Oliver Sacks - Lawrence Weschler - E-Book

Oliver Sacks E-Book

Lawrence Weschler

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Beschreibung

Er war ein großartiger Arzt und ein begnadeter Erzähler: Mit seinen Fallgeschichten hat Oliver Sacks Millionen Lesern ein neues, anderes Bild von Krankheit vermittelt. Voller Empathie und mit großer Fachkenntnis hat Sacks immer wieder Menschen beschrieben, deren Leben durch eine schwere Krankheit oder Behinderung geprägt wurde – und die unser Interesse und Mitgefühl verdienen.    Schon 1981, als Sacks noch weitgehend unbekannt war, beschloss der Journalist Lawrence Weschler, die Biographie von Oliver Sacks zu schreiben. Er konnte ihn bei seiner täglichen Arbeit als Arzt erleben, begleitete ihn auf Reisen und führte zahlreiche intensive Gespräche mit ihm. Auf dieser Grundlage entstand eine sehr persönliche Nahaufnahme. Weschler erzählt ausführlich von der Entstehung der ersten Sacks-Bücher, die zu Bestsellern wurden, und verfolgt den Weg des Autors Oliver Sacks bis zu dessen Tod im Jahre 2015. Das einzigartige Porträt eines empathischen Menschenfreundes und Seelenforschers, der unser Bild von Krankheit und Gesundheit nachhaltig verändert hat.

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Lawrence Weschler

Oliver Sacks

Ein persönliches Porträt

 

 

Aus dem Englischen von Hainer Kober

 

Über dieses Buch

Er war ein großartiger Arzt und ein begnadeter Erzähler: Mit seinen Fallgeschichten hat Oliver Sacks Millionen Lesern ein neues, anderes Bild von Krankheit vermittelt. Voller Empathie und mit großer Fachkenntnis hat Sacks immer wieder Menschen beschrieben, deren Leben durch eine schwere Krankheit oder Behinderung geprägt wurde – und die unser Interesse und Mitgefühl verdienen.

Schon 1981, als Sacks noch weitgehend unbekannt war, beschloss der Journalist Lawrence Weschler, die Biographie von Oliver Sacks zu schreiben. Er konnte ihn bei seiner täglichen Arbeit als Arzt erleben, begleitete ihn auf Reisen und führte zahlreiche intensive Gespräche mit ihm. Auf dieser Grundlage entstand eine sehr persönliche Nahaufnahme. Weschler erzählt ausführlich von der Entstehung der ersten Sacks-Bücher, die zu Bestsellern wurden, und verfolgt den Weg des Autors Oliver Sacks bis zu dessen Tod im Jahre 2015. Das einzigartige Porträt eines empathischen Menschenfreundes und Seelenforschers, der unser Bild von Krankheit und Gesundheit nachhaltig verändert hat.

Vita

Lawrence Weschler, geboren 1952 in Kalifornien, ist ein amerikanischer Journalist und Schriftsteller. Er war über zwanzig Jahre Mitarbeiter der Zeitschrift «The New Yorker». Zu seinen zahlreichen Büchern gehören u. a. biographische Annäherungen an David Hockney, Robert Irwin und David Wilson.

Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u. a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt.

Oliver Sacks und Lawrence Weschler bei einer Veranstaltung der Lannan Foundation in Santa Fe, New Mexico.

 

In Memoriam

Prolog

Als ich Ende Juni 1981 zum ersten Mal nach City Island hinausfuhr, war ich, wie ich gerne zugebe, ziemlich vage auf der Suche nach einer neuen Geschichte.

Erst vor kurzem hatte ich mich selbst aus meiner alten Heimat Los Angeles nach New York City verpflanzt, größtenteils dank des Erfolges meiner letzten Erzählung, die ich – im Grunde unaufgefordert – an den New Yorker hatte verkaufen können.

Es war noch in Kalifornien, in Santa Monica, im Frühjahr desselben Jahres – ich war gerade neunundzwanzig geworden –, da sah ich meinen AB blinken, als ich eines Abends spät nach Hause kam. Anrufbeantworter sind wohl damals noch ziemlich neumodisch gewesen, denn die Stimme auf dem Band klang seltsam flattrig, als sie zögernd begann: «Mr. Weschler, ist da Mr. Weschler? … Glauben Sie, dass er nicht hören kann, Mrs. Painter? Soll ich eine Nachricht … Mr. Weschler? Hier spricht William Shawn von The New … Aaaaah, Mrs. Painter, wie kann ich feststellen, ob das Ding funktioniert? … William Shawn vom Magazin des New Yorker, und ich rufe Sie an, um ihnen mitzuteilen, dass wir den Text, den sie vor einigen Monaten eingereicht haben, alle sehr bewundern und dass wir uns fragen, ob … Himmel, Mr. Weschler, falls Sie diese Nachricht bekommen, könnten Sie uns dann bitte unter folgender Nummer zurückrufen» – und so fort. «Ich glaube nicht, Mrs. Painter, dass er das Geringste von alldem mitbekommen hat.»

Doch ich hatte und rief zurück und war in späteren Jahren für den vorübergehenden Aufschub dankbar, den mir dieser Anrufbeantworter gewährt hatte. Wäre ich zufällig zu Hause gewesen und hätte den Hörer abgenommen, als das Telefon klingelte, hätte ich sicherlich vermutet, einer meiner Freunde spiele mir einen Streich, hätte den Hörer angeblafft: «Klar, und ich bin Bernardo Bertolucci», oder etwas dergleichen, und aufgehängt.

Der betreffende Text, eine buchlange Biographie über den kalifornischen Licht- und Raumkünstler Robert Irwin auf der Höhe seines Schaffens, hatte mich vier Jahre gekostet, wie ich Mr. Shawn ein paar Monate später bei einem Besuch in New York erklärte, als er mich zum Mittagessen an seinem Stammplatz einlud, einer Eckbank im Algonquin, von der aus er den ganzen Raum übersehen kannte, während er, mausartig, weitgehend im Hintergrund verschwand. Er drängte mich, mir irgendetwas aus der ellenlangen Karte auszusuchen, die die Kellnerin gerade vor mir ausgebreitet hatte. Nervös wählte ich das Erste, das mir ins Auge fiel, die Spezialität des Tages, Seezungenfilet gefüllt mit Hummer, während Mr. Shawn «das Übliche» bestellte (Cornflakes, wie sich herausstellte). Dann nahm er mich ins Visier seiner unwiderstehlichen Neugier (die der Eisernen Maus, so sein Spitzname, wie ich später erfuhr).

«Offenbar leben Sie gegenwärtig in Kalifornien», sagte er, «aber wo sind Sie geboren?» (Das war damals kein ungewöhnliches Vorurteil in New York: Mein Irwin-Buch hatte zu diesem Zeitpunkt mehr als ein halbes Dutzend emphatische Absagen von New Yorker Verlegern bekommen, wobei sie mir alle versicherten, sie wollten unbedingt mein nächstes Manuskript sehen, obwohl sie nicht recht verstünden, wie man von ihnen erwarten könne, mit irgendeinem Buch über einen kalifornischen Künstler Erfolg zu haben.) «Van Nuys, Kalifornien», erwiderte ich, «in den San-Fernando-Valley-Vororten von Los Angeles.» Immer noch verwirrt, hakte Mr. Shawn nach: «Aber ich meine, wo sind Sie zur Schule gegangen?» Birmingham High in Van Nuys. «Und das College?» Cowell College an der University of California in Santa Cruz. Das ergab alles noch kein klares Bild, aber Mr. Shawn, selbst ein erstklassiger Reporter, bohrte nach, bis er herausgefunden hatte, dass alle meine Großeltern Wiener Juden waren, die auf unterschiedliche Weise auf der Flucht vor Hitler in die Vereinigten Staaten gekommen waren (Ernst Toch, mein Großvater mütterlicherseits, ist in der Weimarer Zeit ein bedeutender Komponist gewesen) – endlich eine Kategorie, die Mr. Shawn verstehen konnte.

Nach diesem Mittagessen bot er mir eine Stellung als festangestellter Journalist beim New Yorker an, und bald darauf zog ich nach New York. Schließlich veröffentlichte die Zeitschrift die Hälfte meines Irwin-Buchs über zwei Ausgaben verteilt, doch bevor es so weit war, hatte ich begonnen, für das Magazin aus Polen zu berichten (auf dem Höhepunkt der Solidarność-Leidensgeschichte). Bald darauf veröffentlichte ich eine ganze Anzahl Einzelreportagen (eine beispielsweise über das wunderbare Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebaek und eine andere über den komischen neunzigjährigen Musik-Lexikographen Nicolas Slonimsky). Aber ich suchte noch immer nach einem Thema, auf das ich meine langsame, ausdauernde Aufmerksamkeit richten konnte, mit der ich zuvor Irwin so verschwenderisch bedacht hatte. Dabei reifte mir im Hinterkopf die Idee heran, dass es dieses Mal der damals noch kaum bekannte, offenbar sehr eigenwillige Neurologe draußen auf City Island sein könnte.

*

Auch rief ich ihn nicht vollkommen unvorbereitet an: Er und ich hatten schon im Jahr zuvor miteinander korrespondiert.

Zum ersten Mal hörte ich von Oliver Sacks 1974, während meines letzten Jahres in Santa Cruz, ein Jahr, nachdem seine bemerkenswerte Chronik Awakenings (dt.: Awakenings – Zeit des Erwachens)erschienen war. Es sei daran erinnert, dass Olivers zweites Buch bei seiner Veröffentlichung wahrlich kein Bestseller war (genauso wenig sein erstes Buch, Migraine [dt.: Migräne], das einige Wochen zuvor erschienen und – soweit überhaupt – auf einem relativ begrenzten Nischenmarkt vertrieben worden war). Zwar wurde Awakenings von Literaturkritikern (W.H. Auden, Frank Kermode) begeistert aufgenommen, doch in medizinischen Kreisen nahm man es so gut wie gar nicht zur Kenntnis. Zu beiden Seiten des Atlantiks war sein Erfolg nicht gerade überwältigend. Aber Maurice Natanson, der führende Phänomenologe am Cowell College – ein Husserl-Schüler, der eher wie Buber aussah –, lobte es von Anfang an in höchsten Tönen, wie es so seine Art war.

Wenn ich es richtig erinnere, hat das ganze Awakenings-Drama in den Jahren stattgefunden, als ich in Santa Cruz studierte. Es begann im Frühjahr, kurz vor meiner Ankunft am Cowell, im April 1969, als Oliver, in dem Pflegeheim, das er in dem Buch Mount Carmel nennt, zu der Auffassung gelangt war, dass achtzig der fünfhundert in der Einrichtung als hoffnungslos geltenden Fälle (Katatoniker, verschiedene Demenzkranke, Parkinson-Patienten, Schlaganfallopfer etc.) nicht mit den anderen zu vergleichen waren; sie sahen zwar aus wie «menschliche Statuen» (eingeschlossen in tiefe tranceartige Zustände, aus denen sie offensichtlich jahrelang nicht auftauchten), doch schien eine quälend gedämpfte Form der Lebendigkeit tief in ihrem Inneren fortzubestehen. Auf diese Vermutung hin beschloss er, sie zusammenzubringen, vom Rest der Kranken abzusondern und sie als Gruppe zu behandeln. Doch noch bevor diese Station eingerichtet war, hörte Oliver Berichte über ein aufsehenerregendes neues «Wundermittel», L-Dopa, von dem es hieß, es erziele überraschende Ergebnisse bei schwer betroffenen Parkinson-Patienten. Daher entschloss er sich nach einigem Zögern (denn er begegnete solchen Behauptungen mit Misstrauen), den Wirkstoff an seinen Patienten zu erproben. Die Ergebnisse dieses Sommers waren erstaunlich – ein vollkommen frühlingshaftes Erwachen: Patienten, die sich seit Jahren nicht mehr bewegt oder gesprochen hatten, entfalteten plötzlich eine so fröhliche Aktivität und Gesprächigkeit, dass die ganze Station von dieser beschwingten Energie überschäumte. Dem frühlingshaften Sommer war jedoch keine Dauer beschieden, und im September (gerade als ich das Studium am Cowell begann) war die Station im Mount Carmel in die Phase eingetreten, die Oliver später Tribulation (Heimsuchung) nannte – ein chaotischer Zustand mit schrecklichen, peinigenden Nebeneffekten und Nebeneffekten von Nebeneffekten. Einige Patienten schafften es nie auf die andere Seite, anderen gelang es im Laufe der Jahre, ein gewisses Maß an Linderung zu erreichen – Anpassung nannte Oliver diese länger andauernde Endphase –, nichts wurde wieder so wundersam wie in ihrem kurzen Sommer der Auferstehung, aber auch nicht wieder so schlecht wie vorher in den Jahrzehnten ihrer tiefen Winterstarre.

Ich hatte mich an der Cowell für den größten Teil des Jahres beurlauben lassen (um mich nach dem Tod meiner Großmutter um den Nachlass meines musikschaffenden Großvaters zu kümmern), daher hielt ich mich dort noch auf, als Oliver Awakenings veröffentlichte, was dazu führte, dass mir während der letzten Wochen meines Abschlussjahres ein finster blickender Natanson, also in seinem Normalzustand (wobei ein finsterer Blick bei ihm auch eine Art Segnung sein konnte), mir das Buch an die Brust drückte, als wir uns auf dem Flur begegneten. «Lies das!», befahl er.

Es sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bevor ich dazu kam, Awakenings zu lesen. Doch als ich es endlich tat, erwies sich die Wirkung als extrem, es ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ziemlich überwältigt, wenn auch ein wenig verwirrt. Weil (und es dauerte eine Weile, bis ich mir über die Gründe dieser Verblüffung wirklich im Klaren war) bei aller Dramatik und Empathie des Textes die Figur des Arztes selbst bemerkenswert flüchtig, zurückhaltend und gedämpft blieb. Ich fragte mich, wie all diese Erweckungserlebnisse und ihre turbulenten Nachwirkungen auf ihn gewirkt haben mochten. Je länger ich über die Frage nachdachte, sie formte und fokussierte, desto mehr gewann ich die Überzeugung, dass das wahre, tiefere Drama der Geschichte nicht so sehr in seiner Entscheidung lag, die Substanz anzuwenden, und in deren Folgen als vielmehr in dem Rätsel – welche Rolle spielten er selbst, seine berufliche Ausbildung und seine eigene Vergangenheit? –, das erklären konnte, warum er, und nur er allein, den nötigen Scharfblick besaß, um zu erkennen, dass diese merkwürdigen lebenden Statuen sich irgendwie von allen andern unterschieden, und dann den moralischen Mut aufbrachte, sich vorzustellen, dass sich in diesen lange erloschenen Kernen tatsächlich noch ein zäher Rest Leben erhalten hatte.

Da ich selbst ein schönes Beispiel für eine bestimmte Spezies zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort war (ein freischwebender Möchtegern-Intellektueller in meiner Heimatstadt Los Angeles Ende der 1970er Jahre), reagierte ich auf diese Fragen so, wie wir es damals wohl alle taten – indem ich den Entwurf eines Drehbuchs schrieb. Und das war, im Herbst 1980, die erste E-Mail, die ich Oliver schickte (etwa zu der Zeit, als ich mein Irwin-Projekt beendet hatte und mich nach etwas Neuem umzusehen begann). Ich fragte ihn, ob schon jemand anders ihm vorgeschlagen habe, aus seinem Buch einen Film zu machen, und ob er – falls nicht (und falls er den Entwurf für brauchbar halte) – wohl einverstanden wäre, dass ich das Projekt weiterverfolge.

Es folgten mehrere Monate Schweigen, doch dann, Anfang 1981, tatsächlich am 13. Februar, meinem neunundzwanzigsten Geburtstag (als er siebenundvierzig war), erhielt ich endlich einen Umschlag mit einem Brief, den er schon einige Monate vorher geschrieben, aber falsch adressiert hatte. Er hatte ihn zurückbekommen, dann verlegt, aber schließlich, laut einem kurzen Anschreiben, wiedergefunden und jetzt noch einmal abgeschickt. «Ich bin Ihnen höchst dankbar für Ihre liebenswürdigen Worte», begann der Brief,

und glücklich, dass AWAKENINGS offenbar ein tiefes Echo in Ihnen ausgelöst hat. Man hat immer die Furcht, dass man in einem Vakuum lebt/arbeitet/schreibt, daher sind Briefe wie der Ihre sehr wertvoll als Beweis für das Gegenteil. Tatsächlich betrachte ich den Prozess des Schreibens nicht als «Vollendung» von etwas – der Kreis der Vollendung muss vom Leser geschlossen werden, durch die individuellen Reaktionen in seinem Herzen und seinem Verstand. Dann, und nur dann, ist der Kreis der Tugenden – Geben, Empfangen und Erwidern – geschlossen.

Freundlich erklärte er im Fortgang des Briefes, es sei tatsächlich gelegentlich Interesse an einer Filmversion seines Buches geäußert worden, wenn auch bislang nichts Definitives und Spezifisches, daher sei er nicht abgeneigt, aber wir sollten versuchen, uns irgendwann in den kommenden Monaten zu treffen, um die Frage eingehender zu diskutieren. Wogegen ich nicht das Geringste hatte, war ich doch immer noch hauptsächlich damit beschäftigt, das Irwin-Manuskript unterzubringen (bis zu Mr. Shaws Anruf waren es noch ein paar Monate hin).

In dieser Zeit korrespondierten Oliver und ich sporadisch. Obwohl ich diese Briefe bei meinem Umzug nach New York irgendwie verlegt habe, erinnere ich mich an ein bestimmtes Schreiben, in dem ich meinte, ich würde verstehen, warum er dem betreffenden Pflegeheim das kluge Pseudonym Mount Carmel gegeben habe (der Berg Karmel, Johannes vom Kreuz, Die dunkle Nacht der Seele und so fort), aber mir erscheine dieser Text doch eher kabbalistisch (abermals der Schatten von Natanson), also eher jüdische als christliche Mystik – ob ich damit falschläge? Woraufhin ich die erste seiner gewaltigen handschriftlichen Antworten erhielt, die sich über viele Seiten erstreckten. Tatsächlich, so erläuterte er, handle es sich in Wirklichkeit um das Beth Abraham in der Bronx, seine Familie sei in jeder Hinsicht zutiefst jüdisch, sein Cousin ersten Grades sei der legendäre israelische Außenminister und Universalgelehrte Abba Eban, die Balfour-Deklaration sei vor seiner Geburt in verschiedenen Londoner Kellern der Familie entworfen und stenographisch geschliffen worden, und vielleicht am wichtigsten, die große Inspiration seines medizinischen Lebens sei der sowjetische Neuropsychologe A.R. Lurija gewesen, der, wer weiß, möglicherweise ein Nachkomme des bedeutenden, im 16. Jahrhundert wirkenden Mystikers Isaac Luria, eines palästinensischen Juden, eines der wichtigsten Forscher und Ausleger des Zohar, des kabbalistischen Urtextes, gewesen sei.

Nach diesem ersten Briefwechsel wurden unsere Kontakte immer herzlicher (obwohl der ursprüngliche Anlass, die Idee eines Drehbuchs, allmählich in Vergessenheit zu geraten schien, da ich von meinen wachsenden Pflichten beim New Yorker stärker in Anspruch genommen wurde), bis zu jenem Tag im Juni 1981, als ich mir ein Auto mietete und hinausfuhr, um Dr. Oliver Sacks in seinem relativ neuen Haus auf City Island persönlich kennenzulernen.

Später am Abend hielt ich die Eindrücke des Besuchs im ersten Band einer Reihe von Notizbüchern fest, die am Ende ein ganzes Regal füllen sollten und die Chronik unserer sich vertiefenden Freundschaft enthalten. Es folgen einige Auszüge aus diesem ersten Eintrag:

Sacks lebt heute auf City Island, von Manhattan eine dreißigminütige Autofahrt durch die Bronx auf eine kleine, fast idyllische Fischerinsel. Er lebt dort seit fast neun Monaten und hat sich in langsamen Etappen herangetastet, von Greenwich Village, wo er nach seiner Ankunft zuerst Quartier nahm, dann nach Mount Vernon, wo er eine Wohnung mietete, bis er sich sein jetziges Domizil suchte. Sein Haus, 119 Horton Street, liegt fast am Ende der Insel, der Endpunkt dieses etwas unerwarteten Anhangsgebildes, das von dem Bezirk Pelham Bay in der Bronx in den Sund hinausragt. Es ist nur ein kurzer Fußweg zum schmalen Strand am Ende der Straße, ein Weg, den er, wie er mir erzählt, oft zurücklegt. Er hält sich nur teilweise für terrestrisch, oder anders: für vollkommen amphibisch.

Tatsächlich, sagt er, sei er früher, als er noch in der Bronx wohnte, öfter vom Orchard Beach dort hinüber (er zeigt nach Norden) an das Festland geschwommen und habe manchmal die Insel umkreist. Eines Tages vor gar nicht so langer Zeit ging er auf dem Kieselstrand am Ende der Horton Street an Land. Eine Tropfenspur hinterlassend, stapfte er die Short Street hinauf. Er erblickte ein malerisches rotes Haus. Er dachte, was für ein malerisches rotes Haus. Leute trugen Kisten aus dem Haus. Einer von ihnen war ein ehemaliger Student. Er ging hinauf und wurde hereingebeten. «Nein, nein, ich bin pitschnass.» «Nicht doch, bitte kommen Sie herein.» Er gab nach. Er mochte das Haus, hörte, dass es zum Verkauf stand, machte kehrt, verabschiedete sich, marschierte die Horton Street hinauf, bog nach links in die Hauptstraße ein, setzte seinen Weg fort, während das Wasser aus seiner Badehose triefte, betrat das Maklerbüro, fragte nach dem Haus in der Horton Street und schaffte es irgendwie, das Objekt seiner Begierde auf der Stelle zu kaufen.

Das Haus selbst mit seiner baufälligen Vorderveranda und dem kleinem Hintergarten – und dem exzentrischen Bewohner – erinnerte mich an die Bilder, die ich von Joseph Cornells Haus im Utopia Parkway gesehen hatte.

Sacks ist ein großer kräftiger Mensch, der zu kindisch-lausbübischen Ausbrüchen neigt, der eine Brust hat, die wie die eines gedrungenen Kindes proportioniert ist, und auch in seinen Bewegungen und Haltungen an ein Kind erinnert.

Als wir uns zum ersten Mal treffen, sage ich ihm, dass er nicht so aussieht, wie ich es erwartet habe. «Mein Äußeres war im Laufe der Zeit radikalen Veränderungen unterworfen», erwidert er. «Manchmal trage ich einen Bart, manchmal nicht; manchmal wiege ich 85 Kilo und manchmal 135.» («Muss ein verdammt schwerer Bart sein», warf ich ein.) Augenblicklich liegt er näher bei ersterem Wert. Er hat schlimme Rückenprobleme. Die Folge mehrerer Unfälle, «alltäglicher Unglücksfälle». Als wir zum Abendessen gehen, ein paar Schritte zum nahe gelegenen Fischrestaurant, trägt er eine schmale Lendenstütze, rechteckig und gekrümmt («Eine Art Kreuzung zwischen Prothese und Übergangsobjekt», scherzt er). Beim Abendessen erleidet er wiederholte Hitzewallungen, sein Gesicht rötet sich, auf seiner Stirn glänzen Schweißtropfen, und als wir wieder bei ihm zu Hause sind, kniet er sich vor die Klimaanlage in seinem Arbeitszimmer und badet in dem kühlen Strom, sichtlich erleichtert. Er kniet vor dem scheppernden Gerät wie in ein ekstatisches Gebet vertieft (ein zufriedener Seehund).

Er habe in ein Haus ziehen müssen, sagt er mir – dies sei sein erstes –, weil er Platz für seine «heimliche Produktion» gebraucht habe. Er zeigt auf ein langes, parallel zu seinem Bett angebrachtes Regalbrett, auf dem mindestens dreißig Notizbücher säuberlich aufgereiht stehen. «Den größten Teil der Zeit verbringe ich mit Sprechen, Zuhören oder Schreiben: Die hier sind das Ergebnis der letzten sechs Monate.»

In anderen Zimmern sind Hunderte von Fallbüchern aufeinandergestapelt – Notizbücher über einzelne Patienten, deren Namen auf den Buchrücken stehen. Dann ein Raum, neben dem Arbeitszimmer, in dem es eine regelrechte Kachelwand aus Tonkassetten in Kunststoffboxen gibt, eine Klagemauer aus konserviertem Leid. Außerdem sind Dutzende von Videobändern vorhanden.

Er trägt sich mit dem Gedanken, ein Buch mit dem Titel «Fünf Sekunden» zu schreiben – eine detaillierte Studie der unzähligen beschleunigten Leben, die ein Touretter in beliebigen fünf Sekunden während seiner Ticks durchleben kann; dazu brauche er aber eine Hochgeschwindigkeits-Videoausrüstung, um alle diese Vorgänge auch nur ansatzweise einzufangen. Er ist fest davon überzeugt, dass jede Veränderung des Gesichtsausdrucks und jeder noch so kurze Laut in Beziehung zueinander stehen, einer mit dem anderen.

Die Philosophie ist reichlich auf seinen Bücherregalen vertreten: Nietzsche, Schopenhauer, Leibniz, Spinoza, Hume, Heidegger, Husserl …

Er erzählt mir, er habe in seiner frühen Jugend viel Philosophie gelesen, ohne sie zu verstehen, ihr später aber den Rücken gekehrt und sich stattdessen naturwissenschaftlichen Studien gewidmet. Patienten, die mit ihren «philosophischen Notfällen» zu ihm gekommen seien, hätten ihn gezwungen, sich wieder mit der Philosophie zu befassen.

Er respektiert Fakten und besitzt die Leidenschaft des Naturwissenschaftlers für Genauigkeit, aber er ist auch fest davon überzeugt, dass Fakten in Geschichten eingebettet und durch sie vervollständigt werden müssen. Und nach Geschichten – Geschichten von Menschen – ist er wirklich süchtig.

Und nach Musik. In seinem späteren Werk, so erläutert er, habe er erkannt, welche entscheidende Rolle die Musik bei der Linderung des Leidens von Parkinson-Patienten und Tourettern spielen kann:

Er sei sich sicher, dass Musik auf einer tieferen Ebene eine heilende Wirkung entfalte.

 

In seinem Wohnzimmer eine elegante Retro-Stereoanlage: Eine Hinterlassenschaft seines Freundes W.H. Auden.

 

Zur Frage, ob rational oder irrational: Weder hat Sacks eine romantische Beziehung zur Irrationalität, noch betet er die Rationalität an. Er sagt, das Irrationale könne einen Menschen überwältigen – er habe es gesehen und wolle seine Folgen nicht schönreden –, das Irrationale müsse in der Persönlichkeit gebändigt sein – sonst zerstöre und zerreiße es uns. Gleichzeitig aber zeige sich bei Personen, die solche irrationalen Feuerstürme überstanden hätten, dank dieser Erfahrung eine größere menschliche Tiefe, eine größere Reife des Charakters.

Er zeigt auf eine Postkartenreproduktion des Gemäldes Der heilige Sankt Franziskus empfängt die Stigmata von Jan Van Eyck. «Das», sagt er, «ist die Originalgröße des Gemäldes! Was für ein Wunder an Verdichtung! Genau das würde ich gern mit dem Buch über fünf Sekunden im Leben eines Touretters erreichen.»

Er arbeitet gern in Heimen. («Ich würde nie irgendwo anders arbeiten wollen als in den vergessenen Winkeln solcher Einrichtungen: Dort sind alle Schätze.») Solch einem wie Beth Abraham, dem Langzeitpflegeheim in der Bronx, dem Mount Carmel in Awakenings. Obwohl er auch für den Staat und die Stadt arbeitet. Sein anderer wichtiger Arbeitgeber sind die Kleinen Schwestern der Armen. Seine Eltern und eine Nichte, alle Ärzte, haben auf anderen Fachgebieten für die Kleinen Schwestern gearbeitet. «Ich mag sie», meint er zu mir, «weil sie implizit religiös sind, ohne es explizit zu sein.»

Daher hat er ein sehr kleines Einkommen. Dabei ist es nicht so, dass er das Geld nicht brauchen könnte. Er zeigt auf eine Wand (Regale über Regale) mit EEG-Ausdrucken. «Dort schlummern unglaubliche Entdeckungen», versichert er mir, «wenn ich nur die Zeit hätte, wenn ich mir nur die Zeit leisten könnte.»

Ich frage ihn, warum er keine Privatpatienten behandelt. «Doch», sagt er, «das tue ich schon. Ich meine, wenn mich jemand in Not anruft, dann behandle ich ihn natürlich. Aber gewöhnlich endet es damit, dass ich ihn hier im Haus behandle, und die erste Sitzung kann leicht fünf Stunden dauern – ich meine, so lange dauert es, bis man jemanden kennt –, und dann hat man fünf Stunden mit ihm verbracht, das ist einfach peinlich – wie kann man ihn dann um Geld bitten? Ich fühle mich dabei einfach unbehaglich. Und später vergesse ich dann sowieso, eine Rechnung zu schicken.»

Ich frage ihn, ob er Forschungsstipendien annehmen würde, wenn man sie ihm gewährte. «Oh», sagte er mit sichtlichem Unbehagen, «da hätte ich auch nur Schuldgefühle. Ich meine, es gibt doch Leute, die das Geld brauchen.»

1972 hatte Oliver eine schwere Krise. Er wurde vom Beth Abraham entlassen, verlor seine Wohnung, und seine Mutter starb – das alles in einem Zeitraum von wenigen Wochen. Er kehrte nach England zurück, nahm eine volle Woche am Schiwa-Sitzen für seine verstorbene Mutter teil, «dann überkam mich eine seltsame Ruhe, und ich war in der Lage, Awakenings zu beenden».

Sechs Monate vor dieser Krise war er, als er ein paar Kellerstufen hochlief, mit dem Kopf an die Decke geknallt und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die letzten elf Fallstudien in Awakenings entstanden aus den Aufzeichnungen, die seine Sekretärin an seinem Krankenbett gemacht hatte, als er die Geschichten der Patienten erzählte.

«Prokofjew sagte, er könne niemals Oblomow lesen», erzählte Oliver mir, «weil er sich in Oblomows Antriebslosigkeit nicht hineinversetzen könne. Nun, ich scheine zwischen Phasen Prokofjew’scher Energie und Oblomow’scher Trägheit hin und her zu wechseln.»

Und tatsächlich umgibt den Mann eine gewisse bärenhafte Melancholie.

Während des Krieges hat er zwischen seinem sechsten und zehnten Lebensjahr selbst in einem Heim gelebt, einem sehr schlimmen Heim. Diese Zeit liegt ihm noch immer wie ein dunkler Schatten auf der Seele. Er war das jüngste von vier Kindern und wuchs praktisch als Einzelkind seiner Eltern auf, die beide Ärzte waren, sein Vater ein heiterer praktischer Arzt, seine Mutter eine hervorragende Gynäkologin und eine der ersten Chirurginnen Englands.

Drei ältere Brüder, zwei von ihnen wurden ebenfalls Ärzte, und der dritte … Der dritte Sohn Michael, der mit ihm zusammen in diesem schlimmen Heim war, einige Jahre älter und mitten in der Pubertät, zerbrach an dieser Erfahrung, ist nur noch eine schizoide Hülle seines einstigen Selbst und lebt beim Vater in London.

Nach dem Studium in Oxford und an der medizinischen Fakultät verließ Sacks aus eigenem Antrieb England, offenbar in großer Eile, wobei er sich über die Gründe allerdings auffällig unbestimmt äußert, gelangte 1960 nach Kalifornien, wo er seine Assistenzzeit in San Francisco und Los Angeles absolvierte, während er sich mit (nach eigenem Bekunden) vorübergehenden Drogenexzessen, Bodybuilding, Motorradrennen und allen möglichen anderen extremen Verhaltensweisen die Zeit vertrieb, bevor er sich schließlich in New York niederließ.

Als ich mich zum Aufbruch fertig machte, deutete Oliver auf ein Buch von Frank Kermode, das auf dem Tisch lag und von dem er sagte, sein Titel laute The Genesis of Silence (Die Entstehung des Schweigens). «Als ich dieses Buch zum ersten Mal sah, setzte ich mich hin und schrieb einen Brief an Kermode, aber schickte ihn nie ab. Ich nehme an, ich hielt es für ein bisschen gewagt, jemandem nur auf den Buchtitel hin einen 30000-Wörter-Brief zu schicken! Ich habe es noch immer nicht gelesen. Ich habe mein Exemplar verliehen, kaufte sechs weitere und schaffte es irgendwie, sie alle wieder zu verleihen. Jetzt habe ich ein neues Exemplar. Möchten Sie es haben? Wenn ich es mir richtig überlege, sollte ich es dieses Mal vielleicht doch behalten und lesen.»

Als er das Buch wegnimmt, bemerke ich, dass er den Titel nicht ganz richtig wiedergegeben hat. Tatsächlich heißt es The Genesis of Secrecy (Die Entstehung des Geheimnisvollen).

All das stammt, wie gesagt, aus dem ersten Eintrag in meine Notizbücher. Es sollten noch viele folgen – gegenwärtig fünfzehn Bände aus vier Jahren, ganz nach dem Vorbild meiner früheren drei Jahre mit Irwin. Oliver und ich trafen uns mehrere Male in einem Monat, wenn nicht sogar in einer Woche. Schon ziemlich früh beschloss ich, ihn zum Gegenstand einer künftigen Kurzbiographie zu machen (Mr. Shawn war sofort einverstanden), einer Kurzbiographie, die sich im Laufe der Monate zu einem Buchprojekt auswuchs. Oliver war liebenswürdig, wenn auch ein wenig vorsichtig. Ich reiste mit ihm nach London, begleitete ihn auf Visiten (wo ich unter anderem die letzten noch lebenden Awakenings-Patienten kennenlernte), tauchte mit ihm in Naturkundemuseen und botanische Gärten auf beiden Kontinenten ein, traf mich mit ihm zum Essen in New York City oder fuhr immer wieder zum City Island hinaus, wo er mir unbegrenzte Einsicht in seine Akten gab. Ich begann Interviews mit Kollegen und Jugendfreunden zu machen.

Es war eine seltsame Phase in seinem Leben. Wie gesagt, er hatte bereits das Buch geschrieben, das er im Lauf der Zeit (damals noch nicht) als sein Meisterwerk ansehen sollte. Inzwischen aber wurde er von einer quälenden Schreibblockade heimgesucht, als er an dem unmittelbar darauf folgenden Buch arbeitete, dem Bericht über eine Beinverletzung, die er selbst erlitten hatte, und über die philosophischen und therapeutischen Probleme, die sich daraus ergaben. Diese schreckliche Blockade (die übrigens häufig die Form einer Graphomanie annahm, unter deren Einfluss er Millionen und Abermillionen Wörter produzierte, nur eben nicht die richtigen) kostete ihn schließlich ein Jahrzehnt seines Lebens (dabei waren unsere ersten vier Jahre die letzten vier dieser Plage). Manchmal erhielt ich ein paar Tage nach unseren Essen einen prallgefüllten Umschlag mit einer ein Dutzend Seiten umfassenden, maschinengeschriebenen (Zwei-Finger-Hack-System), einzeiligen Erläuterung zu irgendwelchen Dingen, die wir erörtert hatten. Er litt unter einem peinigenden Empfinden der Vergeudung und Nutzlosigkeit. Tatsächlich reagierte er zeitweilig ausgesprochen neurotisch auf eine Vielzahl von Themen, hin- und hergerissen zwischen Größenwahn und Nichtigkeitsgefühlen. Er lebte dort draußen auf City Island weitgehend wie ein Einsiedler, noch, wie gesagt, weitgehend unbekannt, arm wie eine Kirchenmaus, empfing wenig Besuch (und noch weniger Freunde) und holte sich so viel Anerkennung wie möglich (gerechterweise, oft in beträchtlichem Maße) bei seinen täglichen Fahrten zu seinen Patienten. Wir setzten unsere Gespräche fort: Im Großen und Ganzen schien es ihm Freude zu machen, seine Vergangenheit ans Licht zu ziehen und seine Stationen vorzuführen.

Nach vier Jahren wich seine Blockade endlich, und er konnte sein verdammtes Bein-Buch abschließen – woraufhin in der Folge eine ganze Flut von lange aufgestautem Material ins Freie strömte. Ein Jahr danach, 1985, veröffentlichte er die Sammlung von Fallgeschichten, die ihm den Durchbruch brachten, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, woraufhin fast ein Dutzend weitere Bände folgten, die auf der ganzen Welt zu gefeierten Bestsellern wurden, und am Ende des Jahrzehnts erlebte Awakenings endlich seine Leinwandgeburt, die leider nichts mit meinem Drehbuchentwurf zu tun hatte, aber noch mehr Ruhm und Lobpreisungen brachte. Kurz vor all diesen Ereignissen beschloss ich, mich ebenfalls zurückzuziehen, meine Aufzeichnungen und Transkripte zu ordnen (allein das Register meiner Aufzeichnungen umfasste am Ende mehr als 250 Seiten) und mich endlich an die Niederschrift dieser Biographie zu machen, mit der ich nun schon so lange schwanger ging.

Woraufhin Oliver mich bat, es zu lassen.

Es sei ihm egal, versicherte er mir, was ich mit all dem Material anfinge, wenn er tot sei, aber er könne den Gedanken nicht ertragen, noch lebend mit alldem konfrontiert zu werden. Besonderen Kummer bereitete ihm ein bestimmter Aspekt seines Lebens, der – nun, das ist die Geschichte, jedenfalls ein wichtiger Teil von ihr… Sie werden es sehen.

Er hoffe trotzdem, dass wir Freunde blieben. Und das taten wir. Ich heiratete, und er hieß meine Braut in seinem Leben willkommen (und sie, die manchmal etwas nachsichtiger ist als ich, ihn in dem unseren). Wir bekamen eine Tochter, die sein Patenkind wurde, und als sie heranwuchs, betete sie ihn an (auch davon später mehr). Wir hatten wunderbare Abenteuer zusammen. Und dann ganz zum Schluss, vor wenigen Jahren, als er im Sterben lag, erlaubte er mir nicht nur, zu dem aufgeschobenen Projekt zurückzukehren, sondern wies mich sogar an, damit zu beginnen. «Jetzt mach es!», sagte er. «Du musst es.»

*

Es musste zwangsläufig ein anderes Projekt werden. Damals hatte ich mir eine Biographie vorgestellt, die ihn mitten im Leben und Schaffen zeigte, und mir entsprechende Notizen gemacht. Doch das Leben kam dazwischen, andere Dinge nahmen meine Aufmerksamkeit in Anspruch, Jahrzehnte vergingen, und ich hörte auf, die Daten des Sacks’schen Lebens so festzuhalten, wie ich sie für eine richtiggehende Biographie gebraucht hätte. Im Übrigen war der Mann – habe ich es erwähnt? – graphomanisch. Wir sprechen über Regale, die sich unter dem Gewicht der Notizbücher durchbiegen! Eines Tages wird irgendjemand das Projekt einer vollständigen Oliver-Sacks-Biographie in Angriff nehmen, und das wird ein außerordentliches Buch werden, aber diese Person muss erheblich jünger sein, als ich es jetzt bin. Ich wünsche ihr alles Gute – und beneide sie.

Was ich hier vorzulegen gedenke, ist im Grunde genommen eher ein Memoire, das vor allem die vier Jahre Anfang der Achtziger betrifft, als ich der Boswell für ihn, den Johnson, war, der spindeldürre Sancho für ihn, den großmächtigen Quixote.

Doch selbst bei diesem Projekt gab es relativ spät in Olivers Leben Komplikationen, weil er – kurz bevor er mir befahl, mich wieder ans Werk zu machen – seine Autobiographie On the Move vorlegte und damit zahlreiche Geschichten preisgab, von denen ich viele Jahre lang meinte, sie seien mir exklusiv vorbehalten. Und vielleicht auch wieder nicht so schwerwiegende Komplikationen, denn Olivers später Lebensbericht strahlte – und wie könnte man sich nicht darüber freuen – eine gewisse schwer erkämpfte Souveränität und Heiterkeit aus, während der Oliver, dem man in meinen Notizbüchern aus jener fast vierzig Jahre zurückliegenden Zeit begegnet, ein entschieden anderes Wesen war, ungeheuer (und manchmal, möchte ich sagen, herrlich) anders und ganz bestimmt nicht heiter. Außerdem wimmelte es in meinen Notizbüchern von «Tischgesprächen», die in herkömmlichen Biographien und Autobiographien gerne fortgelassen werden. Hier zeigte sich ein extrem empathischer Mensch, der tief in seine Ich-Besessenheit verstrickt war, ein großer Monologisierer, der häufig vollkommen an seinem Publikum vorbeiredete und gelegentlich blind für dessen Gesichter war, ein unvergleichlicher Kliniker, der trotzdem immer wieder in die distanzierte Rolle des Naturforschers verfiel, ein Chronist, der zwar niemals die Wahrheit bewusst verschleiert hätte, aber trotzdem voller Stolz einräumte, dass er ihr gelegentlich nur schlussfolgernd oder sogar kraft seiner Vorstellungskraft zur Existenz verhelfen konnte.

Auch waren das keine belanglosen vier Jahre in seinem Leben gewesen. In der Rückschau ist zu erkennen, dass die erste Hälfte der achtziger Jahre der virtuelle Dreh- und Angelpunkt seines beruflichen und kreativen Fortschritts war, als er schäumte und tobte, um die Dämonen der Selbstbezogenheit zu überwinden, die jedes weitere Vorwärtskommen hartnäckig blockierten: 1985, als diese Jahre vorbei waren, stand der Fast-Eremit an der Schwelle zum Weltruhm und schaffte es irgendwie, sich genügend zu beruhigen und einzufügen (endlich in sich selbst ruhend, statt nur auf sich selbst bezogen), um die Veränderungen zu verkraften. (Infolge einer unheimlichen Koinzidenz waren das auch die Jahre, in denen ich – wenn auch in weit weniger spektakulärem Maßstab – meine beruflichen Perspektiven absteckte und vom kalifornischen Schreiblehrling zum festangestellten Journalisten beim New Yorker wurde.)

Als ich mich während dieser letzten Jahre wieder mit meinen Notizheften vertraut machte und überlegte, wie sich dieses Buch am besten organisieren ließe (etwa indem ich das Ganze in eine biographische Ordnung konventioneller Art brachte), gelangte ich zu der Auffassung, es sei besser, die Chronologie der Einträge aus diesen vier Jahren weitgehend zu erhalten und dem Leser einen lebendigen Eindruck davon zu vermitteln, wie ich zu diesen scheinbar widersprüchlichen Details gekommen bin, damit er (und vielleicht der künftige Schöpfer einer vollständigen Biographie) die Möglichkeit hätte, sich die Bedeutung dieser Aufzeichnungen nach und nach selbst zu erschließen.[*]

Die Geschehnisse dieser vier Jahre bilden gewissermaßen das Fleisch dieses Buches. Sobald sie hinter uns liegen, werde ich eine – zumindest aus meiner Sicht – wesentlich knappere Zusammenfassung der Jahre danach liefern und noch einige thematische Überlegungen anschließen (nicht zuletzt über so entscheidende Fragen wie zum Beispiel die nach Olivers Glaubwürdigkeit).

Aber bis dahin folgt hier …

Teil EinsKennenlernen

Kapitel EinsEine Ruderpartie

Bei meinem nächsten Abstecher auf die Insel treffe ich etwas frustriert ein, weil ich der örtlichen Polizei gerade in eine sittenwidrige Radarfalle getappt bin.

Voller Mitgefühl führt Oliver mich auf seine Zufahrt und zeigt mir am Kühlergrill seines Autos einen kleinen durchsichtigen Kunststoffsporn, der dort herausragt.

Er habe auch immer Raser-Knöllchen bekommen, erzählt er, aber als er eines Tages in Kanada rausgewunken wurde, habe ihm der Polizist selbst gesagt: «Sehen Sie hier, unser Radar hat einhundertfünfunddreißig gemessen.»

«Radar?»

«Klar. Sie sollten sich einen Blitzer-Warner besorgen.»

«Einen Blitzer-Warner?»

«Ja doch. Schauen Sie, wir verwenden ein elektronisches Überwachungsgerät; Sie brauchen eine Gegenüberwachung. Es ist nur ein Spiel.»

Nachdenklich hält Oliver inne, bevor er fortfährt: «Eine Zeitlang hielt ich in Kalifornien den Biker-Rekord für Raser-Knöllchen. Ich war Mitglied in einem halbprofessionellen Renn-Club in San Francisco. Eines Nachmittags heizte ich auf der nördlichen Spur der Golden-Gate-Brücke und überholte in der leichten Kurve dort einen Polizeiwagen, der ungefähr halb so schnell wie ich unterwegs war. Später sagten sie, ich sei 196 gefahren, das muss eine Übertreibung gewesen sein: Ich könnte schwören, dass es allerhöchstens 185 waren.»

«Das ist kein Antinomianismus», fährt er fort. «Ich fahre einfach gerne schnell – wissen Sie, dieses Bewegungsgefühl.»

Unser Gespräch wendet sich dem gegenwärtigen Stand des Bein-Buchs zu. «Wie Gallien», sagt er, «mein Bein-Buch zerfällt von ganz alleine in drei Teile.»

Eins: ein Prolog, Begegnung mit dem Stier auf dem Berg, Sturz, und Rettung. Zwei: das Martyrium im Krankenhaus, im Einzelzimmer, größtenteils in meinem Kopf, extrem gesteigert durch ununterbrochene Selbstbeobachtung. Drei: Und jetzt, noch zu schreiben, ein ländlicher Turgenjew – gewissermaßen Erholung auf dem Lande. Frieden finden, durchatmen.

«Ich liebe Turgenjew. Meine Mutter hat Turgenjew gelesen.

Mein Freund, der Dichter Thom Gunn, berichtet, seine Mutter habe ihm während der Schwangerschaft den ganzen Edward Gibbon vorgelesen.»

Das führt uns zu einer allgemeineren Erörterung von Thom Gunn und Olivers Kollegin, der Ärztin Isabelle Rapin, und der Frage, welche Rolle sie in seinem Leben spielen.

«Bei Thom wie bei Isabelle Rapin dachte ich zunächst, sie seien die strengsten Menschen, denen ich je begegnet bin, und jetzt sehe ich, dass sie die freundlichsten sind – streng, ja, aber mitfühlend. In beiden Fällen ist die Basis ihre Rechtschaffenheit.

Und bei beiden kann die Rechtschaffenheit wie Strenge oder Liebenswürdigkeit wirken, je nachdem, auf welcher Seite der Rechenschaft sie sich selbst befinden – ich meine, im Laufe der Zeit hatte ich Gelegenheit, ihnen Texte zu zeigen, die ihnen Anlass zu Reaktionen beider Art gaben.

Thom ist unbarmherzig gegenüber allem, was nicht authentisch ist.»

Oliver springt auf, um ein Exemplar von Gunns neuem Buch zu zeigen, einen Band mit autobiographischen Essays und der Widmung:

Für Oliver, ein Buch voll hinkender Prosa

für einen Mann, dessen Prosa schreitet, läuft … springt!

An diesem Punkt fragt mich Oliver plötzlich, als hätte er einen Wink erhalten: «Wollen wir rudern gehen? Ich denke», fährt er fort, «da draußen wird es keine Probleme mit der Geschwindigkeitsbegrenzung geben. Da schaffen Sie bestenfalls fünf Stundenkilometer!»

Wir begeben uns zu der Schindelgarage an der Seite seines kleinen Hinterhofs – drinnen sind einige Ruder waagerecht an der Wand aufgehängt, bei einem ist der Griff abgebrochen. Wir nehmen uns die Ruder und die Rudergriffe und gehen bis zum Ende seiner Straße. (Ich rolle die Beine meiner Anzughose auf, Huck-Finn-Stil.)

Das Boot, vier bis fünf Meter lang, ist kieloben in einer kleinen Sandbucht vertäut, das neue Zahlenschloss voller Sand. «Nur ein jüdischer Intellektueller kann sich in eine solche idiotische Situation bringen», knurrt Sacks, während er mit dem Mechanismus kämpft. Trotzdem gelingt es den beiden jüdischen Intellektuellen schließlich, das Boot zu befreien.

Als wir auf dem Wasser sind (ich, im Bug sitzend, das Notizheft auf dem Schoß zusammenknüllt, fühle mich wie ein Fräulein mit Sonnenschirm), rudert Oliver mit ruhigem, gleichmäßigem Rhythmus, während das Boot das Wasser in Richtung des offenen Kanals zerteilt. Mehr als zwei Stunden rudert Oliver so mit unverändertem Rhythmus, während er dabei die ganze Zeit fröhlich redet. Zwar glitzert bald ein wenig Schweiß auf seiner Stirn, aber nicht ein einziges Mal stockt das Gespräch, weil er Atem holen muss – es gibt überhaupt keine Veränderung in seiner Atmung, obwohl eine solche körperliche Betätigung jeden anderen, den ich kenne, rasch erschöpfen würde.

Als er in Kalifornien war, berichtet Oliver, habe man ihn am Muscle Beach Doctor Squat (Doktor Hocke) oder Doctor Quads (Doktor Quadrizeps) genannt. Er hatte die kräftigsten Beine des Staates – er besitzt ein Foto, das ihn zeigt, wie er die kalifornische Meisterschaft im Gewichtheben gewinnt, indem er zweihundertsiebzig Kilogramm hochhebt! (Er zeigt mir das Foto, als wir zurück sind, er ist riesig, sein großes Gesicht aufgebläht vor Anstrengung – der gepflegte Bart erinnert an Abraham Lincoln und die Amish.) «Meine Disziplin nannte sich ‹Dead Lift› [bei deutschen Gewichthebern: Kreuzheben], und das aus gutem Grund – es bringt einen um. Tatsächlich habe ich mir im Laufe der Zeit eine Bandscheibe im Rücken beschädigt. Meine Beine waren kräftiger als mein Rücken! Mein Rücken war nicht schwach – er war auch stark, allerdings stark und verletzlich.»

Zurück aufs Wasser. Weit hinten schimmert das Empire State Building, am fernen Horizont im Süden – ein federleichtes Souvenir seiner selbst. «Das ist das Boot meines Nachbarn», erzählt Oliver mir, «er ist früher als Kapitän zur See gefahren: Manchmal rudert er zur Wall Street, das sind ungefähr 25 Kilometer.

Da drüben», fährt er fort und zeigt über seine Schulter, «ist die Throgs Neck Bridge. Das ist übrigens meine liebste Schwimmstrecke: von der Insel zu den Pylonen und zurück, insgesamt fast zehn Kilometer» (zwei Ruderschläge), «obwohl das ein bisschen gefährlich werden kann, da die Leute in ihren Motorbooten da draußen normalerweise nicht mit Schwimmern rechnen» (zwei Schläge), «vor allem nicht nachts.»

Eine kurze Pause, während er wendet und uns wieder auf Kurs bringt. «Das Schwimmen liegt in der Familie», sagt er. «Mein Vater war ein begeisterter Schwimmer.

Das Äquivalent der Überquerung des Ärmelkanals war für arme Leute eine vierundzwanzig Kilometer lange Strecke vor der Isle of Wight – ein Wettschwimmen, für das mein Vater eine Reihe von Rekorden in Zehnerschritten hielt – für Schwimmer in den Zwanzigern, in den Vierzigern, in den Sechzigern und gegenwärtig für Neunzigjährige.»

Und Ihre Mutter?, frage ich.

«Meine Mutter hatte nicht viel übrig fürs Schwimmen.» (Zwei Schläge.) «Sie hielt mehrere englische Rekorde im Standweitsprung.»

Ich weiß nicht recht, ob er mich mit der letzten Äußerung auf den Arm nehmen will. «Ja doch», beteuert er, «offenkundig eine sehr ungewöhnliche Sache für die damalige Zeit. Aber wissen Sie, meine Mutter war sehr koordiniert, nicht wie mein Vater, der so tollpatschig ist wie ich.

Ich schreibe gern so, wie ich rudere. Damals, 1979», sagt er und beschwört eine glücklichere Zeit, als läge sie in ferner Vergangenheit, «besonders auf Manitoulin Island in Kanada, befanden sich die Rhythmen von Schreiben und Rudern in vollkommenem Gleichklang. Ich arbeitete an einer Version des Bein-Buchs und musste schließlich aufhören, weil meine Finger vom vielen Tippen taub wurden, oder vielleicht auch, weil ich nicht über eine Besserung schreiben konnte, über die Rückkehr in die Welt, nicht darüber, die Rolle des besessenen solitären Forschers im Labor meines Ichs aufzugeben.

Rudern ermöglicht eine Prüfung von Haltung und Handlung aus der Innensicht. Ich liebe es, Experimente an und mit mir selbst vorzunehmen. Ich liebe es auch, zu schreiben, während ich schwimme. Manchmal muss ich zusehen, dass ich an Land komme, um aufzuschreiben, was ich gedacht habe – und dann geht es wieder hinaus!

Ich bin kein schneller Schwimmer. Aber stetig. Und ich kann ewig schwimmen.»

Während wir weiter durchs Wasser gleiten, zeigt Oliver über die Schulter nach Westen. «Das da, hinter dem Misthaufen, ist Co-op-City. Es ist ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus und vollkommen heruntergekommen. Architektonisch verlogen. Es ist nicht organisch und ist nie eine Gemeinschaft geworden – kein Wunder.»

Irgendwann bemerkt er, dass er die Ruderhalter falsch herum eingesetzt hat, und seine Versuche, diesen Umstand zu korrigieren, geraten ihm immer mehr zum Slapstick – das Ruder platscht herum und rutscht aus der Halterung.

«Da sehen Sie, wie dumm ich bin», kichert er, «hoffentlich auf der richtigen Seite der Letalität.»

Dann sagt er: «City Island war ursprünglich eine nautische Gemeinde – seine einheimische Industrie stellt nautische Ausrüstungen her – dieses Boot, alle meine Boote sind auf der Insel gebaut worden. Wegen der Nähe zum Einstein [Das Albert Einstein College of Medicine in der Bronx, wo er gelegentlich Lehraufträge wahrnimmt] gibt es hier zahlreiche Ärzte – und dann noch eine Menge seltsamer Leute. Es ist ein schizophrenes Paradies.

Inseln habe ich schon immer gemocht. Kennen Sie ‹Der Mann, der Inseln liebte› von D.H. Lawrence? Die Geschichte handelt von einem reichen Mann, der sich nach und nach auf immer öderen Inseln isoliert – seine Suche nach Utopien, vermute ich –, bis er auf einer zerklüfteten Klippe stirbt. Das ist eine weitere Geschichte, die mir meine Mama gerne vorgelesen hat. Auch Geistergeschichten hat sie mir oft vorgelesen.»

Mehr über seine Mutter: «In der Medizin war ich schon mit neun ihr Kollege.»

Mit ungefähr zwanzig arbeitete er als Ghostwriter für sie an einem Buch über die Menopause, das sich ganz gut verkaufte. «Weit besser als alles, was ich seither zustande gebracht habe: mehr als 200000 gedruckte Exemplare.[*] Sie würden den Stil vielleicht wiedererkennen. Seltsam natürlich, wenn man bedenkt, dass ich trotz meiner späteren medizinischen Ausbildung noch keine Ahnung hatte, was Frauen da unten haben. Es ist ein vollkommenes Skotom für mich.» (Skotom war eines seiner Lieblingswörter: nicht nur eine Art krankhaftes Loch im Gesichtsfeld, wie es bei bestimmten Migränearten auftritt, sondern gelegentlich auch als unheimliche Bewusstseinslücke.)

Dann schweift er ab zu einer allgemeinen Chronologie seines Studiums: Stipendium für Oxford 1950, Oxford 1951 bis 1955. Middlesex Hospital in London von 1955 bis 1958. Abschlussexamen in Medizin 1958, gefolgt von drei sechsmonatigen Praktika.

Wir umrunden einen der Pylonen unter der Throgs Neck Bridge und nehmen Kurs zurück zum City Island, noch immer rudert er gleichmäßig, kein Anzeichen für schweren Atem.

«1959 trat ich dann eine Reise nach Kanada an, auf der ich mich noch immer befinde.

Unter anderem verließ ich England, weil ich im August 1960 eingezogen werden sollte – als einer der Letzten, denn die Wehrpflicht wurde im September desselben Jahres abgeschafft.

Ich fand das extrem ungerecht, und trotzdem war ich, als ich in Kanada ankam, zu der Überzeugung gelangt, dass ich den Wehrdienst gerne ableisten würde – aber zu meinen Bedingungen. Also bewarb ich mich als Militärarzt bei der kanadischen Luftwaffe. Ich wurde nach Ottawa gebracht und von einem höheren Offizier interviewt, der schließlich sagte: ‹Wir hätten Sie gerne genommen, nur sind wir uns nicht sicher – sind uns aber sicher, dass Sie sich nicht sicher sind –, welche Beweggründe Sie haben.›»

Er empfahl Oliver, einige Monate umherzureisen, was dieser dann auch tat. Er kaufte sich ein Motorrad und fuhr kreuz und quer durchs Land, eine Zeit, die er später in einem unveröffentlichten langen Text mit dem Titel «Kanada: Pause» beschwor und die ihren Höhepunkt – vielleicht aus kompensatorischen Gründen – mit einem Einsatz bei der Waldbrandbekämpfung in British Columbia fand. Danach tauchte er in San Francisco auf.

«Ich habe mir immer gewünscht – und befürchtet – dazuzugehören – ich nehme an, das ist so ein jüdisches Ding. Dem trage ich beispielsweise Rechnung, indem ich am Einstein zu den Mitarbeitern gehöre, aber mich nie sehen lasse. Oder auch, dass ich in einer jüdischen Nachbarschaft lebe, aber für die Kleinen Schwestern arbeite.»

Wir landen an dem kleinen Strandstreifen am Ende der Horton Street und ziehen das Ruderboot an Land. Dann gehen wir die Straße hinauf, halten kurz an seinem Haus, um sein prothesenartiges Rückenkissen zu holen, und gehen zur Hauptstraße, biegen nach rechts in Richtung einiger Restaurants ab, lassen uns in einem nieder, wo sich Oliver Calamari bestellt, was ihn veranlasst, von seiner Gymnasialzeit an der St. Paul’s Academy in London zu erzählen. Er, Eric Korn, der Antiquar und Kolumnist des Times Literary Supplement, und Jonathan Miller, Arzt und Dramaturg (und begeisterter Veteran von Beyond the Fringe), waren enge Freunde und besuchten gemeinsam einen legendären Biologiekurs. Jeder suchte sich seine taxonomische Gruppierung aus: Jonathan – Meereswürmer; Eric – Seegurken, und Oliver – Kopffüßer (einschließlich seiner Lieblingsgruppe, der Tintenfische).

Eines Tages, so berichtet Oliver, als er die Sommerferien bei Jonathans Eltern verbrachte, kamen er und Jonathan an einem Fischmarkt vorbei und hörten einen Händler billigen Tintenfisch anpreisen. Oliver kaufte ungefähr hundert Stück, die die beiden Jungen – ohne Konservierungsmittel – in einem versiegelten Einmachglas im Keller des Miller’schen Hauses verwahrten.

«Nachdem wir sie einige Wochen sich selbst überlassen hatten», erzählt Oliver, «explodierte das Glas natürlich mit einem dumpfen, rülpsenden Knall und setzte den wohl ekelhaftesten Gestank der Welt frei, den von verdorbenem Tintenfisch. Verzweifelt versuchten wir, den Geruch mit verschwenderischem Einsatz von Lavendelwasser zu verdecken, erreichten damit aber nur, dass sich der Raum mit wechselnden Geruchsschichten füllte – überreifem Lavendel und verfaultem Tintenfisch –, Gerüche, die offenbar mit keinem Reinigungsmittel zu beseitigen waren. Ich bin mir sicher, dass wir den Wert der Immobilie über Nacht erheblich gemindert hatten, und ich denke nicht, dass Jonathans Eltern mich danach noch sehr gern bei sich zu Hause gesehen haben.»

Seine frühe Leidenschaft, als er etwa zehn war, sagte er, habe der der Chemie gegolten. Als er nach den höllischen Jahren in der schrecklichen Schule außerhalb Londons zurückkehrte, war er bei einem Besuch des Science Museum völlig überwältigt von der «Vision, die mich beim Anblick des Periodensystems überkam. Als ich diese Tafel anschaute, sah ich, wie in einem einzigen Blick zusammengefasst, die Logik der ganzen Welt vor mir, und schon bald hatte ich zu Hause ein eigenes Labor. Meine Eltern waren großzügig, auch wenn sie in der ständigen Gefahr lebten, in die Luft gejagt zu werden – ich war schon damals leichtsinnig und ließ mehr als einmal etwas Schwefel im Spülbecken der Küche liegen, der dann explodierte und unserer Köchin einen heillosen Schrecken einjagte.»

Doch später, am St. Paul’s, wandte sich sein Interesse der Biologie zu, auch wenn diese Neigung nie so intensiv wurde wie die Leidenschaft, die ihn bei der ersten Begegnung mit der Chemie gepackt hatte.

«Vielleicht», so vermutet er, «hing die relative Abnahme der Leidenschaft mit sexuellen Störungen zusammen» (er kam gerade in die Pubertät), «oder vielleicht, weil ich jetzt zum Umgang mit anderen gezwungen war. Alles, was ich bis dahin getan hatte, hatte ich heimlich und allein gemacht. Beispielsweise hat mich Jonathan Miller bei unserer ersten Begegnung in einer Ecke der Schulbibliothek angetroffen, wo ich zusammengesunken saß und völlig vertieft in ein Buch über Elektrostatik war.»

Als Oliver in die St. Paul’s kam, begierig auf Naturwissenschaften, riet ihm der Direktor zunächst davon ab und legte ihm die herkömmlichen klassischen Fächer ans Herz. «Doch mit der allgemeinbildenden Ausrichtung war Schluss, als ich dreizehn war, danach ging es nur noch um reine Naturwissenschaft.»

Und woher hatte er dann die ganze Philosophie?

«Zwischen sechzehn und neunzehn, als ich mir in puncto Naturwissenschaften nicht mehr so sicher war, las ich auch Dinge außerhalb ihrer Grenzen, getrieben von einem philosophischen Drang und Bedürfnis. Ich arbeitete mich durch eine Riesenmenge nutzloser, hoffnungsloser philosophischer Lektüre hindurch, die mir wirklich nicht das Geringste brachte. Später in Oxford, wo ich direkt gegenüber der Bibliothek wohnte, las ich Keynes, die Bloomsbury-Gruppe, Kierkegaard, aber nie im Rahmen des College-Studiums. Insofern war es bei mir anders als bei Jonathan in Cambridge, wo er ein Mitglied der Apostles war, einer Gruppe, die tiefgründige Diskussionen führte. Und ich beneidete ihn darum.

Allerdings blieb, wie gesagt, nichts wirklich haften. Ich fühlte mich sehr angesprochen von Humes Klarheit, obwohl er mir nichts Positives zu geben hatte. Ein Jahrzehnt später, 1966, entbrannte ich in Liebe zu Spinoza, woraus ein ganzer fünfter Teil des Migräne-Buchs entstand, als eine Art ‹fruchtbares Nachbeben› wie bei Rilke nach Duino, den ich aber dann doch fortließ, weil er die ansonsten klassischen Proportionen des Buches aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.

Meine Leibniz-Erleuchtung kam sehr viel später, im April 1972, ein düsterer Monat, obwohl die Sonne an jedem Tag zu scheinen schien.» (Das muss mitten im Awakenings-Dramagewesen sein, lange bevor er das Buch beendete. Außerdem war es kurz nachdem Auden Amerika verlassen hatte: Oliver hatte ihn am 15. April zum Flughafen gebracht.) «Ich ging in einen kleinen Buchladen Ecke Dritte und Achtundachtzigste und griff mit seltsam nachtwandlerischer Sicherheit einen Band des Briefwechsels zwischen Leibniz und Arnauld heraus – und mein Universum explodierte. Auch für Dewey war Leibniz übrigens eine Initialzündung. Ich glaube, wir waren beide in ähnlicher Weise angetan von der organischen inneren Tätigkeit bei Leibniz. (Gott sei Dank hatte ich noch nicht gelesen, was Bertrand Russell über Leibniz schreibt – es hätte ihn für mich erledigt.)»

Er schweigt einen Augenblick und schiebt den letzten Calamaro mit der Gabel hin und her. «Entscheidend ist, dass ich einen philosophischen Rahmen brauche, sonst würden mich meine Patienten ständig aus dem Gleichgewicht bringen. Und als ich beim Schreiben des Bein-Buchs das Klinische mit dem Philosophischen vereinigte, konnte ich nicht begreifen, dass ich mich nicht schon vorher an einen solchen Rahmen getraut hatte – oder warum ich es nicht ständig tue.»

Wir sehen auf und gehen ins Haus zurück. Wie geht es mit dem Bein-Buch voran?, frage ich. Seine Stimmung schlägt augenblicklich um, wird düster und finster, und er legt den Rest des Weges ziemlich schweigsam zurück.

Kapitel ZweiFrühe Kindheit, Exil in Harrowing, grausamer Judaismus, Homosexualität und mütterlicher Fluch

Während der folgenden Wochen bekam ich grünes Licht vom New Yorker und die Erlaubnis von Oliver, mit dem biographischen Projekt zu beginnen. Eines unserer nächsten Treffen fand im New York Botanical Garden statt, jenseits (und unter) dem Bronx River Parkway vom Beth Abraham aus. Zunächst erzählte Oliver mir, dass er an mehr als dreihundert Tagen im Jahr hierherkommt, wobei er eine Liebe zur Botanik bekundet, die dem Uralten, wenn nicht sogar Urzeitlichen, gilt (sowohl im Hinblick auf das, was er liebt – Farne, Mose, Palmfarne – wie auf die Liebe selbst, die, wie er behauptet, auf seine frühesten Kindertage im Garten seines Elternhauses zurückgeht).

Irgendwann erwähnte ich, dass ich in der nächsten Woche nach Kalifornien reisen würde, um mit der University of California Press über das bevorstehende Erscheinen meines Buchs über Robert Irwin zu sprechen, woraufhin Oliver mir vorschlug, bei dieser Gelegenheit zwei seiner engsten Freunde aus seiner Assistenzzeit zu besuchen, die er Anfang der siebziger Jahre in Kalifornien abgeleistet hatte (in San Francisco von September 1960 bis Juli 1962 und dann in Los Angeles ununterbrochen bis Oktober 1965). Die Freunde waren Bob Rodman und Thom Gunn.

Oliver berichtete, wie er und Rodman sich während der Facharztausbildung an der University of California in Los Angeles kennenlernten und feststellten, dass sie ein gemeinsames Hobby hatten – die Landschaftsfotografie («Kalifornien erzeugte bei mir den Gefühlsüberschwang eines Fotografen»). «Und Bob», versicherte er mir, «kann sich ganz genau an Zeiten erinnern, die ich aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Ich habe eine vollkommene Amnesie – oder gebe es zumindest vor – für die Zeit von 1948 bis 1966.»

Anschließend verglichen sie ihre Texte miteinander. Und er sah Rodmans Tochter als sein Patenkind an. Rodmans Frau starb 1974 zu der Zeit, als Oliver mit seiner Beinverletzung und deren Folgen zu tun hatte. Oliver schlug Bob vor, seinen Kummer in Kunst zu verwandeln, das Ergebnis war Bobs Buch («ein sehr schönes Buch») – Not Dying (dt.: Den Tod vor Augen, Düsseldorf 1979). «Zweifellos haben diese intensiven Gefühle, die wir miteinander teilten, dazu geführt, dass wir uns auf einer tieferen, empfindsameren Ebene begegneten.»

Zu Gunn, dem bedeutenden, aus England verpflanzten Dichter, den ich später in San Francisco treffen sollte, berichtete Oliver: «Ich lernte Thom durch seine Dichtung kennen: Seine erste Sammlung Fighting Terms und dann vor allem die nächste, The Sense of Movement, sprachen mich außerordentlich an. Tatsächlich hatte ich mir fest vorgenommen, ihn aufzusuchen, als ich zum ersten Mal von Kanada nach Kalifornien fuhr.

Ich kam im September 1960 an, und wir trafen uns etwas später. Damals sah ich ihn oft. Ich machte viele Fahrten mit meinem Motorrad, schrieb eine Menge Reisetexte – ich war hingerissen und weitschweifig und zeigte ihm meine Sachen. Er kritisierte einige Texte auf eine Weise, die ich damals grausam fand: Ich näherte mich ihm schutzlos und verletzlich, als Schüler oder Jünger, und seine Kritik veranlasste mich wohl, mich zurückzuziehen.

Trotzdem besuchte ich ihn noch von Zeit zu Zeit. Durch die Veröffentlichung von Awakenings sind wir uns wieder nähergekommen. Er schrieb mir einen Brief, der mich damals tief berührte: Monatelang trug ich ihn in meiner Tasche oder Brieftasche mit mir herum. Ich schrieb eine Antwort nach der anderen, bis es weit über zweihundert Seiten waren, keine schickte ich ab.»

Was hatte Gunn geschrieben?

«Im Prinzip sagte er, als er mich 1961 das erste Mal traf, habe er mich für den klügsten Menschen gehalten, den er jemals getroffen habe, und doch gefunden, etwas fehle mir, und zwar das Wichtigste – Anteilnahme, Menschlichkeit –, etwas, dessen Fehlen ihn an der ganzen übrigen Person verzweifeln ließ. ‹Ich bin an dir verzweifelt›, schrieb er, ‹und nun dies. Was ist geschehen? Was hat sich verändert?›»

Ich fragte Oliver: Was war es?

«Nun, das würde eine Autobiographie erforderlich machen, oder?» Oliver zögerte, wartete, stammelte, schien sich zu fragen, wie viel er preisgeben sollte, wie viel Offenheit er sich erlauben durfte. Ich versicherte ihm, ich würde ihm vor der Veröffentlichung einer eventuellen Kurzbiographie alles vorher zu lesen geben. Er seufzte tief und fuhr fort:

«Na ja, hm … was mich an … Thom Gunns Dichtung besonders berührte, war seine homoerotische Lyrik, eine romantische Perversität. Das Widernatürliche verwandelte sich in Kunst. Er verlieh Dingen eine Stimme, die ich mir allein und ganz für mich ausgemalt hatte, das erfüllte mich mit Bewunderung. Außerdem behandelte er Aspekte, mit denen ich selbst nie zurechtgekommen war und es noch immer nicht bin.»

Ein weiteres nachdenkliches Schweigen.

«Damals – ich meine Anfang der 1970er Jahre – habe ich viel über Sex geschrieben, häufig satirische Porträts, und Thom fand einige von ihnen (besonders eines über einen gemeinsamen Freund) grausam und gehässig. Vielleicht hatte er recht. Tatsächlich schrieb ich zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig eine Menge über Sex, Texte, die eine gewisse Kraft und Perversität besaßen. Doch das alles hörte vor zwanzig Jahren auf.»

Wieder eine Pause. «Der Unterschied ist, Thom schilderte Dinge mit Empathie, die ich gehässig beschrieb. Ich meine, da waren einige Sachen, die ihm gefielen: ein langer lyrischer Text über Fetischismus, den er sehr schätzte.

Überdies waren wir beide Engländer, mehr noch, wir waren beide Londoner, und damit noch nicht genug, wir kamen beide aus Hampstead Heath – dieselben kleinen Hügel bildeten unser beider Urlandschaft.»

Ganz vorsichtig versuchte ich, das Gespräch wieder auf Olivers Sexualität zu bringen. «Das Kapitel ist abgeschlossen», unterbrach er mich schroff. «Schon seit Jahren. Ich bin jetzt seit mehr als fünfzehn Jahren mit niemandem mehr zusammen gewesen.» Es folgte eine lange Pause, in der er etwas herumdruckste. «Zölibatär. Zöli…batär.» Er lief zu einer Sonnenblume hinüber, die den Kopf hängen ließ, hob ihren Fruchtstand sanft an sein Gesicht und begann die kleinen Früchte vorsichtig zu betasten, wobei sich sein Gestammel in begeisterte Ohs und Ahs verwandelte.

«Im Alter von fünf Jahren», begann er ausholend, auffällig bemüht, wie mir schien, das Thema zu wechseln, «begeisterte ich mich für die Sonnenblumen im Garten meines Vaters. Ich kannte ihre Bezeichnung nicht, aber war fasziniert von der Art und Weise, wie die Samen im Fruchtstand sich zu verschiedenen Primzahlen organisierten. Woraufhin ich über das Wesen der Primzahlen selbst nachzudenken begann. Das wiederum veranlasste mich, die Zahl Pi genauer zu betrachten, die ich schließlich auf mehrere hundert Stellen berechnete. Im Kopf.

«Komisch», sagte er. «Kürzlich habe ich ein Buch über einen absonderlichen Rechenkünstler gelesen – natürlich ein faszinierendes Buch, aber leider überzeugt mich der ganze Ansatz nicht. Der Autor begreift den entscheidenden Unterschied zwischen Rechnen und numerischer Anschauung nicht. Ich war als Kind selbst ein Rechenkünstler, das heißt, ich konnte Aufgaben höherer Ordnung im Kopf lösen – besonders gut war ich in langen Multiplikationsfolgen, im Wurzelziehen und Ähnlichem (auch mein Vater konnte lange Zahlenreihen auf einen Blick addieren) – aber mir gefiel vor allem meine numerische Anschauung: das Gefühl, spielerisch eine pythagoreische Landschaft zu durchstreifen.

Große Teile der Literatur beschäftigen sich mit der Zurschaustellung absonderlicher Fähigkeiten, sind exhibitionistisch. Aber es gibt kaum etwas über die numerische Begabung. Nehmen Sie zum Beispiel Zacharias Dase, einen Rechenkünstler, der ansonsten ein Dummkopf war; wenn eine Handvoll Erbsen auf einen Tisch geworfen wurden, soll er sofort ‹117› gesagt haben, wobei im Allgemeinen angenommen wird, er habe die Erbsen sehr rasch gezählt. Aber die wirkliche Frage, die Dase aufwirft, lautet: ‹Was ist ein Blick?› Denn ich bin überzeugt, dass er sie mit einem Blick als 117 gesehen hat.»

Oliver ließ den Stängel der Sonnenblume los, deren Kopf daraufhin wippend in seine hängende Position zurückkehrte.

«Oder nehmen Sie den Fall der Fin-Zwillinge, mit denen ich im Laufe der Jahre mehrmals zusammengekommen bin: Die kalendarische Landschaft ist vor ihnen ausgebreitet, und sie wandern in ihr herum wie in einem Park. Für ein numerisches Wunderkind können Zahlen ein Kinderland darstellen, in dem die Ziffern ihre Freunde sind. Und in meinem Fall erwies sich diese numerische Anschauung als Vorläuferin ähnlicher Beziehungen zum Periodensystem und zu naturwissenschaftlichem Staunen überhaupt.

Vor allem aber müssen wir die Vorstellung von der ‹Freak-Show› vermeiden. Die Fin-Zwillinge konnten mir sagen, an welchem Tag ich sie zehn Jahre zuvor gesehen hatte. Aber sie sind numerische Artisten und keine Rechenkünstler. Und ihre Kunst ist umso eindrucksvoller, als sie von so geringem Ansehen ist.»[*]

Im Fortgang beschrieb Oliver mir die Vertreibung aus diesem Paradies seiner frühen Jahre. Mit sechs Jahren, nicht lange nach dem Tod eines geliebten Hebräischlehrers, wurden er und sein älterer Bruder Michael nach dem Beginn der Schlacht um England im Juni 1940 in aller Eile in «dieses schreckliche Internat auf dem Land» geschickt, wie er es heute beschreibt. «Der Direktor war ein obsessiver Prügler, seine Frau eine gottlose Schlampe und die sechzehnjährige Tochter eine krankhafte Petze. Der Ort hieß Braefield, allerdings gewöhnte sich Michael rasch an, ihn Dotheboys zu nennen, nach dem Drecksloch in Nicholas Nickleby von Dickens. Und das tut er bis auf den heutigen Tag: Er hat lange Abschnitte dieses Buches auswendig gelernt und kann sie auf Knopfdruck hersagen … Wir wurden geschlagen. Ich wurde jeden Tag geschlagen. Als uns unsere Eltern endlich besuchten, stürzte ich zu meiner Mutter, umklammerte ihre Knie und schrie: ‹Nie wieder! Nie wieder! Verlass mich nie wieder!› Aber sie tätschelte mich und versicherte mir, das sei sicherlich alles nicht so schlimm, und brach bald wieder auf. Das war das letzte Mal, dass ich ihr gegenüber ein stärkeres Gefühl äußerte.»

Was war mit seinen Eltern? Was taten die?

«Nun ja, als Kind glaubte ich, sie seien vor allem damit beschäftigt, mich allein zu lassen. Tatsächlich hatten sie außerordentlich viel zu tun, das verstand ich später verstandesmäßig, aber gefühlsmäßig nie so richtig.»

Sie waren beide Ärzte und arbeiteten während der Schlacht um England bis zur Erschöpfung.

«Meine Mutter war Chirurgin, daher radelte sie eilig von einem Schauplatz der Verwüstung zum anderen und operierte unter entsetzlichen Bedingungen. Das war vor dem Zeitalter der Antibiotika, als chirurgische Komplikationen grauenhaft waren.

Aber diese Trennung der Kinder von ihren Eltern – da war eine grundsätzliche Entscheidung getroffen worden: Die Jugend des Empires sollte unter allen Umständen in Sicherheit gebracht werden. Wie dem auch sei, ich glaube in der Rückschau, dass es psychologisch ein Fehler war. Es wäre besser gewesen, wenn wir den Bomben im Schoße unserer Familien getrotzt hätten.»

Wie fühlten sich Ihre Eltern dabei?