Nullerjahre - Hendrik Bolz - E-Book
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Nullerjahre E-Book

Hendrik Bolz

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Beschreibung

Vom Austeilen und Auf-die-Fresse-Kriegen: eine Nachwendejugend in Mecklenburg-Vorpommern. Hendrik Bolz, geboren 1988, ist in Stralsund aufgewachsen, im nordöstlichsten Winkel Deutschlands, in einer Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr »DDR« heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind dieselben Nullerjahre. Während in den Plattenbauten von Knieper West immer mehr Erwachsene die Suche nach einem Platz im neuen System aufgeben, nehmen Hendrik und seine Freunde die Herausforderung an: Sie finden Auswege aus der Langeweile und Fluchtwege, um keine Prügel zu kassieren. Langsam zerfallen die Frontlinien der Baseballschlägerjahre, an die Stelle der Springerstiefel treten Turnschuhe, die Böhsen Onkelz werden von Aggro Berlin abgelöst, die Optionen bleiben die gleichen: Fressen oder Gefressenwerden. Im Kindergarten, in der Schule und im Fußballverein haben sie gelernt, dass ein großer Junge nicht weint und dass der Klügere nur so lange nachgibt, bis er der Dümmere ist. Nun gilt es, härter zu werden, um, wenn es drauf ankommt, dem anderen die Nase zu brechen. Und stumpfer zu werden, um dabei nicht zu zögern. Die Mittel finden sich – Kraftsport, Drogen, Rap. Und bald sind es neue »Kleine«, die sich verstecken müssen. Hendrik Bolz erzählt eindringlich von einem Jahrzehnt im Osten Deutschlands, das uns ein Stück bundesrepublikanische Gegenwart erklären kann.

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Seitenzahl: 374

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Hendrik Bolz

Nullerjahre

Jugend in blühenden Landschaften

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Hendrik Bolz

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Triggerwarnung

INTRO

TEIL EINS

GAMEBOY

GAS ZIEHEN

KUNG FU

STADTWALD

STRELAPARK

BADEANSTALT

TOTE HOSE

SCHNAPSJAGD

GUMMI

MARCEL-AIDS

ABFAHRT

CONNY KRAMER

HOLZER

TEIL ZWEI

BONGWASSER

ABRAHAM

ALPHA

SCHMELZUNTEN

WEG DES KRIEGERS

RENZOW

FREIBAD

NADJA

OUTRO

ANHANG

NACHWORT.

SONGS

QUELLEN

DANKESCHÖN AN

Inhaltsverzeichnis

Dieses Buch berichtet aus einer Welt, von der man schwer erzählen kann, ohne den Rassismus, den Antisemitismus, die Misogynie, die Homophobie und die Gewalt sprachlich zu reproduzieren, die in ihr zentrale Ordnungsprinzipien waren. Diese Ambivalenz sollte niemand aushalten müssen, der sich nicht bewusst dafür entschieden hat.

 

Es ist nicht möglich, die eigene Geschichte aufzuschreiben, ohne sich dabei die Geschichten der Menschen anzueignen, die in ihr vorkommen. Das war bis zuletzt eine der größten Herausforderungen, die mir dieses Buch gestellt hat. Auf den folgenden Seiten werden Dinge geschildert, die passiert sind, die wenigsten aber sind genau so passiert, wie sie geschildert werden. Ich habe Namen und Orte, Handlungen und Ereignisse so verändert, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, dass Ähnlichkeiten der auftretenden Figuren mit realen Personen immer nur partiell sind.

Inhaltsverzeichnis

INTRO

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING[1]

Blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen, blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen. Ich ballere in Schlangenlinien über die A 24, draußen fliegt die Agrarwüste vorbei. Die Autobahn ist komplett voll mit Pendlern, Touristen, Tagesausflüglern, alle wollen sie zum Wochenende raus aus der staubigen, heißen Stadt.

Blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen, blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen. Mein Ziel ist ein Airbnb an der Ostsee, mehr oder weniger meine alte Heimat, wo mein alter Freund Sven übers Wochenende einen »lockeren« Junggesellenabschied verbringen will. Anders als ich und viele andere ist er damals nicht aus Stralsund weggezogen, sondern hat in einem Hotel auf Rügen eine Ausbildung in der Küche gemacht, eine Frau kennengelernt und arbeitet heute als Chefkoch in einem hoch angesehenen Fischrestaurant. Seine Verlobte ist Krankenschwester, ein Sohn ist unterwegs, ein Haus ist gebaut und nun soll auch endlich die Hochzeit folgen. Ewig hab ich den nicht gesehen, dreizehn Jahre ist es jetzt schon her, dass ich nach Berlin gezogen bin, dreizehn Jahre! Komplett gaga, wie schnell die Zeit vergeht.

 

Blinken links, Überholspur, Überholspur, BREMSEN, ein Laster schert aus, na super, das kann dauern. Als junger Deutschrap-Fan in der ostdeutschen Peripherie war Berlin immer schon der Sehnsuchtsort meiner Jugend, ein mystischer Ort, an dem es permanent knallt und zischt, die Stadt, in der man richtig hart gemacht wird, die coolste Stadt Deutschlands, in der ich unbedingt dazugehören wollte. In den Uniunterlagen, die man mir 2008 zur Begrüßung an die Ostsee schickte, lag ein Prospekt vom Studentendorf Schlachtensee, unschlagbar nah an der Uni sollte das sein und das Zimmer außerdem nur 170 € kosten. Den Bezirk Zehlendorf hatte ich mal in einem Disstrack von Bushido gegen Fler gehört (»Damals schon in Zehlendorf – Nix bist du, Alter! Ich hab dich zu dem gemacht, der du bist! Ich! Ich!!!«) und neun Quadratmeter klang doch ziemlich viel, also packte ich meine Sporttasche und zog in diese Knastzelle, die nur aus Bett, Kleiderschrank und Schreibtisch bestand. Wenn ich durch die Zimmertür trat, lag ich zwangsläufig schon in den Federn, durchs Fenster zog es, sodass ein Handtuch, das ich in meinem ersten Berliner Winter zum Schutz in den Spalt stopfte, regelmäßig zu Stein gefror. Dafür war die Gemeinschaftsdusche immer schön luftdicht und entsprechend voller Schimmel, und als wir diesen Umstand dem Hausmeister mitteilten, hielt er uns ein Putzmittel vor die Nase und sagte »Macht weg!«. Hat mich alles nicht gejuckt, für mich konnte es ja gar nicht spartanisch genug sein. Viel irritierender fand ich die Leute in Zehlendorf, auf der Straße, im Bus, in der U-Bahn, in der Uni – ich erkannte mein Berlin nicht wieder. Das war ja gar nicht die Stadt der Gangsterrapper, das war die Stadt der Bonzen und Studenten, die Stadt der Villen, Limousinen, Jachten, edlen Kleidung, prachtvollen Gärten und Aktienfonds. Die Stadt der Anwälte und Ärzte auf der einen, und die Stadt der Dreadlocks, Parkas, Jutebeutel, Häckisäcks, Revolutionen, Plenen, Gammelmode auf der anderen Seite. Kapitalisten und ihre rebellierenden Hippie-Kinder. So oder so: Die Stadt der Spießer.

 

»HENDRIK, HENDRIK. HEEEENDRIIIIK!!??? HALLOOOHOOOO!!??? ERDE AN HENDRIK!!!! HÖRST DU MIIIIIICH?????«

Anastasia wackelt von hinten an meinem Sitz, ich schaue fragend in den Rückspiegel.

»KANNST DU DAS BITTE BITTE EIN BISSCHEN LEISER MACHEN, ICH TELEFONIIIIEREEE!«

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING

I can’t stop raving

I can’t stop raving[2]

»… Uff … Danke schön«, sie lehnt sich wieder zurück und schaut aus dem Fenster. »… also ich bin dann jedenfalls einfach zu Stefano hin und hab ihn knallhart konfrontiert und er war so what the fuck? Hahaha, naja, und ich daraufhin …« Der LKW tuckert vor uns her, bremst meinen Geschwindigkeitswahn, auch Julian entspannt sich nun sichtlich und fummelt sich die AirPods aus den Ohren. Immer tiefer ist er in den Beifahrersitz gesunken während der Fahrt, immer verkrampfter und kleiner geworden, hab ich gar nicht richtig mitgeschnitten, ganz unbewusst hab ich sukzessive den Tacho hochgejagt und die Musik immer lauter gestellt. Dune, Members of Mayday, Blümchen, Bushido, Sido, Onkelz, Onkelz, Onkelz, die Musik meiner Jugend zur Einstimmung auf unsere kleine Reise, ganz sanft immer lauter und lauter, bis irgendwann die Ohren klingeln, bis es physisch spürbar ist, der Bass und die Energie, und man seine eigenen Gedanken nicht mehr hört. Wie viele der Musik- und Medienberliner kennen wohl so ziemlich jeden Bushido- und Onkelz-Song auswendig? Stefano sicher nicht.

 

Gerade am Anfang meiner Berlin-Zeit haben mich solche Andersartigkeiten komplett irritiert, mit den Kulturtechniken, die ich mir in meiner Jugend aneignete, bekam ich hier überhaupt keinen Fuß in die Tür. Jemand wie ich, mit Alpha-Jacke, Picaldi-Hosen, Air Max, Solariumbräune und Boxerschnitt, der sich offen zu Deutschrap bekannte, sich täglich in der Mensa mit Currywurst und Pommes vollfraß und in jedem freien Block mit dem Bus zum McFit Lichterfelde fuhr, stellte für meine neuen Universitäts-Bekanntschaften ein absolutes Kuriosum dar. Auf einer Party in unserem Studentenwohnheim zum Beispiel kam ich vom Klo wieder und ein langhaariger Typ hatte sich einfach auf meinen Platz gesetzt, vor ihm stand sogar noch mein angetrunkenes Bier. Auf den Hinweis, dass er auf meinem Platz sitzen würde, reagierte er nur mit Belustigung, da würde doch nicht mein Name drauf stehen, die Stühle seien doch für alle da, was, wenn er sitzen bleibe, ob ich ihn dann etwa schlagen wolle? Ich stand und kochte und bebte und hatte plötzlich alle Blicke im Raum auf mir. Um ehrlich zu sein, wollte ich dem Typen wirklich die süffisante Fresse eindreschen, mir meinen Platz wiederholen und dafür sorgen, dass sich das hier niemals wieder jemand traute. So hatte ich es gelernt, so kam man in meiner Jugend gut durchs Leben. Hier aber wollte das irgendwie so gar nicht hinpassen, amüsiert und erschrocken reagierten die versammelten Studenten, was ich denn für einer sei, wo ich denn bitte herkäme? Am schlimmsten schmerzte es immer, wenn ich wirklich einmal anhob, um ihnen genau das zu erzählen, von den ostdeutschen Nullerjahren, von Drogen und Gewalterfahrungen, von Perspektivlosigkeit: »An der Ostsee? Da habe ich doch letztens erst Urlaub gemacht«, oder auch: »Ja, ja, jetzt wollt ihr Ossis auch mal Gangster sein!« Hier gab es keine gemeinsame Sprache. Ich ließ mein halbes Bier auf dem Tisch zurück, holte mir ein neues und machte wenig später einen polnischen Abgang. Alles Opfer hier.

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING

I CAN’T STOP RAVING[3]

Laster ist weg, Bahn ist frei, GAS GAS GAS, blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen, blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen. Wir passieren das Dreieck Wittstock (Dosse), die Autobahn spaltet sich in die Richtungen Hamburg und Rostock auf, jetzt wird es schlagartig leerer, jetzt sind nur noch die Echten auf der Straße, jetzt sind wir schon gleich da. Ganz intuitiv und von den anderen unbemerkt stelle ich den Song auf Repeat und die Musik am Lenkrad wieder lauter.

 

Das Studium an der FU habe ich wenig später abgebrochen, ein anderes abgeschlossen, über die Jahre Schritt für Schritt mein anfängliches Fremdeln abgelegt und die Großstadt aufgesogen: Erster Mai in Kreuzberg, Fête de la Musique im Mauerpark, Technopartys in der Brache oder im besetzten Haus, Schnaps klauen auf WG-Partys, kotzen im beschmierten Kneipenklo, schlafen im Uni-Seminar, arbeiten als Callcenter-Agent, als Einlasskontrolle im Olympiastadion und in der Max-Schmeling-Halle, als Kellner im Ritz Carlton und Adlon, ausgedehnte Spaziergänge im Grunewald, schlurfen durch lange Museumsflure, Currywurst, Grill Royal, Musikszenepartys im Prince Charles, rumstehen auf Rapkonzerten, eigene Rapgruppe gründen, Rapkonzerte geben, erst kleine, dann immer größere. Tausende Moden habe ich kommen und gehen sehen: knallenge Hosen, bunte Tätowierungen, lange Bärte, Hornbrillen, ironische Streetwear und Bad-Taste-Kleidungsstücke, Bomberjacke, High Fashion. Bald hatte ich die Stadt so gut es ging durchdrungen, hatte hier gute Freunde und zu jeder Ecke eine Geschichte, ich fühlte mich zu Hause, war angekommen, ein echter Großstädter. Viel zu einfach hatte sich meine Herkunft hier verdrängen lassen.

Dann kam 2015 und die sogenannte Flüchtlingskrise. Rechtspopulisten feierten im Osten die ersten Erfolge, Wohnheime wurden angegriffen, Facebook mit Hass geflutet. Es brach sich etwas Bahn, das hatte ich überhaupt nicht kommen sehen, das tat richtig weh. Als dann in meiner westdeutsch und links geprägten Bubble stündlich eine neue Grafik, ein neues Meme, ein vernichtender Spruch ausgepackt und in öffentlich-rechtlichen Satiremagazinen die ganze Region abgeurteilt wurde, da zwickte und juckte es mich plötzlich am ganzen Körper, erst ganz unmerklich, dann immer stärker. Als es plötzlich hieß, der Osten solle sich doch endlich mal zusammenreißen, ansonsten könne man auch gerne die Mauer wieder hochziehen oder gleich ’ne Bombe draufhauen, diese ganzen hässlichen arbeitslosen Hinterwäldler hätte man eh niemals aufnehmen sollen, da fühlte ich mich plötzlich mitgemeint, fühlte mich fremd und ausgesondert und hatte das Bedürfnis, mich schützend vor meine ehemalige Heimat zu stellen. Da bekam meine schöne urbane Wunderwelt mächtige Risse, da war ich verwirrt, gekränkt und gleichzeitig beschämt, denn das, was dort passierte, das fand ich ja selber auch furchtbar, das machte mir Angst und es erinnerte mich an etwas, das ich doch so fein säuberlich vergraben hatte, etwas, das in den Untiefen meiner Hirnwindungen und Eingeweide ungeduldig auf seine Bearbeitung wartete.

COME AND TAKE A TRIP WITH ME

TO A LAND WHERE LOVE IS FREE

FOLLOW ME INTO THE LIGHT

EVERYTHING’S GONNA BE ALRIGHT![4]

Plötzlich merke ich, dass ich meine Spucke nicht mehr richtig herunterbekomme. Beinahe hätte ich mich verschluckt. Irgendwas schnürt mir die Kehle zu. Ich nehme die Wasserflasche aus dem Fach in der Tür, spüle herunter und lass sie aufgedreht zwischen meinen Beinen stehen. Überholen, überholen, überholen, überholen, überholen, überholen, überholen. Bloß endlich ankommen!

Die Zeit und die Strecke verfliegen, »MV tut gut« und »Willkommen im Land zum Leben«, kaum registriert hab ich das Imageplakat an der Landesgrenze, jetzt kommt schon gleich die Ausfahrt Kavelstorf. Irgendwo hier war ich als kleiner Stöpsel mal im Ferienlager, kurz bevor ich aufs Gymnasium gekommen bin, auch das ist einfach schon zweiundzwanzig Jahre her. Es fühlt sich an, als hätt ich schon zwei voneinander abgetrennte Leben gelebt.

 

»Zugezogen Maskulin«, auch der Name meiner Rapgruppe weist zurück auf frühere Gruppen der Rapper Kool Savas & Taktloss, sowie Fler & Silla. »Westberlin Maskulin«, »Südberlin Maskulin«, meine alten Helden. Während wir Alben rausbrachten, als Feuilleton-Lieblinge beklatscht und verschrien wurden und in den Charts stiegen, ließ mich das Thema Ostdeutschland nicht mehr los, ich fiel in ein Rabbithole, aus dem ich bis heute nicht mehr herausgekommen bin. Ich wühlte mich durch die Wende, die ostdeutschen 90er-Jahre, durch meine eigenen Kindheitserfahrungen, wühlte mich durch die DDR, die späte, die frühe, und immer wenn ich glaubte, einen Raum durchgearbeitet zu haben, fand ich dahinter einen ganz neuen Flur. Diese Geschichte füllt ganze Gebäude, nein, ganze Städte. Ich wühlte mich in die Sowjetunion zu Stalin, Lenin, dann zurück zu Hitler, noch weiter nach Preußen und dann den ganzen Weg wieder vor, in meine eigene Jugend, in meine nordostdeutschen Nullerjahre. Bald war mir klar geworden, dass es wohl gar nicht normal war, dass zum Beispiel rundum alle mal arbeitslos waren, dass Rechtsradikale den Ton angaben, dass niemand die Polizei rief, wenn was war. Dass ich und viele andere Kinder meiner Generation in eine Ausnahmesituation hineingeboren wurden, mit Erfahrungen aufwuchsen, die sich doch von denen der allermeisten westdeutschen Altersgenossen unterschieden. Viel, viel zu lange bestand die Erzählung, dass es in unseren Jahrgängen zwischen Wessis und Ossis ja keine Unterschiede mehr gebe, dass jemand, der 1988 geboren ist, sich unmöglich noch »ostdeutsch« fühlen könne, einfach nur, weil, genau wie ich, kaum einer offen darüber sprach.

Überall begegnete mir das Thema nun, unter anderem auch bei einem Höhepunkt meiner Karriere, dem Auftritt am Brandenburger Tor zu den »30 Jahre Mauerfall«-Feierlichkeiten. Wir performten den satirischen Antikriegsong »Endlich wieder Krieg« und schossen dicke Rauchstrahlen aus unseren Gewehren, bis die Bühne nur noch ein weißer Ball aus Nebel war. Im Publikum saßen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, Fernsehkameras aus aller Welt fingen das Spektakel ein und aus den Kehlen der 60.000 Gäste erhob sich ein lautes »Buh«-Geschrei, es war das tollste Gefühl auf Erden. Die Republik war inzwischen schon ein paar Schritte weiter, man bemühte sich darum, kein stumpfes Abgefeiere mehr zu liefern, sondern im Rahmen des Jubiläums kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, vor allem ostdeutsche. Mittlerweile war auch in der Breite klar geworden, dass im Osten Verstimmtheiten bestehen, die sich nicht lösen lassen, indem man nur immer wieder feststellt, dass es mit dem Thema doch jetzt mal gut sei. Mittlerweile war mir klar geworden, dass es einen riesigen Diskursstau gibt und man, um gemeinsam vorwärtszukommen, endlich miteinander ins Gespräch kommen muss. Und dass man dafür die eigenen Geschichten erzählen muss.

Ich zum Beispiel komme aus dem Osten, und zwar nicht Friedrichshain oder Prenzlauer Berg, nicht Potsdam oder Connewitz. Nein, ein anderer Osten, ganz am Rande von Deutschland, wo man zu DDR-Zeiten nicht mal mehr Westfernsehen empfangen konnte, das Tal der Ahnungslosen in Vorpommern. Ich komme aus der wunderschönen Hansestadt Stralsund, dem Durchschnittsdeutschen nur von den tollen Urlauben bekannt, die man hier machen kann, Meeresmuseum, Ozeaneum, Weltkulturerbe, Backsteingotik, Störtebeker, Wallenstein, Fischbrötchen, Hafenrundfahrt. Die wenigsten Touristen verirren sich wohl in mein altes Viertel Knieper West, zwischen dessen Blöcken, einst gebaut für über zwanzigtausend DDR-Bürger, ich aufgewachsen bin.

In Ostdeutschland spielt meine Geschichte und die meiner Vorfahren, hier hat die DDR mich noch 1988 in Leipzig auf ihrem Sterbebett auf die Welt geworfen, während draußen die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche schon stetig mehr Besucher anlockten. Hier bin ich in einer Umbruchgesellschaft groß geworden, in einer Zeit, die den neuen Bundesländern und den neuen Bürgern einiges abverlangte, zerrieben im Chaos der kollidierenden Systeme, mit all seinen Verwüstungen und Verwerfungen: Kalte mahlende Transformationsprozesse, luftleerer Raum, anomische Zustände, rechte Gewalt, Deindustrialisierung, leer stehende Fabrikhallen, Grasbewuchs auf rostigen Schienen, ausgepackte Ellbogen, Vereinzelung, soziale Entmischung, Drogenschwemme, Diktaturprägungen, Politikverdrossenheit, Resignation, Geburtenknick, Gangsterrap, ausblutende Landstriche, Massenarbeitslosigkeit, Abwertung, Abstieg, Scham, Schuld, Schweigen, Schweigen, Schweigen.

JUST TO GO AND TAKE MY HAND

I WILL SHOW YOU PROMISED LAND

STAY WITH ME IN PARADISE

SO OUR FUTURE CAN BE NICE[5]

»Wow, Julian, schau doch mal wie schöön! Warum wohnen wir nicht hier?« Anastasia zückt ihr Handy und fängt an, die Landschaft zu fotografieren. Links und rechts endlose flache saftig grüne Felder, überspannt von strahlend tiefblauem Himmel, es erinnert an das berühmte Windows-Hintergrundbild, wären da nicht die riesigen weißen Windkraftanlagen, die auf jedes freie Stück Erde gepflanzt wurden. Immer mehr und mehr werden es, ganze Armeen davon, bald schon wird es mehr Windräder als Einwohner in Brandenburg und MV geben. Während im Westen heute mehr Menschen leben als je zuvor, sind es im Osten so viele wie zuletzt 1905.

Als ich von meinem Wochenendplan berichtete, war mein Freund Julian sofort Feuer und Flamme, wollte unbedingt mitkommen. Malerische Natur, abschalten, baden, sonnen, spazieren, grillen, trinken mit netten Leuten im idyllischen Mecklenburg-Vorpommern, Großstadt mal Großstadt sein lassen, das klang wohl so verführerisch, dass sich sogar seine Freundin Anastasia kurzerhand anschloss. Die Bilder von der Party, die Sven und die anderen gestern schon bei Facebook gepostet haben, hab ich meinen Begleitern mal lieber nicht gezeigt. Die Schluckbeschwerden werden jetzt langsam schlimmer, mittlerweile bekomme ich auch mein Mineralwasser nicht mehr herunter, muss es in die Flasche zurückspucken, ich wünschte, wir wären jetzt einfach da.

 

Es ist 2021 und nach wie vor strampelt etwas in mir, das ich in all meinen Häutungen nicht einfach abstreifen konnte, das ungeduldig auf seine Bearbeitung wartet. Aber was genau eigentlich? Hinter den Erinnerungen an endlose Strandtage, Meeresluft, Waldspaziergänge, an Kindergeburtstage, Störtebekerfestspiele, die prächtige Altstadt, an Bootsfahrten, Urlaube, Softeisessen, Sonnencreme, Fischteller, Kreidefelsen, da liegt noch ein anderer Teil meiner Jugend vergraben. Ein Teil, von dem ich irgendwann nicht mehr sprechen wollte und nach dem niemand je ernsthaft gefragt hat, ein anderer Hendrik, ein dunkler Fleck, verscharrt, kaschiert, überschminkt. Ein Ort, an dem Schneeregen an ungeputzte Fenster prasselt, taube Gesichter ins Leere starren, scharfe Worte sich in die Seele brennen, höhnisches Lachen erklingt. Ein Ort mit überquellenden Aschenbechern, dem Klingeln leerer Bierflaschen, wo eine Bong umkippt und Schmandwasser in den Teppich sickert. Ein Ort mit Chemiegeschmack im Rachen, harten Fäusten, die in wehrlose Körper krachen, kaputt gekloppten, beschmierten Spielplätzen, Blut auf Gummiboden, stumpfen Kinderaugen, Knochenknacken, OP-Licht. Mit Scheißegeruch von den umliegenden Feldern, pastellgepinselten Plattenbauten, Bomberjacken, Möwengeschrei, Hafenglocken, Sprottenköpfen, Donnergrollen, Sturmflut, Filmriss.

»Ich fahr die Nächste raus, muss pinkeln«, in meinem Kopf schallt meine Stimme doppelt.

 

Es ist 2021, 31 Jahre nach der Wiedervereinigung, dreizehn Jahre nach meinem Umzug von Stralsund nach Westberlin. Es ist 2021 und nach wie vor strampelt etwas in mir, das ich doch so fein säuberlich vergraben hatte, etwas, das ich in all meinen Häutungen nicht einfach abstreifen konnte, was ungeduldig auf seine Bearbeitung wartet. Es ist 2021 und ostdeutsche Geschichten sind für mich das Spannendste auf der Welt.

 

Hier ist meine.

Inhaltsverzeichnis

TEIL EINS

GAMEBOY

Ich muss kacken wie Sau, die Scheiße drückt, der Magen krampft, doch unsere Herberge ist zugesperrt und kein Erzieher in Sicht. Beschissene Schnitzeljagd, beschissenes Ferienlager, wo sind denn alle plötzlich? Okay, dann halt so wie früher am Strand hinter den Dünen: Busch suchen, Loch graben, Hose runter, reinkacken, abwischen … abwischen … abwischen … abwischen … Mist, ich hab ja gar nichts zum Abwischen! Kein Taschentuch dabei und rings um mich nur Kiefernnadeln und winzige Buschblätter. Ich muss also doch auf eine richtige Toilette, muss irgendwie in unsere Räume kommen, ziehe die Hose auf halbmast, schiebe mit den Sandalen die ausgegrabene Erde über meine stolze Wurst und schlurfe durch die Büsche Richtung Gebäude. Ein Fenster zu unserem Zimmer steht auf Kipp, ich kann es an den Seiten aushaken und mich durchquetschen, Kopf und Oberkörper sind schon drin, Puller und blanker, braun verschmierter Arsch noch an der Luft. Zum Glück niemand in Sicht.

Es quietscht, es schmerzt, ich ächze, kämpfe, der Hintern ist durch und wenig später stehe ich im Zimmer. Ein vollgemüllter Tisch, vier Stühle, zwei Schränke und zwei Doppelstockbetten.

Patsch, patsch, patsch.

Mit Sandaletten auf dem klebrigen Linoleum quer durchs Zimmer Richtung Flurtür.

Da oben im Bett über mir schläft mein bester Freund Tino, der wohnt auch in Knieper West, den kenn ich seit dem Kindergarten, wahrscheinlich schon seit der Krippe. In meiner Erinnerung seh ich einen großen Raum gefüllt mit weißen Gitterbetten und bin sicher, er hat schon damals neben mir gepennt. Auch auf der Grundschule Rosa Luxemburg waren wir in einer Klasse und in ein paar Wochen wechseln wir auf das Gymnasium bei uns im Viertel. Tino ist cool, frech und stark, hat immer die richtigen Sprüche parat und prügelt sich mindestens genauso oft und gut wie ich. Schlau ist er außerdem auch, sein Zeugnis aus der Vierten ist wie meins voller Einsen, dafür mussten wir gar nicht lernen, das geht einfach so und umso mehr Zeit haben wir zum Draußen-Rumhängen: Fußball spielen, klauen, Chips futtern und Cola trinken. Mit Tino hab ich mir meine erste Kippe geteilt, Tino zieht auch schon Gas und trinkt Bier, aber man muss ja auch nicht alles nachmachen.

Im anderen Doppelstockbett pennen ein Rostocker und ein Neubrandenburger. Der Rostocker ist schon vierzehn, hat die ganze Tasche voller Koffeintabletten und Bravos, liest ständig die Dr.-Sommer-Fragen vor, zeigt uns die nackten Titten und Muschis und erklärt, wie man richtig wichst. Allgemein ist der komisch, sieht komisch aus: weite Jeans, die immer unterm Arsch hängen, lange Shirts und breite ausgelatschte Turnschuhe, mit ganz dicken roten Schnürsenkeln. Mit Abstand hat er auch die längsten Haare von uns allen, da würd ich gern mal mit der Haarschneidemaschine ran, die fallen ihm auf die Schulter wie ein fussliger Teppich, richtige Mädchenfrisur. Noch nie hab ich so einen Typen in echt gesehen, ganz verrückt sieht der aus, wie jemand auf MTV oder VIVA. So spannend wie Dr. Sommer aus Rostock ist, so langweilig ist der Neubrandenburger. Wenn die fette Sau nicht vor Heimweh flennt, hockt er allein im Zimmer und zockt Donkey Kong auf dem Gameboy. Lehrer und Erzieher wollen einem immer erzählen, dass man sich nicht ständig gegenseitig ärgern und prügeln muss, dass man Kindern, die man nicht mag, doch auch einfach aus dem Weg gehen kann.

Kann ich aber nicht.

Patsch, patsch, patsch.

Am Fußende von Donkey Kongs Bett liegt eine Reisetasche, aus der seine selbst gebastelte Piratenflagge hängt, die mussten wir gestern zusammen mit den Erziehern für die Piratenschatzsuche basteln. Erst haben wir Kopftücher und Augenklappen bekommen, dann sollten wir einen passenden Ast suchen, dann den Stoff befestigen und bemalen. Schon die dummen gekreuzten Knochen hab ich nicht hinbekommen, dann vor Wut einmal alles vollgeschmiert, Kopfhörer rein und die Onkelz-Kassette angeschmissen. »… GEHASST, VERDAMMT, VERGÖTTERT, WIR WAREN NIE IM KIRCHENCHOR …[6]« Dr. Sommer aus Rostock hat einen Puller mit Eiern auf seine Fahne gemalt und wurde ausgeschimpft, bei Tino war wie immer alles krumm und schief, dann hat er einfach eine Hand bemalt und als Zeichen draufgedrückt – fertig! Am Schluss landeten alle drei Arbeiten direkt im Müll. Nur Donkey Kong gab sich richtig Mühe, hat sich einen wirklich geraden Ast gesucht, stundenlang an seinem Werk getüftelt und der Erzieherin schließlich eine perfekte Piratenflagge mit Totenkopf und Knochen präsentiert: »Hab ich toll gemacht, oder?!« Wie soll man so jemanden nicht hassen?

Aua, aua, aua, ich hab das Gefühl, die Kacke trocknet mir im Gehen am Arsch fest, aber gleich ist es geschafft. Ich erreiche die Flurtür, haue auf die Klinke, schiebe an der Tür – abgeschlossen. Na super. Ich komme nicht aus dem Zimmer, komme nicht in den Flur, komme nicht zu den Toiletten. Scheiße, was mach ich denn jetzt. Ich wühle in meiner Reisetasche – keine Tempos. Wühle auf dem Tisch – klebrige Bravos und Gameboy; schaue unters Bett – Staubflocken; schaue in die Schränke – Koffeintabletten und Kleidung. Nirgendwo etwas zum Abwischen. Ich fange an zu schwitzen, mir wird kalt und warm. Ich seh mich schon, wie ich den Arsch trocknen lasse, Hose hochziehe und zu den anderen stapfe. Blick auf den Boden, gebeugter Gang, Stinkwolke. »Kackemann« würd ich mich taufen, wenn ich die wäre. Dann ist das Ferienlager gelaufen, dann fahr ich nach Hause.

Oh man, oh man, oh man.

Ich lege mich zum Nachdenken mit dem Bauch auf den Linoleum-Boden, die Zeit rennt, von der Hitze wird mir gleich der Arsch knusprig gebacken. Da bläst ein Windstoß durchs geöffnete Fenster, die vergilbten Gardinen tanzen und ein Sonnenstrahl fällt auf die Piratenfahne.

Ich wische mir den Arsch ganz in Ruhe schön sauber und stecke die Fahne dann so zurück an Donkey Kongs Tasche, dass man ihr erst mal nichts ansieht. Ich bin schon halb durchs Fenster zurück nach draußen, da habe ich noch einen anderen genialen Einfall. Ich klettere schnell noch mal zurück ins Zimmer, nehme seinen dummen Gameboy und lösche alle Spielstände.

 

Ferienlager bildeten in der DDR eine feste Säule des Kindersozialtourismus: Zeltlager oder Bungalowsiedlungen, unterhalten von den Betrieben der Eltern, die hier für zwölf bis zwanzig Mark inklusive An- und Abreise, Unterkunft, Betreuung, Verpflegung für zwei Wochen ihre Kinder abgeben konnten, waren im ganzen Land zu finden und wurden rege genutzt, im Jahr 1989 waren es fünftausend Stück mit jährlich Hunderttausenden unter fünfzehnjährigen Gästen. Unsere Eltern hatten wohl etwas mehr zahlen müssen und es gab keinerlei politischen Anstrich mehr, ansonsten rösteten aber auch wir Stockbrot überm Lagerfeuer, feierten Neptunfest, Kinderdisco und spielten Tischtennis an ähnlichen Orten wie sie früher.

Eigentlich gehörte seit jeher auch eine große Nachtwanderung zum Ferienlagerkanon, laut Erziehern war sie dieses Mal allerdings nicht möglich, im letzten Jahr wären dort einige schlimme Dinge passiert, auf Nachfrage gab man sich nebulös.

 

Nachtruhe, Schlafenszeit, ich langweile mich zu Tode. In das leise Schluchzen vom Nachbarbett mischen sich die Schnarcher von Dr. Sommer und Tino, ich wälze mich hin und her. Die pennen einfach schon, die denken sich gar nichts dabei, ich fühl mich wie im Kindergarten beim Mittagsschlaf, langweilig, langweilig, langweilig. Mir fällt ein, was ich in den letzten Tagen über Selbstbefriedigung gelernt hab: Einfach immer wieder die Haut am Puller hoch- und runterschieben, dann hat man irgendwann einen Orgasmus und einen Samenerguss, richtig gut soll sich das anfühlen. Bei Donkey Kong wird immer noch geflennt, das ist echt der letzte Loser. Ich greif mir in die Unterhose, fasse meinen Puller, schrubbe und schrubbe, er wird hart und steif, aber weiter passiert nichts. Als der Idiot den Gameboy vorhin das erste Mal wieder angemacht hat, war ich dabei, da hat er direkt rote Backen und feuchte Augen bekommen, aber so getan, als wär nichts, da hab ich laut ins Kissen gelacht. Das Ding mit der Piratenflagge hat den ganzen Tag keiner gemerkt, darum hab ich’s nach dem Zähneputzen mit »Alter, was stinkt hier eigentlich so???«, selber angesprochen. Tino hat sofort mitgemacht: »Donkey Kong hat eingeschissen!«, »Donkey Kong, du Wildsau!«. Als Tino dann gemerkt hat, dass der Gestank von der Piratenfahne kommt und da Kacke dranhängt, hat er sie aus der Tasche gerissen und Donkey Kong vor der Nase rumgewedelt. Dann flog sie aus dem Fenster.

Ich muss schon wieder so lachen, wenn ich dran denke, dabei will ich doch eigentlich wichsen. Schrubben, schrubben, schrubben, ich guck in die Hose, da ist immer noch nichts passiert, aber so kann das ja auch nichts werden. Ich schließe die Augen, versuche mir jetzt die Mädchen in meiner neuen Klasse vorzustellen, auf meiner neuen Schule, Mädchen, die bestimmt schon richtig geschminkt sind und schon richtige Brüste haben und Tangas tragen, wie Tinos Cousine Caro. Ich schrubbe, schrubbe, schrubbe, stell mir vor, wie wir auf dem Schulhof rumknutschen, schrubbe, schrubbe, schrubbe, nichts passiert.

Schrubbe, schrubbe, schrubbe.

Schrubbe …

 

BUMBUMBUMBUMBUM

BUMBUMBUMBUMBUM

BUMBUMBUMBUMBUM

Ich werd aus dem Schlaf gerissen von furchtbarem Lärm, drei ältere Jungs aus dem Nachbarzimmer springen wild durch unseren Raum, hämmern gegen die Schranktüren und wackeln an den Betten.

»JA GRÜÜÜÜÜÜÜSST MIR DOCH MAL DEN LIEBEN FÜHRER! ALLE ECHTEN ARIER: AUFSTEHEN!!«

Die sind so alt wie Dr. Sommer, immer zu dritt, immer frech grinsend, Haare abrasiert, Turnschuhe, kurze Hose, auf der breiten Brust steht zweimal »Lonsdale« und einmal »Alpha«, so kenn ich’s von zu Hause, so sehen coole Jugendliche aus. Mit denen wird’s schnell gefährlich, wenn man die nicht kennt, hält man sich besser fern. Die Gruppe hier war bis jetzt ganz ruhig, keine Hitlergrüße, keine Bomberjacken, keine Bierflaschen, keine Prügel, keine Springerstiefel, keine weißen Schnürsenkel, nur Ausländer- und Hitlerwitze machen sie am laufenden Band. Vor ein paar Wochen ist mal wieder ein Junge bei uns im Viertel von solchen Typen krankenhausreif geschlagen worden, weil er braune Augen hatte. Caro hat dazu nur gesagt: »Tja, Pech, so sehen eben Türken aus.« Dann hat sie wieder geschwärmt von großen Aufmärschen, von Hunderten, ja, Tausenden Glatzen in Bomberjacken, von Massenschlägereien, von breiten Schultern, dicken Armen, stolzen Tätowierungen, von blutigen Baseballschlägern, Schlagstöcken, Messern, Schusswaffen, aufgebrochenen Schädeln, brennenden Obdachlosen. Zum Finale hat sie uns noch mal den Bordsteinkick erklärt: Das Opfer beißt auf den Rand eines Gehweges, dann tritt man ihm mit aller Kraft von hinten in den Nacken, sodass der Kiefer bricht oder wenigstens ein paar Zähne fliegen, da haben ihre Augen richtig geleuchtet.

»ES BRENNT, ES BRENNT! AUFSTEHEN JETZT! ES BRENNT! ALLE RAUS, SOFORT!!!!«

Viertel drei, lese ich durch meine verklebten Augenlider auf der Armbanduhr, jetzt fällt mir auch auf, dass alles voll ist mit dichtem weißem Rauch, in dicken Schwaden zieht er aus dem Flur ins Zimmer.

»BÄHH HIER STINKT’S NACH ZECKE!!!«, ruft einer der Nazis, ob man wohl immer noch die Kacke riecht? Sein Kumpel fasst sich an den Hals, verdreht die Augen und rollt sich röchelnd auf dem Boden: »HILFE, HILFE, SCHNELL AUFSTEHEN, SONST WERDEN WIR ALLE VERGAST!!!!« Alle lachen, außer Dr. Sommer.

»HÄ HÄ HÄÄÄ! SCHEISS FASCHOS!!!«

»SCHNAUZE, ZECKE!!!«, der dritte zieht Donkey Kong das vollgeheulte Kissen unterm Kopf weg und wirft es grinsend in die Richtung des Rostockers.

 

Von Anfang an hatte ich die Diskussionen zwischen Dr. Sommer und den drei jungen Rechtsextremen beobachtet und mich gefragt, warum dieser seltsame Junge denn ihre Witze und Lieder nicht lustig fand, warum er so komisch aussah, warum er so mutig war und sich mit ihnen anlegte. Beim Tischtennis fing ich ihn dann ab und fragte, was es mit dem Begriff »Zecke« und mit diesem ganzen Gebaren auf sich hatte, und erfuhr zum ersten Mal in meinem nun elfjährigen Leben, dass es nicht nur »Rechte« gab, sondern auch ihr Gegenstück, sogenannte »Linke«. Das wären im Prinzip diejenigen, die nichts gegen Ausländer hätten, und man würde sie vor allem an der Farbe rot erkennen: rote Sterne, rote T-Shirts, rote Schnürsenkel, ein A in einem Kreis für »Anarchie« und ein eingekreistes N, an dessen Spitze ein Pfeil nach außen zeigte für »Nazis raus!«. Ich staunte nicht schlecht, das klang wie ausgedacht, wie aus einem Rollenspiel, wie bei Fallout oder Baldurs Gate. Eine kleine, heldenhafte Fraktion mit eigenen Codes, eigener Ausrüstung und einem schicksalhaften Auftrag: zusammenhalten, die Schwachen beschützen und sich den barbarischen Orkhorden entgegenstellen!

 

»Was war Hitlers Lieblingswetter? – Bombenwetter.«

»Was sind neunzig Juden in einer Ecke? – Toter Winkel.«

 

Unsere Gruppe schleicht im Mondschein über einen Feldweg, die drei Nazis flüstern sich kichernd Witze zu, ansonsten ist alles ruhig. Im Hauptgebäude brennt es, die Feuerwehr ist unterwegs, und wir müssen solange in eine Unterkunft ins Nachbardorf ziehen, haben die Erzieher gesagt, jeder sollte nur die Klamotten mitnehmen, die er am Körper trägt, und damit niemand verloren geht, wurden wir in Gruppen aufgeteilt. Ich bin gleichzeitig verschlafen und aufgedreht, trage nur T-Shirt, Unterhose und Badelatschen, die meisten anderen auch. Ganz vorne läuft unser Erzieher Wolfgang mit der Taschenlampe, alle Jungs außer Dr. Sommer wollten zu ihm in die Gruppe, der ist auch rechts. Auf seinem Kopf hat er keine Haare, nicht mal Stoppeln, da ist nur eine glänzende Glatze und auch bei vierzig Grad im Schatten zieht er die Bomberjacke nicht aus. Nur einmal, beim Neptunfest, wo er den Gott des Meeres gespielt hat, sah man Wolfgang mit freiem Oberkörper. Ein kleiner Bierbauch, aber sonst total durchtrainiert und zugehackt mit krassen Tätowierungen, Adler, Runen, Soldaten, Schiffe, Wikinger, mehr schlecht als recht mit grüner und blauer Farbe verdeckt. Wie ein Actionheld sah er aus, wie ein Krieger aus einem Fantasy-Roman, kein schlurfender Student wie die anderen Erzieher, ich war schon wieder total beeindruckt.

»Psschhht!!«, Wolfgang mahnt noch mal zur Ruhe, wir gehen durch ein kleines Dorf, vorbei an dunklen Häusern mit grauem Putz und schlafenden Bewohnern, finster starren uns die schwarzen Fenster an. »Warnung vor dem Hunde!«, »Hier wache ich!«. Mein Atem wird ganz flach, ich glaub, ich hab Angst, ganz ganz leise klatschen meine Badelatschen auf dem Asphalt, ich bemühe mich, noch leiser zu sein, niemanden zu wecken.

»RRRRRRIIIING RRRRRIIIIING RIIIIIIIIIIIIIIIING!!!!!!« Plötzlich flackerndes Licht und aus einer offenen Garage springt eine dunkel gekleidete Gestalt mit einer riesigen Motorsäge. Oh Gott, was ist das für ein kranker Scheiß, gleich kack ich mir ein, gleich fall ich um. Er kommt auf uns zu, die weiße Schutzmaske strahlt im Mondlicht, auch Tino und Donkey Kong starren schweigend mit großen Augen, die Älteren lachen und gehen einfach vorbei.

»Kommt, weiter!«, befiehlt Wolfgang von vorne und wir legen einen Zahn zu. Wieso reagiert er nicht? Wieso ballert er dem nicht eine? Ich beeile mich hinterherzukommen, drehe mich immer wieder hektisch um, der Typ ist am Ende seine Auffahrt stehen geblieben und reckt die Motorsäge in die Luft. Soll das etwa die Nachtwanderung sein?

 

»Hey, hört auf mit diesen Witzen, mein Großvater ist im KZ gestorben.«

»Was? Wurde er vergast?«

»Nee, ist besoffen vom Wachturm gefallen.«

 

Tino und ich kennen von Caro und ihren Freunden jede Antwort, aber ich hab jetzt keine Lust zu reden. Mein Kumpel scheint sich aber schon wieder beruhigt zu haben: »Er ist ein Mohr, ein Mohr, ein Mohr und muss verschwinden …«, stimmt er leise an, die Nazis drehen sich sofort um und er grinst breit über beide Ohren.

»Guck dir mal den Lütten an, der ist ja echt der Allergeils-te!«, wie schafft der das nur immer wieder.

»BUH!«, ehe ich noch zu lange drüber nachdenken kann, stößt mich jemand fest von hinten, beinahe falle ich vornüber. Eine Gestalt mit Kapuze flüchtet in die Dunkelheit, ich glaub, das ist zu viel für mich.

»BÄÄÄÄHHH, WAS IST DAS DENN?«, schreit da schon Tino, alle heben abwehrend die Arme, jemand bewirft die Gruppe mit klebrigem Glibber, es scheint aus einem der Gärten zu kommen. Ein Brocken klatscht mir auf die Schulter, ein Stück landet zwischen den nackten Zehen.

»Ey, Schnauze da hinten! Reißt euch gefälligst am Riemen!«, zischt einer der Nazis. Okay, das ist ganz klar die Nachtwanderung, aber anders als alle, bei denen ich vorher war, macht diese hier mir wirklich Angst. In der Ferne bölkt ein großer Hund wie wahnsinnig, andere stimmen mit ein.

»GEHFEHLER!« Tino haut Donkey Kong von hinten den Hacken weg, sodass dieser stolpern muss, nicht mal daran hab ich noch Freude. Wie lang das wohl noch läuft, ich wünschte, ich wäre bei den Uncoolen, bei den schlurfenden Studenten oder bei einer Erzieherin in der Mädchengruppe, doch die sind außer Sichtweite, wahrscheinlich einen ganz anderen Weg gelaufen. Wenn nur wenigstens Dr. Sommer hier wäre.

»RECHTS, RECHTS, RECHTS! DER FÜHRER GING IMMER NACH RECHTS!«, grölen die drei Faschos, begeistert von ihrem eigenen Einfall, als unser Erzieher an einer Kreuzung fragt, welchen Weg wir wählen sollen, Tino haben sie in ihre Mitte genommen. Ganz allein bin ich jetzt hier.

 

»Was ist eine Mülltonne unter einer Straßenlaterne?«

»Türkendisco.«

»Warum klauen Russen immer zwei Autos?«

»Sie müssen auf dem Rückweg durch Polen.«

 

Tino beantwortet nun alle Witze, wir betreten einen Wald, das Blätterdach verschluckt den Sternenhimmel, jetzt gibt’s nur noch Dunkelheit, feuchte Erde, Bäume und Äste, wenn man nicht aufpasst, hat man einen im Gesicht. Schwarz, schwarz, schwarz, Stöcke knacken, Blätter rascheln, außer dem hektisch hüpfenden Licht von Wolfgangs Taschenlampe sehe ich nichts. Jetzt klappern mir die Zähne, ich bekomme sie nicht mehr zusammen und weiß nicht, ob vor Angst oder weil mir kalt ist.

Donkey Kong stößt einen spitzen hohen Schrei aus, ihm gegenüber steht die Gestalt mit der Kapuze, die mich vorhin angerempelt hat, jetzt seh ich sie deutlicher, eine gebeugte Person in Pennerklamotten mit langer Hexennase. Schon ist sie wieder weg.

»WENN DU SCHWUCHTEL NOCH EINMAL SO SCHREIST, BLEIBST DU HIER UND KANNST AUF DIE MÄDCHEN WARTEN!«, bellt einer der Nazis, die anderen lachen. Wenn die wüssten, wie viel Angst ich erst habe. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, aber sie haben natürlich recht, es ist ja nur eine Nachtwanderung, es ist ja total kindisch, hier Angst zu haben, Angst haben ist sowieso kindisch, ich muss mich zusammenreißen.

Die Gestalt rennt nun neben uns durch den Wald, kichert, stößt alle paar Minuten aus dem Dunkeln hervor und erschreckt einen von uns. Wolfgang marschiert, nach wie vor unbeeindruckt, vorneweg, lässt seinen Lichtstrahl gelangweilt über den Weg huschen. Totenköpfe, Spinnweben, verschiedener Gruselkram hängt an Bäumen und Steinen. Alles normal, alles nur Plastik, alles gut, alles nur ein Spiel, alles gleich vorbei, ruhig atmen, ruhig atmen. Knack, knack, knack, dunkel, kalt, feucht, egal, der schwule Donkey Kong hat noch viel mehr Angst als ich. Langsam schaff ich es, mich zu beruhigen, die Zähne hören auf zu klappern.

Da hör ich plötzlich lautes Fauchen und das Aufschreien der anderen Jungs, aus dem Nichts läuft die Gestalt mit der Hexennase von vorne durch unsere Gruppe und streift mich am Bauch. Ich mache vor Schreck einen Ausfallschritt und mein Badelatschen bleibt im Matsch stecken. Mein Fuß tastet in die vermutete Richtung, aber kein Latschen dort und nichts zu sehen. Mein Hals ist wie zugeschnürt, bloß nicht schreien, bloß keinen Anschiss riskieren, bloß nichts anmerken lassen, zusammenreißen! Die Gruppe zieht weiter, schnell suchen, schnell suchen und dann aufschließen. Ich taste hier – nichts. Taste da – nichts. Taste dort – nichts. Wolfgangs Taschenlampe entfernt sich langsam. Wo bin ich? Aus welcher Richtung sind wir gekommen? Scheiße, scheiße, scheiße, wo ist mein Latschen, hier muss er doch sein, suchen suchen suchen suchen suchen, ich muss hinterher, ich bekomm keine Luft mehr, immer hektischer wühle ich, aber nichts da, der Lichtschein verschwindet, jetzt werden sie auch mein Rufen nicht mehr hören, nur noch peinlich. Ich wühle, wühle, wühle, grabe Steine aus, feuchte Erde, graue Blätter.

Dann wird alles schwarz.

 

Dr. Sommer, der erste linke Jugendliche, den ich damals kennenlernte, kämpfte in unserem Ferienlager, symptomatisch für den Großteil der Linken im Nachwendeosten, auf verlorenem Posten. Er ganz allein, die Faschos zu dritt, hinter sich eine Heerschar an kleinen und großen Bewunderern. Mit Wolfgang hatten die jungen Neonazis ja sogar einen Unterstützer unter den Erziehern, der sie auch regelmäßig für besondere Aufgaben ins Vertrauen zog. Nach den Anschlägen in Hoyerswerda und Lichtenhagen hatte das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit für den Umgang mit ostdeutschen rechten Jugendlichen Hochkonjunktur und wurde zur Grundlage des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt der Bundesjugendministerin Angela Merkel. Kern des Konzepts war die Überzeugung, dass jugendliche Straftäter durch Empörung, Belehrung und Ausschluss nur noch weiter in die Rechtsradikalität getrieben würden. Stattdessen seien sie zuvorderst als hilfsbedürftige Modernisierungsverlierer zu begreifen, zu denen die Sozialarbeit mit niedrigschwelligen Angeboten eine Beziehung aufbauen sollte, ausdrücklich ohne sanktionierend auf rechtsextreme Einstellungen und Gewalttaten zu reagieren. In der Sozialarbeit, gerade nach dem Zusammenbruch der DDR, sollte es um die Probleme gehen, die die Jugendlichen selber hätten, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Vereinzelung, Werteverlust, und nicht um diejenigen, die sie machten. Alles in der Hoffnung, dass rechte Kameradschaften mit ihren Angeboten von Gemeinschaft und Aufwertung dann nicht mehr attraktiv wären. Berühmt geworden sind im Zuge dessen die Bilder von Angela Merkel im entspannten Gespräch mit jungen Neonazis, entstanden bei Besuchen von rechten Jugendclubs. Unter anderem war sie nach den Ausschreitungen von Lichtenhagen in Rostock und nach einem Neonazi-Überfall mit tödlichem Ausgang in Magdeburg.

Entgegen der hehren Ziele war die Folge des Programms, dass rechte Strukturen sich erst recht ungestört etablieren konnten, rechte Straftaten quasi mit Staatsgeldern und Aufmerksamkeit belohnt wurden, dass rechte Jugendliche die sozialen Einrichtungen, meist alte FDJ-Jugendclubs, komplett für sich besetzten und zum Beispiel für Rechtsrockpartys oder zum Drucken von NPD-Flyern nutzten. Ihre Opfer rückten derweil noch weiter an den gesellschaftlichen Rand, weshalb man sich bereits ab Ende der 90er offiziell von dem Konzept verabschiedete. Da hatten gereifte Neonazis jedoch längst die Möglichkeiten erkannt, die sich ihnen innerhalb der Sozialarbeit boten. Linkssein war out, war durch die DDR disqualifiziert. Die rechte Subkultur hingegen hatte unter uns ostdeutschen Kindern und Jugendlichen eine totale Normalisierung erfahren.

 

Knack! Knack! Raschel! Knack! Was ist das? Wildschweine? Hunde? Kettensägen? Messermörder? Wie lang wühle ich schon im Dunkeln allein im Matsch? Eine unförmige Gestalt schiebt sich durch die Blätter in meine Richtung. Jetzt ist es so weit. Jetzt geht’s zu Ende.

»Brauchst du Hilfe?«, durch die Tränen erkenne ich Donkey Kongs Gesicht.

»Mein Latschen ist weg, alle sind weg!«

»Weinst du?«

»QUATSCH!« Peinlich, peinlich, schnell die Backen trocken schrubben.

»Ist nicht schlimm. Danach geht’s besser.«

Jetzt bin ich also auf dem Level von diesem Loser, da freut der sich natürlich. Aufstehen, straffen, Tränen weg, der Matsch an meinem Handrücken verschmiert auf meinen Backen. Donkey Kong hockt sich hin, tastet ruhig den Boden ab und hält schon nach wenigen Sekunden strahlend meinen Latschen in die Höhe: »Suchst du den hier?«

GAS ZIEHEN

Psssssccccccchhht.

Tino lässt Feuerzeuggas in eine weiße Plastiktüte mit dem Schriftzug »Markant« strömen. Als der Supermarkt im Zentrum unseres Viertels am Frauentag 1969 unter dem Namen »Kaufhalle 8. März« eröffnet wurde, galt er als modernes Vorzeigeprojekt. Lebensmittel, Haushaltsgeräte, Drogerieartikel, Schreibwaren, Spielwaren, alles versammelt unter einem Dach, die größte und modernste Kaufhalle der drei DDR-Nordbezirke. Zuvor war hier auf der grünen Wiese das Neubaugebiet »Knieper West« errichtet worden, als Reaktion auf das Bevölkerungswachstum, das die florierenden Hafenanlagen bewirkten. Hunderte moderne Plattenbauten, 8200 Wohnungen mit Fernheizung und warmem Wasser, statt Ofenheizung und Toilette im Treppenhaus. Dazu Schulen, Kindergärten, und Kneipen mit Namen wie »Kameltränke«, »Tempel«, »Bierbar« und »Stadt Stralsund«. Hier wohnte der Ingenieur Tür an Tür mit dem Hausmeister, der Putzkraft und der Lehrerin, sozialistisches serielles Wohnen, ohne Segregation, für rund 25.000 Menschen, ein Musterbeispiel für gelungenen Städtebau, wer hier eine Wohnung ergatterte, der hatte es geschafft. Noch 1994 war fast jeder vierte Ostdeutsche Bewohner solch einer Großwohnsiedlung, im Westen nur jeder Sechzigste. Die Wohnungsnot in Stralsund war groß, fünftausend Ledige und Familien standen bereits auf der Warteliste, Knieper West war schnell gefüllt und die Kaufhalle 8. März ein Ort pulsierenden Lebens. In meiner Kindheit, wenige Jahrzehnte und einen Systemumbruch später, schoben sich nun hingegen vor allem beigefarbene Rentner durch die Gänge, die wir auf unseren Raubzügen mit Jackentaschen voll Diebesgut gekonnt umtänzelten. Manchmal räumte an den Regalen ein einsamer jugendlicher Skinhead in zu großem weißen Kittel Waren ein. Anscheinend hatte er das Pech, dass sich doch noch jemand um ihn kümmerte und zu dieser Lehre überredet hatte, und er nicht schon mittags mit seinen Freunden saufen konnte.

 

Nieselregen prasselt mir auf die Stoppelhaare. Tino pausiert, hält die oben mit der Hand verschlossene Tüte prüfend auf Kopfhöhe und wackelt ein wenig hin und her, sodass sich das flüssig gewordene Gas am Boden als kleine Pfütze sammelt. »Da muss noch mehr.«

 

Das pulsierende konsumierende Leben war vor Jahren weitergezogen in das große Einkaufszentrum ganz am Rande von Knieper West, hinten am Stadtwald, der sogenannte »Strelapark«. Lange hatten die Bürger nach der Wende noch darben müssen, aber dann kamen ab 95 doch endlich Schritt für Schritt Douglas, Intersport, Spielemax, Nanu-Nana, Media Markt und schlussendlich, mit etwas Verspätung, auch noch das Allerwichtigste, die absolute Krönung, das sympathische Familien-Restaurant zur goldenen Möwe: Stralsunds allererster McDonald’s.

Nur auf den seltenen Ausflügen an den Strand nach Warnemünde war ich vorher in den Genuss der magischen amerikanischen Cuisine gekommen. Jedes Mal war ich wie wild auf meinem Kindersitz hin- und hergerutscht, hatte die Umgebung gescannt, sobald wir auf die Rostocker Stadtautobahn gefahren waren, und vor Freude aufgeschrien, wenn ich das verheißungsvolle Logo erblickt hatte, Insignie meiner quietschbunten Cartoon-Fernsehwelt. Auf der Weiterfahrt genoss ich einige Minuten später das Feuerwerk der neuartigen Geschmäcker aus meiner Junior-Tüte und war glücklich wie nie, während auf der linken Seite der Block mit der großen Sonnenblume vorbeizog.

 

»Das reicht, man, willst du mich umbringen?« Ich reiße Tino die Einkaufstüte aus der Hand, führe sie ohne zu zögern an den Mund, inhaliere und inhaliere, die Tüte vor meinem Mund bläht sich auf und fällt wieder zusammen, bläht sich auf, fällt zusammen, bläht sich auf, fällt zusammen, mir wird kurz schwindlig und dann plötzlich wird mein Kopf angenehm kühl, mein Körper kribbelt und wird ganz leicht. Die anderen glotzen, staunen, weil ich so mutig bin, warten gespannt, was passiert. Ich fühl mich total wohl, nehme die Tüte vom Mund, lasse mich rückwärts auf die Tischtennisplatte sinken und träume mich in die dicke graue Fläche, die träge über unsere Blöcke fließt. Sie hängt so tief, wenn ich mich ganz ausstrecke, kann ich sie sicher berühren …

Und da ist es auch schon wieder vorbei.

 

Stralsund erfuhr eine klassische ostdeutsche Nachwende-Entwicklung: In den Jahren vor der Wende erreichte die