Normalsein ist nicht einfach - Houchang Allahyari - E-Book

Normalsein ist nicht einfach E-Book

Houchang Allahyari

0,0

Beschreibung

»Wer Filme macht, muss selbst verrückt sein.« Houchang Allahyari kommt Anfang der 1960er-Jahre aus dem Iran nach Österreich, um Filme zu machen. Er studiert Medizin und wird Psychiater – eine zukunftsweisende Entscheidung. Später stellt er die Psyche des Menschen in den Mittelpunkt seines filmischen Schaffens. In seiner Autobiografie erzählt Allahyari von seiner Ausbildungszeit zum Neurologen sowie Psychiater u. a. an der Linzer Nervenheilanstalt Wagner-Jauregg, von seiner Zeit als Psychiater in einer Strafanstalt, wo er das Medium Film in der Therapie mit jugendlichen Straftätern nutzt, und von der Entstehung seiner preisgekrönten Filme und Begegnungen mit Stars wie Leon Askin, Gunther Philipp, Waltraut Haas, Karl Merkatz, Erni Mangold und Liza Minnelli. In knappem, sensiblem Ton setzt August Staudenmayer die selbstironischen Schilderungen Allahyaris von skurrilen Vorkommnissen und erschütternden Erlebnissen mit Patienten wie etwa Paul Wittgenstein in literarische Episoden um. Mit zahlreichen Abbildungen aus dem Privatarchiv des Autors

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 282

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Houchang Allahyari

Normalsein ist nicht einfach

HOUCHANGALLAHYARI

NORMALSEINIST NICHTEINFACH

Meine Erlebnisseals Psychiater undFilmemacher

Aufgezeichnet von August Staudenmayer

BildnachweisAlle Fotos stammen aus dem Privatarchiv HouchangAllahyari mit Ausnahme der folgenden:Epo-Film (Bildteil Nr. 19, 20, 25, 26), Allahyari PR & Kommunikation (Bildteil Nr. 27), Houchang Allahyari Filmproduktion (Bildteil 28–41 und Bild auf Seite 230)

Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnenFällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2017 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEATUmschlagfoto: Alexi Pelekanos (vorne); Houchang AllahyariFilmproduktion (hinten)Lektorat: Martin BrunyHerstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 11,75/15,25 Punkt Minion ProPrinted in the EUISBN 978-3-99050-068-2eISBN 978-3-903083-55-4

Inhalt

Vorwort

von Karl Markovics

Nachtdienstgespräche

Wahlen

Rhapsodie in Linz

Schwesternliebe und Moral

Mit der Waffe in der Hand

Die Könige

Dr. Huschi und die Löwinger-Bühne

Der Bruch und die Pille

»Ene mene muh«

A Dirndl und die »Zuckerwasserberieselung«

Über allen Gipfeln ist Ruh’

Filme, Festivals, folgenreiche Begegnungen

Back to the Roots – mit zwei sehr persönlichen Filmen

Filme, Preise und Ehrungen

Personenregister

Vorwort

von Karl Markovics

Houchang Allahyari ist ein Mensch, der meine Vorstellung vom orientalischen Ideal verkörpert. Einem Ideal, bei dem Familie und Individuum, Tradition und Weltoffenheit, Glaube und Wissenschaft keine Gegensätze bilden, sondern eine elastische Einheit sind.

Die geheimnisvolle Viskosität dieser Einheit ist das Ergebnis einer Mischung aus zu gleichen Teilen Toleranz, Respekt, Neugier und Empathie. Und je nach unmittelbarem menschlichen Bedürfnis kann diese Einheit in die eine oder andere Richtung gedehnt werden, ohne dass ihr Gehalt und inneres Wesen verloren gehen. Heute wissen wir auch im Abendland, dass sich der Raum krümmen und die Zeit dehnen kann – oder es krümmt sich die Zeit und dehnt sich der Raum. Wie dem auch sei, Menschen wie Houchang Allahyari haben das immer schon praktiziert, ohne sich auf physikalische Beweise stützen zu müssen.

In der Praxis funktioniert das so: Man dehnt seine Heimat von Persien nach Österreich. Man spannt seine Interessen vom Film über die Medizin auf die ganze Welt. Man erweitert sein Leben um Taxifahrer, Teppichhändler, Drogenabhängige, Burgschauspieler, Klosterschwestern, Gefängnisinsassen, Kabarettisten, Fremdenpolizisten, Asylwerber, Hausherren, Minister, Schriftsteller, pensionierte Erzieherinnen, gibt ihnen Rollen in seinem Leben und in seinen Filmen und erweitert sein Bewusstsein, indem man die Welt zu einem dehnbaren Begriff macht.

Alfred Polgar meint: »Von Geldsorgen allein kann der Mensch sein ganzes Elend nicht bestreiten«. Das ist durchaus ernst zu verstehen, wenn es um die Geldsorgen und das Elend von anderen geht.

Und damit bin ich beim Wesenskern von Houchang Allahyari: Das »Ich« auf das »Wir« auszudehnen. Vom Mitleid zum Mitleben zu kommen. Sich zu dehnen und zu strecken, um einen offenen, unverstellten Blick auf die Welt und in die Menschen zu erlangen.

In einem Schulbuch fand ich ein Bildfoto mit dem Titel: »Österreich den Österreichern«. Auf diesem Foto sieht man 20 Menschen. In der mittleren Reihe, als Erster von links, steht: Houchang Allahyari, Regisseur, geboren in Iran, Österreicher. Diese Reihe von Menschen ließe sich beliebig ausdehnen. Nur ein Land, wo das möglich ist und möglich bleibt, kann sich Heimat nennen und Demokratie.

Und das sind die Momente, wo ich stolz bin, ein Österreicher zu sein. In einem Land zu leben, das sich bereichern und strecken und dehnen lässt, durch Menschen wie Houchang Allahyari.

Laudatio von Karl Markovics anlässlich der Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien an Houchang Allahyari (Februar 2012)

Nachtdienstgespräche

Ich habe als junger Psychiater in Linz Paul Wittgenstein, den Neffen des weltberühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein, kennengelernt. Er wurde auf derselben Station aufgenommen, auf der ich meine Teilausbildung machte. Er war sehr interessant, und es entwickelte sich zwischen uns eine freundliche Beziehung. Wittgenstein war sich seiner psychischen Erkrankung leidvoll bewusst. In zyklisch wiederkehrenden Abständen ging es ihm so schlecht, dass er selbst den Weg in die Klinik fand und darum bat, aufgenommen und behandelt zu werden. Die »Behandlung« beschränkte sich damals im Allgemeinen auf die Verabreichung von Psychopharmaka und, wenn es ein Notfall erforderlich machte, Elektroschocks. Das war tiefstes Mittelalter, moderne Psychiatrie war noch lange ein Fremdwort. Und natürlich durfte ein psychiatrischer Patient in den frühen 1970er-Jahren nicht selbst bestimmen, was ein Notfall war.

Aber der Großbürger Paul Wittgenstein war da eine kleine Ausnahme, er wurde ein bisschen besser behandelt als die ganz normalen Durchschnittspatienten, wegen seiner gepflegten Umgangsformen und natürlich wegen seines familiären Hintergrundes. Obwohl das mit den Umgangsformen nicht ganz stimmte – er konnte durchaus auch ein schimpfender Rüpel sein.

Bei jeder Aufnahme in die Psychiatrie gab es ein Gespräch mit dem Patienten, das der Primar leitete und bei dem mehrere Ärzte im Halbkreis um den Betreffenden saßen und ihn befragten. Es herrschte meistens eine Stimmung wie im Gerichtssaal. Manchmal sogar – noch schrecklicher – wie bei einem Tribunal. Der ohnehin Erkrankte, der an etwas litt, was er sich zumeist nicht erklären konnte, musste sich auch noch eine peinliche Befragung gefallen lassen.

Die Gespräche, die ich in den Tagen und Wochen darauf mit den Patienten führte, waren ganz anders angelegt. Ich war – zumindest theoretisch – ein großer Freund von Freud (Jung, Adler und diese Linie, später kam Frankl dazu) und hielt viel davon, das ausführliche Reden und Nachfragen, das Gespräch, als wichtigen Teil der Kur zu etablieren. Ich stieß damit auf Widerstand, blieb aber dabei, und es stellte sich zunehmend heraus, dass mich neben dem, woran und warum der Erkrankte litt, auch interessierte, was der Erkrankte mit seinem Leiden »bezweckte«.

Die längsten und ausführlichsten Gespräche führte ich mit Paul Wittgenstein, vor allem in den Nächten. Eine seiner ersten Fragen an mich war, was ich schrecklicher finde, die frischen – beziehungsweise temporären – Fälle im Neubau, oder die chronischen Patienten im Altbau. Er sprach damit mein fast noch jugendliches Alter an. Ich war zunächst irritiert über diese Frage, antwortete dann aber wahrheitsgetreu, dass ich die schweren chronischen Fälle entsetzlich finde und sie sich ordentlich auf mein Gemüt schlagen. Was sollte ich tun? Wenn ich ein Gespräch wollte, musste auch ich ihm antworten. Streng genommen war ich nicht sein behandelnder Arzt, ich stand ja noch in Fachausbildung, trotzdem vertieften wir uns in langen Plaudereien vom Hundertsten ins Tausendste.

Bei einem Aufnahmegespräch, das mit Paul Wittgenstein geführt wurde, war ein älterer Kollege, der Primar der Neurologie, dabei. Er war adelig und hatte einen dementsprechend nasalen Tonfall, ein bisschen wie man Kaiser Franz Joseph in historischen Filmen sprechen hören kann. Dieser ältere Kollege, der einen langen, grauen Kinnbart trug, beugte sich in Anwesenheit des Patienten Paul Wittgenstein zu mir herüber und flüsterte mir – viel zu laut – ins Ohr: »Der da ist ein Freund von diesem Thomas Bernhard, und der, das müssen Sie wissen, gilt ja als Kommunist.«

Paul Wittgenstein hatte das natürlich gehört, er war nicht taub, sondern in einer manischen Phase, und zischte den adeligen Psychiater an: »Was sagen Sie da, Sie blöder Gamsbart?!«

Also, wir hatten immer viel Spaß.

Paul Wittgenstein war übrigens sehr nachtragend. Einmal, nach dem eben erzählten Vorkommnis, bat er während einer Visite den adeligen Gamsbartträger zu sich, er wolle ihm etwas Wichtiges zuflüstern. Der Psychiater kam näher, Wittgenstein bat ihn noch näher heran, es sei etwas sehr Persönliches, was er ihm sagen wolle. Der Arzt kam noch näher, Wittgenstein flehte: noch näher. Dann zog er plötzlich eine Zahnpastatube hervor und drückte ihm den Großteil des Inhalts ins Gesicht und auf den Bart. »Das ist für die Beleidigung meines Freundes Thomas Bernhard!«, rief der wütende Paul Wittgenstein.

In vielen, vielen nächtlichen Gesprächsstunden erzählte Paul Wittgenstein Persönliches von sich und seiner Familie. Wittgensteins Familie war verarmt. Aus ihrem Haus waren beinahe alle Möbel verschwunden. Sie waren verkauft oder verpfändet worden, oder der Gerichtsvollzieher hatte sie abholen lassen. Nur die Betten hatte man ihnen gelassen, je Familienmitglied durfte ein Bett bleiben. Mit den materiellen Werten musste man nicht zwingend auch seine Würde verlieren.

Eine Tante Paul Wittgensteins wurde krank, der Arzt der Familie wurde herbestellt, weil die Frau schon zu schwach war, sich selbst auf den Weg zu machen. Sie saß also auf ihrem Bett, erwartete den Mediziner und zitterte am ganzen Leib. Doch sie empfing den Doktor in gerader Haltung und begrüßte ihn wie eine Dame. Paul Wittgenstein beschrieb, er werde nie vergessen, wie seine Tante schließlich in den Armen des Doktors zusammensank und sich für ihren Zustand entschuldigte.

Wenn es ihm sehr schlecht ging, wenn er sich in einem psychotischen Schub befand, entwarf Wittgenstein mitunter apokalyptische Szenarien mithilfe seiner mathematischen und astrologischen Kenntnisse. Und die waren – so hatte es den Anschein – nicht gering. Dabei war ich mir nie sicher, ob es tatsächlich Wissen war oder bloße Einbildung. Was soll man von einem psychotischen Patienten halten, der einem auf Punkt und Komma ausrechnen kann, wann die Welt untergeht? Ein Verschwörungstheoretiker? Ein Genie?

Er faselte etwas von der Weltformel – und der Weltuntergangsformel. Man muss bedenken: Das war Anfang der 1970er-Jahre. Ich jedenfalls bekam Kopfschmerzen davon. Er merkte es und fragte mich nach meinem werten Befinden, wechselte das Thema und sprach mit mir über Frauen; die seien der wichtigste Teil der Weltformel. Wittgenstein lachte, für manche Männer allerdings die Untergangsformel schlechthin.

Wittgenstein war trotz seiner Sonderstellung in keinem Einzelzimmer untergebracht. Soweit ich mich erinnern kann, gab es damals im Wagner-Jauregg noch gar keine Einzelzimmer. Wenn er sich hineinsteigerte, wurde er sehr laut, und die anderen Patienten beschwerten sich, sie wollten schlafen, und dem Verrückten sollte man den Mund verkleben. Wir gingen dann in einen Aufenthaltsraum oder in ein Ordinationszimmer und plauderten dort weiter.

Meine Idee, Filme machen zu wollen, gefiel ihm gut. Er philosophierte aus heiterem Himmel über die Funktion der Filmkamera. Er sang eine Passage aus einem Lied von Franz Schuberts Winterreise: »Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.« Er sinnierte, es müsste eine Kamera geben, mit der man alles gleichzeitig ins Bild setzen könne. Dieser Mann faszinierte mich. Je mehr er redete, umso mehr zog er mich an.

Meine Frau kam mich ab und zu in der Linzer Klinik besuchen. Auch sie lernte Paul Wittgenstein kennen, er war ihr schnell sehr sympathisch, und sie mochte es besonders, wenn er sie mit Handkuss begrüßte. Was genau es war, das sie mochte, konnte sie nicht sagen, es sei in seiner Art etwas ganz »Exklusives« gelegen.

Ich schaffte es als junger Psychiater im Wagner-Jauregg ziemlich rasch, gute Beziehungen zu allen Patienten aufzubauen. Die klinische Routine durchbrach ich unter anderem dadurch, dass ich auch viel von mir erzählte. Die meisten Patienten waren neugierig und fragten nach.

»Aha, Sie sind ein Perser? Wo liegt denn das?«

Und ich erzählte von mir, meiner Heimat, meiner Familie, meinem großen Wunsch, Filme zu machen.

»Aha, welche Filme denn?«

Und ich erzählte. Von meinen Ideen, meinen inneren Bildern, meinen Dialogen und Szenarien, die meisten mit einem kräftigen Schuss Komik. Der Mensch stand bei mir immer im Mittelpunkt. Der Mensch – und sein Unvermögen, mit seiner Hingeworfenheit in die Welt fertigzuwerden. Der Mensch, der vor seinem inneren Filmauge immer anders war, als von ihm erwartet wurde. Schließlich hatte ich das am eigenen Leib erfahren. Von mir war erwartet worden, dass ich einen repräsentativen Beruf erlernte, auf den meine Familie stolz sein konnte. Im Wagner-Jauregg, wo ich insgesamt sieben Jahre lang das psychiatrische und neurologische Fach des Mediziners »machte«, wurde mir immer klarer, dass ich auch diesen, mir gewissermaßen auferlegten, Weg zu lieben begann. Ganz einfach deshalb, weil ich erkannte, dass diese Menschen, die »nicht ganz richtig tickten«, voll schräger, schöner, berührender, auf alle Fälle unerwarteter Geschichten waren.

Es war Sommer, sehr warm, ich trat meinen Nachtdienst in einer geschlossenen Abteilung mit schizophrenen Frauen an. Es waren alles nette, höfliche, zuvorkommende Frauen. Mit den meisten hatte ich schon längere Gespräche gehabt. Ich kannte sie relativ gut, hatte genügend Vertrauen zu ihnen aufgebaut, das dachte ich jedenfalls, um sie zu etwas Ungewöhnlichem einzuladen. Ich fragte die Frauen, wohlgemerkt schizophrene Patientinnen der geschlossenen Abteilung, ob sie Lust hätten, in der Gruppe auf eine Stunde in das schräg gegenüber dem Haupteingang des Spitals gelegene Gasthaus zu gehen – eine Limonade trinken. Gesagt, getan. Es wurde ausgegangen, getrunken, geplaudert, und nach einer Stunde kehrten wir heim. Es gab keine besonderen Vorkommnisse.

Natürlich blieb der ungewöhnliche Ausgang nicht unbemerkt. Ich wurde am nächsten Tag zu meinem Chef zitiert. Dort bekam ich eine ordentliche Kopfwäsche. Was denn in mich gefahren wäre! Ob ich vollkommen meinen Verstand verloren hätte! Wie ich um drei Teufels Namen auf eine solche bescheuerte Idee gekommen wäre!

Ich blieb ganz ruhig. »Ganz einfach«, antwortete ich, »ich übernehme die Verantwortung, dass nichts geschehen ist.«

»Darum geht es nicht!«, rief mein Chef, rot angelaufen, und zappelte wie ein Hampelmann. »Nicht auszudenken, wenn etwas geschehen wäre und das an die Öffentlichkeit gelangen würde!«

Ich blieb immer noch ruhig. »Muss es ja nicht«, sagte ich, »und wird es auch nicht.« Wer sollte es denn an die Öffentlichkeit bringen? Schließlich waren es nur Frauen einer geschlossenen Abteilung, zu denen ich einen guten Draht hätte.

Da fange es schon an, schrie mich mein Chef weiter an, es dürfe eben gar keinen Draht geben zu chronischen Patienten einer psychiatrischen Anstalt, und schon gar keinen guten!

Ich sagte abschließend mit tiefer Stimme zu ihm: »Und genau das meine ich damit, wenn ich von Mittelalter in der Psychiatrie rede.«

Ich drehte mich um und ging.

Den Beweis dafür, dass mich mein Chef insgeheim auch ein wenig achtete, lieferte er damit, dass er, was ich erst viel später erfuhr, in seiner Stammherrenrunde über mich – zwar mit erhobenem Zeigefinger, aber durchaus anerkennend, fast stolz – als seinen schlitzohrigen Revoluzzer in der Klinik sprach, der es sicher noch zu etwas bringen würde, wenn nicht hier, dann anderswo.

Ich war unter den Kollegen beliebt, auch deshalb, weil ich mir nicht zu schade war, Patienten zu versorgen, wenn sie sich verletzten – bei einem Unfall oder absichtlich. Manche psychisch Erkrankte fügten sich selbst Wunden zu, schnitten sich tief, oft in Unterarme und Oberschenkel, andere schlugen ihren Kopf so lange gegen die Wand oder eine Kastentür, bis sie bluteten. Wenn ich in einem solchen Fall Dienst hatte, rief ich nicht die Rettung oder bemühte einen Kollegen von der Chirurgie, sondern nähte die Wunden selbst. Während ich das tat, konnte ich bereits vorsichtig nachfragen, warum es zu der Selbstverletzung gekommen war. Das erste Gespräch war oft das wichtigste, die ersten Worte jene, die am meisten Aufschluss gaben.

Nach einiger Zeit als junger Assistenzarzt wurde mir die Aufgabe übertragen, den Kontakt zu den Vertretern der Pharmaindustrie zu pflegen. Eines Tages kündigte eine gewisse Frau Dr. Balata, eine ungarischstämmige Pharmazeutin, ihren Besuch bei mir im Krankenhaus an. Ich bat sie, im Aufnahmezimmer Platz zu nehmen und zu warten, bis ein Pfleger sie abholte. Gesagt, getan. Nur dass der Pfleger über Umwege falsch instruiert wurde. Er glaubte, bei der Pharmazeutin handle es sich um eine Patientin. Warum sonst wartete sie im Aufnahmezimmer? Der Pfleger also stieß die Tür zum Aufnahmezimmer auf und verlangte forsch: »Mitkommen, baden.«

Damals war es üblich, Psychiatriepatienten vor ihrer Aufnahme erst einmal zu baden. Und man machte keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern.

Der Pfleger zog Frau Dr. Balata mit in die Baderäumlichkeiten, die neben dem Aufnahmezimmer lagen. Die Frau protestierte zwar und rief immer wieder, sie sei die neue Pharmazeutin, doch davon ließ sich der Pfleger nicht beeindrucken. Er tat nur seine Pflicht. Was hatte er nicht schon alles gehört, wofür sich Patienten hielten. Er half Dr. Balata beim Auskleiden. Die Frau begann auf Ungarisch zu schreien. Im letzten Moment ließ er sich doch noch dazu überreden, kurz bei Dr. Allahyari nachzufragen, und die Sache klärte sich auf.

Ich entschuldigte mich höchstpersönlich hundertmal bei der Frau für die Verwechslung. Sie war mit den Nerven so fertig, dass sie eines ihrer mitgebrachten Medikamente schluckte. Und ich konnte die Wirkung des neuen Medikaments sofort an einem praktischen Beispiel beobachten. Ich betrachtete ihre Pupillen, maß ihren Puls am Handgelenk, fühlte ihre Stirn – wie bei einer Patientin.

Eines Tages erzählte mir Paul Wittgenstein von einer Nonne, die er beobachtet hatte, als sie den Körperumriss eines auf dem Boden zuckenden Epileptikers mit Kreide nachgezeichnet hatte, in der Hoffnung, so seine Krankheit, den Dämon oder gar den Teufel selbst austreiben zu können. Ja, so etwas gab es damals noch. Diese Nonne hielt auch die mathematischen und astrophysikalischen Formeln von Paul Wittgenstein für Teufelswerk und war überzeugt, dass es kein Leben auf einem anderen Planeten im Universum gebe – und wenn, dann würde Gott uns davon unterrichten.

Sie war eine Krankenschwester Gottes, und als solche konnte sie ordentlich zupacken, wenn es erforderlich war – wie etwa im Fall eines unglaublich dicken, zentnerschweren Patienten. Im Delirium tremens, also mit einer schweren Alkoholpsychose, saß er in seinem Bett, glaubte aber, in seinem Mercedes zu sitzen und zu fahren. Er lenkte und betätigte die Gangschaltung. Der Mann, ein Kommerzialrat, saß schon seit Tagen in seinem eigenen Kot und musste dringend in das Badezimmer gebracht und versorgt werden. Doch es war nicht an ihn ranzukommen, da er – wie gesagt – unglaublich dick und schwer war und keinen Pfleger an sich heranließ. Besagte Nonne ging an das Bett des Produzenten, fragte blumig empathisch: »Darf ich mir Ihren Mercedes anschauen, Herr Kommerzialrat?«, was der Angesprochene sofort erlaubte und woraufhin er einen Gang runterschaltete. Die Geistliche betonte, wenn er so schnell unterwegs sei, müsse er sich wenigstens angurten. Und blitzschnell legte sie ihm einen breiten Fixiergurt aus Stoff an, der am Rücken des Patienten verhakt wurde. Mit diesem gelang es drei robusten Pflegern, den schweren Mann aus dem Bett zu ziehen und in die Baderäumlichkeiten zu bringen.

Paul Wittgenstein machte sich über die kleine Nonne lustig, gleichzeitig hatte er großen Respekt vor ihr. Ihm gefiel, wie sie auf »bedeutungsvolle« Männer zuging und ihnen, ohne ihre Würde zu verletzen, ihre oft von der Gesellschaft aufgeschraubte Bedeutung abnahm, ihnen im Wortsinn eine große Last »abnahm« und Erleichterung verschaffte. »Das vermag diese kleine große Frau«, huldigte ihr Wittgenstein. Im nächsten Moment dachte er darüber nach, wie er solch eine menschliche Größe in eine astronomische oder wenigstens mathematische Formel pressen könnte. Dabei könne ich ihm leider nicht helfen, sagte ich zu ihm, ich banne menschliche Größe nicht in Mathematik, sondern in Filmrollen. Woraufhin er meinte, dass ich ihm das erst beweisen müsse.

Die Pharmazeutin Frau Dr. Balata kam in regelmäßigen Abständen in ihrer Vertretereigenschaft in das Krankenhaus auf Geschäftsbesuch. Und nicht selten war ich es, der sie empfing und mit ihr über neue Medikamente, deren Wirkungen und Nebenwirkungen diskutierte.

Eines Nachmittags saßen wir im Schwesternzimmer zusammen, tranken Kaffee und sprachen über die werbegerechte Aufmachung eines Antidepressivums, da erreichte mich ein Notruf. Zwei Frauen – eine junge und eine alte – der geschlossenen Abteilung waren in einen Konflikt geraten; die junge Patientin hörte Stimmen, die ihr befahlen, die andere zu bestrafen. Die andere war, wie gesagt, alt und dement. Sie hatten beide die geschlossene Station verlassen – wie ihnen das gelungen war, blieb ungeklärt. Auf jeden Fall waren sie weg, als ich dort ankam. Pfleger und Schwestern waren bereits auf der Suche nach ihnen. Ich ging zurück zu Frau Dr. Balata, weil ich ohnehin im Augenblick nichts tun konnte.

Als ich das Schwesternzimmer betrat, sah ich zuerst die Pharmazeutin offensichtlich bewusstlos am Boden liegen. Ich wollte zu ihr – da stellte sich mir die junge Schizophrene in den Weg. Sie hatte der alten dementen Patientin beide Augen herausgerissen und hielt die Augäpfel wie Trophäen in den Händen. Die Alte stand blind am Fenster und führte mit blutüberströmtem Gesicht verstörende Selbstgespräche. Ich stand minutenlang wie gelähmt im Raum, ohne dass ich irgendetwas unternehmen hätte können.

Das war mit Abstand mein schrecklichstes Erlebnis meiner siebenjährigen Dienstzeit im Wagner-Jauregg. Stunden später, es war bereits tiefe Nacht, saß ich mit meinem Lieblingsgesprächspatienten zusammen, nicht so sehr deshalb, weil ich auf seine neuesten apokalyptischen Ausführungen gespannt war, sondern weil ich nach dem grauenhaften Ereignis nicht allein sein wollte und die Dienst- und Schwesternzimmer gerade leer waren. Wir befanden uns in einem abgedunkelten Raum und sprachen nicht viel. Genauso war mir auch zumute: finster, beklemmend, stumm.

In der Psychiatrie hatten die Wände Ohren. Wittgenstein war darüber informiert, was geschehen war. Er murmelte vor sich hin, dass er das Ereignis hätte vorhersehen müssen. Er hob seinen Kopf, kratzte sich am Kinn und stellte die Frage in den Raum, ob es ein solches Bild für endgültige Zerstörung – zwei blutige Augäpfel in den Händen einer ätherischen Frau – nicht schon einmal gegeben habe? Er reckte seinen Kopf in die Höhe und lauschte, als habe er einen Hinweis aus dem Universum erhalten. Wer war sie? Die Göttin für Rache und Vergeltung? Er wartete ein paar Sekunden ab, murmelte Zahlen und Buchstaben zu mathematischen und physikalischen Formeln. Am Ende flüsterte er. So, sie sei vollbracht – die Formel für die strafende Gerechtigkeit. Und zum Schluss einer längeren Schlange von unverständlichem Gemurmel und Geraune sagte er die Zahl 14. Dann nickte sein Kopf und sein Auge leuchtete.

In dieser Nacht konnte ich mir das nicht länger anhören, es war mir einfach zu viel. Ich stand auf und verließ ihn wortlos.

Mehrere Jahre später begegnete ich noch einmal Paul Wittgenstein, diesmal in der Wiener Innenstadt, und zwar im damals berühmten Künstler-, Intellektuellen- und Bohemien-Café »Hawelka«. Ich betrat mit meiner Schwester und ihrem Mann, also meinem Schwager, einem Schweizer, das altehrwürdige Kaffeehaus, wo man die verrauchte Luft schneiden konnte, und erblickte schemenhaft einen Mann im hinteren Bereich, der aufsprang, seine Arme hochriss und hysterisch rief: »Seht! Seht! Das ist Doktor Allahyari, der beste Psychiater der Stadt!«

Stammgast Paul Wittgenstein hatte mich erkannt. Doch anstatt mich darüber zu freuen, schämte ich mich. Ich weiß nicht mehr genau, warum, ich schämte mich vor dem Mann meiner Schwester, der ein ernsthafter, introvertierter und rechtschaffener Charakter war. Ich, der Perser, schämte mich vor einem Schweizer (wegen eines psychisch kranken Österreichers, der in regelmäßigen Abständen die Welt untergehen sah). Es war grotesk.

Wahlen

Die Pharmazeutin und Allgemeinärztin Frau Dr. Balata war wie eine einsame Spinne, in deren Netz keiner gegangen war – vielleicht, weil es ihr nie gelang, ein robustes oder auch einladendes Netz zu spinnen. Wir wurden komischerweise an jenem Tag, an dem sie, wie im vorigen Kapitel erzählt, mit einer Patientin verwechselt wurde und sie der Pfleger in die Badewanne stecken wollte, Freunde. Und blieben es auch sehr lange.

Das Linzer Wagner-Jauregg suchte damals einen praktischen Arzt beziehungsweise eine praktische Ärztin. Ich war bereits zwei oder drei Jahre dort angestellt und konnte mich für sie verwenden, das heißt, ich setzte mich für sie ein, und sie erhielt die Stelle. Das war gar nicht so einfach, weil die Frau Doktor eine etwas eigentümliche Person war. Vom Äußeren her war sie eine fragile Erscheinung – sie hatte dünne Arme und Beine, fast Ärmchen und Beinchen, war schmächtig und klein. Im Beruflichen war sie übergenau, diagnostizierte sehr, sehr lange. Wenn ich das sage, meine ich wirklich sehr lange. Und das änderte sich, meines Wissens, in ihrer gesamten Laufbahn nicht.

Viele Jahre später tauchte sie in meiner Wiener Praxis auf. Es bedurfte keiner langen Erklärungen, ich wusste, was sie suchte, und ich stellte sie als zweite Ärztin ein. Aber was ich damals noch nicht wusste: Das »sehr lange« hatte sich mit den Jahren noch weiter ausgedehnt. Übergenauigkeit war keine passende Definition mehr, sondern zu einer Krankheit geworden. Vor mir stand eine Zwänglerin, eine unter Zwängen leidende Frau.

Es war zu spät. Ich hatte keine Wahl mehr und versuchte es mit ihr. Was soll ich sagen? Sie sollte mir eine Hilfe sein – doch während ich mich mit zehn Patienten beschäftigte und sie, ich verwende diesen Ausdruck nicht gerne, abfertigte, beschäftigte sie sich mit einem. Sie brauchte also zehn Mal so lange wie ich. Und das lag nicht an mangelnder Bildung oder an ihrem Ausbildungsgrad. Sie war hochgebildet und eine gute Fachkraft. Nur eben höchst übergenau. Übervorsichtig und ängstlich, sie könnte etwas falsch machen, fragte sie ständig bei mir nach, holte sich Bestätigung und Zustimmung.

Aus diesem Grund war es schon in Linz sehr schwer gewesen, die Vorgesetzten von ihren Qualitäten zu überzeugen. Mir war es, wie gesagt, trotzdem gelungen, und so verbrachten wir neben ihren schrulligen Ausreißern mit ihrem schrägen Benehmen, das das Nervenkostüm der Kollegen manchmal hart auf die Probe stellte, auch einige schöne Kollegenjahre zusammen.

Ich weiß nicht, ob und was das mit ihr selbst zu tun hatte, aber Dr. Balata konnte mit jüngeren schizophrenen Frauen nicht umgehen – zum Beispiel mit Hermine, einer chronischen Patientin im Altbau. Für Hermine entwickelte sie so gut wie keine empathischen Gefühle und auch kein fachliches Interesse. Sie lehnte sie geradezu ab. Nur gut, dass es neben einigen wenigen Ärzten, die sich nicht einlassen konnten oder wollten, die unter Umständen sogar als herzlos galten, auch offenes, freundliches Personal gab, das eine Charge unter ihnen stand.

Eine der beiden Oberschwestern im Altbau hatte ein riesengroßes Herz für die weiblichen Schizophrenen, insbesondere für Hermine. Sie nannte sie »mein Sensibelchen«. Ich lernte Hermine über diese Oberschwester kennen, deren Engagement ich schätzte. Von Anfang an machte ich kein Hehl daraus, dass ich sie für Goldes wert und unersetzlich hielt. Einmal, glaube ich, küsste ich sie sogar spontan auf die Wange, natürlich rein kameradschaftlich, aus purer Freude an ihrer Mitarbeit. Frau Dr. Balata küsste ich nie, das wäre mir nie in den Sinn gekommen und wäre zu jedem Zeitpunkt unserer Verbindung auch völlig unangebracht gewesen.

Mit der Oberschwester verband mich ein großer Zusammenhalt. Und später auch mit Hermine. Eines Tages fragte mich die Oberschwester, ob ich mir vorstellen könnte, Hermine in meiner Wohnung, die unweit des Spitals lag, ein wenig mitarbeiten zu lassen. Man war allgemein der Meinung, dass ein bisschen Arbeit und Verantwortung Hermine guttäten.

Ab meinem dritten Jahr im Wagner-Jauregg lebten meine Frau Helga, unser kleiner Sohn Dariusch, unsere kleine Tochter Petra und ich in einer Wohnung, die zur Klinik gehörte. Die zweite Oberschwester im Altbau, eine elegante Dame, jedoch als Mensch unnahbar, hatte bereits vor langer Zeit auch um eine Wohnung angesucht. Doch immer, wenn es so weit war, wusste sie plötzlich nicht mehr, ob sie dort wirklich wohnen wollte und lehnte sie ab. Sie lehnte auch die Wohnung ab, die wir kurz darauf angeboten bekamen. Wir sagten sofort zu und begannen mit der Organisation für den Umzug. Kaum erfuhr die elegante Oberschwester davon, wollte sie die Wohnung doch wieder haben. Zu spät für sie, wir hatten gerade unterschrieben. Ab diesem Zeitpunkt war sie nicht mehr gut auf mich zu sprechen, intrigierte gegen mich, erzählte überall herum, dass ich sie vertrieben hätte und mit Sack und Pack und Kind und Kegel wie eine Heuschreckenplage aufgetaucht wäre und eine alleinstehende Frau ihrer Lebensgrundlage berauben würde.

Ich fand das würdelos. Sie fand es schrecklich, wenn mich meine Frau oder eines meiner Kinder im Spital besuchten. Wir begegneten ihr mit Freundlichkeit, was sie mit erbostem und rot angelaufenem Gesicht abwehrte. Wir trieben es auf die Spitze, als meine Frau – oder war es mein kleiner Sohn? – einmal einen Strauß Blumen mitbrachte. Die Oberschwester nahm ihn zwar an, doch presste sie ihre Faust so fest zusammen, dass die Venen an ihrem Unterarm hervortraten und ein dunkleres Blau annahmen als die Blüten des Straußes. Sie erwürgte die Blumen buchstäblich. – Schließlich hatte sie die Pflanzen stranguliert, und sie ließen die Köpfe hängen. Mit derselben Faust verabreichte sie eine Stunde später die Medikamente an die Patientinnen der Station.

Hermine kam also ein- oder zweimal pro Woche für kurze Zeit in unsere Wohnung, um ein wenig im Haushalt mitzuhelfen. Zu »helfen« – das ist eindeutig übertrieben. Meine Frau stöhnte unter dieser Hilfe und atmete erleichtert auf, wenn Hermine wieder gegangen war. Doch sie meinte jedes Mal am Abend oder am Morgen, wenn wir zusammensaßen – je nachdem, wann ich Dienst hatte –, Hermine dürfe wiederkommen, wenn es ihr guttue und ihrer Entwicklung förderlich wäre.

Es war Ostern. Helga hatte den Tisch im Wohnzimmer mit Süßigkeiten, vor allem Schokolade, für die Kinder beladen. Es sollte eine Überraschung werden, alles war reichhaltig und wunderschön drapiert. Wenn die Kinder nach Hause kamen, sollten sie die Geschenke entdecken. Dariusch und Petra liebten Schokolade. Ich übrigens auch – bis heute. Helga freute sich auf ihre Gesichter und ging noch einmal kurz weg. In der Zwischenzeit machte sich im Spital Hermine auf. Den Weg kannte sie, und er war kurz, die Wohnungstür unverschlossen. Sie trat ein und entdeckte die Osterhasen- und Osterlammschokoladenbescherung auf dem Tisch.

Meine Frau und die Kinder kamen gleichzeitig nach Hause. Aber anstatt des süßen Glücks fanden sie nur leere Stanniolverpackungen vor. Im Wohnzimmer sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen Papier- und Folienfetzen. Hermine musste gewütet haben wie eine Furie. Ganz offensichtlich liebte auch sie Schokolade. Die Kinder, Petra und Dariusch, standen wie angewurzelt da. Was sie erwartet und von Andeutungen mitbekommen hatten, blieb nicht nur unerfüllt, sondern es bot sich ihnen geradezu ein zynisches Gegenteil davon dar, eine spöttische Fratze, die sie anschrie: Nichts, gar nichts ist für euch übrig!

Hermine aber war glücklich. Sie fiel meiner Frau um den Hals und wiederholte ihren Dank immer und immer wieder: »Danke, danke, liebe Frau, für die viele Schokolade, die Sie mir geschenkt haben, danke, danke!«

Die Kinder weinten. Hermine glaubte, vor Freude, und weinte mit. Und jetzt war auch Helga im Gesicht, am Hals und an ihrer Bluse über und über von Schokolade braun verschmiert. Hermine hatte alles aufgegessen. In einer Schnelligkeit, die für meine Frau noch lange ein Rätsel blieb.

Strikt gegen jeglichen Ausgang Hermines war ihre eigene Mutter. Schließlich sei ihre Tochter – aus gutem Grund – eine chronische Patientin, und das sollte sie in den Augen ihrer Mutter auch bleiben. Ich bat die Frau zu einem Gespräch in die Klinik. Wir saßen einander lange gegenüber, ohne etwas zu sagen. Die Nässe von ihrem Schweiß in meiner Hand trocknete langsam. Die Frau hatte ihre Augenbrauen tief nach unten gezogen, wirkte wütend und ängstlich zugleich. Ich fragte sie, warum Hermine keinen Ausgang haben sollte.

Sie schnaufte laut und pumpte einen Aufschrei aus ihrer Kehle: »Wenn Sie wüssten!«

Ich fragte ganz ruhig nach: »Was sollte ich denn wissen?«

Und dann erzählte sie. Es waren viele Geschichten, die ihre aufgeregte Stimme durcheinanderwirbelte. An eine erinnere ich mich ganz besonders.

Hermine war wieder einmal abgängig. Sie war seit zwei Tagen und Nächten nicht nach Hause gekommen. Die Suche nach ihr gestaltete sich eher halbherzig. Aber anstandshalber ging ihre Mutter an jene Plätze und Orte, wo sie sie vermutete. Der Friedhof war einer der Orte, wohin sich Hermine zurückzog und wo sie sich verschanzte, wenn es ihr schlecht ging – wenn, wie sie es öfter beschrieb, ihre »ganze Haut brannte« und sie »nach draußen« wollte. Wovon sie weg wollte, dafür fand sie keine Worte, jedenfalls nicht, wenn ich mit ihr Gespräche führte.

Tatsächlich fand ihre Mutter sie auf dem Friedhof. Doch nicht wie üblich hinter einem Grabstein, auf dem Komposthaufen zwischen alten, verdorrten Trauerkränzen oder in der Aufbahrungshalle in einer Ecke kauernd, sondern nackt, vornüber gebeugt, mit beiden Armen gegen ein eisernes Kreuz gestemmt – und hinter ihr ein mit heruntergelassener Hose werkender und keuchender Soldat in Uniform. Er penetrierte sie. Hermine summte abwesend vor sich hin.

Ihre Mutter fiel beinahe in Ohnmacht. Sie schrie aus vollem Hals: »Hermine, komm sofort her!«

Bei dem Soldaten entschuldigte sie sich heiser für das ungehörige Verhalten ihrer Tochter und stellte ihm sogar eine Entschädigung in Aussicht. Kein Geld, aber sie könnte ihn mit Eiern oder Schmalz entschädigen, falls er damit zufrieden wäre.

Sie schrie noch einmal: »Hermine, sofort hierher!«

Jetzt zuckte Hermine zusammen, die Lautstärke katapultierte sie in die reale Welt zurück. Sie nahm ihre vor Scham und Wut rot angelaufene Mutter wahr und säuselte blumig mit nach hinten gewendetem Kopf: »Gleich, Mutter, wir ficken nur noch fertig.«

Als Hermines Mutter fertigerzählt hatte, standen Tränen in ihren Augen. »Das macht sie nur, um mir weh zu tun«, sagte sie leise.

»Warum sollte sie Ihnen weh tun wollen«, fragte ich mit tiefer, warmer Stimme.

»Weil mir dasselbe passiert ist«, presste sie heraus, und ihr Gesicht verwandelte sich in Sekundenschnelle in eine wächserne Maske.

Ich wusste, sie würde jetzt nichts mehr preisgeben. Ich kannte das, wenn Menschen beschlossen hatten, ihren Schmerz mit ins Grab zu nehmen. Der Entschluss war eisern, hart und kalt – wie das Kreuz auf dem Friedhof, an dem Hermine lehnte.

Wir verabschiedeten uns. Die erschöpfte Frau bekräftigte ihre Meinung, dass ihre Tochter Hermine auf keinen Fall das Krankenhaus verlassen dürfen sollte. Ich antwortete so freundlich wie möglich, wir würden sehen.

Und dann sagte sie noch, schon halb umgedreht: »Hermine hat mit 30 noch ausgesehen wie 15. Bei mir war es umgekehrt.«

Eine der schizophrenen Frauen der geschlossenen Station bereitete mir noch in den 1980er-Jahren, als ich längst in Wien meine eigene Praxis hatte, Kopfzerbrechen und einen erhöhten Herzschlag.

Ich bekam einen Telefonanruf von einem Mann, es war, glaube ich, im September 1986. Der Anrufer bat mich in ruhigem Tonfall, ich solle doch seine Frau in Ruhe lassen. Ich war natürlich äußerst verblüfft, blieb aber auch ruhig und fragte, wer er sei.

»Sie sind doch der Dr. Allahyari, der ungefähr bis 1978 in der Nervenheilanstalt in Linz war«, fragte er zurück.

Ich stimmte zu.

»Na eben, dann lassen Sie meine Frau in Ruh.«

»Ich wohne und arbeite schon längst in Wien.«

»Meine Frau behauptet, dass Sie sie damals hypnotisiert haben und seither eine Fernbeziehung mit ihr führen. Sie will das nicht mehr. Und jetzt lassen Sie sie in Ruh.«

Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich damals keine Hypnosen durchgeführt hatte, und dass, soviel ich wusste, keine Hypnose über 15 Jahre anhalten könne.

»Meine Frau sagt etwas anderes. Hören Sie auf, ihr Befehle zu geben.«