Overlord – Light Novel, Band 01 - Kugane Maruyama - E-Book

Overlord – Light Novel, Band 01 E-Book

Kugane Maruyama

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Beschreibung

Zwölf Jahre lang beherrschte das Online-Rollenspiel Yggdrasil die Gaming-Welt. Für den Gildenmeister, den sogenannten Overlord, mit dem Alias "Momonga" und seine Gilde Ainz Ooal Gown war es ein aufregendes Abenteuer. Doch jetzt ist der Hype um das Game vorbei und die Server sollen abgeschaltet werden. Als sich Momonga ein letztes Mal einloggt, um da zu sein, wenn das Spiel offline geht, geschieht das Undenkbare: Er kann sich nicht mehr ausloggen. Und die Spielfiguren der Großen Gruft von Nazarick beginnen, sich wie lebendige Menschen zu bewegen und zu handeln. Die Fantasie wird zur tödlichen Realität. Auch wenn das Spiel vorbei ist, hat die epische Geschichte von Ainz Ooal Gown gerade erst begonnen ...

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1Das Ende und der Anfang

Kapitel 2Die Ebenenwächter

Kapitel 3Die Schlacht beim Dorf Carne

Kapitel 4Ein Duell

Kapitel 5Der Herrscher über den Tod

Epilog

Charakterprofile

Nachwort

Direkt vor den beiden Mädchen – eines war etwas jünger als das andere – ragte eine Gestalt in voller Rüstung auf und schwang ein Schwert.

Die Klinge reflektierte das gleißende Sonnenlicht, als wollte sie sagen, dass es ein Akt der Gnade wäre, ihrem Leben mit einem einzigen Hieb ein Ende zu setzen.

Das Mädchen schloss die Augen und biss sich dabei ganz unwillkürlich auf die Unterlippe. Sie hatte keine Wahl. Sie musste akzeptieren, was nun geschehen würde. Wenn sie doch wenigstens ein winziges bisschen Kraft besessen hätte, dann hätte sie die Gestalt vor ihr wegstoßen und fliehen können …

Aber sie war machtlos.

Es gab keinen Ausweg.

Sie würde sterben.

Das Schwert schnellte nieder …

… aber der Schmerz kam einfach nicht.

Sie öffnete ihre Augen wieder.

Das Erste, was sie sah, war das Schwert, das mitten im Schlag innegehalten hatte.

Das Nächste war die Gestalt, die das Schwert in den Händen hielt. Der Ritter wirkte wie erstarrt, sein Blick war auf etwas neben dem Mädchen gerichtet. Dass er sich im Kampf eine derartige Blöße gab, offenbarte den Schock, den er gerade empfinden musste.

Das Mädchen folgte seinem Blick …

… und sah den Schrecken.

Es war reinste Finsternis.

Ein Stück pechschwarze hauchdünne Dunkelheit, aber so tief, als reiche sie bis in die Unendlichkeit. Eine ovale Form erhob sich aus dem Boden, die untere Seite abgeschnitten. Es sah wundersam aus und verursachte bei ihr ein Gefühl extremen Unbehagens.

Eine Tür? war der Gedanke, der ihr bei diesem seltsamen Anblick kam.

Nur einen Augenblick später erkannte sie, dass sie tatsächlich richtig geraten hatte. Etwas glitt aus der Dunkelheit heraus. Und dann entfloh ihren Lippen ein schriller Schrei – »Iiieeh!« – als ihr klar wurde, was es war.

Ein Mensch hätte gegen ein solches Wesen keine Chance.

Nebliges rotes Licht flackerte wie eine Flamme in den leeren Höhlen eines bleichen Schädels. Der gefühllose Blick traf die Mädchen, als ob sie lebende Beute wären. Hautlose, fleischlose Hände, gleichzeitig erhaben und doch grauenerregend, umfassten ein Zepter, das so prächtig war, als würde es die Schönheit der ganzen Welt in sich vereinen.

Es war, als wäre der Tod, gehüllt in eine aufwändig verzierte rabenschwarze Robe, aus einer anderen Welt in diese hineingeboren worden und hätte die Dunkelheit mit sich gebracht.

Die Luft erstarrte augenblicklich.

Sogar die Zeit selbst schien bei der Ankunft des Absoluten stillzustehen.

Als wäre ihre Seele fortgerissen worden, vergaß das Mädchen zu atmen.

Ohne jegliches Zeitgefühl fiel ihr das Einatmen ungemein schwer und sie schnappte mühsam nach Luft.

Ein Bote aus dem Jenseits ist gekommen, um uns fortzulocken. Aber das schien nicht richtig zu sein. Der Ritter hinter ihnen war ja auch erstarrt.

»Ngah …« Ein geräuschvoller Atemzug drang an ihre Ohren, den man nicht wirklich Schrei nennen konnte, aber ob er von ihr selbst, ihrer kleinen Schwester oder dem Ritter mit dem Schwert vor ihnen herrührte, konnte sie nicht sagen.

Die Finger des Todes – von denen nur blanke Knochen übrig waren – streckten sich langsam und schnellten dann nach vorn, griffen jedoch nicht nach den Mädchen, sondern packten den Ritter.

Sie wollte wegsehen, aber sie war von zu viel Furcht erfüllt. Sie hatte das Gefühl, dass sich das Monster in etwas noch Schrecklicheres verwandeln würde, wenn sie den Blick abwandte.

»Grasp Heart.«

Die Inkarnation des Todes machte eine Handbewegung und das laute Geräusch von schepperndem Metall erklang neben dem Mädchen.

Sie fürchtete sich davor, den Tod auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, doch sie verlor gegen den kleinen Funken Neugier, der in ihrem Inneren glomm, und spähte zum Ritter hinab, der mit dem Gesicht nach unten am Boden lag. Er bewegte sich nicht.

Er war tot.

Ja, tot.

Die Gefahr, die ihren eigenen Tod bedeuten sollte, hatte sich auf lächerlich simple Art und Weise in Luft aufgelöst, doch sie konnte sich nicht freuen. Der Tod hatte nun lediglich eine konzentriertere Form angenommen.

Der Tod schien die Angst in ihrem Blick mit seinem gesamten Körper wahrnehmen zu können und bewegte sich unaufhaltsam auf sie zu.

Die Dunkelheit, die zuvor ein klar umrissenes Oval gebildet hatte, begann sich auszubreiten.

Sie wird uns verschlucken.

Sie drückte ihre Schwester an sich.

Der Gedanke zu fliehen war ihr schon lange fern.

Wäre ihr Gegner ein Mensch gewesen, hätte sie sich der kleinen Hoffnung eines »Vielleicht« hingegeben und irgendetwas unternommen, doch das Wesen vor ihr zerschlug diese Hoffnung, als wäre sie nichts wert.

Bitte mach, dass es wenigstens nicht wehtut …

Das war das Einzige, worauf sie jetzt noch hoffen konnte.

Ihre kleine Schwester klammerte sich an ihrer Taille fest und zitterte vor Furcht am ganzen Körper. Sie wollte sie so gerne retten, aber das war unmöglich. Alles, was sie tun konnte, war, sich für ihre Machtlosigkeit zu entschuldigen und dafür zu beten, dass sie gemeinsam sterben würden, sodass sie ihrem Ende wenigstens nicht allein entgegensehen mussten.

Und dann …

Kapitel 1: Das Ende und der Anfang

1

Im Jahr 2138 existierte etwas, das sich »DMMO-RPG« nennt.

Dies steht für »Dive Massively Multiplayer Online Role-Playing Game«. Während die Spieler mit einen intrakranialen Nanocomputer-Netzwerk verbunden sind, dem »Neuro-Nano-Interface«, das die beste Cyber- und Nanotechnologie in sich vereint, können sie physische Empfindungen so wahrnehmen, als wären sie tatsächlich mit ihren realen Körpern in der imaginären Welt.

Man spielt also, als wäre man wirklich in der Spielwelt.

Und unter all den DMMO-RPGs, die es zu jener Zeit auf dem Markt gab, stach eines hervor.

Yggdrasil.

Es war zwölf Jahre zuvor erschienen, im Jahr 2126, entwickelt von einem japanischen Spielehersteller, der nur auf den richtigen Moment für die Veröffentlichung gewartet hatte.

Im Vergleich zu anderen DMMO-RPGs bot Yggdrasil dem Spieler eine ungeahnte Fülle an Freiheiten.

Dies zeigte sich zum Beispiel am Klassensystem, das ein fundamentales Element individueller Charakterentwicklung darstellte. Zählte man die fortgeschrittenen Klassen inklusive der Basisklassen, kam man auf weit mehr als 2000. Da jede Klasse nur maximal 15 Level hatte, konnten Spieler sieben oder mehr Klassen bis zum Levelmaximum von 100 haben. Solange sie die Grundvoraussetzungen erfüllten, konnten sie damit herumjonglieren, wie sie wollten. Auch wenn es ineffizient war, konnte ein Spieler insgesamt bis zu 100 Klassen auf Level 1 haben, wenn er es wollte. Mit anderen Worten: Das System war so konzipiert, dass kein Charakter je dem anderen glich, es sei denn, man hätte sie ganz gezielt so geplant.

Außerdem konnte man mithilfe eines Designer-Toolkits, das separat verkauft wurde, das Aussehen seiner Waffen und seiner Rüstung sowie die erweiterten Einstellungen seiner In-Game-Behausungen anpassen.

Die Welt, in die die Spieler eintauchen konnten, war gigantisch. Tatsächlich gab es neun verschiedene Spielbereiche: Asgard, Alfheim, Vanaheim, Nidavellir, Midgard, Jotunheim, Niflheim, Helheim und Muspelheim.

Eine riesige Welt, eine beeindruckende Anzahl an Klassen und eine Grafik, die man nach Herzenslust anpassen konnte – das war genau der Treibstoff, der den kreativen Geist der Japaner beflügelte und zu der explosiven Popularität des Spiels führte. Dies ging sogar so weit, dass man in Japan den Ausdruck DMMO-RPG bald mit Yggdrasil gleichsetzte.

Doch dies lag nun alles in der Vergangenheit …

*

Im Zentrum des Raums befand sich ein gigantischer, kreisrunder Tisch, der glänzte wie polierter Obsidian. Darum herum standen einundvierzig prächtige Stühle.

Die meisten von ihnen waren jedoch leer.

Einst war jeder Platz besetzt gewesen, doch nun blieben nur zwei Gestalten übrig.

Eine von ihnen trug eine extravagante rabenschwarze Robe, ähnlich einem Talar, mit violetten und goldenen Verzierungen. Der Kragen war vielleicht schon fast etwas zu reich verziert, aber er stand seinem Träger gut.

Der kahle Kopf dieser Gestalt wies weder Haut noch Fleisch auf – er bestand nur aus blankem Knochen. Rot-schwarze Flammen traten aus seinen klaffenden Augenhöhlen hervor und hinter seinem Rücken schimmerte eine Art schwarzer Strahlenkranz.

Der andere Anwesende war ebenfalls nicht menschlich. Er mutete eher an wie ein amorpher schwarzer Klumpen, fast wie Kohlenteer. Seine ununterbrochen pulsierende Oberfläche gab zu verstehen, dass er keine feste Form besaß.

Der, der die Robe trug, war ein Elder Lich – ein untotes Wesen, das übrig blieb, wenn ein Magic Caster seine magischen Fähigkeiten bis ins Extreme trieb – und die elitärste Art dieser Wesen: ein Overlord. Der andere war ein Elder Black Ooze und gehörte dem Schleimvolk an, dem einige der stärksten Säurefähigkeiten im Spiel zur Verfügung standen.

Beide Rassen tauchten manchmal als Monster in den am schwierigsten zu bezwingenden Dungeons auf. Die verschiedenen Typen von Overlords nutzten die höchste Form böser Magie, während die Elder Black Oozes die Fähigkeit hatten, Waffen und Rüstungen zu zersetzen, was dazu führte, dass einer nicht weniger verhasst war als der andere.

Aber diese beiden hier waren keine Monster.

Sie waren Spieler.

Die Rassen, die Spieler in Yggdrasil sich aussuchen konnten, waren in drei Hauptkategorien aufgeteilt: menschliche Rassenklassen (Menschen, Zwerge, Elfen und so weiter), halbmenschliche Rassenklassen, die nicht so schön anzusehen, aber stärker als Menschliche waren (Goblins, Orks, Oger etc.) sowie heteromorphe Rassenklassen die die Fähigkeiten von Monstern besaßen und mehr Stat-Punkte als die anderen Rassen bekamen, dafür jedoch auf andere Weise eingeschränkt wurden. Gemeinsam mit all den Sub-Rassen gab es insgesamt siebenhundert Rassenklassen, unter denen der Spieler wählen konnte.

Overlords und Elder Black Oozes waren also zwei der hochrangigen heteromorphen Rassenklassen, die ein Spieler werden konnte.

Der Overlord sprach, ohne seinen Mund dabei zu bewegen. Sogar für den einstigen Gipfel aller DMMO-RPGs war es immer noch unmöglich gewesen, die Gesichtsmimik so zu animieren, dass sie sich automatisch anpasste, wenn man sprach.

»Es ist lange her, HeroHero. Auch wenn heute der letzte Tag ist, an dem Yggdrasils Server online sind, hätte ich nicht gedacht, dass du tatsächlich kommst.«

»Aber echt. Lange nicht gesehen, Momonga«, antwortete eine andere männliche Stimme, die im Vergleich zur vorigen jedoch ziemlich leblos klang.

»Ich glaube, wir haben uns nicht mehr getroffen, seitdem du deinen Job IRL gewechselt hast, und das war … Wie lang ist das her? Zwei Jahre?«

»Hm, ja, so ungefähr. Mann, das ist verdammt lang her … Wahnsinn. Mein Zeitgefühl ist total durcheinander von den ganzen Überstunden, die ich machen muss.«

»Klingt echt hart. Bist du okay?«

»Körperlich? Na ja, ziemlich kaputt. Nicht so, dass ich zum Arzt gehen muss, aber schon nah dran. Ugh. Ich will einfach nur weg von alldem. Aber ich muss schließlich irgendwas zu beißen haben, also reiß ich mir halt den Arsch auf und lass mich wie einen Sklaven behandeln.«

»Oh Mann …« Der Overlord Momonga lehnte sich zurück, weil er nicht in der Lage war, eine Grimasse zu schneiden – diese Unterhaltung war irgendwie ein richtiger Stimmungskiller.

»Es ist eine einzige Scheiße.«

Momonga fand das Ganze ohnehin schon schrecklich, aber was HeroHero noch hinzufügte, klang genauso furchtbar, wie er behauptete.

Die Nörgelei über ihre Jobs in der Realität kam nun erst richtig ins Rollen: Sie ließen sich darüber aus, dass ihre Kollegen keine Ahnung von Kommunikation hatten, dass wichtige Dokumente jeden Tag aufs Neue geändert wurden, dass ihre Chefs ihnen die Hölle heiß machten, wenn sie ihr Pensum nicht erreichten, dass sie fast nie nach Hause gehen konnten, weil es zu viel Arbeit gab, dass sie durch all die Überstunden extrem an Gewicht zulegten und dass sich die Zahl der Medikamente, die die beiden deswegen schlucken mussten, unaufhaltsam steigerte.

Ab einem bestimmten Punkt schien es, als wäre bei HeroHero ein regelrechter Damm gebrochen, und Momonga schlüpfte in die Rolle des Zuhörers, während die Wellen der Beschwerden über ihn hereinbrachen.

In einer Fantasiewelt über das reale Leben zu sprechen war bei vielen nicht gern gesehen. »Haltet eure Realität von meinem Tagtraum fern« war sicherlich eine Einstellung, die man leicht nachvollziehen konnte, doch diesen beiden ging es da anders.

Es gab zwei Voraussetzungen, die alle Mitglieder ihrer Gilde, Ainz Ooal Gown, erfüllen mussten. Eine davon war, ein Erwachsener mit festem Job zu sein, und die andere war, einen Heteromorphen zu spielen.

Da es so eine Art von Gilde war, war es nicht ungewöhnlich, dass man über die Arbeit lästerte, und für die Mitglieder war das auch völlig in Ordnung. Die Unterhaltung, die die beiden gerade führten, gehörte in Ainz Ooal Gown praktisch zum Alltag.

Inzwischen war genug Zeit vergangen, sodass HeroHeros schlammiger Sturzbach an Klagen allmählich zu einem klaren Rinnsal geworden war. »Tut mir leid, ich will hier nicht nur rumjammern. Aber ich kann IRL nicht wirklich mit jemandem darüber reden, weißt du?« Ein Teil von ihm, der sein Kopf sein musste, wackelte.

Momonga wertete diese Bewegung als eine Art Entschuldigung und sagte: »Schon okay, HeroHero. Du hast meine Einladung, heute herzukommen, angenommen, obwohl du so erledigt bist, also ist das Mindeste, was ich tun kann, dir zuzuhören – ich will so viel hören, wie du mir erzählen willst.«

HeroHero wirkte nun ein wenig lebendiger als zuvor und gab ein kleines Kichern von sich. »Echt, ich meine es ernst: Danke, Momonga. Ich bin froh, dass ich mich nach so langer Zeit wieder mal einloggen und dich sehen konnte.«

»Es macht mich froh, das zu hören!«

»Aber ich sollte vielleicht bald gehen …« HeroHeros Tentakel bewegten sich in der Luft. Er hatte sein Menü geöffnet. »Ja, es wird spät. Sorry, Momonga …«

Momonga hielt einen Atemzug lang inne, um seine wahren Emotionen zu verbergen. »Ach, echt schade. Die Zeit vergeht halt wie im Flug, wenn man Spaß hat …«

»Ich wollte echt bis zum Ende bleiben, aber ich bin einfach zu müde …«

»Ja, das glaub ich dir. Logg dich aus und ruh dich gut aus.«

»Tut mir echt leid … Momonga – äh, nein – Gildenmeister, wie sind deine weiteren Pläne?«

»Ich denke, ich werde hierbleiben, bis ich zwangsweise ausgeloggt werde, weil die Server runterfahren. Bis dahin ist noch ein wenig Zeit, also könnte es sein, dass sich noch jemand anders blicken lässt.«

»Verstehe … Um ehrlich zu sein, war ich echt überrascht, dass dieser Ort noch existiert!«

In Zeiten wie diesen war Momonga unglaublich dankbar dafür, dass die Mimik seiner Figur hier immer gleich blieb, denn andernfalls hätte man ihm ansehen können, wie er das Gesicht verzog. Seine Stimme war eines der wenigen Werkzeuge, die seine Emotionen verraten konnten, also musste er seinen Mund halten, um sie zu unterdrücken.

So etwas von einem Gildenmitglied zu hören, nachdem man so hart dafür gearbeitet hatte, dass ihre Basis erhalten blieb, genau weil sie sie alle gemeinsam aufgebaut hatten, löste derart komplexe Gefühle in Momonga aus, dass man sie kaum erklären konnte. Doch diese lösten sich abrupt auf, als er hörte, was HeroHero als Nächstes sagte.

»Als Gildenmeister hast du alles am Laufen gehalten, damit wir jederzeit zurückkommen konnten, nicht wahr? Dafür bin ich total dankbar.«

»Na ja, wir haben sie alle zusammen aufgebaut, weißt du? Sicherzustellen, dass alle Mitglieder jederzeit zurückkommen können, ist der Job eines Gildenmeisters!«

»Ich denke, dich als unseren Gildenmeister zu haben, war eine Sache, die dieses Spiel für uns alle wirklich zu etwas Besonderem gemacht hat. Ich hoffe, wir sehen uns wieder … in Yggdrasil II!«

»Ich habe keine Gerüchte über ein Sequel gehört … Aber ja, das hoffe ich auch.«

»Falls es kommt, lass uns unbedingt wieder zusammen zocken! Mir fallen schon die Augen zu, also logg ich jetzt aus. Ich freue mich, dass ich dich hier am Ende noch mal sehen konnte. Es war echt toll, mit dir zu spielen.«

Einen Moment lang schnürte sich Momonga die Kehle zu. Dann brachte er seine letzten Abschiedsworte heraus. »Ich freue mich auch, dass wir uns noch mal gesehen haben. War eine Freude, mit dir zu spielen.«

Ba-ding! Ein Smiley-Emoticon erschien über HeroHeros Kopf. Wegen der unveränderlichen Mimik der Charaktere in Yggdrasil nutzten die Spieler Emoticons, um anderen ihre Gefühle mitzuteilen.

Momonga öffnete sein Menü und wählte das gleiche Emoticon aus.

HeroHero hatte das letzte Wort. »Wir sehen uns wieder, irgendwo.«

Und damit verschwand der letzte der drei anderen Gildenmitglieder, die es zum Abschiedstreffen geschafft hatten.

Erneut erfüllte Stille den Raum. Eine Stille so tief, dass es schwer vorstellbar war, dass gerade eben noch jemand hier gewesen war. Keine Echos oder Spuren zeugten noch von der Anwesenheit anderer.

Während er den Stuhl anstarrte, auf dem kurz zuvor noch HeroHero gesessen hatte, murmelte Momonga die Worte, die er vorher unterdrückt hatte. »Ich weiß, dass du müde bist, aber es ist der letzte Tag hier – die Server werden bald runtergefahren. Willst du nicht bis zum Ende bleiben?«

Natürlich bekam er keine Antwort. HeroHero war bereits zurück in der realen Welt.

Momonga seufzte aus tiefstem Herzen. Das hätte er niemals sagen können.

Allein HeroHeros Tonfall und die kurze Unterhaltung mit ihm hatten verraten, wie unfassbar müde er tatsächlich war. Ein Typ, der so am Ende war, hatte die E-Mail von Momonga gelesen, und war extra für den letzten Tag noch einmal vorbeigekommen. Das war mehr als genug, um dankbar zu sein. Noch mehr zu verlangen, hätte den Rahmen der Nostalgiegefühle gesprengt und hätte Momonga nur als Nervensäge dastehen lassen.

Momonga musterte HeroHeros leeren Stuhl ein letztes Mal und wandte dann den Blick ab. Es gab neununddreißig andere Stühle. Das waren die Plätze, auf denen seine anderen Gildenmitglieder gesessen hatten. Er schaute alle nacheinander an, bevor seine Augen wieder bei HeroHeros Stuhl landeten.

»›Wir sehen uns wieder, irgendwo‹ …?«

Wir sehen uns irgendwann wieder.

Wir sehen uns.

Er hatte diese Worte schon oft gehört. Doch sie wurden fast nie wahr. Niemand kehrte je nach Yggdrasil zurück.

»Wo und wann genau werden wir uns denn wiedersehen, hm?« Momongas Schultern bebten plötzlich und die wahren Gefühle, die er die ganze Zeit zurückgehalten hatte, brachen mit einem Mal aus ihm hervor. »Verarsch mich nicht!«, brüllte er und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch vor ihm.

Das System des Spiels registrierte seine Bewegung als Angriff und berechnete daraufhin unzählige Parameter, wie etwa seine Angriffsstärke mit blanken Fäusten und die Verteidigungswerte des Tisches. Das Ergebnis der Berechnung erschien direkt über dem Punkt, auf den er eingeschlagen hatte: »0.«

»Das hier ist die Große Gruft von Nazarick! Wir haben sie gemeinsam aufgebaut! Wie könnt ihr sie alle so einfach zurücklassen?!« Nach der überwältigenden Wut folgte ein Gefühl der Einsamkeit. »Nein … Ich weiß, dass das so nicht stimmt. Ich weiß, dass es überhaupt nicht einfach war. Sie wurden schlicht und ergreifend dazu gezwungen, zwischen Realität und Tagtraum zu wählen. Dafür konnten sie nichts. Niemand hat uns betrogen. Es war eine schwere Entscheidung, für jeden von ihnen …«, murmelte Momonga vor sich hin, als er sich erhob. Direkt vor ihm hing ein Zepter an der Wand.

Es war an den Stab des Gottes Hermes angelehnt, der auch Caduceus genannt wurde, und wurde von sieben miteinander verschlungenen Schlangen geziert. Jede der sich windenden Schlangen hielt ein andersfarbiges Juwel im Maul. Der Griff bestand aus einem transparenten, kristallinen Material, das einen sanften Schimmer abgab. Jeder, der es sah, wusste sofort, dass dies ein extrem wertvolles Item war – es war eine Gildenwaffe, deren Bezeichnung daher stammte, dass jede Gilde nur eine dieser Waffen besitzen konnte. Das Zepter war das Symbol von Ainz Ooal Gown.

Es war für den Gildenmeister allein bestimmt. Wieso hing es also an der Wand, als Ausstellungsstück?

Eben weil es das Symbol der Gilde darstellte.

Würde die Gildenwaffe zerstört, würde das den Zusammenbruch der Gilde bedeuten. Deshalb wurden diese Waffen für gewöhnlich an einem sicheren Ort verwahrt, wo ihre mächtigen Kräfte ungenutzt blieben. Auch eine hochrangige Gilde wie Ainz Ooal Gown bildete da keine Ausnahme.

Das war auch der Grund, warum Momonga, obwohl er das Gilden-oberhaupt war, das Zepter bisher nie in der Hand gehalten hatte.

Er streckte die Finger danach aus, hielt jedoch kurz inne. Wollte er die glorreichen Erinnerungen von allem, was sie hier zusammen aufgebaut hatten, jetzt beflecken, in diesem Moment, kurz bevor die Server heruntergefahren wurden?

Er erinnerte sich an die Tage, an denen er mit den anderen Gildenmitgliedern für die Quests ausgezogen war, um die Gildenwaffe herstellen zu können. Sie hatten sich in Teams aufgeteilt und darum gewetteifert, wer die meisten Ressourcen ergattern konnte, hatten darüber diskutiert, wie das Design der Waffe ausfallen sollte, und schließlich alle Vorschläge eines jeden Mitglieds gesammelt, um die Waffe Stück für Stück zusammenzubauen.

Das waren die glorreichen Tage von Ainz Ooal Gown gewesen.

Damals waren viele müde von der Arbeit gewesen, hatten sich jedoch trotzdem aufgerafft, um mitzuspielen. Einige hatten ihre familiären Pflichten hintenangestellt, was zu heftigen Streitereien mit ihren Ehefrauen geführt hatte. Andere hatten nur gelacht und gesagt, sie hätten sich für den Tag krankgemeldet.

Manchmal hatten sie einen ganzen Tag lang nur mit Chatten verbracht und ihre Aufregung über die aberwitzigsten Dinge geteilt. Sie hatten Quests geplant und waren auf Schatzsuche gegangen, als gäbe es kein Morgen. Einmal hatten sie einen Überraschungsangriff auf ein Schloss ausgeführt, das einer gegnerischen Gilde als Basis diente, und waren direkt hineingestürmt. Ein andermal waren sie um ein Haar von einem der stärksten geheimen Monster im Spiel ausgelöscht worden, die als World Enemies bezeichnet wurden. Sie hatten unbekannte Ressourcen aufgespürt, die bisher unentdeckt gewesen waren, und hatten alle möglichen Monster in ihrer Basis losgelassen, um sie vor Eindringlingen zu schützen.

Aber nun war niemand mehr übrig.

Von einundvierzig Spielern hatten siebenunddreißig aufgehört. Die anderen drei waren zwar noch mit ihrem Namen in der Gilde verzeichnet, aber Momonga konnte sich nicht daran erinnern, wann sie vor dem heutigen Tag das letzte Mal da gewesen waren.

Momonga öffnete das Menü, um die offiziellen Daten aufzurufen, und sah sich das Gildenranking an. Inzwischen existierten nur noch knapp achthundert Gilden. Einst hatten sie auf Platz neun gestanden, doch nun waren sie auf den neunundzwanzigsten Platz zurückgefallen. Das ist unser Rang am letzten Tag hier, was? Der niedrigste, den sie je gehabt hatten, war achtundvierzig.

Dass sie in der Rangliste nur so wenig abgestiegen waren, lag nicht an Momongas Bemühungen, sondern an den Items, die die ehemaligen Gildenmitglieder zurückgelassen hatten – das, was vom ehemaligen Ruhm der Gilde übrig war.

Alles, was blieb, war eine Ruine, doch die Gilde hatte eine großartige Blütezeit erlebt.

Und die Krönung dieser Blütezeit war ihre Gildenwaffe, das Zepter von Ainz Ooal Gown.

Momonga wollte die Erinnerungen an diese Zeit nicht trüben, doch ein rebellisches Gefühl keimte in ihm auf. Ainz Ooal Gown schätzte das Mehrheitsprinzip. Obwohl Momonga den Titel des Gildenmeisters trug, waren seine Aufgaben meistens eher Routinesachen, wie zum Beispiel Probleme in der Kommunikation zu lösen.

Vielleicht war das der Grund, warum er genau jetzt, wo niemand mehr da war, das erste Mal daran dachte, sein Recht des Gildenmeisters einzufordern.

»Na ja, so, wie ich gerade aussehe, geht es jedenfalls nicht«, murmelte er vor sich hin und ging in sein Menü. Er rüstete sich so aus, wie es sich für den Meister einer hochrangigen Gilde – wie die ihre – gehörte.

Die Ausrüstungsgegenstände in Yggdrasil waren nach den Daten eingestuft, die sie enthielten. Je mehr Daten, desto besser waren die Items. Die Spieler starteten mit Ausrüstung der Low-Stufe, dann kamen die des Middle-, High- und Top-Ranges, gefolgt von solchen mit Legacy-, Relic-, Legendary- und schließlich der Divine-Stufe, die den höchstmöglichen Rang darstellte.

Neun Ringe mit unterschiedlichen Kräften zierten Momongas zehn Fingerknochen. Seine Halskette, Armschützer und Stiefel, ebenso wie der Umhang, die Robe und sein Kopfschmuck besaßen allesamt die Divine-Stufe. Vom monetären Standpunkt aus betrachtet, war jedes Item ein außergewöhnlich seltener und wertvoller Schatz. Die zuvor erwähnte aufwändige Robe hing von seinen Schultern.

Eine rot-schwarze Aura schimmerte unter seinen Füßen, die ihm eine ominöse und bösartige Ausstrahlung verlieh. Aber er nutzte dafür keinen Skill – die Datenmenge der Robe war noch nicht ausgeschöpft, also steckte er einen Datenkristall mit einem »ominöse Aura«-Effekt in ihren Sockel. Es passierte allerdings nicht wirklich etwas, wenn jemand sie berührte.

Im Augenwinkel sah Momonga verschiedene Zahlen aufpoppen, die seine nun erhöhten Statuswerte wiedergaben. Er nickte zufrieden, nun, da er sich voll ausgerüstet hatte. Er sah aus wie ein Gildenmeister. Dann streckte er den Arm aus und griff nach dem Zepter von Ainz Ooal Gown.

In dem Moment, da er es in der Hand hielt, begann das Zepter, eine schimmernde dunkelrote Aura auszustrahlen. Die Schemen vor Qual verzerrter Gesichter erschienen ab und an, verschwommen und lösten sich wieder in Luft auf, so echt anmutend, dass man schon fast ihre leidvollen Schreie vernehmen konnte.

»Vielleicht haben wir es ein wenig übertrieben …«

Endlich, am letzten Tag, an dem die Server noch liefen, lag dieses elitäre Zepter in den Händen seines rechtmäßigen Besitzers. Momonga überprüfte die Icons, die den enormen Status-Boost erkennen ließen, doch er fühlte sich immer noch einsam.

»Nun, Symbol der Gilde, wollen wir sehen, wozu du im Stande bist? Oder sollte ich lieber ›Symbol meiner Gilde‹ sagen?«

2

Momonga verließ den Raum, den sie die Tafelrunde nannten.

Jeder mit einem Gildenmitgliedsring erschien in diesem Raum, wenn er sich einloggte, außer man gab extra einen anderen Ort an. Falls heute noch jemand vorbeikommen sollte, dann würde er in diesen Raum kommen. Aber Momonga verstand, dass die Chance, dass noch ein anderes Gildenmitglied erscheinen würde, praktisch bei null lag – ihm war klar, dass er der letzte und einzige Spieler war, der die finalen Momente des Spiels in der Großen Gruft von Nazarick verbringen wollte.

Momonga unterdrückte die in ihm aufwallenden Gefühle und wanderte schweigend durch seinen Palast.

Es war eine majestätische Welt voller edler Verzierungen, die an das Schloss Neuschwanstein erinnerten.

Kronleuchter hingen in regelmäßigen Abständen und erhellten die hohen Decken mit ihrem warmen Licht. Der polierte Boden der weiten Halle schimmerte wie echter Marmor, und es war, als würde man über ein Meer voller Sterne wandern. Öffnete man eine der Türen zur Linken oder Rechten, würde einem die Erhabenheit der Inneneinrichtung den Atem rauben. Jedem Nichtmitglied, das hierherkam, wären vor Staunen die Augen aus dem Kopf gefallen, weil solcher Luxus an einem legendären Ort wie diesem existierte – hier, in der Großen Gruft von Nazarick, wo die größte Armee in der gesamten Geschichte des Spiels (eine Allianz aus acht Gilden und anderen alliierten Gruppen, Söldnern, NPC-Söldnern – die also keine Spieler waren – und so weiter, insgesamt 1500 Mann) einst während einer Strafexpedition eingetroffen war, nur um dann vernichtend geschlagen zu werden.

Die Große Gruft von Nazarick war ursprünglich in sechs Ebenen unterteilt gewesen, doch nachdem Ainz Ooal Gown sie eingenommen hatte, war sie grundlegend transformiert worden. Zum jetzigen Zeitpunkt gab es zehn unterirdische Ebenen, jede mit ihren individuellen Eigenheiten. Die Ebenen eins bis drei umfassten die Katakomben. Die vierte Ebene wurde von einem unterirdischen See beherrscht, die fünfte von einem Gletscher, die sechste von einem Dschungel. Ebene sieben bestand aus Lava, Nummer acht aus Wildnis. Neun und zehn beherbergten den Schrein. Dies war die Hauptbasis einer Gilde, die es geschafft hatte, in die ersten zehn Ränge vorzudringen, in einer Ära, in der es noch Tausende andere Gilden gegeben hatte – die Gilde Ainz Ooal Gown.

Gab es ein besseres Wort für diese Welt außer göttlich? Momongas Schritte hallten durch die weitläufigen Korridore, im Takt mit dem harten Klacken seines Zepters auf dem Boden. Nachdem er den reich verzierten Gang entlanggewandert und einige Male abgebogen war, erspähte er eine Frau, die ihm entgegenkam.

Sie war wunderschön, mit vollem blondem Haar, das ihre Schultern herabfiel, und einem markanten Gesicht. Ihre Kleidung bestand aus einer Maid-Uniform mit einer breiten Schürze und einem langen, dezenten Rock. Sie war etwa einen Meter siebzig groß und besaß lange, zierliche Gliedmaßen. Zwei stattliche Erhebungen waren durch die gespannte Brustpartie ihres Outfits erkennbar, aber im Großen und Ganzen strahlte sie Bescheidenheit aus.

Schon bald standen sie sich gegenüber; die Frau wich zur Seite aus und verbeugte sich tief vor Momonga.

Er antwortete ihr mit einem kleinen Wink.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Es ließ sich eine vage Anspielung auf ein Lächeln erahnen, so schwach, dass man unmöglich sagen konnte, ob es da war oder nicht. In Yggdrasil änderten sich die Gesichtsausdrücke nicht, doch in ihrem Fall wusste man einfach nicht, was man aus ihrer Miene ablesen sollte.

Diese Maid war ein NPC. Sie wurde nicht durch einen Menschen gesteuert, sondern bewegte sich von selbst, so wie ihre KI es vorgab. Sie war also im Grunde eine umherwandelnde Puppe. Egal wie elegant sie war oder wie höflich sie sich verbeugte, sie tat es nur, weil ihre Programmierung es ihr befahl.

Momongas Antwort auf ihr Erscheinen mochte vielleicht idiotisch wirken, schließlich war sie nur eine Puppe, doch es gab einen Grund, warum er auch ihr ein gewisses Maß an Respekt zollen wollte.

Die einundvierzig NPC-Maids, die in der Großen Gruft von Nazarick angestellt waren, basierten allesamt auf den Zeichnungen eines Spielers. Der Künstler war ein Gildenmitglied, das seinen Lebensunterhalt als Illustrator verdiente und dessen Werke nun bereits in einem monatlich erscheinenden Manga-Magazin veröffentlicht wurden.

Momonga betrachtete die Maid eingehend. Er musterte das Mädchen selbst, aber mehr noch interessierte ihn das Outfit. Es war überraschend detailliert, besonders die aufwändig bestickte Schürze war eindrucksvoll. Aber wie hätte er auch weniger von einem Künstler erwarten können, der sagte, dass »die Uniform einer Maid die entscheidende Waffe über Sieg oder Niederlage ist«? Momonga erinnerte sich mit Entzücken an die exzentrischen Freudenschreie des Grafikers.

»Ah, stimmt ja. Sogar damals war er die ganze Zeit im Team ›Maid-Uniformen für Gerechtigkeit!‹ Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist sogar die Protagonistin seines Mangas eine Maid. Du kostest deine Assistenten wohl eine Menge Nerven mit all den aufwändigen Verzierungen, was, WhiteLace?«

HeroHero hatte das KI-Programm geschrieben, gemeinsam mit fünf seiner Freunde.

Mit anderen Worten war diese Maid also das Resultat einer Kollaboration ehemaliger Gildenmitglieder, deshalb wäre es traurig gewesen, sie einfach zu ignorieren. Genau wie das Zepter von Ainz Ooal Gown war sie eine strahlende Erinnerung an die gute alte Zeit.

Während Momonga in Gedanken versunken war, reckte das Mädchen, das sich bereits wieder aufgerichtet hatte, ihren Hals ein wenig, fast als ob es sagen wollte: Wie kann ich Euch dienlich sein?

Oh, das ist also ihre Bereitschaftspose, die sie einnimmt, wenn man für eine gewisse Zeit neben ihr steht, ohne was zu machen? Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, und war beeindruckt, wie viele Details in HeroHeros Programmierung steckten. Er wusste, dass es noch andere geheime Posen geben musste. Er wollte sie wirklich gern alle sehen, aber leider tickte die Uhr unaufhörlich.

Er überprüfte das halbdurchsichtige Ziffernblatt an seinem linken Handgelenk.

Er hatte tatsächlich keine Zeit zu verlieren.

»Danke für all deine harte Arbeit«, sagte er aus Sentimentalität heraus zur Maid und trat an ihr vorbei. Natürlich kam keine Antwort, aber er fand, dass seine Worte angemessen waren an diesem letzten Tag.

Momonga schritt weiter voran und ließ das Mädchen hinter sich zurück.

Es dauerte nicht lange, bis die große Treppe in sein Blickfeld kam, die von einem gigantischen roten Läufer bedeckt war. Sie war so breit, dass mindestens zehn Leute dort Seite an Seite mit ausgestreckten Armen hinablaufen konnten. Momonga ging langsam hinunter zur tiefsten Ebene der Großen Gruft von Nazarick – Ebene zehn.

Die Treppe führte zu einer großen Halle, in der er einigen Leuten begegnete.

Die erste Person, die er sah, war ein alter Mann, gekleidet in eine erstklassige traditionelle Butler-Uniform. Sein Haar und Bart waren komplett weiß, aber sein Rücken war gerade und aufrecht wie die Klinge eines Stahlschwerts. Die auffälligen Falten in seinem kantigen Gesicht strahlten Freundlichkeit aus, doch sein stechender Blick war der eines Falken, der gerade auf Beutezug war.

Hinter ihm standen sechs Maids, die ihm folgten wie sein Schatten. Diese waren jedoch komplett anders gekleidet als die Maid, der Momonga zuvor begegnet war.

Sie alle trugen Rüstungen, die auf Maid-Uniformen im Manga-Stil basierten, mit metallenen Armschienen und Beinschienen in Silber, Gold, Schwarz und anderen Farben und mit Hauben aus weißer Spitze anstelle von Helmen. Jede von ihnen trug eine andere Waffe – es handelte sich ohne Zweifel um gut gerüstete Kampf-Maids.

Auch ihre Frisuren waren unterschiedlich: ein Dutt, ein Pferdeschwanz, glatte Haare mit geradem Schnitt, französische Zöpfe, Korkenzieherlocken und eine Hochsteckfrisur. Das Einzige, was sie alle gemeinsam hatten, war ihre Schönheit, aber sogar die kam in verschiedenen Typen: aufreizend, natürlich, anmutig …

Auch sie waren offensichtlich NPCs, aber anders als die Maid zuvor, die nur als »Statistin« diente, waren diese hier dafür da, Angreifer abzufangen.

In Yggdrasil gab es bestimmte Vorteile für Gilden, die eine Basis besaßen, die mindestens die Größe eines Schlosses hatte. Einer davon war, dass sie NPCs bekamen, die diese Basis beschützten. Die Große Gruft von Nazarick stellte untote Monster zur Verfügung. Sie konnten bis zu Level 30 sein und kosteten die Gilde nichts, wenn sie starben – sie würden nach einer gewissen Zeit einfach wieder respawnen. Allerdings konnte man das Aussehen und die KIs dieser automatisch spawnenden NPCs nicht ändern, was sie zu schwach machte, um die Basis damit gegen fremde Spieler zu verteidigen.

Dann gab es jedoch noch einen weiteren Vorteil: die Möglichkeit, eigene NPCs für seine Gilde zu erstellen. Selbst eine schwache Gilde, die über eine Basis von der Größe eines Schlosses verfügte, bekam 700 Level, die sie nach Belieben auf benutzerdefinierte NPCs verteilen konnte. Da das Levelmaximum in Yggdrasil bei 100 lag, konnte man zum Beispiel fünf Level 100er und vier Level 40er kreieren. Und bei dieser Art von NPC ließ sich das Erscheinungsbild sowie die KI verändern. Zudem konnte man ihr Ausrüstung zum Tragen geben, sofern sie sie ausrüsten konnte. Dank dieses Systems konnten Gilden viel stärkere Wachen als die automatisch spawnenden Monster aufstellen, und zwar an wichtigen Schlüsselpositionen.

Natürlich war niemand gezwungen, NPCs allein zwecks Kampf und Abwehr zu designen. Es gab eine Gilde, das Große Katzenkönigreich, die all ihre NPCs zu Katzen oder Wesen mit katzenhaften Zügen machte. Es lag auf der Hand, dass diese Möglichkeit der Individualisierung dazu gedacht war, die Persönlichkeit der Gilden hervorzuheben.

»Hm.« Momonga fasste sich ans Kinn und beäugte den Butler, der sich vor ihm verbeugte. Er kam nicht sehr oft her, da er normalerweise Teleportationsmagie nutzte, um von einem Raum in den nächsten zu gelangen. Das musste der Grund sein, warum der Anblick des Butlers und der Maids ihn so nostalgisch stimmte.

Er streckte die Finger nach dem Menü aus und öffnete die Seite nur für Mitglieder. Markierte man dort eine Checkbox, erschienen die Namen aller NPCs im Raum über ihren Köpfen.

»So heißt du also.« Er rang sich ein Lächeln ab, leicht gequält, weil er sich nicht an die Namen hatte erinnern können, doch gleichzeitig ein Grinsen voller Nostalgie, als die Erinnerungen über den Disput bei der Namensgebung langsam wieder aus seinem löchrigen Gedächtnis an die Oberfläche drangen.

Die Hintergrundstory von Sebas Tian, dem Butler, besagte, dass er alle Pflichten eines Haushofmeisters erfüllen konnte. Das Team von Kampf-Maids, das als die Plejaden bekannt war, unterstand direkt seinem Befehl. Außer den Mädchen stand er auch den männlichen Bediensteten und den Assistenz-Butlern vor.

Wahrscheinlich gab es noch mehr Hintergrundinformationen im Textlog, aber Momonga hatte genug vom Lesen. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit und es gab einen Ort, an dem er sitzen wollte, wenn die Server heruntergefahren wurden.

Nebenbei bemerkt war der Grund dafür, dass die NPCs, inklusive sämtlicher Maids, derart detaillierte Hintergrundgeschichten hatten, dass Ainz Ooal Gown voll von Leuten war, die gern solche Texte verfassten. Und weil es so viele Illustratoren und Programmierer unter den Mitgliedern gab, war jeder praktisch wie besessen davon, dass die Ästhetik stimmte, was wiederum die Fantasie der Autoren anspornte.

Sebas und die Maids waren die letzte Abwehrfront gegen Angreifer von außen. Nicht, dass jemand ernsthaft glaubte, dass es möglich wäre, Spieler abzuhalten, denen es gelungen war, bis hierher vorzudringen, aber immerhin konnte man durch die NPC-Wachen etwas Zeit gewinnen. Bis jetzt war es allerdings noch nie einem Spieler gelungen, bis in die zehnte Ebene zu gelangen, also hatten die Wachen hier ihre Zeit bisher nur mit Warten verbracht.

Sie hatten nie Befehle von irgendjemandem erhalten und standen nur geduldig da, für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch irgendwann einmal ein Gegner auftauchte.

Momonga packte sein Zepter etwas fester.

Es war idiotisch, Mitleid für die NPCs zu empfinden. Sie bestanden schließlich nur aus Daten, nicht aus Fleisch und Blut. Wenn es so schien, als hätten sie Emotionen, so bedeutete das lediglich, dass der Mensch, der sie entwickelt hatte, einen guten Job gemacht hatte.

Und dennoch …

»Ein Gildenmeister sollte seine NPCs arbeiten lassen!« Während er sich in Gedanken selbst über sich lustig machte, weil er so arrogant klang, fügte er hinzu: »Folgt mir!«

Sebas und die Maids verbeugten sich und befolgten den Befehl.

Momongas Gildenmitglieder wollten nicht, dass diese NPCs dieses Gebiet verließen, und bei Ainz Ooal Gown galt nun einmal das Mehrheitsprinzip. Leute, die mit den Dingen, die alle gemeinsam erschaffen hatten, einfach taten, was ihnen gefiel, wurden nicht toleriert.

Aber es ist der letzte Tag. Sicher würde mir jeder so was heute verzeihen, dachte er, als er weiterging und dem Klang zahlreicher Schritte lauschte, die ihm folgten.

Kurz darauf erreichten sie eine riesige Kuppelhalle. Kristalle in vier verschiedenen Farben, die sich an der Decke befanden, strahlten weißes Licht aus. Zweiundsiebzig Nischen befanden sich in den Wänden, in den meisten von ihnen standen Statuen. Insgesamt gab es siebenundsechzig Statuen, die alle jeweils einen Dämon darstellen.

Dieser Raum war als Lemegeton bekannt, benannt nach dem berühmten Zauberbuch, das auch als Kleinerer Schlüssel Salomos bekannt war. Sämtliche Statuen, geschnitzt aus den seltensten magischen Metallen, waren Golems, die Salomons zweiundsiebzig Dämonen nachempfunden waren. Der einzige Grund, warum es nur siebenundsechzig von ihnen gab, zu wenig, um jede Wandnische zu füllen, war, dass der Person, die sie gemacht hatte, zwischendurch langweilig geworden war.

Die Kristalle an der Decke waren Monster. Während eines gegnerischen Angriffs konnten sie die vier Hauptelemente (Erde, Wind, Feuer und Wasser) beschwören und die Feinde gleichzeitig mit flächendeckenden AoE-Zaubern bombardieren. Wenn alle zugleich aktiviert worden wären, hätten sie locker zwei Gruppen von Level-100-Spielern (insgesamt zwölf Spieler) ausradieren können.

Dieser Raum war die allerletzte Abwehrfront, bevor man das Herz der Großen Gruft von Nazarick betreten konnte.

Momonga nahm seine Diener mit sich, als er Lemegeton durchquerte, um vor einem großen Tor stehen zu bleiben. Das Portal war riesig – wahrscheinlich knapp fünf Meter hoch – mit Doppeltüren, auf denen außergewöhnlich detaillierte Schnitzereien prangten: eine Göttin zur Linken und ein Dämon zur Rechten. Sie sahen so echt aus, dass es schien, als würden sie gleich von den Türen springen, um anzugreifen. Trotzdem war sich Momonga ziemlich sicher, dass sie sich nicht bewegten. »Wenn ein paar Helden es bis hierher schaffen sollten, dann sollten wir sie willkommen heißen. Viele sagen, wir wären böse und gemein, also lasst uns hier auf sie warten wie Endbosse.« Dieser Vorschlag war von der Mehrheit der Gildenmitglieder angenommen worden.

»Ulbert …« Ulbert Alain Odle war derjenige unter den Mitgliedern der Gilde, der mit Abstand am meisten von dem Wort böse besessen gewesen war. »Dieser Typ ist einfach nie aus der Pubertät rausgekommen …«

Momonga ließ seinen sentimentalen Blick noch einmal durch die große Halle wandern.

»Okay … Du wirst mich doch nicht angreifen, oder?«

Seine Bedenken waren nicht ungerechtfertigt. Nicht einmal er wusste, wie alles in diesem Labyrinth hier funktionierte. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn eines der ehemaligen Gildenmitglieder ein fieses »Abschiedsgeschenk« hinterlassen hätte, und der Spieler, der das Tor erschaffen hatte, war auf jeden Fall der Typ Mensch, der so etwas tun würde.

Früher hatte dieser Spieler Momonga einmal einen mächtigen Golem zeigen wollen, den er gerade erst vollendet hatte, doch als er den Golem hochgefahren hatte, war ein Bug in der Kampf-KI aufgetreten und der Golem hatte sofort begonnen, wild nach Momonga zu schlagen. Er fragte sich immer noch, ob das nicht eigentlich alles Absicht gewesen war.

»Hey, Luci☆Fer. Wenn du mich gerade heute attackierst, dann werde ich echt richtig sauer.«

Momonga berührte das massive Tor mit großer Vorsicht, doch seine Sorge war unbegründet; es öffnete sich von selbst, aber sehr langsam, um seiner enormen Größe Rechnung zu tragen.

Die Atmosphäre änderte sich abrupt.

Der vorherige Raum war bereits so ruhig und feierlich gewesen wie der Schrein in einem Tempel, aber die Szenerie, die sich ihm nun bot, übertraf alles Bisherige. Das gesamte Areal schien ein eigenes Gesicht zu besitzen, so als könnte man die exquisite Handwerkskunst auf physischer Ebene spüren.

Dieser Saal war gigantisch – einhundert Leute hätten sich hier versammeln können und es wäre immer noch reichlich Platz übrig gewesen – und die Decken waren wirklich hoch. Die Wände waren hauptsächlich in Weiß gehalten und großzügig mit goldenen Ornamenten verziert. Die majestätischen Kronleuchter, die von der Decke hingen, waren mit Juwelen in allen Farben des Regenbogens versehen, die ein verträumtes, glitzerndes Licht abgaben. An den Wänden hingen riesengroße Fahnen, die von der Decke bis zum Boden reichten; jede von ihnen zeigte ein anderes Wappen – insgesamt waren es einundvierzig.

Am anderen Ende dieses prunkvollen Saals aus Gold und Silber erhob sich eine kleine Treppe mit zehn Stufen. An ihrem Ende stand ein Thron, geschnitzt aus einem gigantischen Kristall, dessen Rückenlehne praktisch hoch genug war, um in den Himmel zu reichen. Dahinter befand sich ein großer, scharlachroter Wandteppich, der das Gildenwappen präsentierte.

Dies war der wichtigste Ort in der gesamten Großen Gruft von Nazarick – der Thronsaal.

Ein leises »Wow« entwich Momongas Lippen, als er den überwältigenden Raum bewunderte. Er war sich sicher, dass die Handwerkskunst, die man hier bewundern konnte, die beste, oder vielleicht die zweitbeste, in ganz Yggdrasil war.

Der Saal war so groß, dass seine Schritte einfach verhallten, als er eintrat. Sein Blick wanderte zu dem weiblichen NPC, der neben dem Thron stand.

Sie war wunderschön und trug ein schneeweißes Kleid. Ihr leichtes Lächeln erinnerte an das einer Göttin. Ihr glänzend schwarzes Haar bildete einen starken Kontrast zur Farbe ihres Kleids und reichte ihr bis zu den Hüften herab. Die goldene Iris und schlitzförmigen Pupillen ihrer Augen muteten etwas seltsam an, aber sie lenkten nicht im Geringsten von ihrer unvergleichlich femininen Anmut ab. Auffallend an ihr waren jedoch vor allem die dicken Hörner, die aus ihren Schläfen hervorragten wie die eines Widders. Aber das war nicht alles. Schwarze Engelsflügel sprossen aus ihrem Rücken, nahe ihrer Hüfte. Vielleicht lag es am Schatten ihrer Hörner, dass ihr göttliches Lächeln ein wenig wie eine Maske wirkte, die etwas zu verbergen hatte. Sie trug eine funkelnde goldene Halskette, die ihre Brust und ihre Schultern wie ein Spinnennetz bedeckte. In ihren zarten Händen, an denen sie Seidenhandschuhe trug, hielt sie etwas, das wie ein merkwürdiger Stab aussah. Er war ungefähr einen halben Meter lang, mit einer schwarzen Kugel an der Spitze, die aber ohne Hilfe schwebte.

Ihren Namen hatte Momonga nicht vergessen. Wie könnte er? Sie war Albedo, die Oberste der Ebenenwächter der Großen Gruft von Nazarick. Es gab sieben Ebenenwächter, und sie war der NPC, der sie alle befehligte – sie war der Charakter an der Spitze der NPC-Hierarchie des gesamten Komplexes. Was auch der Grund dafür war, dass es ihr erlaubt war, in diesem Raum im Innersten des Dungeons zu verweilen.

Aber nun lag ein Hauch von Strenge in Momongas Blick, als er sie musterte. »Ich wusste, dass es hier ein World Item gibt, aber wieso sind hier zwei?«

Es gab nur zweihundert dieser außergewöhnlichen Items in Yggdrasil. Jedes World Item besaß eine einzigartige Kraft. Einige Items waren sogar in der Lage, das Spiel zu verändern, indem sie es dem Besitzer ermöglichten, die Admins mit einer Änderung des Spielsystems zu beauftragen. Natürlich waren nicht alle Items so extravagant. Schaffte es ein Spieler jedoch, eines davon in die Finger zu bekommen, so konnte man sich ungefähr vorstellen, wie bekannt er dadurch wurde.

Ainz Ooal Gown war im Besitz von elf dieser World Items. Das waren mehr, als jede andere Gilde hatte – wesentlich mehr, um genau zu sein. Die Gilde, die in dieser Kategorie direkt hinter ihnen lag, besaß nur drei. Was die Items anbelangte, die Ainz Ooal Gown gehörten, hatte Momonga die Erlaubnis, eines davon als sein eigenes zu tragen, der Rest von ihnen befand sich über die gesamte Große Gruft von Nazarick verteilt, obwohl die meisten in der Schatzkammer verwahrt wurden, wo sie durch die Avataras beschützt wurden.

Es konnte nur eine Erklärung dafür geben, dass Albedo ohne sein Wissen in den Besitz eines dieser geheimen Schätze gelangt war: Das Gildenmitglied, das sie erschaffen hatte, musste es ihr gegeben haben.

In Ainz Ooal Gown tolerierte man es eigentlich nicht, einen Teil des Schatzes, den alle gemeinsam zusammengesammelt hatten, nach eigenem Ermessen an einen anderen Ort zu bringen. Momonga fühlte sich von dieser Tat fast schon persönlich angegriffen und spürte den Drang, das Item wieder zurückzubringen. Aber heute war der letzte Tag. Er entschied, die Gefühle des Gildenmitglieds zu respektieren und das Item dort zu lassen, wo es war.

»Das ist weit genug«, sagte Momonga in respektvollem Ton zu Sebas Tian und den Plejaden, als sie die Stufen zum Thron erreichten.

Dann begann er, die Treppen hochzusteigen, doch schon nach ein paar Stufen bemerkte er, dass er hinter sich immer noch Schritte hören konnte, und verzerrte das Gesicht (obwohl sein Schädelkopf dies natürlich nicht widerspiegelte). Wenn es darauf ankam, waren NPCs sehr unflexibel. Sie würden keine Befehle befolgen, die nicht in ihrer festgelegten Programmierung vorkamen. Momonga nutzte NPCs so selten, dass er diesen simplen Fakt einfach vergessen hatte.

Seit alle anderen Gildenmitglieder fort waren, war Momonga so oft wie möglich auf Schatzsuche gegangen, um die nötigen Geldmittel aufzubringen, damit er die Große Gruft von Nazarick instand halten konnte. Dabei tat er sich nie mit anderen Spielern zusammen, sondern zog alleine los und vermied es geschickt, die schwierigen Gebiete zu queren, in denen die Gilde früher ihre Quests gemacht hatte, damals, als die anderen Mitglieder noch mitgespielt hatten. Jeden Tag hatte er die Schatzkammer mit Geld gefüllt, als wäre es sein Job, und sich dann ausgeloggt. Daher bekam er nicht sehr häufig die Gelegenheit, NPCs zu treffen.

»Stand by.« Die Schritte stoppten, als er den richtigen Befehl gab. Dann erklomm er die Treppe und blieb vor dem Thron stehen.

Er musterte Albedo mit eindringlichem Blick. Er kam sonst nie wirklich in diesen Raum und konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals genauer betrachtet zu haben. »Ich frage mich, was ihre Hintergrundgeschichte ist …« Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass sie die Oberste der Ebenenwächter und der höchstrangige NPC in der Großen Gruft von Nazarick war. Die Neugier trieb ihn dazu, sein Menü zu öffnen, um ihre Informationen aufzurufen.

Und Informationen gab es tatsächlich – der Text überschwemmte sein Sichtfeld geradezu. Ihr Profil entsprach in der Länge einem Heldenepos. Wenn er sich die Zeit genommen hätte, das alles zu lesen, wären die Server heruntergefahren worden, bevor er das Ende erreicht hätte.

Momonga verzog ungläubig das Gesicht, was der ausdruckslose Schädel seines Charakters natürlich nicht verriet. Er fühlte sich beinahe so, als wäre er gerade auf eine Landmine getreten. Wie hatte er nur vergessen können, dass das Gildenmitglied, das Albedo erschaffen hatte, eine derartige Vorliebe für solch ausschweifende Hintergrundgeschichten besaß? Er war ein wenig enttäuscht von sich selbst.

Da er die Infos nun schon einmal aufgerufen hatte, begann er, ihr Profil zu überfliegen. Er scrollte durch die Absatzflut, bis er das Ende erreichte. Der letzte Satz erregte allerdings seine Aufmerksamkeit: »Sie ist übrigens eine Bitch.«

Seine Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. »Was zur Hölle?«, jaulte er und wusste gar nicht mehr, wie ihm geschah. Egal wie oft er den Satz las, die Worte änderten sich nicht. Und egal wie sehr er sich bemühte, ihm fiel einfach keine andere Bedeutung dafür ein außer der, die auf der Hand lag. »Es muss Schlampe heißen … das Schimpfwort …«

Alle einundvierzig Mitglieder der Gilde hatten mindestens einen NPC geschaffen. Er fragte sich, ob jemand einem Charakter, den er selbst erschaffen hatte, wirklich ein derartiges Profil schreiben würde. Würde er, wenn er sich die Zeit nahm, um alles zu lesen, doch vielleicht eine tiefere Bedeutung entdecken?

Aber es gab einige, die immer wieder mit den verrücktesten Geschichten ankamen … Und das Mitglied, das Albedo erschaffen hatte, Tabula Smaragdina, war definitiv einer von ihnen.

»Also stehst du wohl auf so krasse Gegenteile, was, Tabula? Trotzdem …« Geht das nicht etwas zu weit? Die NPCs, die von den Gildenmitgliedern erschaffen worden waren, stellten doch auch so etwas wie das Vermächtnis der Gilde dar. Wenn einer an der Spitze der Hierarchie so etwas in seinem Profil hatte, dann war das …

»Hm …« War es in Ordnung, einen NPC zu verändern, den ein anderer erstellt hatte, nur aufgrund von persönlichen Gefühlen? Momonga hielt einen Moment lang inne und fand dann seine Antwort. »Ich werde das ändern.«

Nun, da er die Gildenwaffe bei sich trug, verkörperte er den Gildenmeister endlich voll und ganz. Er überlegte, dass es wirklich in Ordnung war, die Privilegien, die er in der Vergangenheit größtenteils ignoriert hatte, nun wahrzunehmen. »Wenn ein Gildenmitglied einen Fehler macht, muss er korrigiert werden«, dachte er laut und zögerte nicht länger.

Momonga richtete sein Zepter auf Albedo. Für gewöhnlich brauchte man ein Designer-Toolkit, um Profile zu ändern, aber er konnte durch seine Gildenmeister-Privilegien ebenfalls Zugriff erlangen. Ein paar Menüeinträge später war der Satz, der »Bitch« enthielt, verschwunden. »Das wird fürs Erste reichen.« Dann musterte er die nun leere Stelle, an der sich der Satz zuvor befunden hatte, und dachte für einen Moment lang nach. Vielleicht sollte ich etwas hineinschreiben …

»Das ist doch total hirnrissig.« Momonga war von seiner eigenen Idee nicht gerade angetan, dennoch gab er die Buchstaben über die Menü-Tastatur ein. Es war ein kurzer Satz:

»Außerdem liebt sie Momonga.«

»Ugh, wie peinlich.« Er hielt sich die Hand vors Gesicht. Fast hatte er das Gefühl, dass er gleich vor blanker Scham umkippen würde. Als ob er gerade seine ideale Geliebte erfunden und eine Romanze darüber geschrieben hätte. Einen Augenblick lang trat er von einem Fuß auf den anderen. Er war so peinlich berührt, dass er darüber nachdachte, es wieder zu ändern, entschied sich schlussendlich jedoch, es einfach dabei zu belassen.

Es war der letzte Tag. Diese Peinlichkeit würde sich in wenigen Minuten von selbst auflösen. Außerdem hatten beide Sätze die gleiche Anzahl an Buchstaben – schiere Perfektion. Es wieder zu löschen und dort eine Leerstelle zu hinterlassen, wäre sicherlich Platzverschwendung gewesen.

Momonga setzte sich auf den Thron und lenkte sich damit von dem kleinen Anflug von Genugtuung ab (was sein Schamgefühl nur noch schlimmer machte). Er schaute sich im Saal um und bemerkte, dass Sebas und die Maids nach wie vor steif am Fuße der Treppe standen. In diesem Raum wirkte ihre unbeugsame Haltung irgendwie unangemessen. Ah, genau, ich glaube, da gab es doch diesen einen Befehl …

»Genuflect!« Albedo, Sebas und die sechs Maids fielen alle gleichzeitig auf ein Knie und verneigten sich, als wären sie Momongas Untertanen.

So ist es besser.

Momonga hob seine linke Hand und überprüfte die Uhrzeit: 23:55:48. Ich hab es gerade noch rechtzeitig geschafft.Die Game Master machen gerade bestimmt schon ihre Announcements. Wahrscheinlich gibt es sogar ein Feuerwerk … Aber Momonga war von alledem abgeschnitten, also wusste er es nicht wirklich. Er lehnte sich in seinen Thron zurück und spähte hinauf zur Decke.

Er hatte angenommen, dass vielleicht plötzlich noch eine Spielertruppe auftauchen würde, um die Gruft am letzten Tag zu raiden, besonders weil dies die Basis der Gilde war, die die erwähnte Strafexpedition vernichtet hatte. Er hatte irgendwie damit gerechnet. Als Gildenmeister war er bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen. Er hatte E-Mails an alle ehemaligen Gildenkameraden ausgeschickt, aber nur eine Handvoll hatte geantwortet. Er hatte auf ihre Ankunft gewartet. Als Gildenmeister hatte er sich riesig darauf gefreut, seine alten Kameraden hier zu empfangen.

»Ist diese Gilde nur noch ein Überbleibsel aus der Vergangenheit?«, fragte er sich. Nun war niemand mehr hier, aber früher hatte es wirklich Spaß gemacht. Seine Augen schweiften umher, um die Flaggen an den Wänden zu zählen. Einundvierzig. Eine Flagge für jedes Gildenmitglied, mit je einem Wappen darauf. Er deutete mit einem seiner Knochenfinger auf eine davon. »Ich.« Dann wanderte sein Finger zur nächsten. Diese Flagge zeigte das Wappen von Ainz Ooal Gowns bestem Spieler – nein, vom besten Spieler des ganzen Spiels –, der die ursprüngliche Idee für die Gildengründung gehabt hatte. Er war auch derjenige, der ihren Vorläufer ins Leben gerufen hatte, die First Nine.

»Touch Me.«

Das Wappen im Anschluss war das von Ainz Ooal Gowns ältestem Mitglied, wenn man die Menschenjahre zählte – ein Universitätsprofessor in der echten Welt: »Shijuuten Suzaku.«

Momongas Finger bewegte sich immer schneller, während er fortfuhr. Das nächste Wappen gehörte einem der drei einzigen weiblichen Mitglieder. »Ankoro Mocchi Mochi.«