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Jedes Jahr endet der Kampf zwischen dem Königreich und dem Imperium mit einem Patt. Doch als der Herrscher des Imperiums, »der Blutige Imperator« Jircniv, die Große Gruft von Nazarick besucht, mischt sich Ainz Ooal Gown in den Kampf ein und der Krieg nimmt eine entscheidende Wendung …
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Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2025
Prolog
Jircniv Rune Farlord El Nix, der uneingeschränkte Herrscher des Imperiums, jener junge Mann, der als »der Blutige Imperator« gefürchtet wurde, überprüfte seine Darbietung auf Fehler. Er war zuversichtlich, dass sein Auftreten und sein Lächeln einen guten Eindruck hinterlassen hatten. Es gab keinerlei Probleme.
Adelige verfügten über ein Händchen für diese Art psychologischer Manipulation. Als Imperator hatte man Jircniv dies von Kindesbeinen an eingetrichtert, wodurch er diese Methoden dermaßen gut beherrschte, dass niemand seine Fassade auf den ersten Blick durchschauen konnte. Auf seine Gäste sollte er lediglich wie ein freundlicher junger Mann wirken. Es war wichtig, Gäste in Sicherheit zu wiegen.
Den Verstand von jemandem zu ergründen, der Misstrauen hegte, erwies sich als schwierig. Doch wenn man Vertrauen und guten Willen nährte, konnte man dieses Misstrauen langsam, aber sicher abtragen, bis die wahren Gedanken offenbart wurden. Selbstverständlich verbarg er all seine heimlichen Absichten hinter dem wohlwollenden Lächeln eines Ehrenmannes, der sich von ganzem Herzen über die Ankunft seiner Gäste freute.
Er empfing gerade zwei Dunkelelfen, die auf einem Drachen in den kaiserlichen Palast eingedrungen waren. Er war noch nie Leuten begegnet, deren Aussehen so wenig zu ihrer tatsächlichen Macht passte.
Die Anzahl der Todesopfer, für die das Mädchen mit dem Stab gesorgt hatte, betrug 117. Darunter vierzig kaiserliche Wachen, sechzig Ritter, acht arkane Magier, acht Glaubensmagier und eine weitere Person – ein geradezu schockierender Verlust.
Da die Ritter den Palast schützten, gehörten sie zur Elite, dennoch konnte man diese Einbuße verwinden. An Abenteurern gemessen besaßen sie Silberrang. Die nächste Generation erhielt derzeit eine umfassende Ausbildung, weswegen er keinen Zweifel daran hegte, dass weitere Ritter ihres Ranges daraus hervorgehen würden.
Danach kamen die Wachen. Sie waren die Besten der Besten, speziell ausgebildet mit Blick auf die Zukunft des Imperiums. Es tat weh, auf einen Schlag die Hälfte derer zu verlieren, die dem Goldrang entsprachen. Zusätzlich hatten sie magische Rüstungen getragen, für deren Herstellung die vielen für diesen Zweck abbestellten Magier des Ministeriums der Magie eine Menge Zeit benötigt hatten. Diese Rüstungen waren mehr als ihr Gewicht in Gold wert.
Am meisten jedoch schmerzte der Verlust der letzten Person – es handelte sich um einen der stärksten Ritter des Imperiums, Nazami Enec, der Unbezwingbare. Er hatte zwar behauptet, er imitiere lediglich einen Krieger, den er einst gesehen hatte, doch wegen seines auf Verteidigung ausgelegten Kampfstiles mit einem zweihändigen Schild hatte er als der stärkste Ritter gegolten, selbst im Vergleich zu den anderen der vier stärksten.
Sobald die Tapferkeit eines Einzelnen die von hundert Soldaten übertraf, war es unzureichend, den Tod eines dermaßen mächtigen Kriegers als Verlust zu bezeichnen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass das kaiserliche Militär einen herben Rückschlag erlitten hatte.
Um ehrlich zu sein, hätte Jircniv diese Dunkelelfen am liebsten mit Wasser übergießen und verjagen lassen, allerdings bezweifelte er, dass so etwas bei diesen Mördern funktionieren würde. Er war sich nicht sicher, ob sie gekommen waren, um ihre Macht zu demonstrieren, ihm blieb jedoch nichts anderes übrig, als sie mit einem Lächeln zu empfangen.
Er wollte ihnen dennoch nicht vollkommen die Oberhand überlassen. Jircniv beobachtete jede Bewegung der vor ihm stehenden Kinder. Man konnte selbst aus den kleinsten Details sehr viel lernen.
Jircnivs Sinne waren derart geschärft, dass er einmal anhand des Geruchs eines Gewürzes in der Luft erkannt hatte, dass ein ihm treuer Adeliger und ein feindlicher Adeliger heimlich gemeinsame Sache machten. Er sah genau hin, um festzustellen, ob ihm etwas auffiel.
Kleidung …
Aussehen …
Hmm …
Man konnte diese Boten von Ainz Ooal Gown – die Dunkelelfen, die in seinen Palast eingedrungen waren – nur als äußerst gut aussehend bezeichnen. Es stand außer Frage, dass sie in Zukunft das andere Geschlecht bezaubern würden.
Diese schlanken kleinen Körper, wie sie das Gesicht verziehen … Wie man sie auch betrachtet, es sind einfach nur Kinder. Jeder, der die Situation nicht begreift, würde bloß unbeholfen grinsen, wenn man ihm sagen würde, dass es sich bei den beiden um Boten handelt.
Die Aufgaben von Gesandten, die ein Land repräsentierten – Diplomaten –, verlangten vielfältige Qualifikationen, und das Aussehen war dabei von entscheidender Bedeutung. Repräsentanten, die nicht entsprechend viel hermachten, konnten ihrem Heimatland Schwierigkeiten bereiten.
Das sollte Ainz Ooal Gown wissen, warum also hat er diese Dunkelelfen geschickt, die man so leicht unterschätzen könnte?
Jircniv setzte die Zahnräder seines Gehirns in Bewegung.
Das Einzige, was dabei Sinn ergibt, ist … eine Demonstration. Ihm ist bewusst, dass wir sie unterschätzen würden, und das bietet ihm die Möglichkeit, uns ein wenig von seiner Macht zu zeigen. Je größer der Unterschied zu dem Eindruck, den sie machen, umso größer unser Schock … Aber hat die Ankunft auf einem Drachen nicht den gegenteiligen Effekt? Ein Drache ist ziemlich beeindruckend … Oder stand ihm außer diesen beiden niemand anders zur Verfügung, der sich als Bote geeignet hätte? Gibt es womöglich noch einen anderen Grund …? Scheiße. Ich kann nicht sagen, was er beabsichtigt. Ich habe nicht genug Informationen.
Ihm fielen mehrere Möglichkeiten ein, die er jedoch genauso schnell wieder verwarf.
Oberste Priorität hat erst einmal, Informationen über diesen Ainz Ooal Gown zu sammeln. Ansonsten ist alles andere aussichtslos. Danach muss ich herausfinden, wie weit man bei ihm gehen kann, und dann darauf achten, ihn nicht zu verärgern. Nur ein Trottel sabotiert seine eigenen Verhandlungen, indem er die Gegenseite erzürnt.
Als Erstes musste er in Erfahrung bringen, warum sie gekommen waren.
Die beiden Dunkelelfen hatten verkündet: »Der Imperator dieses Ortes hat ein paar unhöfliche Kerle zu Lord Ainz nach Hause geschickt, in die Große Gruft von Nazarick«, und die Gräueltat begangen, im Hof über hundert Menschen zu töten. Er musste allerdings herausfinden, ob diese Aussage auf Tatsachen beruhte oder ob sie versuchten, ihn zu ködern.
In Anbetracht des Ablaufes der Ereignisse waren mit den »unhöflichen Kerlen« wahrscheinlich die Mietklingen gemeint. In dem Fall stand außer Frage, dass sie im Auftrag von Jircniv gehandelt hatten, obwohl er auf eine Methode mit dermaßen vielen Winkelzügen zurückgegriffen hatte, dass nicht einmal der Anfangsbuchstabe seines Namens nach außen dringen würde.
Wie hatten sie …? Wie hatte Ainz Ooal Gown seinen Plan durchschaut? Je nachdem, wie die Antwort lautete, würde er sein Auftreten anpassen.
Da sie sagen, sie seien als Boten hier, könnte das eine Gelegenheit sein, Informationen aus ihnen herauszubekommen. Ich muss auf jede noch so kleine Bewegung von ihnen achten und ergründen, worauf sie aus sind …
Sie dienten jemandem, der nicht zögern würde, in ein Land einzudringen und seine Macht zu nutzen, um dessen Herrscher zu bedrohen. Eine Fehlinterpretation könnte also tödlich enden.
Jircniv war nicht daran interessiert, ein weiteres Erdbeben zu erleben. Er konzentrierte sich auf den Raum nebenan.
Normalerweise würden sich dort Unmengen von Wachen aufhalten, das Gleiche galt auch für diesen Saal, allerdings nicht heute. Selbst wenn er fünfzig Wächter herbestellt hätte, hätte er vermutlich damit rechnen müssen, letztendlich ihren Tod zu betrauern. Stattdessen waren gerade einmal fünf Personen bei ihm.
Einer von ihnen war Baziwood Peshmel, der Blitz. Ein anderer der größte Magier des Imperiums, dem Jircniv mehr vertraute als jedem anderen: Fluder Paradyne. Bei den restlichen drei Anwesenden handelte es sich um Minister, die Jircnivs Meinung nach hervorragend waren.
In der Zwischenzeit hatte er den Wachen befohlen, entlang des Spalts zu graben, um die Leichen zu bergen.
Niemand im Imperium beherrschte Auferstehungsmagie. Ihre Abenteurer mit Adamantit-Marken waren nicht besonders mächtig, das Gleiche galt für ihre Priester. Die einzigen Orte in der Nähe, wo derart mächtige Menschen lebten, waren das Königreich und der Gottesstaat.
Trotzdem gab es einen Grund, die Toten aus dem Schutt zu befreien. Es wäre eine Schande, die magischen Gegenstände zu verlieren. Außerdem würde es sich positiv auf die Moral der Soldaten auswirken, den sterblichen Überresten seiner Untergebenen eine ehrenvolle Bestattung zuteilwerden zu lassen.
»Nun, Boten. Ihr habt eine weite Reise hinter euch. Ihr müsst durstig sein. Wir haben eine leichte Mahlzeit vorbereitet, also bedient Euch bitte, wenn Ihr hungrig seid.«
Jircniv läutete eine kleine Glocke, woraufhin die draußen wartenden Kammerzofen den Saal betraten. Es waren fast zwanzig, jede von ihnen trug ein poliertes Silbertablett. Die Zofen waren hervorragend ausgebildet, ihre Bewegungen elegant und grazil.
Insgeheim war Jircniv stolz darauf, dass sie sich stets perfekt aufeinander abgestimmt bewegten, heute hingegen schienen sie ein wenig aus dem Takt geraten zu sein.
Da sie ihre Aufgabe für gewöhnlich fehlerfrei absolvierten, wirkte dieser winzige Makel wie ein riesiger Fauxpas.
Was ist denn los? Sie haben schon alle möglichen Boten bedient und so was ist noch nie vorgekommen. Stehen sie unter dem Einfluss einer Art Magie?
Er unterdrückte den Drang, nach dem Medaillon zu greifen, das unter seiner Kleidung um seinen Hals hing. Gerade weil es geheim war, war es so wirksam. Wüssten die Leute, dass er es trug, wäre das nur von Nachteil.
Als ihm auffiel, wie die Kammerzofen die beiden Dunkelelfen immer wieder verstohlen anschauten, erkannte er die Ursache für ihr Fehlverhalten.
Aaah, das ist es also … Die Schönheit dieser Wesen raubt ihnen den Atem. Ich verstehe … Trotzdem, blamiert mich nicht, ihr Idioten.
Vielleicht hätte er sie loben sollen – schließlich gelang es ihnen in Gegenwart dieser beiden Wesen, sich trotz ihrer Aufregung einigermaßen zusammenzureißen. Die Kammerzofen stellten vor jedem der Anwesenden ein Getränk und etwas Süßes ab, verbeugten sich und verließen den Saal wieder.
»So, bitte sehr.«
»Hmm.« Der Dunkelelfenjunge machte ein unbeeindrucktes Gesicht und hob sein Glas.
Es bestand aus fein geschliffenem Kristall. Derart verzierte Kelche entsprachen nicht Jircnivs Stil, nichtsdestotrotz besaß er aus Notwendigkeit ein paar davon. Das Geschirr, das man verwendete, um Boten anderer Länder zu bedienen, war ein Zeichen für die Macht eines Volkes und gleichzeitig ein Hinweis darauf, wie wichtig der Gesandte war.
Der Dunkelelfenjunge nahm einen Schluck von seinem Getränk.
Ohne zu zögern … Wenn er sich nicht vor Gift fürchtet, bedeutet das, er besitzt irgendeine magische Verteidigung dagegen? Oder geht er einfach davon aus, dass ich keine derartigen Absichten hege? Könnte es einen anderen Grund geben? Hmm, das Mädchen hat auch nicht gezögert.
»Nicht besonders gut. Und es scheint auch über keinerlei spezielle Wirkung zu verfügen.«
Einen kurzen Moment lang war die unerwartete Äußerung des Jungen eine erfrischende Überraschung. So hatte noch nie jemand mit Jircniv gesprochen. Nicht einmal, als er noch ein Kind gewesen war.
Als die Verblüffung verblasste, wallte in ihm ein Hauch von Wut auf. Verdammtes Balg, hast du denn keine Manieren? Selbstverständlich war er nicht so dumm, sich seine Verärgerung auch nur ansatzweise anmerken zu lassen.
»Das tut mir leid.« Er lächelte den Jungen an. »Wenn Ihr mir verratet, was Ihr für ein Getränk mögt, werde ich es zubereiten lassen.«
Keinerlei spezielle Wirkung … wie Gift? Hat er darauf gehofft, es wäre vergiftet? Was hat er damit gemeint?
»Ich bezweifle, dass ihr etwas zubereiten könnt, das ich mag.«
»S…sei nicht unhöflich, Schwesterchen.«
»Hmm? Ist das denn unhöflich? Kann sein …«
Schwesterchen? Also ist das ein Mädchen, kein Junge? Dann sind sie wohl Schwestern?
Nachdem er erfahren hatte, dass es sich um ein Mädchen handelte, wirkte sie immer mehr wie eines.
Warum … ist sie dann wie ein Junge angezogen …? Nun, wahrscheinlich fällt es ihr leichter, sich in dieser Kleidung zu bewegen. Manchmal haben Kinder in diesem Alter eine androgyne Ausstrahlung. Das andere kann doch auf keinen Fall ein Junge sein, oder doch? Nein, nicht mit dieser Aufmachung, völlig unmöglich. Abgesehen davon wirkt sie so sanftmütig.
Jircniv überlegte, ob er das Mädchen mit dem Stab auf seine Seite ziehen oder als Vermittlerin benutzen könnte, um dem Imperium einen Vorteil zu verschaffen, doch da er nicht über genug Informationen verfügte, fiel ihm keine gute Möglichkeit ein, das zu erreichen.
Zunächst einmal durfte er eines nicht vergessen: So sanftmütig sie auch aussehen mochte, sie hatte eine unglaubliche Gräueltat begangen. Sollte er sich bei seinem Versuch, die Kleine für sich zu gewinnen, ungeschickt anstellen, so wäre das, als würde er seine Hand in das Maul eines schlafenden Drachen stecken.
Es geht nur darum, Informationen zu sammeln. Ich muss mir überlegen, wie ich sie so schnell wie möglich dazu bringen kann, mir ihre Karten zu offenbaren.
»Nun denn, Boten, ich habe Euch meinen Namen bereits genannt, erlaubt mir trotzdem, mich erneut vorzustellen. Ich bin Jircniv Rune Farlord El Nix aus dem Imperium von Baharuth. Ich kenne den Namen von Miss Fiora, darf ich also auch Euren Namen erfahren?«
»Ä…äh, ähm, ich bin Mare Bello Fiore.«
»Danke. Vorhin, Miss Fiora, sagtet Ihr: ›Lord Ainz ist nicht amüsiert. Wenn der Imperator nicht herauskommt, um sich zu entschuldigen, werden wir das Land zerstören!‹ Heißt das, ich muss mich in die Große Gruft von Nazarick begeben und mich entschuldigen?«
»Klar.« Die schlichte, knappe Antwort erfolgte prompt.
In den Augen dieses Mädchens namens Aura war von Anfang an keine Wärme zu erkennen gewesen. In ihrer Miene war nichts zu entdecken, was über das hinausging, was ein Mensch für einen Käfer empfinden würde.
Nun, genau hier liegt das Problem.
Sie sagte die Wahrheit, doch bis zu welchem Punkt sollte er das zugeben? Und woher wusste sie, dass er die Mietklingen geschickt hatte? Normalerweise würde er einen Boten erst einmal mit freundlichen Worten abwimmeln und damit beginnen, Informationen zu sammeln. Doch wäre das in diesem Fall für ihn von Nachteil? Letztendlich musste er herausfinden, wo die Grenze lag, damit er sie nicht versehentlich überschritt.
»Übrigens, hat Euch Sir Ainz Ooal Gown selbst hergeschickt?«
Aura und Mare wirkten beide verwirrt.
»Ja … aber warum ist das wichtig?«
»Oh, ich wollte es nur bestätigen.«
Jircniv überlegte fieberhaft: Wer ist Ainz Ooal Gown überhaupt? Dunkelelfen, eine Gruft und ein Drache … eine völlig unzusammenhängende Mischung. Wo liegt die Verbindung? Vielleicht sind die Dunkelelfen, die im Waldgebiet von Tob leben, in die Ruinen in den Ebenen umgezogen? Und der Drache ist ein Monster, das dem Anführer des Dunkelelfenstammes gehorcht? Jircniv vertrieb die Spekulationen aus seinen Gedanken, indem er den Kopf schüttelte. Das Spinnen von Geschichten kann ich den Barden überlassen. Meine Aufgabe besteht darin, auf der Grundlage der gesammelten Daten eine genaue Schlussfolgerung zu ziehen.
Das Einzige, dessen er sich bislang sicher sein konnte, war, dass sein Widersacher irgendwie innerhalb des Imperiums Informationen gesammelt hatte. Vermutlich kontrollierte er ein recht umfangreiches Netzwerk aus Informanten oder …
Ist dieser Ainz Ooal Gown begabt, wenn es um Datenanalyse geht? Dann muss ich etwas überprüfen.
»Hat er Euch befohlen, hier auf einem Drachen reinzuschneien?«
»J…ja. Das war der Befehl von Lord Ainz.«
»Aha … Ich verstehe.«
»Was sollen diese eigenartigen Fragen? Wirst du dich entschuldigen oder was? Wenn nicht, sagen wir ihm, dass du dich geweigert hast, und kommen zurück, um das Land zu zerstören.«
Es gab ein Sprichwort, das besagte: »Dracheneier findet man nur in einer Drachenhöhle.« Das bedeutete, dass man große Leistungen und Erfolge nur dann erzielen konnte, wenn man das entsprechende Risiko einging. Jircniv befolgte diesen Rat und wagte einen weiteren Schritt.
»Selbstverständlich werde ich das tun. Zwar kann ich mich nicht daran erinnern, jemanden an einen Ort namens Nazarick geschickt zu haben, aber es ist möglich, dass einer meiner Untergebenen eigenmächtig schlechte Entscheidungen getroffen hat. Als Herrscher muss ich die Verantwortung für die Handlungen meiner Untertanen übernehmen.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie die drei Minister große Augen bekamen, während Fluder mit einem Nicken bestätigte, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Hmm, na schön. Sollen wir dann aufbrechen?«
»Moment. Ich habe nichts dagegen, mich zur Gruft zu begeben, aber ich bin der Herrscher des Imperiums. Ich kann mein Land nicht so einfach verlassen. Wenn ich, hmm, zwei oder drei Tage Zeit bekommen könnte«, er musterte den Gesichtsausdruck der Boten und schlussfolgerte, dass seine Bitte offenbar kein Problem darstellte, »um dringende Angelegenheiten zu erledigen, wäre das sehr hilfreich. Zeit, um alles Nötige vorzubereiten und um ein Geschenk für Sir Gown zu besorgen, also vielleicht zehn Tage …«
»Zehn? Ist das nicht ein bisschen viel?«
»In zehn Tagen sollte ich in der Lage sein, ein passendes Geschenk zu finden. Ich möchte nicht unhöflich sein und etwas zu Schlichtes anbieten. Zudem wird es eine Weile dauern herauszufinden, wer für das unerlaubte Eindringen verantwortlich ist. Das Imperium ist riesig. Nachforschungen brauchen Zeit.«
»Ein Geschenk …?« Der Gedanke schien Aura sehr zu beschäftigen. Mare neben ihr wurde allmählich nervös.
Verstehe … Wenn sie zögern, sobald sie hören, dass es sich um ein Geschenk für Gown handelt, bedeutet das, sie respektieren ihren Gebieter. Wenn ich auf dieser Grundlage mehr Druck ausübe, sollte es mir gelingen, etwas mehr Zeit zu gewinnen.
Jircniv wollte gerade den Mund öffnen, doch Aura war einen Sekundenbruchteil schneller.
»War nur ein Scherz. Lord Ainz hat gesagt, du sollst sofort kommen. Einen Zeitpunkt hat er nicht genannt, also überlasse ich es dir zu entscheiden, ob ›sofort‹ auch ›in ein paar Tagen‹ bedeuten könnte.«
Er wollte Ainz Ooal Gown anspucken, weil er seine Pläne durchschaut hatte. Gleichzeitig begriff er, dass er es mit einem mächtigen Gegner zu tun hatte.
Er will also sehen, wie sehr ich mich beeilen werde, das Wort sofort zu befolgen? Meine Güte, Ainz Ooal Gown, du bist also auch geschickt in Verhandlungen, was? Wie intelligent muss er sein, um vorherzusehen, wie das Gespräch verlaufen würde.
»Äh, warum bist du so still?«
Als er Auras kalte Stimme hörte, bemerkte er, dass er sich in einem Labyrinth seiner Gedanken verloren hatte.
»Ä…ähm, entschuldigt. Ich habe nur darüber nachgedacht, was für ein Geschenk ich ihm mitbringen könnte, wenn mir nicht so viel Zeit bleibt …«
»Hmm. Nun, wie auch immer. Beantwortest du jetzt meine Frage? Wann wirst du zur Großen Gruft von Nazarick kommen … für deine Audienz bei Lord Ainz?«
»Hmm.« Er ignorierte Auras unverhohlene Provokation. »Ich werde alles vorbereiten und mich in fünf Tagen auf den Weg machen.«
»In Ordnung. Dann werde ich das Lord Ainz mitteilen. Ach, übrigens, wolltest du, dass wir die lebendig Begrabenen wieder rausholen? Nun«, sie klatschte böse grinsend in die Hände, was überhaupt nicht zu einem Kind passte, »vermutlich sind sie platt wie Pfannkuchen oder ähneln eher Hackfleisch, wodurch sie schwer zu bergen sein werden, aber …«
Jircniv lächelte – da ihre Absicht dermaßen offensichtlich war.
Menschen neigten dazu, ihre wahre Natur zu offenbaren, wenn ihre Emotionen überhandnahmen. Vermutlich wollte sie ihn provozieren und sehen, wie er reagieren würde. Diese Taktik setzte Jircniv selbst von Zeit zu Zeit ein. In Situationen wie dieser erwies es sich als effektiv, die Erwartungen seines Gegenübers zu enttäuschen.
»Ich danke Euch. Das wäre eine große Hilfe.«
Zum ersten Mal seit Beginn dieses Gesprächs zeichnete sich ein echtes Lächeln auf seinen Lippen ab, als er Auras enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte.
Kapitel 1: Verbale Kriegsführung
1
Sechs prächtige Kutschen rasten über die Ebene. Obwohl sie sich über Gras bewegten, verlief die Fahrt erstaunlich sanft. Das lag zum einen an den Rädern: Bei ihnen handelte es sich um magische Items namens Komfortable Wagenräder. Zum anderen war die Karosserie mit einem magischen Item versehen, das Leichtes Gepäck genannt wurde. Die äußerst luxuriöse Kutsche, deren Herstellung eine beachtliche Summe gekostet hatte, wurde von besonderen Wesen gezogen, pferdeähnliche magische Bestien namens Sleipnirs.
Mit sechs dieser Kreaturen wäre es absurd gewesen, überhaupt zu versuchen, die damit zusammenhängenden Kosten zu berechnen.
Es verlangte mehr als nur ein Vermögen, einen Sitzplatz in einer dieser Kutschen zu ergattern. Darum herum ritten zwanzig Wachen auf prächtigen Pferden, allesamt ausgestattet mit einem Kettenhemd, einem Langschwert an der Hüfte, einem Köcher mit Pfeilen sowie einem Langbogen, den sie auf dem Rücken trugen.
Bis auf ihre Anführerin, die allen voran ritt, handelte es sich ausschließlich um Männer. Im Gegensatz zu den anderen war die Frau an der Spitze schwer gepanzert. Sie trug eine Plattenrüstung und einen Speer, der sich von einer herkömmlichen Ritterlanze unterschied. Ihr Visier war hochgeklappt, doch eigenartigerweise bedeckte ein goldenes Tuch die rechte Seite ihres Gesichts.
Die passendste Bezeichnung für die bewaffnete Gruppe schien »Söldner« zu sein, allerdings vermittelten ihre Bewegungen und ihre Disziplin einen anderen Eindruck. Ihr Blick war scharf, sie achteten auf alles in ihrer Umgebung.
Möglicherweise wirkten sie wie Feiglinge, da sie selbst auf freier Fläche dermaßen wachsam blieben, doch in einer von Magie erfüllten Welt, in der es von Monstern nur so wimmelte, konnte man nie vorsichtig genug sein.
Giant Spiders, die unter der Erde lauerten, auf Nahrung und Wasser verzichteten und geduldig darauf warteten, dass ihre Beute vorbeikam; unreine Monster ohne feste Form, die wie Nebel durch die Luft schwebten; Basilisken mit versteinerndem Blick, die jeden, der sie sah, in die Flucht trieben, selbst wenn sie weit entfernt waren … Um auf Monster mit derart tödlichen Fähigkeiten vorbereitet zu sein, konnten es sich die Wachen nicht erlauben, dass ihre Konzentration auch nur eine Sekunde nachließ. Gewöhnliche Söldner kannten diese Art von Pflichtbewusstsein nicht.
Was mehr als alles andere belegte, dass es sich bei ihnen nicht lediglich um bezahlte Handlanger handelte, waren diejenigen, die oben am Himmel Ausschau hielten, obwohl man sie nicht sehen konnte. Sie waren so unsichtbar, als hätten sie einen Zauber benutzt, und passten ihre Geschwindigkeit der Gruppe auf dem Boden an.
Ein Hippogreif, das Ergebnis der Kreuzung eines Greifen und einer Stute, war eine magische Bestie, halb Adler, halb Pferd. Möglicherweise waren sie dank ihres Pferdeblutes leichter zu handhaben als Greifen, was den Hippogreif zu einem beliebten fliegenden Reittier machte. Auf solchen Wesen saßen die Wächter am Himmel.
Fliegende Reittiere – obwohl es sich bei diesen um Monster handelte – waren äußerst kostspielig. Für einfache Söldner wäre es unmöglich gewesen, über dermaßen viele zu verfügen.
Ja, sie waren wie Söldner gekleidet, um mögliche Beobachter zu täuschen.
Die Gruppe am Boden bestand aus Mitgliedern der kaiserlichen Garde. Diejenigen am Himmel waren mit unglaublich wertvollen magischen Items ausgestattet, die sowohl den Träger als auch sein Reittier unsichtbar machten. Jener Trupp bestand aus den besten Kriegern der kaiserlichen Luftgarde.
Die Kutschen gehörten selbstverständlich dem Imperator von Baharuth, Jircniv Rune Farlord El Nix. Es gab eine Vielzahl von Gründen, warum sie als Söldner verkleidet waren; der wichtigste bestand darin, dass der Imperator es sich nicht leisten konnte, die Grenze zu verletzen, indem er mit seinen Rittern ins Königreich reiste. Darum wirkten die Kutschen von außen im Vergleich zu ihrem Inneren schlicht, selbst wenn sie nach wie vor weit über dem Durchschnitt lagen.
Jircnivs Kutsche, die sich an dritter Stelle in der Kolonne befand, war sogar noch schwerer bewacht als die anderen. Man hatte die Ladepritsche auf dem Dach umgebaut, damit sich dort zwischen dem Gepäck zwei Bogenschützen verstecken konnten. Zudem war der Innenraum geradezu extravagant ausgestattet. Das Ganze glich weniger einer Kutsche als vielmehr einer Luxusunterkunft auf Rädern. Sowohl die Wände als auch der Boden waren mit weichem Teppichboden versehen. Die einander gegenüberliegenden Sitze erwiesen sich als bestens gepolstert, wodurch selbst lange Fahrten nicht unbequem wurden.
Zusammen mit Jircniv befanden sich noch drei weitere Personen in dieser Kutsche, sodass man möglicherweise davon hätte ausgehen können, dass im Inneren ein unangenehmes Gedränge herrschte, doch dieser Gedanke wäre nur jemandem gekommen, der noch nie in einem solchen Luxusgefährt gereist war. Tatsächlich verfügten die vier Männer über reichlich Platz.
»Majestät. Eure Kaiserliche Majestät, vielleicht solltet Ihr aufwachen.«
Die Stimme riss Jircniv aus seinem Nickerchen. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Augen, bevor er herzhaft gähnte. Dann streckte er stöhnend den Rücken. Es fühlte sich gut an, seinen Körper zu lockern. Anschließend gähnte er erneut.
»Ihr habt tief und fest geschlafen, aber es sieht so aus, als wärt Ihr noch immer müde.«
Die Stimme, die Jircniv aus seinem angenehmen Schläfchen weckte, gehörte einem Minister, der mit ihm in der Kutsche mitfahren durfte: Reaunet Vermilion.
Er antwortete mit einem Kopfschütteln. »Ach, nein, bin ich nicht. Ich fühle mich zwar noch etwas benommen, aber nicht mehr müde. Erstaunlich, ich habe schon lange kein Nickerchen mehr gemacht … wahrscheinlich, seit ich ein Kind war! Wenn ich im Palast bin, habe ich Unmengen zu erledigen, auf dieser Reise hingegen gibt es nichts zu tun … Das ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, Gown danken zu müssen.«
»Ah ja, Ihr seid immer mit irgendwas beschäftigt. Warum ist das so?«
Bei demjenigen, der ihn dermaßen vertraut ansprach, als wäre er nicht der Imperator, handelte es sich um den Anführer der Vier, Baziwood. Alleine der Tonfall rechtfertigte bereits ein Stirnrunzeln, dennoch reagierte niemand in der Kutsche auf die unverblümte Frage.
Jircniv lächelte schief über seinen allzu anmaßenden, doch äußerst fähigen Untergebenen. »Das ist einzig und allein die Schuld des Blutigen Imperators. Er hat die Reformen so schnell durchgedrückt, dass jetzt vieles hinter dem Zeitplan liegt. Was für ein Trottel. Es hätte einen einfacheren Weg geben sollen, vielleicht hätte er sich vorher die Hilfe von mehr fähigen Leuten sichern sollen. Wenn ihr ihn das nächste Mal seht, haltet ihm in meinem Auftrag eine Standpauke. Oh, aber sorgt dafür, dass ihr auch einen alternativen Vorschlag zur Hand habt.«
Nun lächelten die Insassen der Kutsche genauso schief wie Jircniv.
Ursprünglich waren es die Adeligen gewesen, vor allem die am Hof, die die Verwaltungsaufgaben des Imperiums übernommen hatten. Das lag daran, dass Bildung ausschließlich Mitgliedern des Adels zur Verfügung stand, unter anderem aus finanziellen Gründen, was bedeutete, das Kinder niedrigeren Standes nicht in den Genuss kamen. Selbstverständlich hatte die privilegierte Klasse ein Interesse daran, dieses System beizubehalten.
Doch gerade weil Jircniv die Untreuen unter den Adligen beseitigt hatte, standen weniger Beamte zur Verfügung. Als Hauptproblem erwies sich dabei, dass es aufgrund seiner Reformen noch mehr zu tun gab als vorher. Dadurch stieg die Arbeitsbelastung der jeweiligen Personen, was auch für ihn selbst galt.
Der Blutige Imperator hatte sich vieler unfähiger Aristokraten entledigt – darum der Spitzname –, allerdings erst im Nachhinein begriffen, dass selbst nutzlose Menschen eine Aufgabe zu erfüllen hatten.
Dennoch bereute er es nicht. Es hatte keinen anderen passenden Zeitpunkt gegeben, diese Säuberung durchzuführen. Hätte er auf die perfekte Gelegenheit gewartet, hätten die diversen einflussreicheren Adeligen einen Teil der Kontrolle über die Ritter an sich gerissen, was den Tod seines Vaters sinnlos gemacht hätte. Alleine dank der Säuberung hatte das Imperium eine Zukunft.
Frauen litten, um Kinder zu gebären. Seine Arbeitslast war sein Leid, um ein neues Imperium auf die Welt zu bringen. Sollte er sie bewältigen, würde er etwas Wertvolles erhalten.
Diese Gedanken sorgten dafür, dass Jircnivs über seine eigene Nachkommenschaft nachdachte. Er war nicht verheiratet, dennoch hatte er Kinder. Da er keine Gemahlin hatte, handelte es sich nicht um Mätressen, sondern um Frauen, deren Gesellschaft er genoss, was auch zur Geburt von Kindern geführt hatte. Unglücklicherweise empfand er keinerlei Liebe für diese Sprösslinge, nichtsdestotrotz hoffte er, dass sich einer davon als außergewöhnlich herausstellen würde – denn sollte die Dame, die er irgendwann zu seiner Gemahlin machen würde, ein untaugliches Kind zur Welt bringen, könnte er es gegen einen geeigneten Nachkommen austauschen.
»Den Imperator rund um die Uhr zu beschäftigen ist nicht der angemessene Weg, den unser Land einschlagen sollte. Ich möchte Beamte ausbilden und so schnell wie möglich zu der ursprünglichen Rolle des Imperators zurückkehren, die lediglich verlangt, dass ich allgemeine Befehle erteile. Und ich möchte meinem Erben, dem zukünftigen Imperator, diese Bürde ersparen. Immerhin will ich nicht, dass er mir die Schuld dafür gibt, dass er so viel zu tun hat.«
Derzeit war ein einziger, bemerkenswerter Mensch der Dreh- und Angelpunkt des Imperiums. Nein, vermutlich wäre es angemessener gewesen zu sagen, dass Jircniv dank des von außergewöhnlichen Vorgängern aufgebauten Gerüsts ein bemerkenswertes Gebäude errichtet hatte. Doch niemand konnte garantieren, dass der nachfolgende Imperator ebenso brillant sein würden.
Auch wenn er es nicht laut aussprach, wollte Jircniv ein Imperium erschaffen, das ohne Probleme bestehen konnte, solange sein Oberhaupt nicht vollkommen unfähig war. »Das wird schwierig. Ihr seid zum absoluten Herrscher geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr auf die gleiche Weise regieren könntet wir frühere Imperatoren.«
»Vermilion. Es ist deine Aufgabe, das möglich zu machen. Natürlich liegt die endgültige Entscheidung alleine bei mir. Das haben sich die früheren Imperatoren erhofft, es ist das Ergebnis ihrer politischen Entscheidungen. Aber selbst wenn ich über absolute Macht verfüge, ist es falsch, dass ich mich um jede Kleinigkeit kümmern muss. Ich meine, welchen Zweck hätten dann Beamte, nicht wahr? Hast du dein Gehirn irgendwo zu Hause liegen gelassen?«
»Er hat es bestimmt nicht in der Magischen Akademie des Imperiums vergessen, Eure Majestät.« Fluder, der Leiter des Ministeriums für Magie, das von der Akademie verwaltet wurde, meldete sich zu Wort, um zu verdeutlichen, dass jemand dermaßen Dummes es bei ihnen nicht weit bringen würde.
»Haha, ja. Da hast du recht, Großväterchen.« Jircniv räusperte sich, um alle zu ermahnen, sich wieder auf das Thema zu konzentrieren. »Seit ich regiere, hat sich das Imperium verjüngt … es ist ein Baby. Ich habe das Alte zerstört, um Platz für das Neue zu schaffen. Wie du sagst, Vermilion: Bis das Land gefahrlos auf eigenen Beinen stehen kann, liegt noch viel Arbeit vor mir, aber wenn es für alle Zeiten ein Kind bleibt, stellt das ein Problem dar. Ich muss mir einen Plan zurechtlegen, damit ich, wenn ich irgendwann in Zukunft allgemeine Richtlinien festlege, sicher sein kann, dass die Beamten und Militäroffiziere diese zuverlässig ausführen.«
Länder, die sich ausschließlich auf eine einzige Person mit absoluter Macht verließen, waren schwach. Das wusste Jircniv.
Reaunet neigte den Kopf, um zu verdeutlichen, dass er verstanden hatte. Dabei zeigte sich, dass sein Haar dünner war, als sein Alter vermuten ließ.
Jemand anders ergriff das Wort: »Der nächste Imperator …? Oh, richtig. Habt Ihr vor, ein Kind mit ihr zu bekommen?«
Er wusste augenblicklich, von wem Baziwood sprach. Schließlich hatte der Ritter nur von einer der Frauen des Imperators eine hohe Meinung.
Jircniv wählte seine Gefährtinnen aufgrund ihres Aussehens und des Standes ihrer Eltern, dennoch gab es einen Fall, auf den das nicht zutraf. Er hatte sich nicht wegen ihrer Schönheit oder ihrer Erziehung für diese Dame entschieden, sondern um ihres Verstandes willen; sie war die einzige seiner Gefährtinnen, der er gestattete, sich zur Politik zu äußern – zugegeben, nicht öffentlich, aber im Bett.
Ursprünglich hatte er kein Interesse daran gehabt, mit ihr zu schlafen. Das war ihre Idee gewesen.
Er würde sie nur zu gerne zu seiner Gemahlin machen.
»Nein, das möchte sie nicht. Sie sagt sogar Dinge wie: ›Schönheit ist ein Schatz, mit dem man geboren wird, und für jemanden an der Spitze ist sie ein überaus wichtiges Gut. Einen unzureichenden Verstand kann man mit harter Arbeit und fähigen Untergebenen ausgleichen, aber auf das Aussehen hat man keinen Einfluss.‹«
»Mit Eurem Blut sollte das gute Aussehen des Kindes garantiert sein. Nun, ich gebe zu, Untertanen lassen sich lieber von einem schneidigen Imperator Befehle erteilen.«
»Letztendlich stimmt es also doch, hm?«
Was das anbelangte, hatte Jircniv keine Ahnung, da es niemanden gab, der über ihm stand. Ungeachtet wie hässlich jemand war, sollte sich eine Person als außergewöhnlich fähig erweisen, würde er sie für seine Zwecke einsetzen und stets in Betracht ziehen, ihr einen wichtigen Posten zu geben.
»Das ist auf alle Fälle besser als eine auf dem Rücken liegende Kröte. Eure Imperiale Majestät, ich bin überzeugt, ihr zieht es vor, dass die sich auf euch windende Frau schön ist, oder etwa nicht?«
»Nun, ich glaube schon. Ich schätze, ich verstehe es gewissermaßen … aber ganz im Ernst?« Er neigte den Kopf zur Seite; irgendetwas ergab keinen Sinn.
»Ich vermute, du überlegst, woher du deine Gemahlin nehmen sollst?«
Fluders Frage sorgte dafür, dass Jircniv die Stirn runzelte.
»Wenn die Frage lautet, ob die Wahl auf jemanden von hier oder aus einem anderen Land fallen soll, dann würde ich mich für das andere Land entscheiden. Derzeit gibt es keinen Grund, eine Frau aus dem Imperium zu nehmen. Es müsste ein Mädchen aus einem anderen Land sein … Man erwartet von mir, dass ich mir das Unvorstellbare zum Ziel setze.«
Fluder strich sich über den Bart. »Prinzessin Renner?«
Noch während er nickte, verzog Jircniv das Gesicht.
Die dritte Prinzessin des Königreichs Re-Estize, Renner Theiere Chardelon Ryle Vaiself … Wegen ihrer allseits gerühmten Schönheit war sie als »Goldene Prinzessin« bekannt, dennoch besetzte sie seit mehreren Jahren den ersten Platz auf Jircnivs Liste der meistgehassten Frauen. Stattdessen mochte er Bürgermeisterin Cabelia von Bebard, eine der Führungspersönlichkeiten der Liga der Stadtstaaten.
»Ich weiß nie, was sie denkt. Wenn ich von ihren Machenschaften höre, beschleicht mich das seltsame Gefühl, sie scheitert nur, weil sie es will.«
So einen Menschen kann es doch gar nicht geben. Das wollte er sich zwar einreden, doch Jircniv wusste ganz genau, wie kompliziert und bizarr Menschen waren. Wenn ihr Scheitern absichtlich erfolgte, stellte sich die Frage nach dem Warum. Während er versuchte, Renners Gedankengänge zu analysieren, bekam er den schrecklichen Eindruck, sich immer mehr in einem Spinnennetz zu verheddern.
»Wäre jemand vielleicht so gnädig, endlich diese Irre für mich zu ermorden?«
»Falls das ein Befehl ist, kann ich sofort mit Ijaniya Verbindung aufnehmen.«
Der Name gehörte einer nach einem der Dreizehn Helden benannten Bande von Attentätern, die in den östlichen Teilen des Imperiums und in den Gebieten der Stadtstaaten ihr Unwesen trieb. Offenbar war ihre Vorgehensweise größtenteils ein Mysterium. Das Imperium hatte versucht herauszufinden, ob es sie unter seine Kontrolle bringen konnte, allerdings hatte es noch keine positive Antwort gegeben.
»Nein, nein. Sie muss ihr weltbewegendes Wissen weitergeben. Es ist für mich besser, sie am Leben zu lassen, als ihr Ableben zu planen … Hat sich diese Frau das alles bereits zusammengereimt?«
»Könnte sie so weit vorausgedacht haben?«
Da diese Möglichkeit durchaus bestand, antwortete Jircniv lediglich seufzend: »Wer weiß?«
Ein Spion im Königreich gab alles ans Imperium weiter, was Renner sagte. Einige der von ihr vorgeschlagenen Pläne beeindruckten Jircniv. Er wusste, es handelte sich um großartige Ideen, da ihre Umsetzung in seinem Reich gute Ergebnisse erzielte. Ihr Tod würde dem Imperium keinen Nutzen bringen.
Manchmal erweckte der Zeitpunkt, zu dem sie ihre Vorschläge unterbreitete, als würde sie das Vorgehen des Imperiums interpretieren. Das würde allerdings bedeuten, dass sie Jircnivs Hoheitsgebiet ohne Agenten, die ihr als Augen oder Ohren dienten, beobachtete und dass sie anschließend auf der Grundlage dieser Informationen agierte.
Jircniv wollte sogar Gazef, den Hauptmann der königlichen Garde, rekrutieren, Renner hingegen wirkte aufgrund ihres unergründlichen Wesens für seine Zwecke unattraktiv.
»Nun, wenn Renner stirbt, stellt das für das Königreich keinen nennenswerten Verlust dar, aber sollte Eure Imperiale Majestät sterben, würde unser Land zerfallen. Die Vier können Euch vor Attentätern schützen, aber gegen andere Gefahren sind wir machtlos, darum übernehmt Euch bitte nicht zu sehr.«
»Natürlich. Bis ich eine solide Verwaltungsorganisation innerhalb des Imperiums etabliert habe, muss ich am Leben bleiben – um jeden Preis.«
Ausgerechnet jetzt das Staatsoberhaupt zu verlieren könnte den Zusammenbruch aller bisher von ihm erreichten Fortschritte bedeuten. Welches Ausmaß könnte das Imperium in Zukunft noch erreichen? Sobald sich das abzeichnete, würde jeder mit bösartigen Absichten bestimmt sein Möglichstes tun, den Imperator zu beseitigen. Vor allem, wenn diese Person aus einem benachbarten Land wie dem Königreich oder dem Gottesstaat stammte.
Genau das war der Grund, warum das Imperium die Kontrolle über Ijaniya anstrebte, um die Gruppe gegen andere Attentäter einzusetzen.
»Richtig. Wir dürfen Euch jetzt nicht verlieren. Wir sind auf der Hut, was Giftanschläge oder andere Gefahren für Euer Wohlergehen angeht. Aus diesem Grund ist immer ein Glaubensmagier in der Nähe. Trotzdem ist es besorgniserregend, dass uns eine Person fehlt, die wirklich für diese Aufgabe geeignet ist. Ich hätte ja selbst jemanden unterrichtet, aber ich bin nicht sonderlich geschickt, wenn es um Glaubensmagie geht.«
»Dein Talent besteht darin, ein Zauberer zu sein. Du kannst kein Universalexperte sein. Ach ja, wir haben den Gottesstaat gebeten, uns bei der Rekrutierung zu helfen. Die Antwort war nicht gerade befriedigend. Wie wäre es, wenn wir die Gläubigen der Vier Götter und der niederen Gottheiten in einem Wettstreit antreten lassen, um zu sehen, wer der Beste ist? Das Imperium könnte den Schrein mit den besten Ergebnissen belohnen.«
Konkurrenz und Wettbewerb führten stets zu technologischer Entwicklung. Doch Reaunet schüttelte auf Jircnivs Vorschlag hin dermaßen heftig den Kopf, dass sein Haar durcheinandergeriet und an seiner Stirn klebte.
»Das wäre zu gefährlich. Jeder Schrein im Imperium lebt von Spenden und der harten Arbeit, die in die Entwicklung von Produkten für den Verkauf investiert wird, wobei jeder seine eigenen Methoden anwendet. Wenn die Regierung Druck ausüben oder versuchen würde, eine Vereinbarung zu treffen, wäre Widerstand unvermeidlich.«
»Verstehe … Nun, hätten wir die Kontrolle über die Schreine, wäre das Imperium mächtiger. In dieser Hinsicht verfügt der Gottesstaat über eine beneidenswerte Struktur. Diese besteht zwar schon seit Hunderten von Jahren, aber ich wünschte, ich wüsste, wie sie das bewerkstelligt haben.«
»Glaubensmagie ist zudem an die allgemeine Gesundheit der Massen gebunden. Auf jeden Fall finde ich es großartig, dass Eure Majestät jeden mit magischen Fähigkeiten, ob sie nun auf Glauben oder etwas anderem basieren, in den Ritterstand erhebt oder demjenigen eine Ausbildung ermöglicht. Wenn man Monster allein mit Schwertern bekämpft, kommt es letztendlich zu viel mehr tödlichen Verletzungen.« Baziwood hatte in der Vergangenheit an einer Mission zur Monstervernichtung mitgewirkt, die beinahe schiefgegangen wäre. Der Ritter stöhnte, bevor er fortfuhr: »Ich persönlich wünschte, wir würden über Auferstehungsmagie verfügen. Dann müssten wir uns nicht so viele Sorgen machen, selbst wenn einer unserer Besten ums Leben kommt. Stimmt es, dass Auferstehungszauber Lebenskraft verbrauchen und normale Menschen in Asche verwandeln?«
Als er das hörte, beugte sich Fluder vor. Ob es nun daran lag, dass er für die Ausbildung des Imperators zuständig war, oder daran, dass er gerne über Magie sprach, der Zauberer neigte dazu, sich bei solchen Gelegenheiten mit funkelnden Augen an der Unterhaltung zu beteiligen. Leider besaß er einen Hang dazu, unglaublich weit auszuholen und nicht zum Punkt zu kommen – Jircniv verzog bereits gelangweilt das Gesicht, was nur Baziwood und Reaunet sehen konnten.
»Das tut es allerdings. Der Stufe-fünf-Glaubenszauber Raise the Dead verbraucht eine große Menge Lebenskraft. Angeblich wird auf höheren Stufen weniger Energie benötigt, aber … es wird angenommen, dass niemand einen so fortgeschrittenen Zauber anwenden kann. Ich habe gehört, die uralte Magie der Dragonlords konnte jemanden ohne Verlust von Lebenskraft zurückbringen …«
»Also ist die Königin des Drachen-Königreiches dazu in der Lage?«
»Gute Frage, Vermilion. Angeblich kann sie uralte Magie anwenden, die man auch unter anderen Namen wie Urmagie oder Seelenmagie kennt, schließlich weiß man, dass sie das Blut des BrightnessDragonlords in sich trägt. Doch ob sie zur Durchführung von Wiederauferstehungen in der Lage ist, ist nicht bekannt. Die Struktur der Urmagie unterscheidet sich völlig von den heutigen Techniken, wodurch sie für uns, die wir nur moderne Magie anwenden können, unerreichbar ist.«
Nachdem Fluder seinen Vortrag beendet hatte, musterte er Jircniv. Dieser befürchtete, dass der alte Mann seine Miene bemerkt hatte, und geriet einen Moment lang in Panik, entspannte sich allerdings, als er Fluders nächste Worte hörte.
»Nur zu gerne würde ich diese Urmagie studieren … Wenn jemand mit dem Blut des BrightnessDragonlords imstande ist, sie anzuwenden, stellt die Abstammung zweifellos einen wichtigen Faktor dar. Wenn du nach einer Gemahlin suchst, solltest du jemanden wählen, der mit dieser Königin verwandt ist …«
»Verschone mich, Großväterchen. Ich habe kein Interesse an diesem ausgedörrten Stück Hammelfleisch, das versucht, sich als Lamm auszugeben.«
Auf keinen Fall wollte er die Frau heiraten, die auf seiner Liste der Meistgehassten den zweiten Platz belegte. Und obwohl er für seine Kinder nichts empfand, war er nicht so grausam, sie zu einem Leben als Versuchskaninchen zu verdammen. Wenn man dies allerdings gegen die Vorteile abwog, die das Land dadurch ernten könnte …
In diesem Moment klopfte es an der Tür der Kutsche.
Zum Schutz gegen die Entdeckung durch Aufklärungsmagie und physische Angriffe war die Kutsche mit Metall verkleidet worden. Aus diesem Grund verfügte sie über keinerlei Fenster. Baziwood öffnete die Tür einen Spalt weit, um einen Blick nach draußen zu werfen – oder besser gesagt, um festzustellen, wer geklopft hatte.
Solange sie von Rittern umgeben waren, musste es sich um einen Verbündeten handeln, doch Vorsicht schadete nie.
»Eure Kaiserliche Majestät, es ist Leinas.«
»Öffne die Tür.«
Als Baziwood die Tür aufschob, wehte ein frischer Wind herein, der das Haar der Menschen im Inneren leicht zerwühlte. Angesichts der Jahreszeit hätte die Luft kalt sein müssen, stattdessen fühlte sie sich angenehm warm an. Es lag auf der Hand, dass sich das auf Magie zurückführen ließ.
Die Frau, die zuvor an der Spitze der Gruppe geritten war, befand sich nun neben der Kutsche.
»Verzeiht, Eure Kaiserliche Majestät. I…«
Aufgrund des Windes war sie kaum zu verstehen.
»So wird das nichts. Steig ein. Vergiss die Konventionen.«
»Jawohl, Eure Majestät. Dann gestattet mir, mich zu Euch zu gesellen.«
Mit diesen Worten sprang sie flink von ihrem Pferd und geradewegs durch die Tür der nach wie vor dahinrollenden Kutsche. Sie tat so, als wäre das nichts Besonderes. Wenn man allerdings berücksichtigte, dass sie eine Plattenrüstung trug, und ihr Ross im vollen Galopp mit dem Wagen mithielt, ließ das keinen Zweifel an ihrer ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Das war kaum überraschend. Sie gehörte zu den vier mächtigsten Rittern von Baharuth: Leinas Rockbruise, die den Beinamen »Schwere Explosion« trug.
Sobald sie sich in der Kutsche befand, zog sie leise die Tür zu und nahm neben Baziwood Platz, nachdem sie mit einem Blick über die Schulter sichergestellt hatte, dass einer der neben der Kutsche herlaufenden Wächter die Zügel ihres Pferdes genommen hatte.
Der Zauber, der auf die Kutsche gewirkt worden war, hielt lediglich eine angenehm warme Innentemperatur aufrecht, was bedeutete, er hatte keinerlei Wirkung, wenn man direkt mit etwas Kaltem in Berührung kam; Leinas’ Metallrüstung war der eisigen Luft draußen ausgesetzt gewesen. Baziwood fröstelte, als sich die Kriegerin neben ihm niederließ.
»Wir haben eine Nachricht von einem unserer Späher erhalten.«
Einer der auf die Kutsche gewirkten Verteidigungszauber bewahrte sie vor Aufklärungsmagie. Das half, sie zu verbergen, führte allerdings zu dem Problem, dass auch Zauber wie Message blockiert wurden. Darum hatte man beschlossen, dass Leinas, als Befehlshaberin der Wachen, über Message eingehende Mitteilungen empfangen und weiterleiten sollte.
»Die Vorhut hat die Große Gruft von Nazarick erreicht. Als sie den Kammerzofen in der Blockhütte mitgeteilt haben, wann Ihr voraussichtlich ankommen werdet, wurden sie Willkommen geheißen.«
»Kammerzofen? Ich dachte, es würde sich um eine Gruft unter der Erde handeln … Kammerzofen? Kaum zu glauben … Ist das so ein Fall, bei dem …? Ich habe gehört, dass in manchen Ländern Kammerzofen mit ihrem König begraben werden, um ihm nach dem Tod weiterhin dienen zu können. Ist das hier genauso? Oder wurde die Gruft von Dunkelelfen übernommen, die den Wald verlassen haben?«
»Leider ging die Nachricht nicht so sehr ins Detail, Eure Kaiserliche Majestät.«
»Ich verstehe es einfach nicht. Der Wald gehört nicht zum menschlichen Reich, daher gibt es keinerlei Geschichtsaufzeichnungen, aber … Nun, ich möchte mir einreden, dass sie sich nicht wie die Monster verhalten werden, die in den kaiserlichen Palast eingedrungen sind. Sag unseren Truppen, dass sie auf der Hut sein müssen.«
»Es ist genau so, wie Ihr gesagt habt, Eure Kaiserliche Majestät. In Anbetracht der Macht dieser Boten könnten wir uns in eine unbekannte Welt begeben. Bitte seid vorsichtig. Wenn etwas passiert, lasst mich bitte sofort rufen«, sagte der alte Magier.
»Du meinst, wenn es so weit kommt, soll ich mit Teleportation flüchten?«
Fluder lächelte bestätigend.
»Wir werden Euch die notwendige Zeit verschaffen. Egal wie vielen Gegnern wir uns auch stellen müssen, wir werden dafür sorgen, dass Eure Kaiserliche Majestät die Gelegenheit erhält zu entkommen.«
Baziwood grinste, Leinas hingegen sagte nichts. Es handelte sich weniger um stillschweigende Zustimmung als vielmehr um unausgesprochene Missbilligung, doch niemand erlaubte sich einen Kommentar.
Zunächst einmal war sie eine der Vier, trotzdem hatte sie Jircniv nicht die Treue geschworen. Dem Imperator zu dienen kam ihr durchaus zugute; doch sollte jemand auftauchen, der sich in einer Position befand, ihre Wünsche besser zu erfüllen, würde sie ihre derzeitige Position ohne Zögern aufgeben. Mit anderen Worten: Leinas war der Ritter mit der geringsten Loyalität.
Da man die Vier alleine aufgrund ihrer Fähigkeiten ausgewählt hatte, spielten weder ihre Persönlichkeit noch ihre Ergebenheit eine Rolle. Allerdings ließ sich nicht abstreiten, dass niemand weniger Treue gegenüber dem Imperator an den Tag legte als sie.
Dass er ihr dennoch das Kommando über seine Wachen übertragen hatte, lag daran, dass er gezwungen gewesen war, Sturmwind Nimble Arc Dale zurückzulassen. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben. Wäre Nazami Enec noch am Leben gewesen, hätte er ihn Leinas höchstwahrscheinlich vorgezogen.
»Entschuldigt mich bitte einen Moment.« Leinas holte ein Taschentuch aus ihrer Tasche und legte es an die rechte Seite ihres Gesichts. Was ihre eine Gesichtshälfte wie ein goldenes Tuch bedeckte, war tatsächlich ihre Frisur; sie glitt mit dem Tuch darunter und wischte sich über die Haut.
Nachdem sie fertig war, war das Tuch durch Eiter gelblich verfärbt.
»Ich achte in erster Linie immer auf meinen eigenen Vorteil, darum tut es mir leid, aber ich bitte um Eure Vergebung.«
»Ja, das weiß ich. Das war mein Versprechen, als ich dich zu einer der Vier gemacht habe … oder besser gesagt, so lautet die von uns getroffene Abmachung.«
»Ich verstehe. Das ist es also, was ihr alle vorhabt? In dem Fall werde ich mich einfach irgendwo verkriechen und den Kopf unten halten«, erklärte Reaunet in dem Versuch, die Stimmung zu lockern. Er erntete ein Lachen.
»Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit … Wie viele Stunden dauert es wohl noch, bis wir Nazarick erreichen?«
Als Reaktion auf Jircnivs Frage holte Reaunet eine Uhr aus seiner Tasche und prüfte, wie spät es war. Dann hob er den Blick zu Leinas, wartete auf ihr Nicken, bevor er sprach. »Alles verläuft nach Plan, wir sollten demnach in etwa einer Stunde ankommen.«
»Tatsächlich? Nun, ich freue mich schon darauf. Wollen wir doch mal sehen, wie dieser Ainz Ooal Gown wirklich ist.«
2
Jircnivs Kutsche wurde langsamer, bis sie schließlich zum Stillstand kam. Dennoch konnte er nicht sofort aussteigen. Es war zwar lästig, doch um den angemessenen Anstand zu wahren, war ein gewisses Maß an Vorbereitung notwendig.
Normalerweise wäre das die Aufgabe seiner Dienerschaft gewesen. Möglicherweise wäre es besser gewesen, auf die andere Kutsche mit den Kammerzofen zu warten, dafür fehlte ihnen allerdings die Zeit. Immerhin war Jircniv hier, um sich zu entschuldigen. Es wäre nicht besonders klug, die Boten warten zu lassen.
Nachdem er seine Kleidung zurechtgezupft hatte, legte Jircniv seinen Umhang an. Dabei handelte es sich um ein äußerst wertvolles Item, hergestellt aus dem Fell einer magischen Bestie und mit Verteidigungsmagie versehen. Damit konnte es draußen noch so kalt sein, er würde nichts davon spüren.
Als er schließlich das Zepter an seiner Hüfte befestigt hatte, war das absolute Minimum an Vorbereitungen abgeschlossen. Jircniv ging seine Aufmachung ein letztes Mal durch, um zu gewährleisten, dass sein Auftreten nicht peinlich sein würde.
Er stand kurz davor, sich mit Ainz Ooal Gown einen verbalen Schlagabtausch zu liefern. Sollte das, was im Grunde seine Kampfausrüstung darstellte, irgendwelche Makel aufweisen, wäre peinlich eine unzureichende Bezeichnung. Jircniv wäre es nur recht, wenn ihn sein Gegner aufgrund falscher Schlussfolgerungen unterschätzen sollte, dennoch konnte er nicht zulassen, dass ausgerechnet schlampiges Aussehen dazu führte.
Dann, im selben Moment, als Jircniv zufrieden nickte, klopfte es wie aufs Stichwort.
»In Ordnung, Eure Kaiserliche Majestät. Ich gehe als Erster.«
»Danke.«
Nach dem knappen Wortwechsel streckte Baziwood die Hand zur Tür aus. Er öffnete sie feierlich, wie es sich für eine Kutsche gehörte, in der sich der Alleinherrscher des Imperiums befand. Vorsichtshalber schob sich Reaunet vor Jircniv, um ihn vor möglichen Überraschungsangriffen abzuschirmen.
Jenseits von Baziwoods Schulter erhaschte Jircniv einen Blick auf ihre Umgebung. Als Erstes fiel ihm das Gras auf. Daraufhin bemerkte er die Wachen, die sich in zwei Reihen gegenüberstanden. Etwas entfernt sah er eine Bodenerhebung, die ein flacher Hügel zu sein schien, sowie ein massives Gittertor, das so aussah, als sei es zum Teil im Boden vergraben.
Das ist also der Eingang zur Großen Gruft von Nazarick? Ganz anders als das, was man mir beschrieben hat … aber ich denke, ein solcher Fehler lässt sich noch tolerieren.
Baziwood gesellte sich zu der Aufstellung der Wachen, bevor Jircniv ihm folgte und die Kutsche verließ. Er atmete tief ein. Obwohl die frische Luft kalt sein musste, spürte Jircniv dank seines magischen Umhangs nichts weiter als eine angenehme Wärme.
Langsam ließ er die Luft aus seiner Lunge entweichen, drehte sich um und ließ den Blick über seine Untergebenen schweifen.
Er betrachtete Fluders beste Schüler mit ihren Roben und Stäben, Glaubensmagier mit ihrem Siegel um den Hals, die Teil des Aufgebots an Rittern waren, sowie die strammstehenden Wachen, unter ihnen die Kundschafter, die bereits vor ihnen hier angekommen waren.
Nur zu gerne hätte er gewusst, mit was für Leuten er sich treffen würde, unter den gegebenen Umständen war das allerdings nicht möglich. Die Kammerzofen hatten ihr Gefährt noch nicht verlassen, genauso wartete eine andere Kutsche darauf, entladen zu werden.
Nun, darin befinden sich Geschenke, das ist also kein Wunder. Nun gut, die heruntergekommene Behausung befindet sich wohl hinter diesem Tor, richtig? Oh, Moment, bestimmt ist es das da.
Ein Stück weiter links hatte er eine ebenerdige Blockhütte entdeckt. Im Vergleich zum Gras und den Gräbern wirkte sie dermaßen fehl am Platz, dass er sich ein unbeholfenes Grinsen nicht verkneifen konnte. Woher stammte eigentlich das Holz für den Bau dieser Hütte? In der Ferne konnte er das Azerlisia-Gebirge ausmachen und erinnerte sich daran, dass sie sich in der Nähe des Waldgebietes von Tob befanden.
Haben sie das Baumaterial bis hierher geschleppt? Ich weiß nicht, wie weit es ist, aber leicht kann es nicht gewesen sein.
Es war nicht so, als wüsste Jircniv viel über Blockhütten, dennoch schien es sich um kein besonders prächtiges Gebäude zu handeln. In Anbetracht der Umgebung musste man wohl allein das Vorhandensein eines Bauwerks als beeindruckend erachten.
Die Eingangstür ist ungewöhnlich groß. Ist das eine Doppeltür? Und warum ist sie so hoch? Das sind praktisch drei Stockwerke. War das früher mal ein Lagerhaus oder so was?
Während Jircniv die Blockhütte musterte, bezogen Baziwood und Leinas zu seiner Rechten Stellung, während Reaunet und Fluder vor das Trio traten und sie ansahen.
»Eure Kaiserliche Majestät, sollen wir die anderen aussteigen lassen?«
Reaunet hatte sich für diese Frage zu ihm vorgebeugt, doch Jircniv antwortete, ohne den Blick auf die entsprechende Kutsche zu richten. »Nein. Wir brauchen sie noch nicht. Viel wichtiger ist …«
Dass sich die Tür der Blockhütte öffnete, war nicht der Grund, warum Jircniv abrupt verstummte. Es lag an den beiden wunderschönen Frauen, die heraustraten. Sie trugen ungewöhnliche Kammerzofenuniformen. Die Kleider schienen von guter Qualität zu sein, damit befasste er sich allerdings nicht lange. Die fast unnatürlich symmetrischen Gesichtszüge der Damen überraschten selbst Jircniv, der schon vielen schönen Prinzessinnen begegnet war. Der Anblick dieser Geschöpfe ließ sein Herz höherschlagen.
Wie unvorstellbar … schön. Aber …
Die beiden sahen über alle Maßen gut aus; hätte es sich um die Töchter eines Adeligen des Imperiums gehandelt, hätte er sie in den höchsten Tönen gelobt. Möglicherweise hätte er sie sogar für einen Platz in seinem inneren Palast in Betracht gezogen. Dies hingegen war eine Gruft inmitten einer weiten, scheinbar verlassenen Ebene. Ihre Anwesenheit hier machte keinen Sinn und vermittelte ihm das nagende Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Er hörte, wie jemand rechts von ihm leise zischend einatmete, allerdings hatte er jetzt keine Zeit, sich damit zu befassen.
»Du, Großväterchen, kann es sein, dass sie eine Illusion sind?«
»Hmm, ich bin mir nicht sicher, aber es hat auf mich nicht den Anschein.«
»Dann handelt es sich um Menschen? Es liegt auf der Hand, dass sie keine Dunkelelfen sind, aber …«
»Nun, da bin ich mir ebenfalls nicht sicher … doch vermutlich sind sie keine Menschen.«
Das zu hören beruhigte Jircniv ein wenig. Wenn sie es hier nicht mit Menschen zu tun hatten, war es nicht annähernd so eigenartig, sie an einem Ort wie diesem zu sehen. Die Antwort ergab Sinn; er konnte sie ohne Weiteres akzeptieren.
Die beiden Kammerzofen verbeugten sich, bevor diejenige mit den hochgesteckten Haaren das Wort ergriff. »Verzeiht, dass Ihr warten musstet, Eure Kaiserliche Majestät, Imperator Jircniv Rune Farlord El Nix. Man hat mir aufgetragen, unsere Besucher zu begrüßen. Mein Name ist Yuri Alpha. Und die Dame hinter mir wird mir als Assistentin zur Hand gehen. Ihr Name lautet Lupusregina Beta. Wir werden Euch nur kurz begleiten, trotzdem freue ich mich, Eure Bekanntschaft zu machen.«
Nachdem er etwas Zeit bekommen hatte, seinen Schock zu überwinden, besaß Jircniv die Geistesgegenwart, um zumindest zu antworten. »Ich weiß die höfliche Vorstellung zu schätzen. Ich danke Sir Ainz Ooal Gown von ganzem Herzen, dass er uns so schöne Damen zur Begrüßung gesandt hat. Und es ist nicht nötig, dass du meine förmlichen Titel benutzt. Hier bin ich nichts weiter als ein Mensch, also erweise mir die Freundlichkeit und nenn mich Jir. Nein, ich bestehe darauf.« Er schenkte Yuri ein strahlendes Lächeln.
Normalerweise entzückte Jircnivs Antlitz jede Frau, Yuris steinerne Miene hingegen blieb unverändert. Besonders achtete er auf ihre Augen, um ihre Reaktion mitzuverfolgen. Doch er konnte nicht die geringste Regung entdecken.
War er nicht ihr Typ? Oder gehörte sie zu den Mädchen, die Arbeit und Vergnügen streng voneinander trennten? Lag es möglicherweise daran, dass sie gerade im Auftrag ihres Herrn hier war?
Ich kann sie nicht einschätzen. Ich wollte zumindest einen einigermaßen guten Eindruck machen, aber das wird wohl schwieriger werden als gedacht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich jemand bin, dessen Gesellschaft die meisten Frauen genießen … Oh, falls Großväterchen recht hat, ist sie vermutlich kein Mensch. Für eine Frau einer anderen Spezies bin ich vielleicht bloß … Nur, zu welcher Rasse gehört sie? In Anbetracht ihres Aussehens scheint es sich um eine nahe Verwandte der Menschen zu handeln, aber … Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sie in Wirklichkeit war. Die beiden Dunkelelfen und diese Kammerzofen lassen darauf schließen, dass Ainz Ooal Gown großen Wert auf das Aussehen seiner Untergebenen legt. In dem Fall ist jeder, der diese beiden nicht übertreffen kann, von vornherein wertlos …
Jircniv dachte an die Frauen, die in der anderen Kutsche warteten: Töchter von Adeligen, jede Einzelne von ihnen so schön, dass Jircniv mit ihnen hätte angeben können. Er hatte sie mitgenommen, um sie Ainz Ooal Gown als Geschenk zu überlassen. Die Mädchen wussten genau, was ihren Familien drohte, sollten sie sich seinen Befehlen widersetzen, und so hatten sie sich nach einem tränenreichen Abschied ihrem Schicksal gefügt, allerdings …
Ich schätze, das war sinnlos. Wahrscheinlich werden sie froh sein zu hören, dass er sie nicht braucht, weil er bereits schönere Gefährtinnen hat. Oder besteht die Möglichkeit, dass sie als Frauen deswegen gemischte Gefühle haben werden? Vielleicht hätte ich mich lieber nach Elfen umsehen sollen …
Er wusste, dass es im Imperium elfische Sklaven gab, doch Zeitmangel war der Grund, warum er nicht auf sie zurückgegriffen hatte. Zudem wollte er sie bei zukünftigen Verhandlungen einsetzen – nicht mit Ainz Ooal Gown, sondern mit Mare, im Rahmen geheimer Gespräche. Wenn er dieses schüchterne kleine Mädchen durchleuchten und herausfinden konnte, wie sie tickte, könnte er sie vermutlich dazu bringen, nach seiner Pfeife zu tanzen.
Als Gegenleistung für die Befreiung versklavter Mitglieder einer eng verwandten Rasse könnte ich sie bitten, Gown zu hintergehen, um mir den einen oder anderen Gefallen zu erweisen. Dann könnte ich ihr mit der Tatsache drohen, dass sie vor ihrem Herrn Geheimnisse hat, und sie dazu bringen, kleinere Bitten zu erfüllen. Danach würde ich meinen Einfluss auf sie weiter festigen. Das hatte ich zumindest vor, aber …
Während Jircniv seine geplanten Winkelzüge durchging, antwortete Yuri:
»Ihr scherzt offensichtlich. Unser Herr, Lord Ainz Ooal Gown, hat uns befohlen, Eurer Kaiserlichen Majestät die größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, darum vergebt mir bitte, wenn ich Euer freundliches Angebot nicht annehmen kann.«
»Ist das so? Nun, schade«, witzelte Jircniv mit einem Achselzucken. »Aber solltest du dich irgendwann doch dazu entschließen, ist das völlig in Ordnung. Da wir gerade von Sir Gown sprechen, wo ist er?«
»Er bereitet sich gerade auf das Treffen mit Euch vor. Bitte wartet noch ein wenig hier.«
»Ich verstehe. Wo können wir warten? In der Blockhütte?«
»Nein, hier, bitte.«
Jircniv musterte den Himmel. Es sah trotz der dunklen Wolken nicht nach Regen aus – als gutes Wetter konnte man das allerdings auf keinen Fall bezeichnen. Und obwohl Jircniv die Kälte nicht spürte, herrschte trotz allem nach wie vor Winter.
Was dachte sie sich nur dabei, Gäste draußen warten zu lassen? Wahrscheinlich wollte sie damit verdeutlichen, wer hier das Heft in der Hand hatte. Als man ihn zu Gowns Residenz gerufen hatte, um sich zu entschuldigen, hatte man Jircniv bereits auf die schwächere Position verwiesen. Dieser erneute Angriff auf seine Ehre ließ darauf schließen, dass Gown ziemlich hinterhältig war.
»Ich verstehe.« Er verengte die Augen. »Dann werde ich zu meiner Kutsche zurückkehren und dort warten.«
Jircniv konnte beobachten, wie sich Empörung in den Blicken einiger Wachen abzeichnete. Ihrer Meinung nach war es wohl unhöflich, einen Imperator im Freien warten zu lassen, selbst wenn es sich hierbei um ein Nachbarland und das Herrschaftsgebiet einer potenziell feindlichen Macht handelte. Dennoch sagte niemand ein Wort. Wenn ihr Herrscher es akzeptierte, stand es ihnen nicht zu, Einspruch zu erheben. Oder …
Ist der Grund dafür vielleicht, dass sie wissen, zu welchen Grausamkeiten diese Dunkelelfen fähig sind? In dem Fall muss ich im Umgang mit Gown einen kühlen Kopf bewahren. Sie haben mit einem einzigen Schlag einen Keil zwischen uns getrieben. Selbst wenn sie das nicht wiederholen können, wie sollen wir uns dessen sicher sein? Die Tatsache, dass wir es hier zudem mit Kindern zu tun haben, ist ebenfalls äußerst wichtig. Es macht großen Eindruck, wenn ausgerechnet Kinder so viel Schaden anrichten können.
»Bitte wartet.« Yuris sanfte Stimme ließ Jircniv innehalten. »Da wir Euch hier warten lassen, hat uns Lord Ainz befohlen, Euch ein gewisses Maß an Gastfreundschaft zu gewähren.«
Jircniv war verblüfft. Ainz? Seine Kammerzofen dürfen seinen Vornamen benutzen? Oder ist sie keine Kammerzofe …? Ah, ich verstehe. Sie müssen sich nahestehen. Vielleicht hat er eine enge Beziehung zu ihr und teilt mit ihr das Bett. Nun, jeder Mann könnte verstehen, warum. Es wäre schwer, die Hände von einer dermaßen schönen Frau zu lassen.
Jircniv hatte den Eindruck, dass sie sich gut verstehen würden, und bedankte sich überschwänglich. »Oh! Nun, in dem Fall, was für einen Empfang habt ihr für uns vorbereitet und wo?«
»Erlaubt mir, Vorbereitungen zu treffen. Zunächst einmal scheint das Wetter nicht besonders angenehm zu sein, darum fangen wir damit an.«
