ein Hund oder ein Pferd, selbstverständlich als Grabbeigabe getötet werden. Die Umarmung einer jungen Frau rettet ihn. Herman gehörte Carnoviste auf die gleiche Art und Weise, wie wir heute Haustiere besitzen. Wenn wir uns aber bewusst machen, dass uns ein vermeintliches Besitzverhältnis nicht daran hindert, unsere Haustiere heiß und innig zu lieben, können wir vielleicht nachvollziehen, was Carnoviste für Herman empfunden haben mag. Im Kampf verteidigt er ihn, und bezahlt dafür mit seinem Leben. Wie viele Menschen kennen wir selbst, die das Gleiche für uns tun würden?
Ganz anders ist seine Position bei den Komantschen. Hier ist er Montechema, ein respektierter Krieger, der sich die Gunst Quanah Parkers erwirbt und von diesem adoptiert wird.
Die Autoren von „Chivato“ berichten, dass Apachen und Komantschen aus unterschiedlichen Motiven Stammesfremde aufgenommen hätten. Komantschen seien bereit gewesen, Fremde auch als neue Familienmitglieder aufzunehmen, etwa um verstorbene oder getötete eigene Kinder zu ersetzten. Apachen dagegen hätten sich Sklaven genommen. Diese Darstellung erscheint mir etwas verkürzt. Die Gefangennahme von Angehörigen anderer Stämme war, wie bereits erwähnt, unter den Ureinwohnern des nordamerikanischen Kontinents weit verbreitet. Es liegen zahlreicher Berichte von Briten, Franzosen und Amerikanern vor, die von den unterschiedlichsten Stämmen geraubt wurden und die dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen machten bzw. machen mussten.
Die Stämme der Prärie raubten neben Mexikanern, vor allem auch „Weiße“ und Afro-Amerikaner. Die Gründe für die Gefangennahme waren vielfältig. Sie wurden als Geiseln genommen,
um mit ihnen Lösegeld zu erpressen. Vor allem Männer wurden zur allgemeinen Belustigung zu Tode gefoltert. Sie dienten als Sklaven und wurden als solche gehandelt. Aber sie ersetzten schließlich auch Familienmitglieder, die im Kampf getötet oder in Verlauf einer der zahlreichen Epidemien ums Leben gekommen waren.
Welches Schicksal Gefangene zu erwarten hatten, hing von mehreren Faktoren ab, insbesondere von ihrem Alter. Für die Aufnahme in einen Stamm besonders geeignet waren Kinder im Alter zwischen 5 und 12 Jahren. Die Pflege jüngerer Kinder ist aufwändig und ältere Gefangene passen sich nicht mehr ohne weiteres vollständig der neuen Kultur an.[3] Aber auch hier gab es Ausnahmen. So schreibt William Chebahtah, dass auch Herman bei seiner Gefangennahme eigentlich bereits erstaunlich alt gewesen sei. Cynthia Ann Parker, die Mutter von Quanah Parker war 5 Jahre alt, als sie von Komantschen entführt wurde. Sie wurde vollständig zu einer Komantschin und versuchte, nach ihrer „Befreiung“ mehrfach, aber erfolglos zu ihrem Stamm zurückzukehren.
Ähnliches gilt für Herman. Er fühlte sich Zeit seines Lebens als Komantsche. Glücklich ist er allerdings wohl auch bei seinem Stamm im Reservat nicht geworden.
Wir haben allenfalls eine vage Vorstellung von den dramatischen Veränderungen, welche die erzwungene Sesshaftwerdung für ein nomadisierendes Jäger- und Kriegervolk mit sich brachte. Aber wir kennen die erschütternden Berichte über die Zustände und Verwüstungen, die Krankheiten, Alkohol, Arbeitslosigkeit (treffender vielleicht Beschäftigungslosigkeit) und weitere Faktoren unter den Menschen, die in den Reservaten leben mussten, später angerichtet haben.
Es sind dies Zustände, die diejenige Zivilisation zu verantworten hat, die sich stets für überlegen gehalten hat. In vielerlei Hinsicht ist sie das auch, denn sie hat andere Kulturen verdrängt und der Welt ihren Stempel aufgedrückt, ob zum Guten oder zum Schlechten soll an anderer Stelle und von anderen diskutiert werden.
Die Welt aber, die Herman Lehmann in seiner Jugend durchstreift hat und die Völker und Kulturen, die frei in ihre lebten, gibt es nicht mehr. Auch Herman war als Komantsche schließlich frei. Und das in einem Maße, wovon wir uns heute kaum noch einem Vorstellung machen können.[4] Letztlich war es vielleicht der Verlust eben dieser Freiheit, der ihn nirgendwo mehr wirklich heimisch werden ließ. Denn die Welt, in der sie ihm geschenkt worden war, war und ist unwiederbringlich untergegangen.
Philip Gass, 2024
Die Bezeichnung Apache ist, wie viele andere Namen der amerikanischen Ureinwohner, eine Fremdbezeichnung. Sie stammt vermutlich aus der Sprache der Zuni oder der Yavapai und bedeutet „Feind“, „Fremder“ oder „Jene, die kämpfen“. Die Apachen selbst bezeichnen sich als Indé, was „Volk“ bedeutet.↩︎
Der Name Comanche ist eine spanische Abwandlung der Bezeichnung der Ute für dieses Volk und bedeutet „Jene, die immer gegen mich kämpfen wollen“. Die Komantschen selbst nannten sich Numenu, was „Jene, die stets umherziehen“ bedeutet.↩︎
An dieser Stelle sei auf die Praxis der sogenannten Knabenlese (osmanisch Dewschirme) hingewiesen, die im Osmanischen Reich üblich war. Es handelte sich um die Zwangsrekrutierung, um nicht zu sagen den Raub von Söhnen vornehmlich christlicher Eltern, insbesondere aus den Gebieten des Balkans und des Kaukasus. Diese Kinder bzw. jungen Männer waren zwischen 8 und 20 Jahren alt, im Durchschnitt wohl 12 Jahre, also etwa so alt wie Herman zum Zeitpunkt seiner Entführung. In diesem Alter war es offensichtlich (noch) möglich, durch geeignete (Um-)Erziehungsmaßnahmen zu erreichen, dass diese Kinder und Jugendlichen die Wertevorstellungen des islamisch-osmanischen Kulturraums vollständig adaptierten. Die gefürchtete Elitetruppe der Janitscharen bestand nahezu ausschließlich aus Knaben, die zwangsrekrutiert worden waren. Interessanterweise standen diesen Jungen und Männern später auch Laufbahnen offen, die sie in die höchsten Staatsämter führen konnten.↩︎
Sam Gwynne führt diesen Punkt, nämlich das für uns kaum mehr nachvollziehbare Gefühl der Freiheit, das er als Mitglied des Volkes der Numenu erlebte, sehr anschaulich in seinem lesenswerten Buch „Empire of the Summer Moon“ aus. Gwynne beschreibt in diesem Werk die Geschichte von Quanah Parker und den Aufstieg und Fall der Comanchen, des mächtigsten Indianerstammes in der amerikanischen Geschichte. Gwynne, S. C.: „The Empire of the Summer Moon“, Quanah Parker and the Rise and Fall of the Comanches, the Most Powerful Indian Tribe in American History, 2011.↩︎
Die Übersetzung dieses Buches stand vor der Herausforderung, dass die Sprache, in der es geschrieben wurde, eine andere war als das heutige Englisch. Viele Begriffe, die damals zur Alltagssprache gehörten, werden heute als rassistisch abgelehnt. Dies betrifft zum Beispiel die verschiedenen Bezeichnungen für die amerikanischen Ureinwohner, aber auch für viele andere Ethnien und Minderheitengruppen, die nicht dem europäischen oder angelsächsischen Mainstream entsprachen. Gleichzeitig ist es das Ziel dieser Ausgabe, die damaligen Verhältnisse realistisch und nicht beschönigend darzustellen. Aus diesem Grund erscheint es nicht sinnvoll, Begriffe wie "redskin", die schon damals abwertend gemeint waren, aus falsch verstandener Rücksichtnahme nicht mit "Rothaut" zu übersetzen. Gerade die abwertende Absicht muss deutlich gemacht - und zugleich kontextualisiert - werden.
Der Übersetzer ist sich bewusst, dass er die Absicht des Autors auch aus dem Kontext nur vermuten kann. Wenn jedoch davon auszugehen ist, dass Herman Lehmann keine Herabwürdigung beabsichtigt hat, wird die Form verwendet, die im heutigen Sprachgebrauch dem Gemeinten am nächsten kommt. Beispiele sind „Frau“ für „squaw“ oder „Schwarzer“ für „negro“. Überall dort, wo es andernfalls zu Verharmlosungen, Missverständnissen oder Fehlinterpretationen kommen könnte, wird der ursprüngliche Ausdruck beibehalten, auch wenn es sich um Begriffe handelt, die heute wegen ihres herabsetzenden Charakters allgemein abgelehnt werden.
Im Falle der Bezeichnung der amerikanischen Ureinwohner folgt der Übersetzer den Empfehlungen des National Museum of American Indian. Danach sind im Englischen folgende Bezeichnungen zulässig: American Indian, Indian, Native American, Indigen Ous oder Native.
Philip Gass
Herman Lehmann, von dem dieses Buch handelt, wurde am 5. Juni 1859 als Sohn deutscher Eltern geboren. Als er etwa elf Jahre alt war, wurde er von einer Gruppe Apachen entführt und lebte vier Jahre bei deren Stamm. Später geriet er in Streit mit einigen Angehörigen dieses Stammes. Um sein Leben zu retten, musste er in die Wildnis fliehen. Er verbrachte etwa ein Jahr allein in den Bergen, bis er sich den Komantschen anschloss, die ihn in ihren Stramm aufnahmen. Bei ihnen blieb er, bis er schließlich zu seinem Volk zurückkehrte. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr war er bereits erwachsen und vollständig zum wilden Indianer geworden. Während der Zeit seiner Gefangenschaft hatte er seine Muttersprache verlernt, die Lebensweise des weißen Mannes aufgegeben und sich zu einem blutrünstigen, plündernden Wilden [1] entwickelt. Als er in die Zivilisation zurückgekehrt war, musste man ihn mit Gewalt daran hindern, zu fliehen und zu seinem Stamm zurückzukehren. Im Laufe der Zeit versöhnte er sich mit seiner Lage, wurde re-zivilisiert und schließlich ein angesehener Bürger.
Ich kenne Herman Lehmann seit fünfunddreißig Jahren und ich kann sagen, ich kenne ihn gut. Zur Zeit seiner Befreiung aus der Gefangenschaft wohnte mein Vater, der verstorbene John Warren Hunter, in der Pension, die von Lehmanns Mutter in Loyal Valley betrieben wurde. Ich erinnere mich noch gut an die packenden Geschichten, die er mir über Lehmann und sein Leben bei den Indianern erzählte. Und ich erinnere mich auch daran, wie der wilde junge Mann die Kinder des Dorfes immer wieder in Angst und Schrecken versetzte. Wenn ich nicht gehorchte, drohte mir meine Mutter oft damit, dass bald "der Indianer" käme, um mich zu holen. Sehr lange noch trug er seine indianische Tracht. Die Kleidung des weißen Mannes sagte ihm gar nicht zu. Er war am liebsten allein, draußen in den Wäldern. Nach seiner Rückkehr mied e lange Zeit die Gesellschaft anderer. Schließlich gelang es den läuternden Einflüssen der grenzenlosen Liebe einer Mutter, einem unbeschwerten und heiteren Familienleben und der Fürsorge und Zuwendung seiner Brüder und Schwestern diesen wilden Charakter wieder zu verwandeln. Seine Wildheit wich einer gütigen und edlen Natur. Er wurde wieder zu einem weißen Mann. Seine Freunde, die Indianer aber, vergaß er nie. Jahre später, er hatte inzwischen in Loyal Valley seine wunderbare Frau geheiratet, erhielt er durch ein Sondergesetz des Kongresses das Recht auf ein Stück Land im Indianergebiet. Tatsächlich siedelte er um und lebte fortan auf diesem Land, umgeben von den Angehörigen seines Stammes. Ja, es war sein Stamm, denn in den Augen seiner kupferfarbenen [2] Brüder war er noch immer ein Komantsche. Er genießt bis zum heutigen Tag alle Rechte und Privilegien eines Stammesangehörigen.
In diesem Buch wird seine Lebensgeschichte wiedergegeben, genau so, wie er sie mir erzählt hat. Ohne Übertreibung und ohne Prahlerei. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass der Leser sie interessant finden und ihrer Darstellung Glauben schenken möge. Es leben noch heute Menschen, die seine Entführung und auch seine Rückkehr miterlebt haben. Auch leben heute noch Texas Ranger, die über seine Beteiligung an den Kämpfen mit ihnen berichten können. Es leben außerdem auch noch viele Indianer, die mit ihm auf den Kriegspfad gegangen sind, und an deren Seite er blutige Schlachten geschlagen hat.
Herman Lehmann ist jetzt ein alter Mann. Sein langes und ereignisreiches Leben neigt sich dem Ende zu. Er spürt die Last der Jahre, aber er kann ohne Reue zurückblicken in eine ferne, verblassende Vergangenheit. Denn es waren, wie er sagt, die Indianer, die ihn gelehrt hatten, zu stehlen und zu töten. Er dachte damals, das sei das Richtige. Nach seiner Rückkehr hat er aber eingesehen, dass diese Taten falsch waren. Und danach hat er solche Taten auch nie mehr begangen. "Er ist überzeugt, dass ein gerechter Gott ihm alle Sünden vergeben wird, die er während seiner Zeit als Wilder begangen haben mag. Denn damals wusste er es nicht besser.
Vor etwa dreißig Jahren veröffentlichte Richter J. H. Jones aus Mason ein Buch mit dem Titel "Indianology" [3], das sich ausführlich mit der Gefangenschaft von Herman Lehmann befasst. Aus diesem Buch habe ich wertvolles Informationsmaterial bezogen und für diesen Band verarbeitet. Die meisten Sachverhalte wurden mir aber von dem ehemaligen Gefangenen selbst berichtet. Genau jetzt, am 28. Mai 1927, da ich diese Zeilen schreibe, sitzt er hier bei mir und erzählt von seinen erschütternden und haarsträubenden Erlebnissen.
J. MARVIN HUNTER
Diese Darstellung steht im Widerspruch zu den Schilderungen in Herman Lehmanns Bericht über die Menschen, die ihm während seiner Zeit bei den Indianern begegneten. Es mag daher bezweifelt werden, ob Herman Lehmann sich selbst und seine Gefährten – trotz der unbestreitbar begangenen Gewalttaten – auf den Aspekt des „blutrünstigen Wilden“ reduziert hätte. Es ist möglich, dass diese und ähnliche Hinweise dazu dienten, einer zeitgenössischen Leserschaft zu verdeutlichen, dass weder Hunter noch Lehmann in irgendeiner Weise versuchten, die geschilderten Gewalttaten zu rechtfertigen. Möglicherweise zielten sie sogar darauf ab, den Eindruck zu zerstreuen, dass die Autoren eine vermeintliche moralische Überlegenheit der sogenannten Zivilisation in Frage stellen könnten.↩︎
Das Wort „kupferfarben“ (im Original „copper colored“) ist ein metaphorisches Attribut, das in unzutreffender Weise eine Verbindung zwischen der Farbe des Metalls Kupfer (rot) und der vermeintlich roten Hautfarbe der amerikanischen Ureinwohner herstellt. Auch Begriffe wie „Redskin“ oder „Rothaut“ werden heute aufgrund ihrer rassistischen Konnotation nicht mehr verwendet.↩︎
Jones, Jonathan H.: “Indianology. A Condensed History of the Apache and Comanche Indian Tribes for Amusement and General Knowledge”, Kerrville, Texas, USA, 1889↩︎
Mein Vater [1] und meine Mutter [2] wanderten im Jahr 1846 mit Hilfe der Prinz-Solms-Kolonie [3] von Deutschland nach Texas aus und ließen sich in Fredericksburg im Gillespie County nieder. Als mein Vater, Moritz Lehmann, im Jahr 1864 verstarb, heiratete meine Mutter 1866 Philip Buchmeier [4]. Nach dem Krieg [5] erwarben die beiden ein großes Stück Land am Squaw Creek, das etwa fünfundzwanzig Meilen nordwestlich von Fredericksburg gelegen war. Sie errichteten ein Haus, bestellten das Land und betrieben eine kleine Viehzucht.
Vom Beginn des Bürgerkrieges bis ins Jahr 1872 kam es in Gillespie County und den umliegenden Bezirken immer wieder zu Indianerüberfällen. Sie drangen dabei bis nach Austin und sogar bis in die Gegend von San Antonio vor. Viele der blühenden Täler dort sind vom Blut tapferer Pioniere durchtränkt, die versuchten, der Wildnis ein Heim für ihre Familien abzutrotzen.
Die Fruchtbarkeit der Täler von Beaver Creek, Squaw Creek und deren Nebenflüssen lockten viele unerschrockene Pioniere an. Zwei oder drei andere deutsche Familien hatten sich in der Nähe unserer Ranch niedergelassen. Auch wenn diese Höfe mehrere Meilen von unserem entfernt lagen, bildeten sie doch gemeinsam einen Siedlungskern. Das Land in diesen Tälern war außerordentlich fruchtbar. Es gab reichlich Wasser, viel Holz, ausgezeichnete Weiden und viel Wild. Dank der natürlichen Vorzüge dieser Gegend wuchsen und gediehen die Siedlungen im Laufe der Zeit, auch wenn bei Überfällen immer wieder viele Pferde gestohlen und zahlreiche Rinder geschlachtet wurden. Noch heute gehören die Nachkommen dieser Siedler zu den erfolgreichsten und wohlhabendsten Bürgern der Counties Mason und Gillespie.
Eines Tages im Mai 1870 schickten meine Eltern mich, meinen Bruder Willi [6] und meine Schwestern Carolin [7] und Gusta [8] in die Kornfelder, um dort die Vögel zu verscheuchen. Gusta war damals noch ein Kleinkind von etwa zwei Jahren. Auch Carolin war noch ein kleines Mädchen, hatte aber schon die Aufgabe übernommen, auf ihre Schwester Gusta aufzupassen. Ich selbst war zu der Zeit elf Jahre alt und mein Bruder Willi acht. Wir spielten auf den Feldern. Plötzlich bemerkten wir, dass wir von Indianern umstellt waren. Mit ihren bemalten Gesichtern jagten sie uns einen panischen Schrecken ein, und entsetzt versuchten wir zu fliehen. Doch bevor Willi aufspringen konnte, hatten sie ihn schon gepackt. Carolin Verließ das Baby und lief zum Haus zurück. Die Indianer schossen ihr hinterher und sie fiel um. Sie hatten sie nicht getroffen; sie war nur gelähmt vor Angst. Die Indianer schenkten ihr keine weitere Beachtung, wahrscheinlich in der Annahme, sie sei tot. Das redeten sie mir später auch immer wieder ein und ich hatten keinen Grund an ihren Worten zu zweifeln. Erst als ich viele Jahre später wieder nach Hause kam, erfuhr ich, dass sie überlebt hatte.
Auch ich versuchte zu fliehen, wurde jedoch gefasst. Als ihr Anführer, Carnoviste [9], mich packte, schrie ich voller Angst auf und setzte mich zur Wehr. Ich leistete heftigen Widerstand. Der Indianer ohrfeigte mich, würgte mich, schlug mich, riss mir die Kleider vom Leib, schleuderte meinen Hut fort – den letzten, den ich für die nächsten neun Jahre besitzen sollte. Ich war mir sicher, er wollte mich töten. Ich krallte meine Finger in sein langes, schwarzes Haar und zog daran, so fest ich nur konnte. Ich trat ihm in den Bauch, ich schlug meine Zähne in seinen Arm und fast wäre es mir gelungen, mich zu befreien. Aber da kam ein anderer Indianer dazu. Sein Name war Chivat [10]. Er kam Carnoviste zu Hilfe und packte mich am Kopf. Der andere packte meine Füße. Gemeinsam schleppten sie mich zu einer Begrenzungsmauer und warfen mich in hohem Bogen darüber. Auf der anderen Seite schlug ich mit Gesicht und Brust hart auf dem steinigen Boden auf. Ich war durch den Aufprall so betäubt, dass ich nicht sofort wieder aufstehen konnte. Die beiden Indianer kletterten über die Mauer und packten mich.
Dann ging alles sehr schnell. Sie fesselten mich und banden mich, splitternackt, auf den Rücken eines Pferdes. Die Indianer verloren keine Zeit und ritten los. Auf dem wilden Ritt durch Gestrüpp und Unterholz wurde ich von Dornen und Stacheln bis auf die Knochen aufgerissen. Die Sonne verbrannte meinen nackten Rücken und meine Glieder, so dass sich später große Blasen auf meiner Haut bildeten. Der Tod wäre für mich eine Erlösung gewesen. Mein Bruder Willi erlitt die gleichen Qualen, aber er gab keinen Laut von sich. Die Indianer durchquerten das Loyal Valley und ritten weiter hinauf in die Moseley Mountains. Als sie in einem der Täler ein paar Pferde sahen, ritten sie hinunter. Nur Carnoviste blieb bei uns. Die anderen waren noch nicht lange fort, als wir Schüsse hörten. Carnoviste entfernte sich daraufhin ein Stück von uns, um nachzusehen, was es mit den Schüssen auf sich hatte. Willi und ich nutzten die Gelegenheit und liefen davon. Aber mein kleiner Bruder konnte nicht sehr schnell laufen, so dass Carnoviste uns bald eingeholt hatte. Er schlug uns und drückte uns gleichzeitig den Hals zu, um zu verhindern, dass unsere Schreie zu hören gewesen wären. Durch Gesten und Grimassen gab er uns unmissverständlich zu verstehen, dass er uns foltern würde, wenn wir es wagen sollten, noch einmal zu fliehen.
Bald kamen die anderen Indianer zurück. Sie führten ein paar Pferde mit sich. Dann wandte sich der ganze Trupp nach Westen, und wir ritten sehr lange in diese Richtung weiter. Unterwegs fingen die Indianer noch zwei Pferde, ein graues und ein fuchsrotes. Das eine trug das Brandzeichen von William Kidd, das andere das von Mr. Stone. Wir ritten weiter nach Nordwesten und kamen an der Keyser-Ranch vorbei. Dann erreichten wir den Llano River. Dort zerrten sie uns von den Ponys und fesselten uns. Dann legten sie sich auf den Boden, um sich auszuruhen. Sie machten kein Feuer und aßen nichts. Willi und ich hatten seit dem Frühstück nichts gegessen. Mitten in der Nacht weckten sie uns auf. Wir brachen in Richtung Willow Creek auf und folgten dem rechten Ufer des Mason River. Dann teilte sich die Gruppe und Willi und ich wurden getrennt. Die eine Gruppe nahm ihn mit, die andere mich. Die Indianer schickten Späher zurück auf den Weg, den wir gekommen waren. Sie wollten sicherstellen, dass wir nicht verfolgt wurden und unsere Spuren verwischen
Ich blieb bei Carnoviste. Wir kamen an einem jungen Kalb vorbei, das auf einer Weide lag. Er gab mir durch Zeichen zu verstehen, dass ich das Kalb fangen sollte. Er benahm sich wie jemand, der einen Hund dazu bringen will, etwas Bestimmtes zu tun. Ich hatte große Angst und gehorchte. Ich rannte lange hinter dem Kalb her, bis es mir endlich gelang, es einzufangen. Carnoviste sprang vom Pferd. Er schnitt dem Kalb die Kehle durch und schnitt ihm den Bauch auf. Er stieß sein Messer tief in den Körper, griff dann in die Bauchhöhle und holte geronnene Milch heraus. Dann fing er an, dieses ekelhafte Zeug mit großem Vergnügen zu verspeisen. Bei dem Anblick wurde mir speiübel und ich wandte mich ab. Er aber forderte mich auf, auch davon zu essen. Ich bedeutete ihm, dass ich nichts davon essen wollte. Da packte er mich, drückte meinen Kopf in die Bauchhöhle des Kalbes und rieb mir das geronnene Zeug ins Gesicht, in die Augen, in die Nase und in die Ohren. Schließlich drückte er mir etwas davon in den Mund. Er hielt mir die Nase zu und zwang mich zu schlucken. Ich konnte dieses schreckliche Zeug nicht bei mir behalten und musste mich heftig übergeben. Dann schnitt er die Nieren und die Leber heraus und zwang mich, auch davon zu essen. Das Fleisch war noch körperwarm. Als ich auch dies erbrach, sammelte er die Stücke auf und zwang mich, die gleiche Portion noch einmal zu schlucken. Wieder erbrach ich mich. Da tauchte er die Eingeweide in das noch warme Blut des Kalbes und ließ sie mich wieder schlucken. Das Blut beruhigte meinen Magen, und es gelang mir, die widerliche Masse in mir zu behalten. Dann führte mich Carnoviste zu einer Wasserstelle, wusch mir das Gesicht, setzte mich auf sein Pferd und wir schlossen uns wieder den anderen Indianern an.
Hermans Vater war Ernst Johann Moritz Lehmann (1827 - 1862). Er wurde im oberschlesischen Friedersdorf geboren und kam mit seiner Familie im Jahr nach Texas.↩︎
Hermans Mutter war Auguste Juliane Adams (1833-1911). Mit 13 Jahren wanderte sie mit ihren Eltern, die aus Roßnow in Westpreußen stammten, nach Texas aus.↩︎
Als "Prinz-Solms-Kolonie" wird der "Verein zum Schutze deutscher Einwanderer in Texas" bezeichnet, der oft auch nur kurz "Mainzer Adelsverein" genannt wurde. Zwischen 1844 und 1849 unterstützte der Verein rund 8000 deutsche Siedler bei der Übersiedelung nach Texas. Carl Prinz zu Solms-Braunfels war der erste Generalkommissar des Vereins in Texas. Sein Nachfolger, Otfried Hans von Meusebach, gründete die Stadt Friedrichsburg (später Fredericksburg) in Gillespie County, Texas, die er nach Prinz Friedrich von Preußen benannte. Der Friedensvertrag, den er im Namen der deutschen Siedler mit den Komantschen ausgehandelt hat, ist einer der wenigen Verträge mit amerikanischen Ureinwohnern, die niemals gebrochen wurden.↩︎
Philip Buchmeier (1820 – 1891) stammte aus dem hessischen Darmstadt.↩︎
Der hier angesprochene Krieg ist der amerikanische Bürgerkrieg (1861 bis 1865).↩︎
Wilhelm Friedrich Lehmann (1861 – 1951)↩︎
Caroline Wilhelmina Lehmann (1860 - 1937)↩︎
Augusta Buchmeier (1869 - unbekannt)↩︎
Carnoviste (ca. 1825 - 1876) war Häuptling der Guadeloupe Mescalero Apachen. Er gehörte vermutlich entweder zum Stamm der Tsehitcihéndé ("Leute mit Adlernase") oder der Niit'ahénde ("Leute, die in den Bergen leben").↩︎
Chivat, auch bekannt als Chevat, Chevato oder Chebahtah (1852-1931), stammte vom Stamm der Lipan Apache. Er wurde in einer Siedlung nahe der Hacienda Patiño geboren. Im Alter von 16 Jahren fielen seine Eltern einem Massaker durch mexikanische Truppen zum Opfer. Er und sein Bruder Dinero, den Herman Lehmann in diesem Buch mit seinem Komantschen-Namen Pinero bezeichnet, schlossen sich den Mescalero-Apachen an und wurden Krieger dieses Stammes. Chivat stieg später zum Kriegshäuptling auf. Nach dem Tod von Carnoviste ersetzte er diesen als Häuptling der Gruppe. Später schlossen er und sein Bruder sich, vermittelt von Quanah Parker, den Komantschen an. Vgl. Chebahtah, William und McGown Minor, Nancy: “Chivato”, 2009.↩︎
Wir waren lange unterwegs. Eines Tages erreichten wir einen Hügel, auf dem sie ein großes Feuer entfachten. Bald sahen wir in der Ferne sechs Indianer auf uns zu reiten. Sie trieben eine große Herde gestohlener Pferde vor sich her. Sie kamen nur sehr zögerlich näher, bis sie meine Gefährten erkannten. Dann kamen sie zu uns herauf. An diesem Abend gab es ein üppiges Mahl mit viel rohem und gebratenem Rindfleisch.
Willi war nicht unter den Neuankömmlingen. Die sechs Indianer, die ihn mitgenommen hatten, waren weiter nach Norden geritten. Nachdem sie die Spuren unseres Lagers verwischt hatten, schickten sie Späher aus, und auch wir zogen nach Norden. Unterwegs kamen wir immer wieder an Wasserstellen vorbei. Ich hatte großen Durst, aber ich durfte nicht trinken. Später teilte sich unsere Gruppe.
Ich blieb wieder bei Carnoviste. Er nahm die Patronen aus seiner Pistole und reichte sie mir, wohl um zu sehen, ob ich damit umgehen konnte. Wir spielten eine Weile mit der Waffe, und ich begann schon zu glauben, dass er vielleicht doch ein ganz netter Kerl war, obwohl ich kein Wort von dem verstand, was er sagte. Aber dann schlug er mich wieder.
Kurz darauf versammelten sich die Indianer. Es waren insgesamt zwölf Mann. Nach einer kurzen Beratung teilten sie sich wieder auf. Sechs von ihnen gingen nach Westen. Diese Gruppe nahm mich mit. Willi blieb bei den übrigen sechs, die nordwärts zogen. An jenem Nachmittag stahlen die Indianer, mit denen ich ritt, insgesamt noch neun Pferde. Später trafen alle wieder zusammen und wir ritten gemeinsam weiter.
Wir kamen an einen schlammigen Teich, in dem es von Käfern wimmelte und der voller Froschlaich war. Wir stiegen ab. Die Indianer rissen große Grasbüschel aus und legten sie auf die Wasseroberfläche, um das Wasser damit zu filtern. Ich entfernte mich von den Indianern, warf mich zwischen die Steine und begann zu trinken. Wie herrlich erfrischend dieses Wasser war, das kühl meine ausgetrocknete Kehle hinunterlief. Ich musste an zu Hause denken. Carnoviste hatte sich in der Zwischenzeit heimlich von hinten an mich herangeschlichen. Plötzlich drückte er meinen Kopf in den Schlamm, und die ganze rote [1] Schurkenbande lachte über mich.
Von dieser Wasserstelle ritten wir weiter nach Norden. Gegen vier Uhr nachmittags töteten wir einen Stier und entfachten auf einem Hügel ein Feuer. Die Indianer achteten beim Feuermachen sehr darauf, das richtige Holz zu verwenden. Sie legten auch nie mehr als nötig auf, damit der Rauch ihren Standort nicht verriet.
Carnoviste band sein Pferd an und ging mit mir ein Stück des Weges zurück, den wir gerade gekommen waren. Er trug eine Art Spiegel bei sich, der aus einem Stück Stahl bestand, das auf Hochglanz poliert worden war. Auch die Späher hatten solche Spiegel. Carnoviste lenkte damit die Sonnenstrahlen in eine bestimmte Richtung, die vorher vereinbart worden war. Diese Zeichen wurden dann von Späher zu Späher weitergegeben. Nach kurzer Zeit kam die Nachricht, dass alles in Ordnung sei. Carnoviste schien mit dieser Antwort sehr zufrieden zu sein.
Dann forderte er mich auf, eine Aufgabe zu erfüllen, deren Bedeutung ich nicht verstand. Ich ging ein Stück des Weges hinunter, den wir gekommen waren und kehrte dann zurück. Er signalisierte mir erneut, irgendetwas zu tun, und brummte dabei unwirsch. Also ging ich diesmal ein Stück weiter und kam dann wieder zurück. Da wurde er wütend, zog seine Pistole und richtete sie auf mich. Aber ich verstand immer noch nicht, was er von mir wollte. Er ließ die Waffe sinken und ging mit mir den Weg zurück, an dessen Ende sein Pferd angebunden stand.
Da begriff ich, dass ich das Pferd holen sollte. Ich tat, wie mir geheißen war. Als ich das Pferd zu ihm geführt hatte, warf er mich darauf, sprang selbst auf und ritt mit mir zu den anderen zurück. Die hatten inzwischen das Lager an einem kleinen Bach aufgeschlagen. Willi war auch dort. Sie wuschen uns und verbanden unsere Wunden. Dann bemalten sie unsere Körper, bis wir wie Indianer aussahen. Als sie fertig waren, setzten sie uns auf Pferde.
Es folgte ein sehr langer Ritt. Die gabelförmigen Indianersättel waren für uns alles andere als bequem. Wir waren splitternackt, was das Reiten auf ihnen zur reinsten Folter machte. Der Leser kann sich die Qualen eines Kindes vorstellen, das noch vor wenigen Tagen von einem gütigen Vater und einer aufopfernden Mutter liebevoll umsorgt worden war. Jetzt aber war ich ohne die geringste Hoffnung auf Rettung und musste befürchten, aus Zorn oder einer anderen Laune heraus unvermittelt getötet zu werden. Mein Gesicht war von der sengenden Sonne verbrannt, ich hatte Blasen an Rücken und Brust, war an Händen und Füßen gefesselt und vom Sattel bis auf die Knochen wund gescheuert. Hiobs Qualen hätten größer nicht sein können.
Wie bereits erwähnt, weist die Haut der amerikanischen Ureinwohner keine rote Färbung auf. Auf den Ursprung dieser Bezeichnung wurde bereits hingewiesen. Sie als „Rote“ zu bezeichnen, ist aus heutiger Sicht als rassistisch abzulehnen.↩︎
Mit den erbeuteten Pferden zogen wir nach Nordwesten. Am fünften Tag nach unserer Entführung trafen wir in der Nähe des Lipan Creek auf eine Gruppe von Rangern. Sie waren gerade damit beschäftigt, ihr Lager aufzuschlagen und ihre Pferde zu tränken. Die Ranger hatten uns anscheinend noch nicht bemerkt. Die Indianer machten hastig kehrt und flohen auf demselben Weg, den wir gekommen waren. Die Herde ließen sie zurück. Einer der Indianer war bis jetzt zu Fuß mitgegangen, da ihm eine schmerzhafte Beinverletzung das Reiten unmöglich gemacht hatte. Jetzt aber sprang er kurzerhand auf das Pferd, auf dem Willi saß, gab ihm die Sporen und eilte den anderen hinterher. Als das Pferd die Kraft zu verlieren drohte, warf der Indianer Willi kurzerhand ins Gestrüpp und ritt allein weiter. Er trieb das Pferd erbarmungslos an, bis das arme Tier vor Erschöpfung zusammenbrach. Ein anderer Indianer nahm ihn zu sich aufs Pferd, und sie ritten davon.[1]
Als Willi realisierte, dass seine Entführer ihn zurückgelassen hatten, stand er auf und setzte seinen Weg allein fort. Lange Zeit irrte er in der Gegend umher. Schließlich kam er an eine breite Straße, der er ein oder zwei Meilen lang folgte. Nach einer Weile kam ihm ein Reiter entgegen, der ihn ansprach und sich eine Weile mit ihm unterhielt. Doch dann ritt er weiter und ließ den kleinen Kerl allein zurück. Er muss auf den Reiter einen seltsamen Eindruck gemacht haben. Er war wie ein Indianer bemalt und trug auch eine indianische Kopfbedeckung. Diese Mütze war aus dem Haarschopf eines Kalbes gefertigt. Willi war als Kind sehr schüchtern und hat vermutlich nicht viel mit dem ersten Mann gesprochen. Nachdem der Mann weitergeritten war, ohne sich um ihn zu kümmern, riss Willi sich den Kalbsschopf vom Kopf und warf ihn weg. Als er kurz darauf ein Fuhrwerk näherkommen sah, fasste er sich ein Herz und begrüßte den Fuhrmann freimütig.
Der Mann war auf dem Weg nach Fort McKavett [2] und nahm Willi mit. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut. In Kickapoo Springs setzte der Mann Willi an der Poststation ab. Er sagte, Willi solle dort warten, denn er würde ihn auf dem Rückweg abholen und nach Hause bringen. Während Willi in Kickapoo Springs wartete, kam die Postkutsche aus Fort Concho [3] an. Sie war auf dem Weg nach Fredericksburg und San Antonio. Auch der Postkutscher bot Willi an, ihn nach Hause zu bringen. Aber der kleine Junge hatte versprochen zu warten. Also blieb er, wo er war. Nach ein oder zwei Tagen kam der Mann mit dem Ochsenkarren zurück, wie er es versprochen hatte. Er nahm Willi mit und brachte ihn nach Hause zu seiner Mutter, die schon ganz krank war vor Sorge. Er war etwa neun Tage von zu Hause fort gewesen, und seine Rückkehr löste bei den besorgten Familienmitgliedern verständlicherweise eine unbeschreibliche Erleichterung aus. Sie hatten nicht mehr damit gerechnet, einen von uns lebend wiederzusehen.
Auf der schier endlosen Flucht vor den Rangern musste ich immer vorausreiten. Als die Indianer endlich eine Rast einlegten, hielten sie ein Pow-Wow [4] ab. Alle Pferde, die sie zuvor erbeutet hatten, waren verloren. Da es eine Schande gewesen wäre, ohne Beute von einem Raubzug zurückzukehren, beschlossen sie, in die Siedlungen zurückzukehren, um neue Pferde zu stehlen. Zehn von ihnen machten kehrt. Zwei der Indianer - Chivat und Pinero [5] - ritten weiter nach Nordwesten in das Dorf der Indianer und nahmen mich mit.
Ich war immer noch an das Pferd gefesselt, und das Reiten war sehr beschwerlich. Unterwegs musste ich ständig an meinen Bruder denken. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war und musste das Schlimmste befürchten – nämlich dass unsere Entführer ihn getötet hatten. Ich weinte bittere Tränen und fühlte mich furchtbar einsam. Die Ungewissheit über sein Schicksal brach mir das Herz. Seltsamerweise hatte ich dennoch das unbestimmte Gefühl, dass er sei mit dem Leben davongekommen. Trotzdem machte ich mir entsetzliche Sorgen. Er war ja noch ein kleiner Junge, gerade mal acht Jahre alt. Wie sollte er ganz auf sich allein gestellt in der Wildnis den langen Weg nach Hause finden? Nach Hause! Immer wieder musste ich an mein glückliches Zuhause denken. An meine liebe Mutter. An meine Schwestern. Diese traurigen Gedanken gingen mir während der langen Stunden unseres Rittes durch den Kopf. Ich war verzweifelt und unendlich müde.
In den Akten des Zentrums für Militärgeschichte der Vereinigten Staaten wird der Vorfall anders dargestellt. Danach traf die Gruppe nicht auf Texas Ranger, sondern wurde von einem Trupp des 9. Kavallerie-Regiments verfolgt, der den Auftrag hatte, die Kinder zu befreien. Es handelte sich um Troop F unter dem Kommando von Sergeant Emanuel Stance. In der Nähe der Kickapoo Springs entdeckten sie die Indianer und eröffneten das Feuer. Die Apachen flohen und ließen die erbeuteten Pferde zurück. Im Verlauf dieser Flucht wurde Willie vom Pferd geworfen. Sergeant Stance wurde einen Monat später, am 28. Juni 1870, für seine Tapferkeit bei diesem Einsatz mit der Medal of Honor ausgezeichnet. Er war damit der erste Soldat afrikanischer Abstammung, der mit diesem Orden ausgezeichnet wurde.↩︎
Fort McKavett war ein Militärstützpunkt der US-Streitkräfte in Texas und lag im Menard County. Unter anderem diente das Fort als Stützpunkt von Einheiten der sogenannten Buffalo Soldiers, dem 24. Infanterieregiment und dem 9. Kavaliereregiment, denen ausschließlich afroamerikanische Mannschaften angehörten. 1883 wurde das Fort endgültig aufgegeben.↩︎
Fort Concho ist eine ehemalige Einrichtung der US-Armee in San Angelo, Texas. Es wurde im November 1867 am Zusammenfluss des North und des South Concho Rivers errichtet. Fort Concho diente von 1867 bis 1875 als Hauptstützpunkt des 4. Kavallerieregiments und dann von 1875 bis 1882 der sogenannten Buffalo Soldiers des 10. Kavallerieregiments. Die in Fort Concho stationierten Truppen nahmen am Feldzug von General Ranald S. Mackenzie 1872, am Red-River-Krieg 1874 und am Victorio-Feldzug 1879-1880 teil. Das Fort wurde im Juni 1889 aufgegeben.↩︎
Der Begriff Pow-Wow bezeichnet eine Versammlung oder Beratung und stammt ursprünglich der Narragansett-Sprache.↩︎
Pinero (vermutlich 1860 geboren) war ein Bruder von Chivat und wie dieser ursprünglich Lipan-Apache. Der Name Pinero, den Herman Lehmann hier verwendet, ist sein Komantschen-Name. Die Apachen nannten ihn Dinero. Wie sein Bruder Chivat wechselte auch Pinero von den Apachen zu den Komantschen.↩︎
Wir passierten Fort Concho und setzten unseren Ritt dann ohne Pause drei Tage und drei Nächte fort. Während dieser ganzen Zeit aßen und tranken wir nichts.
Am Abend des dritten Tages, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, kamen wir an einen kleinen Bach und machten dort Rast. Inzwischen hatte Chivat meine Fesseln etwas gelockert [1]. Ich schlich mich weg und kroch zum Wasser. Ich war so ausgetrocknet, dass ich nur noch an das Wasser denken konnte. Alles andere war mir egal. Ich legte mich der Länge nach in den Bach und trank ausgiebig. Als die Indianer mein Verschwinden bemerkten, suchten sie nach mir, es kam ihnen aber nicht in den Sinn, im Bachbett nach mir zu sehen. Schließlich gaben sie die Suche auf und ritten ohne mich weiter.
Als ich endlich meinen Durst gestillt hatte, stand ich auf und sah mich um. Ich erkannte, dass ich allein war und überlegte, was ich nun tun sollte. Mir war klar, dass ich den Weg nach Hause nie finden würde. Außerdem fürchtete ich mich vor Wölfen, Bären und anderen wilden Tieren und hatte große Angst von ihnen auf dem Rückweg zerfleischt zu werden.
Es schien mir das Besten zu sein, den Indianern zu folgen. Ich hoffte, ihnen damit zu zeigen, dass es nicht meine Absicht war, zu fliehen. Und dann, so hoffte ich, würden sie mich auch nicht bestrafen. Ich machte mich auf den Weg und lief ihnen hinterher.