Overlord – Light Novel, Band 04 - Kugane Maruyama - E-Book

Overlord – Light Novel, Band 04 E-Book

Kugane Maruyama

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Beschreibung

Eine unbarmherzige Armee des Todes nähert sich den friedlichen Dörfern der Echsenmenschen. Die Armee der Untoten wurde von der Großen Gruft von Nazarick entsandt und steht unter dem Kommando von Cocytus, dem Wächter der fünften Ebene, dem Herrscher des gefrorenen Flusses. Was ist die Strategie dieses Mannes? Und wieso fallen die Starken gnadenlos über die Schwachen her?

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1Abschied

Kapitel 2Zusammenkunft der Echsenmenschen

Zwischenspiel

Kapitel 3Die Armee des Todes

Kapitel 4Die verzweifelte Eröffnung

Kapitel 5Der eiskalte Kriegsgott

Epilog

Charakterprofile

Nachwort

»Willkommen zu Hause, Lord Ainz.« Ainz war seit Wochen nicht mehr in seinem Zimmer gewesen und Albedos nächste Worte raubten ihm jeglichen Willen, irgendwas zu tun. »Möchtet Ihr etwas essen? Oder ein Bad nehmen? Oder vielleicht … mich? «

Er stellte sich vor, wie hinter ihrem Kopf Herzen wild auf und ab hüpften. »Was soll der Blödsinn?«

»Ich spiele Frischvermählte, Lord Ainz. Wenn der Ehemann allein mit seinem Haustier auszieht, um etwas zu erledigen, ist das die beste Weise, wie ihn seine Braut bei seiner Rückkehr begrüßen kann. Zumindest habe ich das gehört. Wie findet Ihr es?«

Deshalb hatte sie ihn also nicht an der Oberfläche empfangen. Er wollte mit einem ausdruckslosen Und warum sollte mich das interessieren? antworten, allerdings hatte er noch nie ein Date gehabt, geschweige denn geheiratet. Daher verkniff er sich den Kommentar. Männlicher Stolz überkam ihn. Was für eine Antwort erwartet sie überhaupt? Er war sich nicht sicher, doch um zumindest den Schein zu wahren, entgegnete er möglichst wohlwollend: »Es war ziemlich verlockend, Albedo.«

Sie kiekste glücklich lächelnd. »Gut. Ti hi hi!«

Bei diesem bezaubernden Lächeln verlagerte er sein Gewicht und bereitete sich auf einen Angriff vor. Es war, als würde eine Schlange über seinen Rücken kriechen. Vermutlich lag es an der animalischen Lust, die sich in Albedos goldschimmernden Augen spiegelte. Doch ihr Blick war todernst. Sollte er auch nur im Scherz sagen, er wollte sie, würde sie ihn beim Wort nehmen und wie ein vom Lustrausch umnebeltes Ungeheuer über ihn herfallen. Ihm kamen die Worte sexueller Übergriff in den Sinn.

Inzwischen hatte er so ziemlich alle körperlichen Gelüste eingebüßt, nur die sich verzweifelt festklammernden Reste bettelten darum, er solle Albedos Stimmung nachgeben, um festzustellen, was als Nächstes geschehen würde. Zusätzlich stachelte ihn seine trotz allem ungebrochene Neugier an.

Hör auf, du Trottel. Es lag bestimmt nicht an seinen Selbstzweifeln, sondern an etwas ähnlich Mächtigem (das bestimmt mit seinem Dasein als Untoter zusammenhing), dass er es fertigbrachte, ihre Annäherungsversuche zu ignorieren.

Bevor sie in diese Welt gekommen waren, hatte er in ihrer Hintergrundgeschichte vermerkt, sie würde ihn lieben, und damit ihre Persönlichkeit verändert. Doch jetzt konnte er das nicht ausnutzen, auch wenn er sie auf diverse andere Arten benutzte. Er hasste sich ein wenig dafür. Ohne Knüppel kann ich auch nicht zuschlagen, ist doch logisch. Und ich glaub auch nicht, dass eine rein geistige Beziehung zwischen Mann und Frau lange gut geht … Hab ich deswegen Angst?, fragte sich Ainz, die Jungfrau.

Da war noch etwas anderes. Der von seinem Freund geschaffene NPC war gewissermaßen noch ein Kind. Kurz fragte er sich, ob es richtig war, sie noch weiter zu verderben, als er es ohnehin schon getan hatte. Bist du blöde? Darüber solltest du dir jetzt echt keine Gedanken machen.

»Ah!«

Albedos plötzlicher Schrei ließ die Flammen in seinen leeren Augenhöhlen auflodern. »Wa… Was ist los, Albedo? Was ist passiert?«

»Ich habe einen Fehler gemacht. Angeblich ist es Brauch, dass die frisch angetraute Ehefrau ihren Mann lediglich mit einer Schürze bekleidet begrüßt …« Sie betrachtete ihr Kleid, bevor sie mit hochrotem Kopf weitersprach. »Wenn Ihr mir befehlt, mich umzuziehen, werde ich dem sofort nachkommen.« Dann schlug sie mit unverhohlenem Blick und schrecklich eindeutigem Tonfall vor: »Gleich hier, vor Euch …«

»Äh … Gleich hier … Ngh. Meine Güte …« Er seufzte. »Albedo, es wird Zeit, dass wir mit diesem Blödsinn aufhören. Fangen wir mit der Lagebesprechung an und tauschen Informationen aus.«

»Ja, mein Lord.«

Bedauernd – auch wenn er nicht genau sagen konnte weswegen – tat Ainz sein Möglichstes, sie zu ignorieren, und sackte in seinen Sessel. Er warf drei Lederbeutel auf den Tisch. Innerhalb von wenigen Augenblicken wechselte Albedo von geiler Braut zu herausragender Sekretärin, bereit, jeden seiner Befehle auszuführen.

»Als Erstes, hier ist das Geld, das ich in E-Rantel verdient habe, also nutz es für Experimente.«

Die Beutel waren alle von unterschiedlicher Größe und der dickste war so voll, dass er fast überquoll. Darin befanden sich Gold-, Silber- und Kupfermünzen, die Ainz als Abenteurer verdient hatte.

»Wie Ihr befehlt. Dann benutze ich es für Nazaricks Verteidigungssystem und probiere aus, ob man damit Monster beschwören kann.«

»Mach das. Und finde raus, ob man damit Schriftrollenoder Rohstoff-Items herstellen kann.« Er wandte den Blick von Albedos tiefer Verneigung ab und betrachtete die Lederbeutel, wobei ihn ein ähnliches Gefühl wie bei einem Gebet überkam.

In Yggdrasil konnte man mit Goldmünzen nicht nur Items kaufen, sondern unter anderem die Gilde unterhalten, Monster über Stufe 30 beschwören, die nicht automatisch spawnten, Zauber wirken, Items herstellen und NPCs wiederbeleben.

Dass es möglich war, Yggdrasils Goldmünzen zu nutzen, hatten sie bereits festgestellt. Nicht jedoch, ob das auch für die Währung dieser Welt galt – besonders für Silber- und Kupfermünzen, die es in Yggdrasil nicht gab.

Man konnte zu Recht sagen, Nazaricks Zukunft hing von diesen Experimenten ab. Sollten die Münzen dieser Welt wie Gold in Yggdrasil funktionieren, würde das großen Einfluss auf ihre Pläne haben – Geld dieser Welt zu bekommen wäre dann um ein Vielfaches wichtiger. Situationsabhängig bestand die Möglichkeit, dass Ainz Geld heranzuschaffen zur obersten Priorität erklärte. Sollten die Experimente jedoch scheitern, hing das Überleben Nazaricks von den Vorräten in der Schatzkammer ab und sie müssten beginnen, sich ihre Ausgaben wohl zu überlegen.

»Was Clementine angeht …«

Beim Namen der verschwundenen Leiche verzog Ainz sein regloses Gesicht. Er machte sich Sorgen, dass man sie wegen seines Fehlers wiedererweckt hatte und sie jetzt einer unbekannten Anzahl von Leuten verriet, was sie über Nazarick wusste.

Die Gruft hatte viele potenzielle Feinde, doch leider hatten sie bislang nur sehr wenig über sie in Erfahrung bringen können. Zusätzlich hatte er selbst Informationen verbreitet. Mit etwas Glück hören andere Gildenmitglieder davon. Es könnte ein paar geben … Aber es wäre falsch, sich darauf zu verlassen. Ich muss von jetzt an vorsichtiger sein. Was sollte ich also mit Momon machen?

Sollte es jemand auf sie abgesehen haben, wäre Momon das Ziel. Ainz war dabei, sich einen Namen zu machen. Die Identität einfach so aufzugeben wäre also reine Verschwendung. Und es war noch zu früh, alle wissen zu lassen, dass Momon und Ainz dieselbe Person waren. Ich muss es wohl darauf ankommen lassen …

Seine Überlegungen steckten in einer Sackgasse – wie er es auch drehte und wendete, es gab einfach keine leichte Antwort –, daher ließ er das Thema vorläufig ruhen und wandte sich anderen Dingen zu. »Ich denke darüber nach, Pandora’s Actor zu befehlen, er soll eins von Clementines Schwertern in den Schredder schieben.«

»Schredder?«

Albedos verwirrtes Nachfragen erinnerte Ainz an den offiziellen Namen. »Die Tauschbox. Wenn jemand mit Händlerskills sie benutzt, schlägt man einen besseren Preis raus. Ich lasse also Pandora’s Actor Nearatas Form annehmen und seine Skills benutzen.« Während Albedo bestätigend den Kopf neigte, rollte Ainz ein Stück Pergament auf dem Tisch aus. »Übrigens, ich hab in E-Rantel endlich eine Weltkarte aufgetrieben.«

»Das ist … Hmm …«

Er wusste, warum sie leicht die Stirn runzelte. Die Karte strotzte nicht gerade vor Details.

»Ich weiß, was du meinst. Sie umfasst nur dieses Gebiet, nur diesen Teil der Welt. Vermutlich stimmt auch der Maßstab nicht und es fehlen einige geografische Einzelheiten. Abgesehen davon zeigt sie weitestgehend menschliche Länder und nur eine halbmenschliche Nation. Sie ist total grob, aber was Besseres bekommen wir erst mal nicht.«

Dank seiner gedeihenden Freundschaft mit dem Oberhaupt der Zauberergilde hatte er von vielen Orten erfahren – beispielsweise von den Ebenen, wo die Zentaurenstämme lebten; den in der Wüste gelegenen Dörfern des Skorpionvolks, das sich selbst Pabilsags nannte; den Bergen, in denen das Zwergenreich lag, und mehr –, auf dem Pergament war jedoch nichts davon verzeichnet. Letztendlich war diese Karte kaum mehr als ein Hilfsmittel von Menschen für Menschen, um es ihnen einfacher zu machen.

Eine unzuverlässige Karte war praktisch nutzlos. Doch ohne viel Geld und Zeit zu investieren, war es schwierig, eine Bessere aufzutreiben. Das hatte Theo Rakheshir gesagt und bedachte man, wie freundlich sich das Oberhaupt der Zauberer gegenüber Ainz gab, entsprach das vermutlich der Wahrheit. Aus seiner Antwort hatte Ainz geschlossen, allein diese Karte zu bekommen war bereits eine beinahe unmögliche Bitte gewesen.

»Verstanden. Dann sollten wie sie kopieren und an alle Wächter weitergeben.«

»Ja, aber vorher möchte ich sie dir grob erklären.« Er deutete in die Mitte der Karte, die recht viele Einzelheiten aufwies. »Das ist E-Rantel … und die Große Gruft von Nazarick befindet sich etwa hier.« Er bewegte den Finger nach Nordosten, bis er fast einen großen Wald erreicht hatte. Vielleicht war es nur natürlich, aber er konnte Nazaricks Standort allein anhand der Umgebung recht sicher ausfindig machen. »Das ist das Azerlisia-Gebirge, das das Königreich Re-Estize und das Kaiserreich Baharuth voneinander trennt. Der Wald von Tob beginnt am südlichen Rand und erstreckt sich um beide. Und hier gibt es einen großen See.« Zwischen der Südspitze des Gebirges und dem Wald lag ein Gewässer von der Form eines Kürbisses, das von Flüssen aus dem Gebirge gespeist wurde. Ainz’ Finger lag am Südufer. »Hier befindet sich ein Sumpfland mit mehreren Echsenmenschendörfern.«

Albedo nickte, bevor Ainz fortfuhr: »Jetzt hör gut zu, es folgen die knappen Beschreibungen der angrenzenden Länder, die ich vom Oberhaupt der Zauberergilde habe. Nordwestlich des Königreichs liegt ein zerklüftetes Gebiet mit einigen Gebirgszügen. Das ist der Argland-Ratsstaat, die Heimat mehrerer halbmenschlicher Rassen. Dabei müssen wir auf die Drachen-Ratsmitglieder achten, angeblich sind es fünf oder auch sieben. Im Südwesten befindet sich das so genannte Heilige Königreich. Die Karte zeigt es nicht gerade gut, doch angeblich ist es von einem riesigen Befestigungswall umgeben. Wie die Große Mauer in China. Die sind die ganze Zeit auf der Hut vor Bedrohungen aus dieser Einöde, die auf der Karte völlig fehlt. Die verschiedenen halbmenschlichen Rassen befinden sich ständig im Krieg miteinander.«

»Dorthin ist Demiurge unterwegs, richtig?«

»Genau. Und auf der anderen Seite haben wir den Gottesstaat Slane. Bei denen müssen wir vorsichtig sein.«

»Ist das die Grenze?« Albedo folgte mit ihrem schlanken Finger einer Linie.

»Kann sein. Um ehrlich zu sein, haben die hier eingezeichneten Grenzen nicht viel zu bedeuten. Die Karte ist zu ungenau. Okay, sehen wir uns die Seite des Kaiserreichs an. Nordöstlich gibt es mehrere verbündete Stadtstaaten. Angeblich wird wenigstens einer von Halbmenschen bevölkert. Und im Südwesten liegt ein Gebiet mit riesigen Quarzitsäulen, wo diese Rasse Menschen lebt … Sieht so aus, als würden sie Wyvern zähmen und in den Höhlen hausen.« Was Ainz erfahren hatte, erinnerte ihn an Wulingyuan in China, allerdings waren die Einzelheiten nicht besonders aussagekräftig.

»Wyvern-Reiter?«

In Yggdrasil waren Wyvern Bestien mit einem Level in den hohen 30ern, die von Spielern mit entsprechenden Kämpferklassen gerufen und geritten werden konnten. Er hatte allerdings keinen Beweis, dass es in dieser Welt genauso war.

»Ja. Vermutlich sind sie ziemlich stark, doch selbst wenn, ich mache mir keine Sorgen, dass die uns angreifen. Aber unterhalb von ihnen … Diese Karte endet in der Nähe des östlichen Teils dieses gigantischen Sees.« Ainz deutete auf eine Stelle auf dem Tisch jenseits der Karte. »Angeblich gibt es dort ein Land, das man das Königreich der Drachen nennt.«

»Drachen?«

»Ja. Den Legenden zufolge wurde dieses Land vor Ewigkeiten von Drachen gegründet und angeblich fließt in den Adern der Königsfamilie bis heute Drachenblut … Keine Ahnung, ob das stimmt, aber … auch egal, mehr erfahren wir von dieser Karte nicht.« In der Welt, in der Ainz den Namen Satoru Suzuki benutzte, würde das wie ein Haufen Lügen klingen, in dieser Welt lag es jedoch durchaus im Rahmen des Möglichen.

»Also sollten wir besonders den Gottesstaat Slane und den Argland-Ratsstaat im Auge behalten?«

Brummend verschränkte Ainz die Arme vor der Brust. Das war praktisch alles, was sie über die umliegenden Länder wussten. Hauptsächlich, weil sie nicht genug Informationen hatten beschaffen können.

Albedo neigte langsam den Kopf. »Verzeiht meinen Fehler. Im Moment sollten wir uns vor allen anderen Ländern in Acht nehmen, nicht wahr?«

»Ganz genau. Selbst wenn die Nation selbst anscheinend keine Bedrohung darstellt, weiß man nie, was sich dort für Individuen rumtreiben.« Wie diejenigen, die das WorldItem gegen Shalltear benutzt haben. Es schien, er müsste es nicht aussprechen, damit ihn Albedo verstand.

Ainz berührte den Tisch an zwei Stellen, östlich und südlich. »Aber im Osten gibt es eine Stadt, die sich aus dem Meer erhebt, und im Süden die, die von den Acht Gierigen Königen erbaut wurde. Diese zwei sind für uns vermutlich noch die gefährlichsten – besonders letztere, eine schwebende Stadt mitten in der Wüste.«

»Eine schwebende Stadt?«

»Wenn das, was ich gehört habe, stimmt, befindet sie sich unter einer schwebenden Burg, aus der ununterbrochen Wasser hinabfließt. Sieht so aus, als wäre sie komplett von einer magischen Barriere umgeben. Man merkt also gar nicht, dass man in der Wüste ist.«

Ein kalter Funke trat in Albedos Augen und sie bemühte sich, ihren Vorschlag möglichst zurückhaltend vorzubringen. »Sollten wir ein paar Lakaien mit einer Kampfaufklärung beauftragen?«

»Schlafende Hunde sollte man nicht wecken. Wer auch immer das World Item benutzt hat, wenn sie nicht von dort stammen, sollten wir zumindest so tun, als hätten wir nichts gegen sie, bis wir wissen, wie stark sie sind … Wie geht’s Shalltear?«

»Körperlich ist nach ihrer Auferstehung mit ihr alles in Ordnung, allerdings …«

»Red nicht um den heißen Brei rum. Sogar ich mache mir Sorgen.«

»Ah! Ich bitte untertänigst um Verzeihung. Um ehrlich zu sein, ich bin ein wenig besorgt um ihren Geisteszustand.«

»Gibt es Nachwirkungen von der Gedankenkontrolle? Hat das World Item noch Einfluss auf sie, obwohl wir sie getötet und wiederbelebt haben?«

»Nein, darum geht es nicht … Scheinbar kann sie sich nicht verzeihen, gegen Euch gekämpft zu haben.«

Einen Moment lang war Ainz verwirrt. Das war alles seine Schuld gewesen. Shalltear hatte nichts falsch gemacht. Das sagte er ihr immer wieder.

»Wenn Ihr mir vergebt, dass ich es wage, mich gegen Eure Entscheidung auszusprechen …«

Ainz nahm ihre ernste Miene zum Anlass, ihr zu bedeuten, weiterzusprechen.

»Vielleicht hättet Ihr sie bestrafen sollen.«

Die roten Funken in seinen Augenhöhlen wurden dunkler. Er öffnete den Mund – nur um ihn wieder zu schließen, als sie fortfuhr: »Deutliche Belohnungen und Strafen halten die Ordnung aufrecht. Wenn Ihr sie bestraft, werden ihre Schuldgefühle nachlassen. Ohne Buße wird sie nie mit ihrem Verbrechen abschließen können.«

Verstehe. Es stimmte, Belohnungen und Strafen waren Kehrseiten derselben Medaille. Doch Ainz war nichts weiter als ein normaler Angestellter gewesen. Entsprechend fiel es ihm schwer, zu entscheiden, wann Strafe und wann Vergebung angebracht war. Sein normales Selbst würde das Problem umgehen, indem es alles entschuldigte. In diesem Fall tat ihm Shalltear ein wenig leid, es könnte jedoch eine gute Übung für ihn darstellen, Vergeltung zu üben. »Alles klar. Ich überleg mir eine Strafe für sie.«

»Ich denke, das wird das Beste sein. Vergebt mir, dass ich so offen spreche.«

»Wovon redest du? Ich will solche Vorschläge. Wenn ich unsicher bin, was ich machen soll, wünsche ich mir, dass mir jemand seine Ansichten mitteilt. Albedo, als Befehlshaberin der Ebenenwächter liegt das voll und ganz in deinem Aufgabenbereich.«

»Vielen Dank!« Die Wangen der makellosen Schönheit röteten sich und sie verneigte sich mit Tränen in den Augen.

Diese ungezügelte Fröhlichkeit machte Ainz ganz verlegen, daher winkte er nur wohlwollend ab. »Okay, ich kehre dann erst mal zurück und erledige ein paar Sachen. Solange hast du hier das Sagen.«

»Ja, bitte tut das! Solange Ihr weg seid, werde ich mich nach besten Kräften um alles kümmern.« Er meinte zu hören, wie Albedo etwas davon flüsterte, seine Ehefrau zu sein, ließ es ihr jedoch durchgehen, da sie noch mehr zu sagen hatte. »Aber Lord Ainz, bitte seid vorsichtig. Wir können nicht wissen, ob diejenigen, die Shalltear unter ihre Kontrolle gebracht haben, nicht einen weiteren Angriff vorbereiten.«

»Hm!« Zum ersten Mal, seit er sich wieder in seinem Zimmer aufhielt, wirkte Ainz unzufrieden. »Wenn sie es versuchen, treten wir ihnen in den Arsch … Na ja, vielleicht wird es nicht ganz so einfach. Aber mach dir keine Sorgen, Albedo. Wir kennen unsere Gegner nicht. Sollte ich ihnen begegnen, wird Rückzug das Wichtigste sein. Und ich hab etwas Schutz vorbereitet.« Ainz hob den Blick zur Decke und dachte an ihre möglichen Feinde.

Die unbekannten Besitzer des World Items waren auf jeden Fall ihre Gegner, möglicherweise existierende Yggdrasil-Spieler oder Abkömmlinge der Spieler, die es hier einst gegeben haben musste … Natürlich war es noch zu früh, sie alle zu Feinden zu erklären, doch unter dieser Annahme weiterzumachen würde sie davor bewahren, dass man sie später überraschte. Rechne stets mit dem Schlimmsten.

»Solange wir nicht wissen, wer sie sind, sollten wir uns bedeckt halten. Könnte aber sein, dass wir ein paar Köder auslegen müssen, um unsere Beute zu fangen … Also, was macht der Plan?«

Da sich Albedo weigerte, ihm in die Augen zu sehen, ahnte Ainz schon, was los war. »Es liegt kein Bericht von Cocytus vor. Entoma zufolge kann alles, was wir erwarten, eintreten. Ich denke, wir bekommen mehr Informationen, sobald sie sich dem Zielgebiet nähern und die Warnung aussenden.«

»Verstehe … Nicht gerade das, worauf ich gehofft hatte, aber vermutlich wissen wir bald mehr.«

»Es nützt uns, wenn Ihr die Dinge so betrachtet.«

»Okay. Ich würde mir wirklich gern ansehen, wie die Dinge laufen. Leider hab ich einen Haufen Abenteureraufträge abzuarbeiten, ich muss also los. Den Kampf will ich aber mit ansehen, also zeichne ihn für mich auf – die Echsenmenschen gegen die Armee der Großen Gruft von Nazarick.«

Kapitel 1: Abschied

1

Der Große Wald von Tob erstreckte sich entlang der hügeligen Ausläufer des Azerlisia-Gebirges, das eine natürliche Grenze zwischen dem Kaiserreich Baharuth und dem Königreich Re-Estize darstellte. Nördlich des Waldes befand sich ein riesiger See. Die Form des Gewässers ähnelte einem umgedrehten Flaschenkürbis und war unterteilt in einen oberen und einen unteren See mit einem Durchmesser von etwa vierzig Kilometern. Im tieferen oberen See lebten große Kreaturen, während der untere Teil weitestgehend von kleineren Lebensformen bevölkert wurde.

Wo der untere See in die Feuchtgebiete im Süden überging, stand eine Vielzahl Gebäude im Sumpf. Jedes ruhte auf einem Fundament aus etwa zehn ins Moor getriebenen Pfählen. So bauten Wesen häufig, wenn sie sich für ein Leben auf dem Wasser entschieden.

Die Tür eines dieser Gebäude öffnete sich und der Hausherr trat ins Sonnenlicht. Er war, was man gemeinhin einen Echsenmenschen nannte.

Echsenmenschen ähnelten einer Kreuzung aus Reptil und Mensch. Genauer gesagt waren sie Eidechsen mit menschenähnlichen Händen und Füßen, die aufrecht gingen, ihre Köpfe wiesen jedoch fast keinerlei menschliche Züge auf.

Die meisten klassifizierten diese Wesen ähnlich wie Goblins und Orks als Halbmenschliche und sie waren weniger fortschrittlich als Menschen. Obwohl man ihre Lebensweise häufig als barbarisch betrachtete, hatten sie ihre eigene, wenn auch grobschlächtige Kultur.

Der durchschnittliche männliche Echsenmensch war etwa ein Meter neunzig groß und brachte mühelos über einhundert Kilo auf die Waage – sie waren nicht fett, sondern vielmehr robust gebaut mit dicken Muskeln. Ihre langen Reptilienschwänze halfen ihnen dabei, das Gleichgewicht zu halten.

Um sich in den Feuchtgebieten leichter bewegen zu können, hatten sie im Laufe ihrer Evolution breite, mit Schwimmhäuten versehene Füße entwickelt. Das machte das Vorankommen auf trockenem Land ein wenig schwieriger, was aber in ihrem alltäglichen Leben kein Problem darstellte. Die Färbung ihrer Schuppen reichte von Dunkelgrün bis Grau oder sogar Schwarz, zudem glichen sie mehr den Hornplatten, die man bei Alligatoren fand. Und sie waren härter als die schwächsten Rüstungen der Menschen.

Wie Menschen hatten sie fünf Finger, die allerdings in kurzen Krallen endeten. Die von ihnen geführten Waffen waren jedoch äußerst primitiv. Da man im Sumpf nicht viel Metall fand, bestanden die meisten davon aus den Reißzähnen von Monstern oder es handelte sich um stumpfe Steinwaffen.

Der Himmel strahlte blau und die Sonne hatte fast ihren Zenit erreicht. Das Wetter war schön, es waren nur ein paar weiße Wölkchen zu sehen, die wie die Pinselstriche eines Malers über den entfernten Bergen hingen.

Da Echsenmenschen ein so breites Gesichtsfeld hatten, konnte er – Zaryusu Shasha – die blendende Sonne sehen, ohne dafür den Kopf zu heben. Mit leicht zusammengekniffenen Augen schritt er gleichmäßig die Treppe hinab und kratzte sich dabei das Brandzeichen auf seiner schwarz geschuppten Brust. Es belegte seinen Status innerhalb des Stamms.

Die Stämme der Echsenmenschen lebten in einer Art Kastengesellschaft. Ganz oben stand der Stammeshäuptling. Ihre Anführer wurden nicht durch Abstammung bestimmt, sondern ganz einfach dadurch, wer der Stärkste war. Die Zeremonie, bei der der Häuptling bestimmt wurde, fand alle paar Jahre statt. Unter ihm stand der Ältestenrat, in dem sich ausgesuchte ältere Vertreter ihrer Rasse fanden. Weiter unten in der Rangordnung kamen dann die Kriegerkaste, danach die normalen Männchen, die Weibchen und zum Schluss die Kinder.

Selbstverständlich gab es auch jene, die nicht in diese Hierarchie passten. Beispielsweise die Druidenpriester. Sie unterstützten den Stamm, indem sie das Wetter vorhersagten, vor drohenden Gefahren warnten und Heilmagie anwendeten.

Und dann gab es die aus Waldläufern bestehenden Jagdgruppen. Deren Hauptaufgaben waren Fischen und Jagen. Da sie dabei von den herkömmlichen Echsenmenschen unterstützt wurden, erwartete sie der wichtigste Teil ihrer Aufgaben allerdings im Wald.

Im Grunde waren Echsenmenschen Allesfresser, dennoch bestand ihre Ernährung zu 80 Prozent aus Fisch und sie aßen nur wenige Pflanzen und Früchte. Der Hauptgrund, aus dem sie Jagdgruppen in den Wald schickten, war Bauholz. Da es für Echsenmenschen nicht ungefährlich war, sich auf Land zu bewegen und sich in die Wälder zu begeben, überließ man diese Aufgabe den Fachleuten.

Diese Waldläufer genossen eine gewisse Unabhängigkeit, dennoch unterstanden sie dem Häuptling und man erwartete, dass sie seine Befehle befolgten. Was das anging, war ihre Gesellschaft ein striktes Patriarchat mit strengen Rollenverteilungen. Allerdings gab es ein paar Ausnahmen, die nicht der Befehlsgewalt des Häuptlings unterstanden. Wie etwa die Reisenden.

Bei dem Begriff Reisende dachte man möglicherweise an Fremde, allerdings gab es keine Außenstehenden, die die Stämme besuchten. Die Gesellschaft der Echsenmenschen lebte weitestgehend isoliert, daher kam es nur selten vor, dass jemand von außerhalb des Stamms akzeptiert wurde. Wer also waren diese Reisenden?

Es waren Echsenmenschen, die was von der Welt sehen wollten. Abgesehen von Notfällen, wie wenn sie etwa keine Nahrung fanden, verließen diese Wesen nur selten den Ort ihrer Geburt. Doch seltene Ausnahmen verspürten das Verlangen, mehr über die Welt da draußen zu erfahren.

Wenn Reisende beschlossen, den Stamm zu verlassen, wurden sie mit einem besonderen Brandzeichen auf der Brust versehen. Es symbolisierte, dass sie nicht länger Teil des Stamms waren und seiner Befehlsgewalt unterstanden.

Die meisten, die sich aufmachten, kamen nie zurück. Vielleicht fanden sie irgendwo dort draußen den Tod oder sie bauten sich ein neues Leben auf. Ihr Schicksal war ungewiss. Doch gelegentlich gab es auch diejenigen, die den Weg zurück nach Hause fanden.

Heimkehrende Reisende waren wegen des mitgebrachten Wissens von großem Wert. Was die Stammeshierarchie anging, blieben sie Außenstehende, allerdings verdienten sie sich auf andere Weise Respekt.

Es gab im Dorf durchaus einige, die Zaryusu nicht mochten, im Allgemeinen war er jedoch hoch angesehen. Nicht nur weil er ein Reisender war, sondern auch …

Er trat von der letzten Stufe auf den Sumpf und die zuverlässige Waffe an seiner Hüfte schlug mit leisem Klirren gegen seine Schuppen. Die helle Klinge leuchtete schwach. Auf den ersten Blick erinnerte sie an eine in drei nadeldünne Spitzen auslaufende Keule.

Es gab keinen Echsenmenschen, der diese Waffe nicht kannte. Jedes Mitglied jedes Stamms kannte die magischen Items, die als die Vier Großen Schätze bekannt waren und Zaryusus Schwert hieß Frost Pain. Diese berühmte Waffe war der Grund für sein Ansehen.

Gemütlich schlendernd machte er sich auf den Weg. Er hatte zwei Ziele und für eines davon hatte er ein Geschenk dabei. Drei große Fische – jeder etwa einen Meter lang. Sie waren das Grundnahrungsmittel seines Volkes. Der Geruch störte Zaryusu nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, er bekam riesigen Hunger.

Am liebsten würde ich sie einfach selbst essen. Um den Kopf freizubekommen, schnaubte er mehrmals und tapste mit platschenden Schritten ins Dorf der Grünen Klaue.

Ein paar Kinder mit den grün schillernden Schuppen der Jugend rannten lachend an ihm vorbei, blieben jedoch wie angewurzelt stehen, als sie bemerkten, was er bei sich hatte. Auch andere Heranwachsenden musterten ihn aus dem Schatten ihrer Behausungen – nein, sie sahen die Fische an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und vermutlich lief ihnen schon das Wasser im Mund zusammen. Selbst als er weiterging, folgten ihm die Blicke – die Kinder wollten etwas abhaben.

Lächelnd ging er weiter und tat so, als würde er sie nicht bemerken. Die Entscheidung, wer diese Fische bekommen würde, war bereits gefallen. Zum Leidwesen dieser Kinder waren sie nicht die Glücklichen.

Zaryusu war froh, dass es sich bei dem Funkeln in ihren Augen nicht um Hunger handelte, denn vor ein paar Jahren wäre das noch der Fall gewesen.

Mit den sehnsüchtigen Blicken im Rücken ging er an den vereinzelt stehenden Gebäuden vorbei, bis die Hütte, sein Ziel, in Sicht kam.

Das hier war der Rand des Dorfs, noch ein Stück weiter begann das Sumpfland, das dann in den See überging. Die Hütte an dieser subtilen Grenze war stabiler, als sie aussah, und größer als Zaryusus Zuhause. Wenn daran etwas seltsam war, dann die leichte Neigung des Gebäudes. Eine Hälfte lag unter der Wasseroberfläche, allerdings nicht, weil es verfiel – man hatte es absichtlich so gebaut.

Mit lautem Platschen näherte sich Zaryusu dem Haus. Aus dem Inneren hörte er einen liebevollen Ruf, möglicherweise, weil der Fischgeruch bereits bis dorthin vordrang.

Durch eine der Öffnungen des Gebäudes ragte ein schlangenähnlicher, dunkelbraun geschuppter Kopf. Sobald der Blick der bernsteinfarbenen Augen bestätigt hatte, dass es sich wirklich um Zaryusu handelte, streckte sich der Hals, um sich liebevoll um ihn zu legen.

»Schon gut.« Er streichelte die Schlange mit geübter Hand. Das Tier lächelte und kniff die Augen zusammen – neben der schützenden Membran über den Augen hatte es auch Lider. Zaryusu fand die Berührung der Schlangenschuppen angenehm.

Dieses Wesen war sein Haustier Rororo.

Da sich Zaryusu bereits den Großteil von Rororos Leben um ihn kümmerte, hatte er mittlerweile das Gefühl, sie konnten sogar Gespräche miteinander führen. »Rororo, ich hab dir was zu essen mitgebracht! Schön aufessen, ja?« Er warf die mitgebrachten Fische durch das Fenster hinein, wo sie feucht und hart aufschlugen. »Ich würde ja gern bleiben und mit dir spielen, muss aber nach den Fischen sehen. Ich komm später noch mal vorbei.«

Als würde sie ihn verstehen, rieb sich die Schlange noch ein paarmal an Zaryusu und wollte ihn gar nicht gehen lassen, um sich dann in ihre Hütte zurückzuziehen. Was folgte, waren eindeutige Schling- und Kaugeräusche. Rororos Enthusiasmus sagte Zaryusu, dass es ihm gut ging, also machte er sich auf den Weg.

Sein nächstes Ziel lag etwas außerhalb des Dorfs, am Seeufer. Er ging leise durch den Wald. Durch das Wasser wäre er schneller, er hatte sich jedoch angewöhnt, bei seinen Spaziergängen zu überprüfen, ob es an Land irgendwelche Probleme gab. Trotzdem war es selbst für Zaryusu zermürbend, sich durch dieses unüberschaubare Gebiet zu bewegen.

Doch irgendwann entdeckte er durch eine Lücke zwischen den Bäumen sein Ziel. Er seufzte erleichtert, dass nichts passiert war. Nachdem er sich zwischen den Stämmen hindurchgeschoben hatte, überbrückte er die restliche Distanz mit schnellen Schritten.

Sobald er sich unter den letzten tief hängenden Ästen hindurchgeduckt hatte, riss er überrascht die Augen auf – er hätte nie damit gerechnet, diese vertraute Gestalt ausgerechnet hier anzutreffen. Es war ein Echsenmensch mit denselben schwarzen Schuppen wie er.

»Bruder …«

»Ach, du bist’s.« Der schwarz geschuppte Echsenmensch drehte sich zu Zaryusu um.

Er war der Häuptling des Stamms Grüne Klaue und Zaryusus älterer Bruder, Shasuryu Shasha. Er hatte in Folge zwei Wettbewerbe um den Posten des Häuptlings für sich entschieden und war daher aktuell nicht gezwungen, um die Herrschaft zu kämpfen. Das auffälligste Merkmal dieses Echsenmenschen war sein Körperbau. Neben ihm wirkte der normal gebaute Zaryusu klein. Auf Shasuryus schwarzen Schuppen zeichneten sich alte Narben als weiße Linien ab, die an Blitze in einer dunklen Wolke erinnerten. Auf dem Rücken führte er ein riesiges Schwert mit sich – ein breites, grobschlächtiges Ding von fast zwei Metern Länge. Das Stahlschwert – sein Herrschaftssymbol – war mit einem Zauber versehen, der es vor Rost bewahrte und schärfer machte.

Zaryusu stellte sich neben seinen Bruder ans Seeufer.

»Was machst du an einem Ort wie diesem?«, fragte Shasuryu.

»Dasselbe könnte ich dich fragen, Bruder. Der Häuptling muss sich nicht die Mühe machen, herzukommen.«

»Hmpf.« Da er nicht wusste, was er dazu sagen sollte, antwortete Shasuryu mit seinem typischen Schnauben und starrte auf den See hinaus.

Aus dem Wasser ragten stabil aussehende Pfosten und die dazwischen gespannten äußerst feinen Netze, grenzten ein recht großes Gebiet ab. Man erkannte sofort, dass es sich um ein Zuchtbecken handelte.

»Du bist doch nicht hergekommen, um dir einen Happen zu stibitzen, oder?«

Shasuryus Schwanz zuckte nach oben und schlug ein paarmal auf den Boden. »Hmpf. Das würde ich nicht tun. Ich bin nur hier, um zu sehen, was die Zucht macht.«

Sein Bruder schwieg dazu lieber.

»Zaryusu, traust du mir so was wirklich zu?«, fragte er energisch nach, wobei er einen Schritt näher herantrat. Es war, als würde auf den kleineren eine Wand zustürzen, was sogar den Reisenden und erfahrenen Kämpfer Zaryusu dazu brachte, ein paar Schritte zurückzuweichen.

Er hatte jedoch die perfekte Entgegnung. »Wenn du nur gekommen bist, um einen Blick auf die Zucht zu werfen, bedeutet das wohl, du möchtest keine, hm? Zu schade, Bruder. Wenn sie gut gedeihen, hätte ich dir ein paar überlassen.«

»Hmpf.« Shasuryu ließ den Schwanz sinken, das Klopfen endete.

»Sie schmecken wirklich gut und sind dank des guten Futters groß und fett. Sie sind fetter als die Fische, die man sonst so fängt.«

»Ach?«

»Das gute Fett rinnt dir beim Reinbeißen förmlich zwischen den Zähnen hindurch. Und wenn du ein Stück rausreißt, schmilzt das Fleisch förmlich in deinem Mund.«

»Mmmmpf.« Das Klopfen setzte wieder ein, drängender als zuvor.

Zaryusu bemerkte es und scherzte: »Deine Frau sagt, dein Herz liegt in deinem Schwanz.«

»Was? Wie kann sie es wagen, ihren Mann zu verspotten? Davon abgesehen, was soll das überhaupt bedeuten?« Bei dieser Frage sah er über die Schulter zu seinem nun reglosen Schwanz.

Zaryusu war sich nicht sicher, was er erwidern sollte, und entschied sich für ein trockenes »Ahh«.

»Meine Güte. Sie ist so … Sobald du am Haken hängst, wirst du wissen, wie ich mich fühle.«

»Ach, ich kann nicht heiraten.«

»Ha. Unsinn. Du meinst wegen des Brandzeichens? Es ist egal, was die Ältesten sagen – du kannst sie einfach ignorieren. Und ich denke, es gibt kein Weibchen im Dorf, das sich weigern würde, wenn du ihr einen Antrag machst … die nehmen jeden mit einem kräftigen Schwanz.«

Echsenmenschen legten in ihren Schwänzen Fettreserven an, darum fand das andere Geschlecht dickere anziehend. Früher hätte Zaryusu dickschwänzige Weibchen bevorzugt, doch als ausgewachsenes Männchen, das die Welt gesehen hatte, ging er ihnen jetzt nach Möglichkeit aus dem Weg.

»Ich bin nicht an den fettschwänzigen Weibchen des Dorfs interessiert. Wenn es darauf ankäme, wäre mir eine dünnere lieber. Ich persönlich bevorzuge jemanden von der Größe deiner Frau.«

»Das mag zu deiner Persönlichkeit passen, aber halte dich von den Vergebenen fern. Ich werde mich nicht in irgendein sinnloses Blutbad einmischen. Hmm, aber du solltest das Leid der Ehe kennenlernen. Es ist nicht gerecht, dass ich das alleine durchmache.«

»Woah. Das sag ich deiner Frau.«

»Hmpf. Siehst du – das ist eines der Leiden der Ehe. Ich bin der Stammeshäuptling und dein älterer Bruder, trotzdem kannst du mich ohne Weiteres erpressen.«

Ein paar Momente lang hallte ihr zufriedenes Lachen über den See.

Als es endete, betrachtete Shasuryu schwermütig die Fischzucht. »Schon beeindruckend, dein …«

Als ihm das Wort nicht einfiel, half ihm sein jüngerer Bruder aus. »Zuchtbecken?«

»Ja, genau. So was hat noch niemand von unserem Stamm gemacht. Und die Neuigkeiten von deinem Erfolg verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Wenn das so weitergeht, werden alle, die dich um deine Fische beneiden, anfangen, es dir nachzumachen.«

»Das ist dir zu verdanken, Bruder. Ich weiß, dass du allen davon erzählt hast.«

»Zaryusu, ich hab nichts weiter als die Wahrheit gesagt, wenn ich mich mit ihnen unterhalten habe. Das Bemerkenswerte ist, dass du hart dafür gearbeitet und als Lohn diese köstlich aussehenden Fische gezüchtet hast.«

Zu Beginn des Projekts war Fehlschlag auf Fehlschlag gefolgt. Selbstverständlich. Er hatte während seiner Wanderschaft nur davon gehört und auf diesen Erzählungen aufgebaut. Sogar das Errichten der Eingrenzung war eine Aneinanderreihung von Fehlschlägen gewesen. Nach einem Jahr voller erfolgloser Versuche stand das Zuchtbecken, aber das war noch nicht der Anfang des Erfolgs. Er hatte sich um die Fische kümmern, sie füttern müssen. Wie oft waren sie gestorben, während er verschiedenes Futter hineinwarf, um herauszufinden, was sich am besten eignete? Dann wieder hatten Monster die Netze zerfetzt und seine ganze harte Arbeit zunichte gemacht.

Man hatte ihm vorgeworfen, mit den als Nahrung gefangenen Fischen zu »spielen«. Man hatte ihn sogar als Trottel bezeichnet. Aber nun waren die Früchte seiner Arbeit unbestreitbar.

Unter der Oberfläche glitt ein großer Fisch vorbei. Er war recht ansehnlich, selbst verglichen mit denen, die man in dieser Gegend fangen konnte. Abgesehen von seinem Bruder und seiner Schwägerin würde niemand glauben, dass er ihn von klein auf großgezogen hatte.

»Das ist wirklich beeindruckend, Zaryusu«, murmelte Shasuryu erneut, während sie gemeinsam zusahen. Dabei klang er sehr emotional.

Zaryusu war ebenso ergriffen. »Das verdanke ich zum Großteil dir, Bruder.«

»Hmpf. Was hab ich schon getan?«

Natürlich, er hatte nichts getan, zumindest hatte er nicht selbst Hand angelegt. Aber als es den Fischen nicht gut gegangen war, war unvermittelt ein Priester aufgetaucht. Als es Zeit war, Material für die Zäune zu besorgen, hatte er Unterstützung gefunden. Und als die Fänge des Tages verteilt worden waren, hatte er lebendige, gesunde Fische bekommen. Zudem gab es Jäger, die ihm Obst für seine Fische brachten.

Es war nie bekannt geworden, wer sie alle gebeten hatte, ihm zu helfen. Doch selbst ein absoluter Narr konnte es sich denken – und auch, dass derjenige anonym bleiben wollte. Es würde dem Ansehen des Häuptlings schaden, einen Reisenden zu unterstützen, der sich vom Kastensystem des Stamms abgewandt hatte.

»Bruder, sobald sie groß genug sind, bekommst du als Erster welche.«

»Ha. Ich freu mich schon darauf.« Shasuryu machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich. Dann murmelte er noch: »Entschuldige.«

»Was meinst du, Bruder? Du hast nichts falsch gemacht.«

Hatte er ihn gehört oder nicht? Zaryusu sah Shasuryu hinterher, wie er sich ohne ein weiteres Wort am Rand des Sees entlang entfernte.

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass mit der Fischzucht alles in Ordnung war, befand sich Zaryusu mittlerweile auf dem Rückweg ins Dorf, als er plötzlich etwas Seltsames spürte und zum Himmel hinaufsah.

Nach wie vor blickte er in ein endloses Blau mit den wenigen Wolken um die Berggipfel im Norden. So wie immer. Nichts schien anders. Gerade als er zu dem Ergebnis kam, es wäre nur Einbildung gewesen, fiel ihm eine eigentümliche Wolke auf.

Jeder im Dorfzentrum bemerkte sie zur selben Zeit – eine einzige, düstere Masse, die sich dick und schwer wie eine Regenwolke vor die Sonne schob.

Die Priester hatten einen wolkenklaren Tag vorhergesagt. Sie trafen ihre Wettervorhersagen mit Magie und dank jahrelanger Erfahrung waren sie äußerst genau. Alle waren überrascht, dass sie sich geirrt hatten.

Was diese einzelne dunkle Wolke über dem Dorf noch seltsamer machte, war das Fehlen weiterer Regenwolken. Als hätte jemand eine einzige Wolke beschworen, die direkt und ausschließlich über dem Dorf hing.

Dann wurde es noch seltsamer. Während diese geheimnisvolle Wolke über dem Dorfzentrum waberte, breitete sie sich aus. Es dauerte nicht lange, bis sie fast den gesamten blauen Himmel verdeckte. Das war alles andere als normal.

Hastig machte sich die Kriegerkaste bereit. Kinder stürmten praktisch in ihre Häuser. Zaryusu nahm eine kampfbereite Haltung ein und griff nach Frost Pain, während er weiter den Blick schweifen ließ.

Inzwischen verschleierte diese Dunkelheit beinahe den gesamten Himmel. Weit entfernt war noch etwas Blau zu erkennen, was bedeutete, diese Wolke befand sich tatsächlich nur über dem Dorf. Das Zentrum der Siedlung war in Aufruhr. Der Wind aus dieser Richtung trug schrille, raue Rufe mit sich. Es war eine Warnung. Eine nahe Bedrohung, die möglicherweise eine Evakuierung nötig machte.

Als Zaryusu das hörte, rannte er schneller durch den Sumpf, als es den meisten Echsenmenschen möglich gewesen wäre. Er rannte wie besessen.

Sich durch den Sumpf zu bewegen war nicht einfach, doch sein Schwanz half ihm, das Gleichgewicht zu halten. Mit einer Geschwindigkeit, zu der kein Mensch fähig wäre – was natürlich an den an diese Umgebung angepassten Füßen lag –, erreichte er den Ursprung des Alarms.

Shasuryu und die Krieger standen im Kreis und starrten in die Mitte des Dorfs. Zaryusu folgte ihren Blicken zu dem, auf das sie sich konzentrierten.

Dort befand sich ein Monster wie wabernder, schwarzer Nebel. In seinem Inneren formten sich schreckliche Fratzen, um sich im nächsten Augenblick wieder aufzulösen. So unterschiedlich sie auch waren, eines teilten all diese Gesichter: Jedes einzelne drückte unvorstellbares Leid aus. Gequältes Schluchzen, verärgerte Stimmen, gepeinigte Schreie, das letzte Keuchen Sterbender und mehr wurde wie ein Lied vom Wind davongetragen.

Eine eiskalte Decke aus lähmendem Hass senkte sich über sie und das begleitende Entsetzen ließ Zaryusu schaudern. Das ist übel … Shasuryu und ich sollten den anderen sagen, sie sollen gehen, damit wir uns alleine darum kümmern können. Aber … Das war ein mächtiger Untoter, der sogar Zaryusu, der unter den anderen Stämmen der Gegend als großer Krieger angesehen war, Angst einjagen konnte. Vermutlich waren er und sein Bruder die Einzigen, die sich dem Ungeheuer stellen konnten. Zudem kannte Zaryusu seine Spezialfähigkeit.

Als er sich umsah, bemerkte er, es waren zwar nur Echsenmenschen der Kriegerkaste anwesend, allerdings atmete fast jeder von ihnen schwer – wie verängstigte Kinder.

Das Monster wich keinen Millimeter von seiner Position.

Wie viel Zeit verging? Die Anspannung war so groß, dass schon ein herabfallendes Blatt sie zerrissen hätte. Das zeigte auch die Art, wie die Krieger langsam näher zusammenrückten. Sie mussten sich mit aller Kraft gegen den mentalen Druck stemmen, um sich überhaupt bewegen zu können.

Am Rand seines Sichtfelds bemerkte Zaryusu, wie Shasuryu seine Waffe zog, tat es ihm gleich und schweigend nahmen sie Kampfhaltung ein. Sollte es so weit kommen, wollte er schneller als jeder andere zuschlagen. Man wird es wohl kaum als Verletzung meiner Befugnisse betrachten, wenn ich alle wissen lasse, dass die Spezialfähigkeit dieses Dings …

Die von der lähmenden Anspannung erfüllte Luft wurde sogar noch geladener – und mit einem Mal hörte das hasserfüllte Zetern auf.

Die Stimmen des Monsters vereinigten sich zu einer. Anstelle von unverständlichen Flüchen war diese klar und deutlich zu verstehen. »Hört, Diener des Erhabenen, ich komme als Vorbote.«

Die Krieger sahen einander unruhig an. Nur Zaryusu und Shasuryu hielten den Blick auf das Monster gerichtet.

»Ich verkünde euren Tod. Der Erhabene hat eine Armee entsandt, um euch zu vernichten. Trotzdem erlaubt er euch in seiner Großzügigkeit, verzweifelten – wenn auch zwecklosen – Widerstand zu leisten. In acht Tagen werdet ihr der zweite Stamm der Echsenmenschen um diesen See sein, der geopfert wird.«

Zaryusu verzog das Gesicht, wobei er mit gefletschten Zähnen drohend knurrte.

»Setzt euch verzweifelt zur Wehr – damit der Erhabene Vergnügen darin findet, euch zu verspotten.«

Wie sich ständig umwälzender Rauch erhob sich das Monster in die Luft.

»Vergesst nicht – acht Tage.«

Es flog in Richtung Wald davon. Unter den ihm hinterherblickenden Echsenmenschen sahen nur Zaryusu und Shasuryu schweigend in Richtung Horizont.

2

Die größte Hütte des Dorfs war als Versammlungsort gedacht, fand in der Regel allerdings nicht viel Verwendung. Da der Häuptling eines Echsenmenschenstamms absolutes Bestimmungsrecht genoss, gab es nicht oft Grund für große Zusammenkünfte, was die Hütte beinahe überflüssig machte. An diesem Tag jedoch war die allgemeine Aufregung deutlich spürbar.

Obwohl sie im Inneren äußerst geräumig war, fühlte sie sich mit so vielen Echsenmenschen beengt an. Natürlich war die Kriegerkaste anwesend, aber auch die Priester, Jäger, Ältesten sowie der Reisende Zaryusu. Alle saßen Shasuryu zugewandt mit unterschlagenen Beinen auf dem Boden.

Der Häuptling eröffnete das Treffen und das Oberhaupt der Priester ergriff als Erstes das Wort. Sie war ein älteres Weibchen, auf deren Haut mit weißer Farbe gezeichnete seltsame Symbole prangten. Jedes dieser Zeichen hatte eine Bedeutung, allerdings wusste Zaryusu nicht, welche. »Wir alle erinnern uns an die Wolke am Himmel. Das war Magie. Meines Wissens gibt es nur zwei Zauber, mit denen man das Wetter beeinflussen kann. Da wäre der Zauber der Stufe sechs Control Weather, der kann es also nicht gewesen sein. Caster, die Zauber der Stufe sechs wirken können, existieren nur in Geschichten. Dann gibt es noch den der Stufe vier, Control Cloud. Den kann aber auch nur ein ungewöhnlich mächtiger Caster wirken. Nur ein Narr würde einem solchen Feind die Zähne zeigen.«

Die ähnlich geschmückten Priester hinter dem Oberhaupt nickten zustimmend.

Zaryusu wusste, was für eine Machtdemonstration ein Zauber der Stufe vier war, dennoch wurde das zweifelnde Stöhnen derer laut, für die das nicht galt.

Die Miene der Priesterin machte deutlich, sie war sich nicht sicher, wie sie es am besten erklären sollte. Dann deutete sie auf einen Echsenmenschen. Der wiederum wirkte verwirrt und zeigte fragend auf sich selbst.

»Ja, du. Könntest du mich in einem Kampf schlagen?«

Hastig schüttelte der Echsenmensch den Kopf.

In einem mit Waffen ausgetragenen Kampf könnte er sie vermutlich besiegen, doch sobald Magie ins Spiel kam, hätte er nur geringe Chancen. So gering, dass es sich für einen Krieger nicht einmal lohnte, sie in Betracht zu ziehen.

»Aber ich beherrsche nur Zauber bis zur zweiten Stufe.«

»Dann ist unser Feind doppelt so mächtig?«, fragte jemand.

Bedauernd und begleitet von einem Seufzen schüttelte die Priesterin den Kopf. »So einfach ist das nicht. Mit einem Zauber der Stufe vier könnte man vermutlich sogar unseren Häuptling mühelos töten.« Schließlich erklärte sie: »Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, aber die Möglichkeit besteht«, und schwieg daraufhin.

Als alle begriffen, welche Gefahr ein Zauber der Stufe vier darstellte, senkte sich Stille über den Raum, bis Shasuryu wieder sprach. »Anders ausgedrückt, Hohepriesterin …«

»Ich denke, wir sollten evakuieren. Einen Kampf können wir nicht gewinnen.«

»Was soll das heißen?!«, rief ein Echsenmensch mit tiefer Stimme, während er auf die Füße sprang. Was reine Muskelkraft anging, war er – der Anführer der Krieger – Shasuryu vermutlich ebenbürtig. »Wir sollen flüchten, ohne überhaupt zu versuchen zu kämpfen? Wegen dieser lächerlichen Drohung?«

»Hast du überhaupt ein Hirn in deinem Schädel? Wenn wir kämpfen, sind wir bereits verloren!« Die Hohepriesterin stand auf, um dem unbeugsamen Blick des Kriegers zu begegnen. Alle waren aufgebracht und ohne es zu bemerken, gaben beide Drohlaute von sich.

Als deutlich wurde, dass die beiden sich auf Messers Schneide bewegten, ertönte eine kalte Stimme. »Das reicht.«

Krieger und Priesterin sahen Shasuryu an, als hätte er ihnen einen Eimer kaltes Wasser übergeschüttet. Dann entschuldigten sie sich und nahmen wieder Platz.

»Anführer der Jäger, wie denkst du darüber?«

»Ich verstehe die Ansichten des Anführers der Krieger und die der Hohepriesterin. Beide sind vernünftig«, beantwortete ein schlaksiger Echsenmensch Shasuryus Frage. Obwohl er schlank war, mangelte es ihm nicht an Muskeln – er war nur äußerst drahtig. »Darum denke ich, da uns noch Zeit bleibt, können wir uns erlauben, abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Es sagte, es gäbe eine Armee. Dann brauchen sie auch ein Lager und alles, was dazugehört. Es wäre also nur vernünftig, sie zu beobachten und dann zu entscheiden, wie wir fortfahren sollen.«

Mehrere beipflichtende Stimmen wurden laut, dass es ohne ausreichende Informationen unklug wäre, übereilt zu handeln.

»Ältester …«

»Ich kann dazu nichts sagen. Jede Ansicht scheint richtig zu sein. Es bleibt dem Häuptling überlassen zu entscheiden.«

»Hmpf …« Shasuryu ließ den Blick schweifen und begegnete dem von Zaryusu über die Köpfe einiger Echsenmenschen hinweg. Der ältere Bruder nickte, ohne den Kopf zu bewegen.

Mit einem Gefühl, als hätte ihn jemand sanft nach vorn geschoben – vielleicht sogar von einer Klippe –, hob Zaryusu die Hand, um zu sprechen. »Häuptling, ich möchte ebenfalls meine Meinung äußern.«

Alle Blicke richteten sich auf Zaryusu. Die meisten waren erwartungsvoll, ein paar Echsenmenschen hingegen runzelten die Stirn.

»Du bist ein Reisender! Du hast hier keine Stimme. Du solltest dich glücklich schätzen, hier sein zu dürfen«, erklärte ein Mitglied des Ältestenrats. »Halt dich zur…«

Ein Schwanz schlug lautstark auf den Boden. Wie ein Messer schnitt das Geräusch dem Ältesten das Wort ab. »Ruhe!« In Shasuryus Stimme lagen undeutbare Gefühle, doch er sprach mit fast demselben Knurren, das Echsenmenschen bei Verärgerung von sich gaben. Niemand würde es nun wagen, sich ihm zu widersetzen. Die Anspannung in der Hütte wurde schlagartig drückender, dafür kühlte die Aufregung merklich ab.

Dennoch öffnete einer der Ältesten den Mund, um das Wort zu ergreifen – ohne das stumme Flehen vieler andere zu bemerken, sich eines Besseren zu besinnen. »Aber Häuptling, du kannst ihm keine Sonderechte zugestehen, nur weil er dein kleiner Bruder ist. Reisende sind …«

»Ich sagte Ruhe. Hast du mich nicht verstanden?«

»Gngh …«

»In einem solchen Augenblick gestatten wir jedem mit Erfahrung, sich einzubringen. Es wäre seltsam, sich nicht anzuhören, was ein Reisender weiß.«

»Reisende …«

»Ich bin der Häuptling und sage, es ist in Ordnung. Willst du mir wirklich weiter widersprechen?«

Der Älteste wandte endlich den Blick ab und Shasuryu sah die anderen herausfordernd an. »Hohepriesterin, Anführer der Krieger, Anführer der Jäger, stimmt ihr zu, dass seine Worte keinerlei Wert haben?«

Als Erstes sprach der Krieger: »Ich denke, wir sollten Zaryusu anhören. Kein Krieger würde die Meinung desjenigen ignorieren, der über Frost Pain gebietet.«

»Dem stimme ich zu. Es gibt viele Gründe, ihn anzuhören«, pflichtete ihm der Jäger bei.

Die Hohepriesterin zuckte schließlich mit den Schultern. »Natürlich werde ich zuhören. Nur ein Narr weigert sich, jemandem zuzuhören, der über Wissen verfügt.«

Der beleidigende Sarkasmus ihrer Worte brachte ihr von ein paar der Ältesten böse Blicke ein. Shasuryu nickte den dreien zu, dann bedeutete er Zaryusu mit einem Nicken, fortzufahren.

Zaryusu blieb sitzen, als er sprach. »Wenn wir uns zwischen Weglaufen und Kämpfen entscheiden müssen, würde ich Letzteres wählen.«

»Hmm, und warum?«

»Weil es unsere einzige Wahl ist.«

Wenn der Häuptling eine Frage stellte, wurde eine angemessene Antwort erwartet, doch Zaryusu erweckte den Eindruck, sich nicht weiter erklären zu wollen.

Shasuryu stützte in Gedanken versunken das Kinn auf seine Faust.

Was? Hast du meine Gedanken erraten? Bruder … Zaryusu war besorgt, ließ es sich jedoch nicht anmerken.

Dann fragte die Hohepriesterin: »Aber können wir gewinnen?«

»Ja, können wir«, rief der Anführer der Krieger enthusiastisch, um die vorherrschende Nervosität zu vertreiben.

Die Hohepriesterin kniff lediglich misstrauisch die Augen zusammen.

»Nein, in unserer jetzigen Situation haben wir keine große Chance.« Der Widerspruch kam von Zaryusu.

»Wie meinst du das?«

»Anführer der Krieger, unsere Gegner müssen Informationen über uns und unsere Verteidigung haben. Ansonsten könnten sie sich nicht dermaßen überheblich geben. Das wiederum bedeutet, selbst wenn wir mit aller Kraft kämpfen, ist ein Sieg mit unserer derzeitigen Stärke unmöglich.«

Was sollen wir dann tun? Diese Frage lag jedem Einzelnen auf der Zunge.

Zaryusu sprach seine wahren Absichten noch immer nicht aus, als er allen zuvorkam. »Also müssen wir ihren Plan vereiteln … Erinnert ihr euch an den Krieg?«

»Natürlich«, tönte es aus den Reihen.

Er lag nur ein paar Jahre zurück, jeder der Anwesenden hatte ihn miterlebt. Selbst wenn sie alle senil geworden wären, es wäre unmöglich, diesen Krieg zu vergessen.

Im großen Sumpfgebiet hatte es einst sieben Stämme gegeben: Grüne Klaue, Kleiner Fangzahn, Schlagender Schwanz, Drachenzahn, Gelbflecken, Scharfe Klinge und Rotes Auge.

Jetzt waren es nur noch fünf. Bei diesem Krieg hatten zwei Stämme der Echsenmenschen ihr Ende gefunden.

Alles hatte mit ein paar schlechten Fischfangzügen seinen Anfang genommen. Die Jagdgruppen von Grüne Klaue hatten begonnen, ein größeres Gebiet des Sees abzusuchen, und dasselbe galt selbstverständlich auch für die anderen Stämme.

Das hatte irgendwann zu Streitereien um die Fischgründe geführt. Die Nahrungsversorgung jedes Stamms hatte auf dem Spiel gestanden, daher hatte sich niemand erlauben können, nachzugeben.

Es hatte nicht lange gedauert, bis aus Streitereien Handgemenge und aus Handgemengen tödlicher Ernst geworden war. Letztendlich hatten die Jagdgruppen Unterstützung durch die Krieger erhalten und ein gnadenloser Kampf ums Überleben war ausgebrochen.

In diesem Konflikt waren fünf der sieben Stämme aufeinandergetroffen. Er hatte sich zu einem Kampf drei gegen zwei entwickelt: Grüne Klaue, Kleiner Fangzahn und Schlagender Schwanz verbündeten sich gegen Gelbflecken und Scharfe Klinge – die Stämme boten alles auf, was sie hatten – nicht nur die Kriegerkaste, auch die normalen Männchen und Weibchen.

Nach mehreren gnadenlosen Kämpfen hatten die drei verbündeten Stämme den Sieg davongetragen. Die Gegenseite hatte so viele Mitglieder verloren, dass sie als Stämme nicht weiter hatten bestehen können. Sie hatten sich aufgelöst und sich später den Drachenzähnen angeschlossen, die sich nicht am Krieg beteiligt hatten.