Notärztin Andrea Bergen 1347 - Isabelle Winter - E-Book

Notärztin Andrea Bergen 1347 E-Book

Isabelle Winter

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Beschreibung

Stille senkt sich über die Hochzeitsgesellschaft, als der Bräutigam das Champagnerglas erhebt und zu einer anrührenden Rede über seine geliebte Frau ansetzt. Seine Liebe und Dankbarkeit, Hannah gefunden zu haben, sprechen aus jedem seiner Worte. Manch einer der Gäste tupft sich verstohlen ein Tränchen der Rührung aus den Augenwinkeln - so auch Dr. Andrea Bergen, die sich herzlich für Hannah und Sebastian Ortmann freut ...

Da lässt das plötzliche Schluchzen der schönen Braut alle zusammenfahren. Völlig außer sich reißt Hannah sich den goldenen Ehering vom Finger, den Sebastian ihr eben erst angesteckt hat, und schleudert ihn ihm vor die Füße. In einer Wolke aus weißem Taft läuft sie davon - um nie mehr zu Sebastian zurückzukehren?

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Seitenzahl: 124

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Rede, die alle zum Weinen brachte

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Tom Merton / iStockphoto

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-6183-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Auch Stunden später verstehe ich noch immer nicht, was heute Nachmittag auf der Hochzeitsfeier meiner Freundin Hannah genau passiert ist: Unmittelbar nach der zu Herzen gehenden Rede ihres frischgebackenen Mannes über das Wunder der Liebe ist Hannah vor den Augen aller Gäste in bittere Tränen ausgebrochen, hat Sebastian schluchzend den Ehering vor die Füße geworfen und ist in einem Taxi davongerauscht! Und Sebastian, der dem davonfahrenden Auto nachlief, ist plötzlich mit akutem Nierenversagen zusammengebrochen! Inzwischen ringen meine Kollegen auf der Intensivstation um sein Leben – und ich versuche verzweifelt, Hannah zu finden. Denn Sebastian darf nicht sterben, ohne seine Braut wenigstens noch ein Mal gesehen zu haben …

Atemlos hetzte Dr. Andrea Bergen die Treppenstufen des Hochhauses empor. Der Aufzug war ausgefallen, doch davon durfte sich die Notärztin nicht aufhalten lassen. Zu Fuß bewältigte sie die Stockwerke, dicht gefolgt von dem Rettungssanitäter Jupp Diederichs und dem Rettungsassistenten Ewald Miehlke. Sie ignorierte das Seitenstechen und lief weiter, bis sie das entsprechende Stockwerk erreicht hatte.

Die Tür zur Wohnung stand offen. Eine junge Frau kam herbeigestürzt, als sie sie hörte. Tränen schimmerten in ihren Augen, ihre Unterlippe bebte.

»Kommen Sie schnell!«, stieß sie hervor. »Oh, bitte, meine Oma ist im Bad, sie braucht ganz dringend Ihre Hilfe.«

Ohne zu zögern, folgte die Notärztin der Enkelin der Patientin ins Badezimmer. Hier sah sie auch schon die ältere Frau, die leicht verdreht auf dem Boden saß, beide Beine ausgestreckt. Sie war aschfahl im Gesicht, die Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Als Andrea Bergen ins Bad gelaufen kam, schaute sie hoch, schien aber zu kämpfen, um nicht das Bewusstsein zu verlieren.

»Wo tut es denn weh, Frau Gruber?«, fragte die Notärztin sanft, als sie sich neben die Patientin kniete, deren Namen sie bereits erfahren hatte. Ganz behutsam, um der verletzten Frau keine unnötigen Schmerzen zuzufügen, begann sie mit der Untersuchung.

Vor Schmerz stöhnte die Frau auf. Kraftlos versuchte sie zu beschreiben, wo genau der Schmerz saß.

»Sie saß seit gestern Abend hilflos hier auf dem Boden«, schluchzte die Enkelin. »Sie ist ausgerutscht und konnte einfach nicht aus eigener Kraft aufstehen. Nicht einmal zum Telefon hat sie es geschafft. Ich … Ich mache mir solche Vorwürfe, weil ich das nicht früher bemerkt habe. Erst heute bin ich stutzig geworden, weil ich sie anrufen wollte und sie nicht erreicht habe.«

Frau Grubers zitternde Hand tastete nach der ihrer Enkelin und drückte sie kurz. Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen.

»Jetzt haben Sie es ja zum Glück bemerkt und gleich Hilfe gerufen«, sagte Andrea Bergen tröstend. Sie merkte der jungen Frau an, dass diese sich große Vorwürfe machte.

Rasch stand fest, was geschehen war: Frau Gruber war im Badezimmer auf den glatten Fliesen ausgerutscht und hatte sich einen Hüftbruch zugezogen. Besonders bei älteren Personen, die unter Osteoporose litten, bestand bei Stürzen ein hohes Verletzungsrisiko.

Als Andrea das Becken der Patientin vorsichtig abtastete, stellte sie fest, dass einzelne Knochen leicht verschoben werden konnten, was auf einen vollständigen Bruch hinwies.

»Keine Sorge, Frau Gruber«, sagte sie freundlich, »wir bringen Sie jetzt schleunigst ins Krankenhaus. Ich weiß, so ein Hüftbruch tut sehr weh, aber Sie bekommen jetzt etwas gegen die Schmerzen, und im Elisabeth-Krankenhaus kann man Ihnen helfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen Sie operiert werden, dann können Sie vermutlich schon am zweiten Tag nach dem Eingriff wieder aufstehen und das Bein belasten.«

Die gebrochenen Knochen wurden dabei meist durch Schrauben oder Nägel fixiert, doch das wollte Andrea ihr nun nicht im Detail erzählen. Der behandelnde Chirurg würde der Patientin vor dem Eingriff alles Nötige in aller Ruhe erklären. Im Moment zählte aber vor allem, dass sie rasch und sicher ins Krankenhaus gelangte.

»Kann ich mitkommen?«, fragte Frau Grubers Enkelin mit zitternder Stimme.

Andrea Bergen nickte. »Aber ja, gerne. Vielleicht können Sie rasch ein paar Sachen packen, die Ihre Großmutter im Krankenhaus braucht.«

Es war ein wahrer Kraftakt, die Patientin mithilfe der Trage durch das enge Treppenhaus hinunterzutragen, doch Jupp und Ewald meisterten diese Herausforderung. Vorsichtig hoben sie Frau Gruber in den Rettungswagen und machten sich auf den Weg ins Elisabeth-Krankenhaus.

***

Gut gelaunt begann Andrea Bergen wenig später ihre Mittagspause, die sie im Personalrestaurant des Elisabeth-Krankenhauses verbrachte. Sie war hoffnungsfroh, dass es Frau Gruber schon bald sehr viel besser gehen würde, auch wenn die Heilung eines Hüftbruchs einige Zeit in Anspruch nahm.

Oberarzt Dr. Kurt Meurer würde die Operation übernehmen. Bei ihm war Frau Gruber in guten Händen, das wusste Andrea. Vorher würde die Diagnose durch eine Röntgenuntersuchung abgesichert werden, welche genauere Aussagen über die Lokalisierung und den Verlauf des Bruchs möglich machte. Mithilfe bildgebender Verfahren wie der Sonografie und der Computertomografie würde festgestellt werden, ob mit den inneren Organen alles in Ordnung war.

Doch das alles lag nicht mehr in Andreas Aufgabenbereich, ihr Job als Notärztin war erledigt. Trotzdem nahm sie sich vor, bei Gelegenheit nach Frau Gruber zu sehen, um sich davon zu überzeugen, dass es ihr, den Umständen entsprechend, gut ging.

Im Personalrestaurant wechselte sie ein paar Worte mit der Wirtin Mariechen Brückmann, einer quirligen Mittfünfzigerin, die stets gute Laune verbreitete. Mit einem Sandwich und einer erfrischenden Limonade setzte Andrea sich und wollte sich die Mahlzeit gerade schmecken lassen, als ihr Blick auf die junge Krankenschwester Hannah Esser fiel, die allein an einem Ecktisch saß und traurig ins Leere starrte.

Mitleidig seufzte die Notärztin. In letzter Zeit war ihr immer wieder aufgefallen, dass Hannah niedergeschlagen wirkte. Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein, doch obwohl sie sich eigentlich gut verstanden, hatte sich Hannah ihr noch nicht anvertraut.

Nun wollte Andrea die Gelegenheit aber nicht verstreichen lassen, die Krankenschwester vorsichtig darauf anzusprechen. Womöglich gab es ja eine Möglichkeit, ihr zu helfen – und selbst wenn nicht, war es manchmal schon eine große Erleichterung, jemandem das Herz ausschütten zu können.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie freundlich und deutete auf den freien Platz am Hannahs Tisch. Seit einiger Zeit duzten die Notärztin und die Krankenpflegerin sich.

Hannah schreckte hoch, als wäre sie gerade tief in Gedanken versunken gewesen. Dann huschte ein schwaches, freudloses Lächeln über ihre Lippen. Einladend deutete sie auf den Stuhl und nickte.

»Klar, gerne. Aber ich fürchte, ich bin zurzeit nicht die angenehmste Gesellschaft.«

Mit Sandwich und Kaffee setzte sich Andrea zu ihr. Aus der Nähe sah sie, dass Hannahs Augen gerötet waren: Sie hatte offensichtlich geweint.

Andrea verschwendete keine Zeit mit Smalltalk.

»Willst du darüber reden?«, fragte sie leise. »Ich merke doch, dass es dir nicht gut geht.«

Hannah seufzte tief, starrte auf ihre Suppe hinab, von der sie bisher kaum etwas gegessen hatte, und schwieg einen Moment.

»Ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten«, murmelte sie schließlich.

»Unsinn«, sagte Andrea energisch. »Du belastest mich nicht. Ich höre dir gerne zu. Sonst hätte ich auch gar nicht danach gefragt.«

Diesmal fiel Hannahs Lächeln echter aus, doch gleich darauf füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Es ist nur … Es geht um meinen Freund. Meinen Exfreund, muss ich wohl sagen …«

Mitfühlend griff Andrea nach Hannahs Hand und drückte sie leicht.

»Marc?«, hakte sie nach, als Hannah nicht weitersprach. Sie konnte sich vage an den jungen Mann erinnern, der die Krankenschwester zur letzten Krankenhaus-Weihnachtsfeier begleitet hatte.

Mit der freien Hand wischte sich Hannah die Tränen aus den Augen.

»Marc, dieser Mistkerl«, presste sie hervor. »Meine Freundinnen haben mich vor ihm gewarnt – sie meinten, er schaue anderen Frauen hinterher. Aber ich wollte ja nicht hören, ich war einfach zu glücklich mit ihm. Bis ich ihn mit einer anderen Frau in der Stadt gesehen habe!«

Andrea schluckte. »Das tut mir sehr leid. O Hannah, das muss ein harter Schlag gewesen sein.«

Hannah versuchte, die Tränen wegzublinzeln.

»Sie saßen in einem Café. Ich habe noch verzweifelt versucht, mir einzureden, das sei ganz harmlos – sie sei nur irgendeine Bekannte. Aber in dem Moment hat er sich vorgebeugt und sie geküsst. Und das Schlimmste war …« Sie presste sich die Hand auf den Mund und unterdrückte ein Schluchzen.

Andrea schwieg. Sie hielt einfach Hannahs Hand und wartete, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie weitersprechen konnte.

»Das Schlimmste war, dass ich dumm genug war, um ihm eine zweite Chance zu geben«, sagte Hannah schließlich tonlos. »Ich habe ihn damit konfrontiert, aber er hat behauptet, das hätte gar nichts bedeutet. Ich war so verliebt, dass ich ihm einfach glauben wollte. Ich habe mich so fest an die Vorstellung geklammert, er sei der Mann, mit dem ich mein restliches Leben verbringe. Es hat einen ganzen Monat gedauert, bis ich dahintergekommen bin, dass er mich von Anfang an immer wieder betrogen hat, und das sogar mit mehreren Frauen.«

»O nein.« Andrea schüttelte bekümmert den Kopf. »Hannah, das tut mir wirklich schrecklich leid für dich. So hintergangen zu werden, ist grausam. Dieser Kerl hatte dich überhaupt nicht verdient. Aber auch, wenn es sich im Moment nicht so anfühlt: Eines Tages geht es wieder bergauf, der Schmerz lässt nach, du wirst wieder glücklich sein und diesen Idioten vergessen.«

Wieder schwieg Hannah kurz, dann seufzte sie.

»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte sie leise. »Es fühlt sich nicht so an. Alles hier in der Stadt erinnert mich an ihn. Dauernd komme ich an Cafés oder Restaurants vorbei, in denen ich mit ihm war, oder an einer Parkbank, auf der ich mit ihm saß. Oder ich höre ein Lied, zu dem wir einmal gemeinsam getanzt haben … Er ist allgegenwärtig in meinen Gedanken. Ich denke darüber nach …« Sie unterbrach sich und biss sich auf die Unterlippe. Düster starrte sie in ihren Suppenteller, der nach wie vor fast ganz voll war.

»Worüber denkst du nach?«, hakte Andrea sanft nach.

Hannah sah der Notärztin ins Gesicht.

»Darüber, das alles hier aufzugeben und einen Neuanfang zu wagen. Diese Stadt zu verlassen, in der mich alles an Marc erinnert. Meine Stelle hier im Krankenhaus zu kündigen, meine Koffer zu packen und zu meiner Schwester zu ziehen, die seit Jahren in Spanien lebt.«

Andrea zog besorgt die Stirn in Falten. »Das wäre ein großer Schritt. Ich denke, so eine Entscheidung sollte man nicht fällen, wenn man gerade tieftraurig ist. Manchmal verstellt einem der Schmerz die klare Sicht auf die Realität und man tut und denkt Dinge, die man später bereut.«

Hannah wiegte den Kopf langsam hin und her.

»Mag sein«, erwiderte sie leise. »Aber es ist ein so reizvoller Gedanke, vor alldem wegzulaufen und ganz neu zu beginnen. Ich weiß noch nicht so recht, was ich tun soll, doch, ehrlich gesagt, lässt mich der Gedanke nicht los.«

***

Sebastian zog eine Grimasse, bevor er das Oltmann-Anwesen betrat und die Stufen zur großen Villa hochlief, in der er aufgewachsen war. Im Grunde genommen hatte er sich in diesem Gebäude nie wirklich wohlgefühlt, auch als Kind nicht, obwohl es ihm, objektiv betrachtet, nie an irgendetwas gefehlt hatte.

Das eindrucksvolle, nobel eingerichtete Haus war ihm immer schon kalt erschienen, was wohl nicht zuletzt an seiner Mutter lag, die nicht gerade ein Ausbund an Herzlichkeit war.

Schon als er in die weitläufige Diele trat, spürte er ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Obwohl hier alles so großzügig gebaut war, fühlte er sich beengt, als hätte er eine Gefängniszelle betreten. Mit einem beiläufigen Blick aus den Augenwinkeln stellte er fest, dass seine Mutter neue Bilder aufgehängt hatte, auch eine moderne Skulptur war hinzugekommen.

Bei der Einrichtung bewies sie stets ein gutes Händchen fürs Detail, doch Sebastian wusste, dass es ihr dabei in erster Linie darauf ankam, Besucher zu beeindrucken.

Jeder, der zu den Oltmanns kam, sollte auf Anhieb merken, wie wohlhabend, erfolgreich und kultiviert diese Familie war. Sebastian jedoch konnte darüber nur die Augen verdrehen. Ihm hatte diese öffentliche Zurschaustellung von Reichtum noch nie viel bedeutet.

Er war froh, schon lange nicht mehr hier zu wohnen. Sobald er achtzehn geworden war, hatte er darauf bestanden, sich eine kleinere Stadtwohnung zu suchen, in der er allein lebte. Seine Mutter hatte nie so ganz verstanden, warum er das Apartment dieser großen Villa vorzog, aber er fühlte sich dort einfach viel wohler. Mittlerweile war er einunddreißig Jahre alt und hatte die Entscheidung nie bereut; niemals dachte er ernsthaft darüber nach, ins Familienanwesen zurückzukehren.

»Sebastian, Liebling!« Marianne Oltmanns Stimme war samtweich. Sie eilte die breite, geschwungene Treppe herab und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist ja schon wieder zu spät. Sag bloß, du warst wieder bei diesem schrecklichen Wildwasserfluss und hast dich in Gefahr gebracht?«

Wie immer war sie eine eindrucksvolle Erscheinung. Manchmal fragte er sich insgeheim, ob sie die Treppe extra so hatte planen lassen, dass hereinkommende Besucher aus der Diele einen perfekten Blick auf sie erhaschen konnten, wenn sie wie eine Filmdiva die Stufen hinabschwebte.

Heute trug sie ein gut geschnittenes cremefarbenes Kostüm mit einer Diamantbrosche, die silbergrauen Haare waren zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt. Ihre schlanke Figur verdankte sie einem Gymnastikprogramm, das sie streng jeden Morgen absolvierte, und die elegante, aufrechte Haltung verriet, dass sie früher viel getanzt hatte.

Er strich sich durch die halblangen braunen Haare, die noch leicht feucht waren.

»Tut mir leid, Mutter«, entschuldigte er sich für die Verspätung. »Und ja, ich bin Wildwasserkajak gefahren.«

Er liebte es, sich mit dem kleinen Boot den Stromschnellen zu stellen, bewaffnet nur mit einem Paddel. Es hatte etwas so Raues und Ursprüngliches an sich, sich der wilden Kraft der Natur auszusetzen und sich vom Fluss mitreißen zu lassen, ohne unterzugehen.

Der Sport erforderte viel Geschick und Konzentration, doch genau das gefiel Sebastian daran. Wenn er sich draußen an der frischen Luft bewegte, fühlte er sich angenehm klar im Kopf, war für einen Moment ganz im Hier und Jetzt und konnte seine lästigen Pflichten verdrängen, wenn auch niemals vollständig.

Marianne seufzte. »Du weißt doch, wie sehr ich das hasse. Es ist gefährlich und noch dazu unsinnig. Und wenn du dich nicht in die Fluten stürzt, rennst du von einer Sportart zur nächsten, dann nachts in irgendwelche Bars, am nächsten Tag wieder zu irgendeinem verrückten Extremsport … Liebling, wann wirst du endlich erwachsen?«

Tadel schwang in ihrer Stimme mit. Sebastian wusste, dass sein Lebenswandel seiner Mutter ein Dorn im Auge war. Sie war der Meinung, er sollte endlich Verantwortung und vor allem mehr Aufgaben im Familienunternehmen übernehmen.

Seit dem Tod seines Vaters bestimmte seine Mutter über den Großteil des Unternehmens, zumindest jetzt noch. Geplant war eigentlich, dass Sebastian das Familienimperium weiterführen sollte, doch wirklich begeistern konnte er sich für diese Aussicht nicht.