Paul Celan (1920−1970) - Theo Buck - E-Book

Paul Celan (1920−1970) E-Book

Theo Buck

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Beschreibung

Im November 2020 jährt sich Paul Celans Geburt in Czernowitz zum hundertsten Mal, im April diesen Jahres vor fünfzig Jahren hatte er seinem Leben in Paris ein Ende gesetzt. Diese Koinzidenz ist Anlass genug, Leben und Schaffen des Dichters Revue passieren zu lassen. Zwar gibt es bereits mehrere biographische Darstellungen und etliche Bücher über seine Beziehungen zu Freunden, Freundinnen und Geliebten sowie eine Fülle von Interpretationen seiner Gedichte. Was aber bislang fehlt ist eine die verschiedenen Komponenten miteinander verbindende Werkbiographie, die dem engen Zusammenhang von Leben und poetischem Schaffen möglichst konkret nachspürt, ohne allzu indiskret im Privatleben herumzuwühlen. Denn viele von Celans Gedichten bleiben unerklärlich ohne die Kenntnis der jeweiligen Lebensumstände, aus denen sie erwachsen sind. Theo Buck (1930–2019) war ein großer Kenner, Liebhaber und Interpret der Werke von Paul Celan. In seiner nachgelassenen Monographie spürt er dem engen Verhältnis von Dichtung und Leben eines der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Moderne nach, eines deutschsprachigen Juden aus der Bukowina, der nie in Deutschland leben wollte, obwohl ihm viel daran gelegen war, im Land seiner Muttersprache gehört und verstanden zu werden. Gerade in Zeiten eines erstarkenden Judenhasses will die leise Stimme Celans gehört werden. Durch die sensible Annäherung Theo Bucks an sein Leben und Werk wird dies im Jubiläums- und Erinnerungsjahr und darüber hinaus neu ermöglicht.

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Theo Buck

PAUL CELAN (1920−1970)

Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina

Die Biographie

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 KölnAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung : Paul Celan ; © ullstein bild – Heinz Köster

Korrektorat : Constanze Lehmann, BerlinEinbandgestaltung : Michael Haderer, WienSatz : Michael Rauscher, WienEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52029-8

 

Auf Schritt und Tritt blühte die Welt.Und noch aus Verzweiflungen wurdenGedichte.(Celan an Ruth Lackner am 2. 12. 1951)

Wer nach Auschwitz mystifiziert,eskamotiert alles menschliche Leid.(Aphorismen, Gegenlichter, 69.4)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – In Gedenken an meinen Vater

Vorbemerkung

Kindheit und Jugend in Czernowitz (1920–1938)

Das erste Jahr in Frankreich (1938/39)

Der Zweite Weltkrieg in Paul Antschels Leben (1939–1945)

Bukarest (1945–1947) – Aus Paul Antschel wird Paul Celan

Exkurs : Todesfuge – Ein großes Gedicht der Weltliteratur

Wiener Intermezzo (1947–1948)

Erste Jahre in Paris (1948–1952)

Exkurs : »Auf hoher See« – Verse zur Bewußtseinslage Celans in der ersten Pariser Zeit

Die zweite Phase in Paris, erster Teil (1952–1956)

Exkurs : Celan als Übersetzer

Die zweite Phase in Paris, zweiter Teil (1957–1959)

Exkurs : Das Gedicht Engführung als Weiterung der Todesfuge

1960 – Büchnerpreis und ›Goll-Affäre‹

Exkurs : Zu Celans Judentum im Gedicht Zürich, zum Storchen

Weiterschreiben, weiterleben : »Fadensonnen über der grauschwarzen Ödnis« – »ein Atemkristall, dein unumstößliches Zeugnis« (1961–1967)

Exkurs : Gedichte einer Irrfahrt Celans durch Südfrankreich im Oktober 1965

Celans letzte Jahre (1967–1970) – »Den Wind im Rücken, sterb ich mich ein«

Exkurs : Lyrik der Wortreste am Beispiel des Gedichts Stückgut

Der Freitod Celans

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Vorwort – In Gedenken an meinen Vater

Es war Mitte September, als mein Vater vergangenes Jahr unvermittelt die Diagnose bekam. Nach seinem Tod am 25. Oktober 2019 habe ich kurze Zeit später in den Unterlagen zu diesem Buch, das nun postum erscheint, ein fast leeres Blatt gefunden. Handgeschrieben stand darauf ein einziges Wort : »Bauchspeicheldrüsenkrebs«. Von seinem behandelnden Arzt war ihm zu Beginn der fünf Wochen, die ihm da noch zu leben blieben, klar gesagt worden : Jetzt sei der Moment, das zu tun, was er noch vorhabe.

Mein Vater wollte vor allem eines : dieses Buch zu Ende schreiben – eine Werkbiografie des von ihm so geschätzten Dichters Paul Celan. Diese selbst gestellte Aufgabe zum guten Abschluss zu bringen, war ihm mehr als eine Herzenssache. Als wir vor ein paar Jahren für seine Webseite einen Namen suchten, sind wir gemeinsam auf den Namen Literaturleben.de gekommen. Denn er sah Literatur immer auch vor dem Hintergrund, den diese für das Leben der Menschen in der Gesellschaft hat. Und ich kannte niemanden, der so wie mein Vater für und mit Literatur gelebt hat.

Bereits im Februar 2018 war er – wie er es selbst sagte – dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen. Dass er danach noch mehr als anderthalb Jahre bei uns war, sehe ich heute als wunderbares Geschenk. Für meinen Vater war es genug Zeit, um noch drei Bücher fertig zu schreiben : Goethe und Frankreich, Géricaults »Floß der Medusa« 1819–2019 und schließlich dieses Buch.

Mit Celan verband mein Vater nicht nur eine kurze persönliche Bekanntschaft, die auf seine Tätigkeit im Pariser Goethe-Institut in den sechziger Jahren zurückgeht. Wie meine Mutter Danièle mir erzählte, hat Celan den damals zehn Jahre jüngeren Theo Buck sogar aufgefordert, ihn doch zu besuchen. Dies aber hat sich mein Vater zu der Zeit vielleicht aus Ehrfurcht oder unter dem Eindruck deutscher Schuld am Ende nicht getraut. Seine Leidenschaft für das Werk und die Person Paul Celans war auch immer die Auseinandersetzung mit dem Thema deutscher Schuld – etwas, das ihm als 1930 Geborenen bis zuletzt keine Ruhe ließ.

Das Einzige, was mein Vater am Ende seiner Kräfte nicht mehr geschafft hat, war das Personenregister. Diese Arbeit, die ich nach seinem Tod für ihn übernommen habe, war auch gleichzeitig so etwas wie ein Erstlektorat. Dabei konnte ich im letzten Drittel des Buches, das sich ja zunehmend mit den immer unglücklicheren letzten Lebensjahren Celans befasst, förmlich mitlesen, wie es auch mit meinem Vater zu Ende ging. Eine Woche bevor er starb, verfasste er die letzten Worte des vorliegenden Buches. Diese ihm so wichtige Arbeit geschafft zu haben, machte es ihm ohne Zweifel leichter, seine Welt mit Danièle und der Literatur loszulassen.

Bertolt Buck, Hamburg, den 22. März 2020

Vorbemerkung

Paul Celans Geburtstag am 23. November 1920 jährt sich 2020 zum hundertsten Mal. Das ist Anlaß genug, Leben und Schaffen dieses Dichters Revue passieren zu lassen. Zwar gibt es bereits mehrere biographische Darstellungen und etliche Bücher über seine Beziehungen zu Freunden, Freundinnen und Geliebten wie auch vor allem eine Fülle von Interpretationen seiner Gedichte. Was man jedoch vermißt, ist eine die verschiedenen Komponenten miteinander verbindende Werkbiographie, die dem engen Zusammenhang von Leben und poetischem Schaffen möglichst konkret nachspürt, ohne allzu indiskret im Privatleben herumzuwühlen. Denn viele seiner Gedichte bleiben für den Leser unerklärlich ohne die Kenntnis der jeweiligen Lebensumstände, aus denen heraus sie erwachsen sind. Mit diesen Versen teilt sich nämlich leidenschaftlich einer mit, der zu den Opfern des nach wie vor grassierenden Antisemitismus gehört. »Täglich kommt mir die Gemeinheit ins Haus, täglich, glauben Sie’s mir. Was steht uns Juden noch bevor ? […] Niedertracht und Gemeinheit«, schrieb Celan am Anfang ihrer Begegnung der befreundeten Nelly Sachs1. In seinem Werk hat die ganze Fülle traumatischer Erfahrungen als Jude an vielen Stellen ihren Niederschlag gefunden. Klarsichtig hat der Dichter die Konsequenzen dieser prekären Sachlage zu Ende gedacht. Zutreffend heißt es in einem der späten Gedichte : »Welt, / fingert an dir : befrag / ihre Härten«2. Das tat er mit äußerster Konsequenz, bis es einfach nicht mehr ging. Angesichts einer für ihn untragbar gewordenen allgemeinen und persönlichen Lebenssituation beging er Ende April 1970 Selbstmord in der Seine. Vermutlich geschah das in der Nacht vom 19. zum 20. April, jenem unseligen Datum, an dem der Judenhasser Adolf Hitler 1889 auf die Welt kam. Celan war sich klar darüber, wie es in einem Gedicht aus dem Nachlaß heißt : »Du liegst hinaus / über dich, // über dich hinaus / liegt dein Schicksal«3. Zwar konnte er von sich in einem der späten Briefe sagen : »Ich habe in meinen Gedichten ein Äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser unserer Zeit eingebracht«. Aber die ebenso von ihm daran angeschlossene Bekundung – »So paradox das auch klingen mag : gerade das hält mich auch«4 – war nichts als versuchte Beruhigung des angeschriebenen Freundes, wohl auch momentane Selbstermutigung. Die bittere Wahrheit findet sich an anderer Stelle, nämlich in den Schlußversen des Gedichts »Welchen der Steine du hebst«. Sie lauten : »Welches der Worte du sprichst – / du dankst / dem Verderben«5. Das besagt nichts anderes als die Erkenntnis, daß die von ihm poetisch gestalteten »Worte« sich schmerzlich erkanntem, ja »todbringendem«6 Unheil ›verdanken‹. Celan trug die schwere Bürde, seine geliebte Muttersprache auch als Mördersprache erleben zu müssen. Eine Ahnung davon bekam er schon früh, weil sein Onkel David Teitler, der ältere Bruder des Vaters, gleich noch im Jahr 1933 Deutschland, wo er als Besitzer einer Metallwarenfabrik lebte, unter dem Eindruck der beginnenden Judenverfolgungen rasch entschlossen verließ und sich in Bukarest niederließ. 1934 kam er zu einem Besuch nach Czernowitz. Der junge Paul, damals gerade dreizehn Jahre alt, hörte seinen Berichten über den grassierenden Antisemitismus aufmerksam zu. Weiterhin lebte er dennoch mit den vielschichtigen Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache. Aber stets belastete ihn seitdem und zunehmend nach der Ermordung seiner Eltern immer auch der Gedanke, daß Hitler und seine vielen schuldig gewordenen Mittäter gleichfalls Umgang mit dieser Sprache hatten. Die systematische antijüdische Propaganda der Nazis erfolgte eben in deutscher Sprache. Zwangsläufig gehörte sie mit zur Barbarei des Völkermords an den Juden, der Shoah. Deutsch schreiben zu müssen, war darum für Celan zugleich immer auch bedrückend, weil – wie John Felstiner zutreffend anmerkte und dabei den so schwer Getroffenen selbst zitierte – »ein Dichter nicht aufhören kann zu schreiben, ›auch dann nicht, wenn er ein Jude ist und die Sprache seiner Gedichte die deutsche ist‹«7. Trotz alledem blieb Celan an die deutsche Sprache gebunden, weil er davon überzeugt war : »An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. […] Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache«8. Für ihn war es die Sprache seiner Mutter, wie dann Hölderlins, Büchners, Hofmannsthals und Rilkes, aber eben auch die der Wortführer bei der Massenvernichtung der Juden. Im Rahmen dieser humanen Katastrophe fiel ihm als einem Überlebenden die bittere Rolle zu, seine dichterische Arbeit durchweg mit der Erinnerung an den Holocaust verknüpfen zu müssen.

Vor allem im letzten Lebensjahrzehnt häuften sich zudem im Leben Celans ihn verstörende persönliche und seine Situation verschlimmernde Erfahrungen. Sie begannen 1960, teilweise schon davor, mit den ebenso gemeinen wie widersinnigen Plagiatsvorwürfen von Claire Goll. Dazu kam das desillusionierende Treffen mit Martin Heidegger im Juli 1967 und danach die noch größere Enttäuschung bei der von den meisten Zuhörern abgelehnten Lesung im Rahmen der Stuttgarter Tagung der Hölderlin-Gesellschaft im März 1970. Hauptsächlich aber belasteten ihn die häufigen Spannungen innerhalb seiner Familie, die 1967 zur Trennung führten, sodann natürlich die damit verbundenen fortwährenden Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. All dies löste verständlicherweise unerträglichen existentiellen Druck aus. Nüchtern diagnostizierte Celan seinen schwer zu ertragenden seelischen Zustand mit den Worten : »die Zerstörungen reichen bis in den Kern meiner Existenz«9. So erklärt sich gleichermaßen die leidvolle lyrische Formulierung seiner Lage Mitte 1967 : »härter als ich / lag keiner im Wind, // keinem wie mir / schlug die Hagelbö durch / das seeklar gemesserte / Hirn«10. Celan schrieb wirklich, wie er betonte, »unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit«11. Aus dieser prekären Situation heraus ergab sich infolge der Dauerpräsenz des Vergangenen in der Gegenwart zwangsläufig ein Leben und Arbeiten unter ständigen qualvollen inneren Belastungen. Letzten Endes waren gerade sie es wohl, die er in seiner Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband im Oktober 1969 unter dem Begriff »jüdische Einsamkeit« zusammenfaßte12.

Celans Dichtung ist und bleibt darum entschiedener Wider-Spruch zur Welt wie sie ist. Das daraus erwachsene schwierige Werk ist in seinem ästhetischen und menschlichen Gewicht noch längst nicht voll erkannt. Diese Gedichte erfordern genaues, gründliches Lesen. Er selbst mußte darum erklärend anmerken :

Ich stehe auf einer andern Raum- und Zeitebene als mein Leser ; er kann mich nur ›entfernt‹ verstehen, er kann mich nicht in den Griff bekommen, immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns. […] Keiner ist wie der andere ; und darum soll er vielleicht den andern studieren, sei’s auch durchs Gitter hindurch.

Ergänzend betonte er hierzu gegenüber dem Gesprächspartner : »Ich lehne es ab, den Poeten als Propheten hinzustellen. […] Ich versuche, Ihnen zu erklären, weshalb ich meine angebliche Abstraktheit und wirkliche Mehrdeutigkeit für Momente des Realismus halte«13.

Diese »wirkliche Mehrdeutigkeit« gilt es von Fall zu Fall aufzuspüren. Allein dann wird klar, daß es sich tatsächlich um »Momente des Realismus« handelt. Nicht ohne Grund gab Celan einem seiner Gedichtbände die Zuschreibung »Sprachgitter«. Das weist darauf hin, daß es nicht angeht, seine Verse einfach in gewohnter Weise zu lesen. Man muß vielmehr längere Zeit mit ihnen leben, denn sie stehen, wie er einmal sagte, vielfältig »in die Zeit hinein«14. Es mag sein, daß sich nicht wenige Leser an der Schwierigkeit seiner Texte stören. Sie können nicht erkennen, daß es sich bei ihm um einen verläßlichen Zeitzeugen handelt, der seine dialogisch gedachten Verse im Blick auf den Leser mit gutem Grund auch als eine »Flaschenpost«, ja sogar als den Versuch eines »Händedrucks« verstand15. Sein poetischer »Ritt über / die Menschen-Hürden«16 nötigt uns zum Nachdenken und konfrontiert uns so mit der allseits herrschenden »marschierenden Mediokrität«17. Wir haben es zu tun mit einer Fülle höchst komplexer, vielschichtiger Gedichte voll stillen Leids, die zum wichtigsten Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte gehören. Fraglos ist Paul Celan, neben Rilke und Brecht, einer der wenigen modernen Dichter deutscher Sprache, dessen Werk nachhaltige internationale Wirkung ausgelöst hat. Neuerdings beförderte ihn sogar der Journalist Oliver Jungen kurzerhand zum »bedeutendsten deutschsprachigen Poeten des zwanzigsten Jahrhunderts«18.

Dabei war der Verfasser kein gebürtiger Deutscher, sondern ein deutschsprachiger Jude aus der Bukowina, der nie in Deutschland hätte leben wollen, obwohl ihm viel daran gelegen war, gerade dort, im Land seiner Muttersprache, verstehende Resonanz auszulösen. Zu Lebzeiten ist ihm das nur sehr bedingt gelungen. Inzwischen kann man seiner Dichtung indes eine breite Wirkung gerade hierzulande zusprechen. Zahlreiche Ausgaben seiner Gedichte und mehr noch die Fülle der Interpretationen bis in den Schulunterricht hinein, belegen die herausragende Wirkung und das poetische wie das gesellschaftliche und historische Gewicht seiner Gedichte. Felstiner hat darauf aufmerksam gemacht : »Celan ist ein exemplarischer Nachkriegsdichter geworden, weil er beharrlich auf deutsch die Katastrophe registrierte, die von Deutschland ausging«. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Erinnerung an einen anrührenden Moment der Wirkungsgeschichte, als nämlich die der Nazibarbarei entronnene jüdische Schauspielerin und langjährige Hamburger Theaterleiterin Ida Ehre (1900–1989) bei der Gedenkfeier des Deutschen Bundestages 1988 zum 50. Jahrestag der November-Pogrome in der so genannten ›Reichskristallnacht‹ Celans berühmtestes Gedicht, die Todesfuge, vortrug19. Derlei passiert gewiß nicht oft. Zusammenfassend kann man ohne weiteres sagen : Dem zeitbedingt anders orientierten, in vielerlei Hinsicht jedoch wesensverwandten Hölderlin gleich, kommt Celan zweifellos ein vorrangiger Platz in der universalen Chronik der Dichter zu.

Während seiner Kindheit und Jugend lebte Celan, damals noch Paul Antschel, im begrenzten Rahmen des bescheidenen Elternhauses und seiner abgelegenen Czernowitzer Heimatwelt zwischen »Bergen und Buchen«20. Die Mutter, eine leidenschaftliche Leserin, förderte gezielt die Entwicklung ihres einzigen, hochbegabten Jungen. Auf ihn übertrug sie ihre Liebe zur deutschsprachigen Dichtung. Die betörend wohlklingenden Texte Rainer Maria Rilkes standen dabei im Vordergrund. Celan konnte jederzeit Partien aus dem Cornett oder Verse aus dem Stunden-Buch und dem Buch der Bilder auswendig rezitieren. Bereits der Fünfzehnjährige unternahm eigene poetische Versuche und las sie den Freunden vor. Öfters berichtete er bei solchen Gelegenheiten auch von ihn interessierenden literarischen Entdeckungen. Hauptquelle seiner Inspiration dafür war die umfängliche Bibliothek des Vaters der Jugendfreundin Edith Silbermann (geb. Horowitz), des Gräzisten und Germanisten Karl Horowitz, der ihn seine Schätze großzügig benutzen ließ. Überhaupt präsentierte der junge Paul gerne seine literarischen Kenntnisse im Freundeskreis, wobei meist die Zuhörerinnen dominierten. Früh offenbarte sich ohnehin bei ihm das Interesse für das weibliche Geschlecht, zumal der gutaussehende, melancholische Junge dabei meist entschieden auf Gegenliebe stieß. Mit Leidenschaft bewegte der Frühreife sich von Beginn an in einer Sphäre der Neugier zwischen Kunst und ersten Liebeserlebnissen. Daneben entwickelte sich bei dem Gymnasiasten ebenso ein ausgeprägtes soziales und politisches Engagement. Von Kindheit an mußte er am eigenen Leib spüren, was soziale Ungerechtigkeit ist. Zu den Klassikern und Hölderlin, zu Hofmannsthal, George, Trakl und Kafka, zu Shakespeare und französischen Autoren wie Baudelaire, Verlaine, Rimbaud und Mallarmé kam so der Umgang mit den Schriften von Karl Marx, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Karl Kautski, Rosa Luxemburg und Gustav Landauer. Er trat sogar ohne Wissen der Eltern einer illegalen kommunistischen Jugendorganisation bei. Eine Zeitlang publizierte die Gruppe heimlich eine ›rote‹ Schülerzeitschrift. Das war im damaligen Königreich Rumänien nicht nur verboten, sondern höchst riskant. Den Kommunismus ließ er bald hinter sich. Was davon für das weitere Leben übrigblieb, war eine große Neigung für anarchisches und sozialistisches Gedankengut

Voll Eifer belebte der junge Paul Antschel ab einem gewissen Alter den ihm weithin monoton erscheinenden Schulalltag mit intensivem Lesen, Spaziergängen in der freien Natur, politischen Diskussionen und mit Mädchenfreundschaften. Seiner ganzen Veranlagung nach hatte er das Zeug zu einem, der ein bohèmeartiges Leben in vollen Zügen zu gestalten und zu genießen vermag. Ein von Edith Silbermann vermerktes Charakteristikum seines Verhaltens ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, weil es auch für die weitere Entwicklung Gültigkeit hat. Sie schrieb dazu :

Paul konnte sehr lustig und ausgelassen sein, aber seine Stimmung schlug oft jäh um, und dann wurde er entweder grüblerisch, in sich gekehrt oder ironisch, sarkastisch. Er war ein leicht verstimmbares Instrument, von mimosenhafter Empfindsamkeit, narzißtischer Eitelkeit, unduldsam, wenn ihm etwas wider den Strich ging oder jemand ihm nicht paßte, zu keinerlei Konzession bereit21.

Diese Grundhaltung erklärt manches der späteren Entwicklung. Von daher liegt die Erkenntnis nahe, daß Celans Leben sich von vornherein in Extremen abspielte. Er lebte letzten Endes immer in der Spannung zwischen Liebeshoffnung und Schmerz bis hin zu quälendem Todesbewußtsein, also ganz im Zeichen von Eros und Thanatos. Ein aus dem Nachlaß publiziertes Gedicht von 1961 verdeutlicht den Rahmen, innerhalb dessen seine Arbeit angesiedelt war. Es trägt bezeichnenderweise den Titel Das Wirkliche. Hier der Wortlaut :

Vom Kreuz, davon blieb, als Luft, / nur der eine, der Quer- / balken bestehn : er legt sich, / unsichtbar legt er sich vor / die tiefere Herzkammer : du / hebst dich hinaus aus der Lüge – : / frei / vor lauter Beklemmung / atmest du jetzt / und du // sprichst22.

Von daher wird die extreme sprachliche Spannung seiner Texte erklärlich. Er war eben, wie Hölderlin einmal von sich sagte, von »Apollo geschlagen«23. Nur war sein Apollo nicht der Gott des Lichts, sondern ein Sendbote der Shoah, also der qualvollen Finsternis des Völkermords in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Paul Celan mußte tausendfach am eigenen Leib erfahren, was Heinrich Heine bereits im 19. Jahrhundert in jüdischer Selbstreflexion zum Phänomen des Judenhasses vielsagend verlauten ließ : »[…] Manchmal nur, in dunkeln Zeiten […]«24. In dieser unmißverständlichen Andeutung des Vorläufers steckt im Grunde die beste Erklärung für Leben und Dichtung Paul Celans.

Kindheit und Jugend in Czernowitz (1920–1938)

Paul Antschel wurde, wie bereits gesagt, am 23. November 1920 in Czernowitz, dem Hauptort der Bukowina, geboren. Jeder der zu diesem Zeitpunkt dort auf die Welt kam, geriet von vornherein in eine von Grund auf erschütterte Lebenswelt. Ein kurzer Blick auf die bewegte Geschichte dieses Gebiets macht das deutlich. Das ursprünglich von moldauischen Fürsten regierte Land am Pruth gehörte seit dem 15. Jahrhundert zum Osmanischen Reich und wurde danach wiederholt zum Schauplatz russisch-türkischer Auseinandersetzungen. 1774 besetzten die Habsburger die Bukowina. Sie wurde im Folgejahr zum Kronland der österreich-ungarischen k.-u.-k.-Monarchie erklärt. Neben den dort ansässigen Rumänen, Ruthenen (Ukrainern), Polen und Ungarn, neben den gezielt von den neuen Machthabern angesiedelten Deutschen lebten dort vor allem Juden. Seit dem Mittelalter siedelten sie sich im Gebiet um Czernowitz an. Sie bildeten etwa die Hälfte, also einen Hauptteil der Bevölkerung und waren seit 1867 gesetzlich gleichgestellt. Man nannte darum die Stadt gelegentlich auch das ›Klein-Jerusalem am Pruth‹. Allerdings war Czernowitz kein ostjüdisches ›Schtetl‹. Es gab dort kein Ghetto. Vielmehr lebten die Juden hier, wie in Wien, als freie Bürger einer ›multikulturellen‹ Stadt. Man kann ohne weiteres sagen : in erster Linie waren es die habsburgisch orientierten Juden, die Czernowitz zu einer deutschsprachigen Stadt machten. Nicht ohne Grund sahen sie in der fast anderthalb Jahrhunderte dauernden österreichisch-ungarischen Herrschaft so etwas wie das ›goldene Zeitalter‹ ihrer Stadt. Jedenfalls trifft die Einschätzung Israel Chalfens den Nagel auf den Kopf, der im Hinblick auf die habsburgische Zeit und besonders auf die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts von Czernowitz als einer »Heimstätte jüdisch-deutscher Symbiose« spricht25.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs regelte der im September 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von Saint-Germain die Auflösung der Donaumonarchie sowie die Neuordnung der Republik Deutschösterreich. Dabei wurde die Bukowina, die östliche Grenzprovinz des einstigen großen Vielvölkerstaats, nach langen Debatten durch den Trianon-Vertrag 1920 willkürlich dem mit den Entente-Mächten verbündeten Königreich Rumänien zugeschlagen. Damit wechselte nicht nur die Amtssprache vom Deutschen ins Rumänische, sondern es erfolgte eine generelle Romanisierung des Bildungswesens und der Verwaltung. Der Austausch des Schiller-Denkmals vor dem Stadttheater gegen eine Statue des rumänischen Nationaldichters Mihai Eminescu hatte in dieser Hinsicht Symbolwert. Dennoch blieb Deutsch die lokale Umgangssprache. Ohnehin sorgten die weithin habsburgisch orientierten, an Kultur interessierten Juden als wahre Sachwalter vom ›Volk des Buches‹ dafür, daß sich in der Bukowina zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Art Sprachinsel eine eigenständige Literatur deutscher Sprache herausentwickelte. Mit gutem Grund bezeichnete Celan deshalb die Bukowina als »eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten«26. Hauptsächliche Repräsentanten der spezifischen ›Czernowitzer Literatur‹ waren Rose Ausländer (1901–1988), Georg Drozdowski (1899–1987), David Goldfeld (1904–1942), Alfred Kittner (1906–1991), Alfred Margul-Sperber (1898–1967), Moses Rosenkranz (1904–2003), Isaac Schreyer (1890–1948), Erich Singer 1896–1960) und eine ganze Reihe anderer. Ohne jede Ironie sprach man in diesem Zusammenhang vom kulturellen ›Klein-Wien‹. Bezeichnenderweise begann auch der jiddische Dichter Itzik Manger (1901–1969) seine Karriere mit deutsch geschriebenen Gedichten. An diese Tradition konnten dann die Autoren der folgenden Generation wie Alfred Gong (1920–1981), Immanuel Weißglas (1920–1979), Manfred Winkler (1922–2014) und eben auch Paul Celan ohne weiteres anknüpfen. Mit guten Gründen stufte er sich selbstironisch wie folgt in diesen Zusammenhang ein :

Ich bin also – wenn ich ein Wort von Robert Musil mißbrauchen darf – ein nachgeborener ›Kakanier‹ – auf jeden Fall ein Mensch, der nur in der Nähe eines von viel endgültig Vergangenem überschatteten Scherzwortes seiner ›Mitwelt‹ begegnet27.

Noch 1960 betonte er gegenüber dem Freund Klaus Demus zu seinen Anfängen in Czernowitz : »in einer Heimat, die, weil sie den Namen Verloren trägt, für immer die unsere bleibt«28.

Die jüdischen Czernowitzer Dichter hielten an der deutschen Sprache fest – trotz der unmenschlichen Leiden, denen sie in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt waren. Celan kam darauf in seiner Bremer Rede mit folgenden Worten zu sprechen :

Erreichbar, nah und unverloren, blieb inmitten der Verluste dies eine : die Sprache. Sie die Sprache, blieb unverloren, ja trotz allem. Aber sie mußte hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede29.

Zweifellos ist Celans Lyrik weit über den bei den meisten Bukowiner Dichtern vorzufindenden Grundton hinausgewachsen, aber auch er blieb seinem »verdammt geliebten Czernowitz«30 lebenslang eng verbunden. Wenn es irgend möglich war, gebrauchte er deshalb austriakische Sprachbesonderheiten, um seine Zugehörigkeit zum österreich-ungarischen Kronland zu unterstreichen (›lingua austriaca‹). Czernowitz war und blieb für ihn die »östlichste Provinz der ehemaligen Habsburger Donaumonarchie«31. Dem Freund Gustav Chomed gegenüber betonte er 1962 nachdrücklich, wie wichtig ihm die Erinnerung an die Stadt seiner Geburt war : »Ach weißt Du, ich wollte, ich wohnte noch dort – nicht nur die Töpfergasse32 war […] menschlich«33. Und im selben Jahr schrieb er Erich Einhorn : »Alles ist nahe und unvergessen. Ich bin […] mit meinen Gedanken oft daheim und bei den Freunden von einst«34. Auch schon im Mai 1958 berief sich Celan mit dem Gedicht Oben, geräuschlos auf den Ort seiner Herkunft. Dort gab es damals in den Häusern am Stadtrand noch keine städtische Wasserleitung, sondern lediglich Ziehbrunnen. Das gilt auch für das Haus Gustav (Gustl) Chomeds. Paul spielte dort oft mit dem Freund Wasserschöpfen. Diese bleibende Erfahrung erklärt Celans poetische Reaktion mit der in Klammern eingefügten Selbstaufforderung : »Erzähl von den Brunnen, erzähl / von Brunnenkranz, Brunnenrad, von / Brunnenstuben – erzähl […]«35. Offenkundig gehörte sein Geburtsort zwingend zum reichen Fundus der ihn belebenden sprachbildenden Erfahrungen.

Die eingangs angedeutete Situation im Czernowitz der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, in dem nun rumänischen Cernăuți, dauerte die ganze Zeit zwischen den beiden Weltkriegen fort, also immerhin zwei Jahrzehnte lang. Die Bukowina blieb auch unter der rumänischen Herrschaft kulturell eine altösterreichische Provinz, in der Deutsch gesprochen wurde. Insofern verliefen Kindheit und Jugend des Paul Antschel in einem zweisprachigen, jedoch halbwegs geordneten Rahmen. Erst danach kamen die unvorstellbar schmerzlichen Erfahrungen der damaligen ›großen Politik‹ in Gestalt der nacheinander folgenden Besetzung der Bukowina durch die Truppen der massenmörderischen Diktatoren Stalin und Hitler. Im Zuge der Maßgaben des geheimen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts vom August 1939, bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, wurde nicht nur der östliche Teil Polens, sondern auch am 20. Juli 1940 Bessarabien und der nördliche Teil der Bukowina von der roten Armee besetzt (›Russenjahr‹). Czernowitz hieß nun vorübergehend Tschernowzy. Amtssprache war damit sogleich Russisch. Möglichst schnell versuchte man ebenso die Durchsetzung des Sowjetsystems im öffentlichen Leben. Politische Gegner, darunter viele Juden, wurden als angebliche Kapitalisten oder Zionisten kurzerhand nach Sibirien deportiert. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion durch deutsche Truppen Ende Juni 1941 kehrten aber schon ein Jahr später, am 5. Juli 1941, die nun von dem mit Hitlerdeutschland verbündeten Diktator Antonescu befehligten rumänischen Streitkräfte in die Stadt zurück. Ihnen folgte einen Tag danach die deutsche Einsatzgruppe D, zusammengesetzt aus Einheiten der SS und des Sicherheitsdienstes (SD). Hatten schon die russischen Streitkräfte die jüdische Bevölkerung schikaniert, setzte mit dem Naziterror deren systematische Verfolgung ein. Sofort wurde ein Ghetto eingerichtet. Die dort zusammengefaßten Menschen wurden zur Zwangsarbeit befohlen und mußten den Judenstern tragen. Am Abend durften sie nicht ausgehen. Von Beginn an gab es auch Deportationen in Arbeitslager und zahlreiche Liquidationen. Nach der Auflösung des Ghettos Anfang 1942 konnten einige der Verfolgten vorübergehend in ihre Wohnungen zurückkehren. Doch war das nur die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Im Sommer 1942 setzten die systematischen Maßnahmen der rücksichtslos barbarischen Ausrottungspolitik ein. Die meisten Juden wurden als Arbeitssklaven nach Transnistrien in verschiedene Lager gebracht und dort zu Tode gequält. Auch die Eltern Celans wurden dort umgebracht. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Verfolgten überlebte. Diese Wenigen verstreuten sich in alle Winde. Als dann im April 1944 die russische Armee wieder in die Stadt am Pruth einzog, bedeutete das unwiderruflich das Ende der einstigen Habsburger Provinzresidenz. Czernowitz fiel nunmehr, wie Celan es ausdrückte, »der Geschichtslosigkeit anheim«36. Fortan gehörte Tschernowzy zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). 1990 wurde aus der Ukrainischen Sowjetrepublik der unabhängige Staat Ukraine. Seitdem trägt die Stadt den Namen Tscherniwzy. Dort erinnert immerhin ein gutgemeintes, aber eher unschönes Denkmal an den berühmtesten Sohn der Stadt, die außer den erhaltenen Bauzeugnissen mit dem alten Czernowitz freilich nichts mehr gemein hat.

Paul Antschels Familie lebte in ziemlich begrenzten, kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie hatte nichts gemein mit der weithin assimilierten intellektuellen und wirtschaftlichen Oberschicht der dortigen Juden. Der Vater, Leo Antschel-Teitler37 (1890–1942), entstammte einer aus Galizien zugewanderten, orthodox frommen Familie. Immerhin ließen seine Eltern ihm und dem älteren Bruder eine freie Berufswahl. Aber gleich nach seiner Ausbildung an der staatlichen Bau- und Gewerbeschule als Bautechniker wurde der Vater zum Wehrdienst eingezogen. Kurz vor der fälligen Entlassung begann der Erste Weltkrieg. Leo Antschel wurde an der russischen und italienischen Front eingesetzt. Nach einer Verwundung diente er im Hilfsdienst in der Etappe. Bei der Rückkehr ins Zivilleben fand der Berufsanfänger in der generell herrschenden ökonomischen Krisenlage jener Jahre keine Arbeit. Um Geld zu verdienen, betätigte er sich für verschiedene Firmen als Makler im Holzhandel. Nach anfänglichen Schwierigkeiten behielt er diese Arbeit bei und heiratete Anfang 1920 Friederike (Fritzi), geborene Schrager (1895–1942), die künftige Mutter Pauls, mit der er seit 1914 verlobt war. Sie kam aus dem unweit von Czernowitz gelegenen Sadagora (ukrainisch : Sadhora38), wo ihre Eltern einen Kaufladen betrieben. Auch ihre Familie war jüdisch-orthodox, jedoch wesentlich liberaler gesinnt als die Familie Antschel-Teitler. Wie damals üblich, beschränkte sich in ihrem gesellschaftlichen Umfeld die Schulzeit Fritzis auf den Besuch der Volksschule. Für ihre Weiterbildung sorgte sie dann, soweit wie möglich, durch ebenso eifriges wie systematisches Lesen. Kurze Zeit arbeitete sie in einem kaufmännischen Büro sowie in der Krankenpflege. Während des Ersten Weltkriegs floh die Familie aus dem bukowinischen Kampfgebiet nach Böhmen. Celan spricht ausdrücklich von Böhmen als dem »Dreijahreland meiner Mutter«39. Wegen des frühen Todes ihrer Mutter mußte Friederike dort wie auch nach der Rückkehr in den Heimatort sich hauptsächlich um ihre jüngeren Geschwister und den gesamten Haushalt kümmern. Dank ihrer großen Erfahrung im selbständigen Wirtschaften galt sie als »Erzieherin der ganzen Familiengeneration«40. Nach der Heirat bezogen die jungen Eheleute eine mehr als bescheidene Unterkunft in der Dreizimmerwohnung von Leos Vater in einem einstöckigen Mietshaus in der Wassilkogasse Nummer 5. Dort wohnte das junge Paar im Junggesellenzimmer Leos, das dann im November 1920 auch Pauls Geburtszimmer wurde.

Die Eltern Pauls waren vom Typ her grundverschieden. Chalfen hat darauf hingewiesen, daß sie »auf Außenstehende den Eindruck von Harmonie und Glück« machten, ließ aber zugleich Schwierigkeiten ihres Zusammenlebens durchblikken41. Leo Antschel war wohl ein sehr verantwortungsbewußter, freundlich auftretender, allerdings unsicherer und deshalb nach außen hin eher zurückhaltender Mensch. Durch Emma Lustig, eine Kusine zweiten Grades, erfahren wir vom eher zwiespältigen Eindruck, den er innerhalb der Verwandtschaft machte. Eindeutig äußerte sie sich dazu wie folgt :

Leo war von kleinem Wuchs, etwa einen Kopf kleiner als seine Frau. Man hatte den Eindruck, daß er seine unansehnliche Gestalt und seine Mißerfolge im materiellen Leben durch die Tyrannei im Hause zu kompensieren versuchte. Aber mit seiner Frau hatte er keine Streitigkeiten – er war ihr sehr ergeben. Der Sohn hingegen hatte seine Herrschaft am meisten zu spüren bekommen42.

Diese ziemlich negative Einschätzung mag darauf zurückzuführen sein, daß Leo eine streng orthodoxe Erziehung hinter sich hatte. Talmud (die Sammlung der jüdischen Gesetze) und Tanach (das Alte Testament) waren ihm von Jugend an vertraut und bestimmten sein Verhalten. Er war überzeugter Zionist. Zwar bezweifelte er die Möglichkeit eigener Rückkehr nach Israel. Als aber seine Schwester Minna Anfang der dreißiger Jahre nach dort auswanderte, regte er den jungen Paul zum Briefverkehr mit der Tante an. Er hoffte wohl, wenigstens sein Sohn könne das ihm selbst vorschwebende Ziel – Jerusalem – einmal erreichen.

In materieller Hinsicht war Leos Familie wirklich nicht mit Gütern gesegnet. Weithin war die finanzielle Lage mehr schlecht als recht. Das wird allein schon daran deutlich, daß der Sohn Paul die ersten zwölf Jahre seines Lebens im Zimmer der Eltern schlafen mußte. Leo war tagsüber selten zu Hause, weil er gezwungen war, seinen Geschäften außerhalb, meist bei Treffen im Café, nachzugehen. Aber auf die Erziehung seines Sohnes legte er großen Wert. Aufmerksam achtete er unter anderem darauf, daß Paul Hebräisch lernte. Eine ganze Reihe der Gedichte Celans bezeugt eine enge Vertrautheit mit seiner jüdischen ›Vatersprache‹. Allerdings erwies der Vater sich bei alledem als überaus streng. Auch hierzu bemerkte die soeben erwähnte Verwandte unzweideutig :

Pauls Vater übte im Hause strenge Zucht. Er war kein gütiger Mensch, er stellte hohe Ansprüche an seinen Sohn, bestrafte ihn, schlug ihn oft für jedes kleine kindliche Vergehen. […] Paul war ein sehr empfindsames Kind und litt wohl sehr unter der väterlichen Strenge43.

Das führte mit der Zeit zu einem ziemlich angespannten Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Kein Wunder, daß bei Celan vom Vater wenig und in den Gedichten nur an einer Stelle, dazu in sehr allgemeiner Form die Rede ist44. Es ist in dieser Hinsicht gleichfalls aufschlußreich, daß Celan später einmal betonte, Kafkas anklagender, aber nie abgeschickter Brief »An den Vater« in Gestalt einer bitteren Abrechnung müsse in jüdischen Familien immer wieder aufs Neue geschrieben werden.

Völlig anders liegen die Dinge bei der Mutter. Friederike Antschel war gleichfalls der jüdischen Tradition eng verbunden. Großen Wert legte sie auf die Einhaltung der Speisegesetze und auf das Entzünden der Sabbat-Kerze am Freitag. Aber im Unterschied zu ihrem Mann hatte sie eine völlig andere Auffassung von der Erziehung. Zwar achtete auch sie auf peinliche Sauberkeit, Gehorsam und gutes Benehmen, aber durchweg ohne die harten pädagogischen Maßnahmen ihres Mannes. Zwischen Mutter und Sohn entwickelte sich nicht zuletzt deswegen eine besonders enge Beziehung. Dies um so mehr, als sie neben ihrer verläßlichen mütterlichen Zuwendung sich auch die Zeit nahm, viel mit ihm zu lesen und Gedichte zu rezitieren. Das fiel bei Paul auf besonders fruchtbaren Boden.

Denn er spürte so, daß es außer der täglichen Misere im Leben auch für ihn zugängliche Werte gab. Von klein auf war er in der Lage, Schillers Bürgschaft oder Das Lied von der Glocke aufzusagen, ohne den Wortlaut selbst schon lesen zu können. Noch im Gedicht Vor einer Kerze spricht er von der »Zeit, vor die mich das Mutterwort führte«45. Die Intensität seiner Mutterbindung ist ebenso den Gedichten Schwarze Flocken, Nähe der Gräber und Espenbaum abzulesen, die Celan seiner ermordeten Mutter widmete. wie auch schon dem Sonett zum Muttertag 1938. Dort heißt es vielsagend : »Denn du bist Ruhe, Mutter, Schimmer aus dem Grund«46. Darauf wird zu gegebener Zeit noch genauer einzugehen sein.

Als Einzelkind wuchs der kleine Paul fast nur unter Erwachsenen auf. Verständlicherweise litt er unter dieser ihn nach außen isolierenden Situation. Ihm fehlte das aufmunternde und ebenso das Durchsetzungsvermögen fördernde Spielen mit Geschwistern und Freunden. Es war eine schöne Überraschung für ihn, als nach dem Tod des Großvaters Teitler die im Zimmer nebenan wohnende Tante Minna zwei Schülerinnen, Klara und Emma Nagel, in Pension nahm. Die einige Jahre älteren Mädchen kümmerten sich, wie Chalfen in Erfahrung bringen konnte, fürsorglich um den kleinen Jungen und wurden so zu beliebten Spielkameradinnen47. Sie lasen ihm Märchen und Geschichten vor, die er bald im Wortlaut genau nacherzählen konnte. Als sie ihm dann auch selbsterfundene Geschichten vortrugen, reizte das seine eigene Phantasie dazu an, ebenfalls kleine Geschichten zu erfinden. Es machte ihn glücklich, mit den beiden Schwestern zu kommunizieren und so seine Einsamkeit durchbrechen zu können. In den Augen des Vaters war das Zeitvergeudung. Aber die Mutter sorgte dafür, ihrem Sohn die Freude solcher Evasion unbedingt zu erhalten. Paul hat ihr das nie vergessen.

Erst die Schulzeit brachte dann eine gewisse Veränderung mit sich. Ungeachtet ihrer angespannten Finanzlage bemühten sich Mutter und Vater jeweils auf ihre Art darum, Paul eine möglichst gute Schulbildung zukommen zu lassen Für ihn sollte die Aufstiegsperspektive, von der sie nur träumen konnten, unbedingt gewährleistet sein. Dem Vater war dabei hauptsächlich an der Pflege der jüdischen Tradition gelegen, während die Mutter vor allem Wert auf Allgemeinbildung und die deutsche Kultur legte. Es ist in dieser Hinsicht aufschlußreich, einen Blick auf die ersten Schritte Pauls im Schulsystem zu werfen. Erst mit fünf Jahren durfte der Junge den Kindergarten besuchen. Die Eltern entschieden sich für den Meisler-Kindergarten, weil dort die Unterrichtssprache Deutsch praktiziert wurde. Außerdem hatte diese Institution den Vorteil, daß sie von den Kindern der gutbürgerlichen jüdischen Familien besucht wurde. Von Nachteil waren allerdings die hohen Kosten für das zu entrichtende Schulgeld. Der Vater hatte ohnehin eine jüdische Institution im Sinn, aber die Mutter überzeugte ihn von der Wichtigkeit dieses deutschsprachig orientierten Kindergartens. Automatisch kam Paul ein Jahr später, 1926, mit knapp sechs Jahren in die Grundschule des Meisler-Instituts. Eine ehemalige Mitschülerin berichtete Chalfen, daß er dort »brav und still, aber kein guter Schüler« war48. Das läßt Schlüsse zu im Hinblick auf die Nachwirkung der übermäßig strengen väterlichen Erziehung in den Jahren zuvor. Schlimmer noch war die aus finanziellen Gründen vom Vater getroffene Entscheidung, Paul die folgenden drei Jahre, 1927–1930, gegen seinen Willen in die hebräische Volksschule zu schicken. Die von zionistischen Organisationen unterstützte Einrichtung gewährte Schulgelderlaß. Aber Paul wehrte sich innerlich gegen die dortige Praxis in der hebräischen Unterrichtssprache, jedoch verfügte er noch nicht über die nötige Kraft zum Widerstand, Vielsagend ist, daß er diese Phase seiner Ausbildung später immer unerwähnt gelassen hat. Es dürfte die Mutter gewesen sein, die dann die Weiterführung der Schulbildung im rumänischen Gymnasium in die Wege leiten konnte. Immerhin erreichte der Vater, daß Paul weiterhin Hebräisch-Unterricht durch einen Hauslehrer bekam. Damals schon lebte Paul Antschel in einer Situation zwischen vier Sprachen : Deutsch, Hebräisch, Jiddisch und Rumänisch. Dazu kamen dann noch Russisch, Englisch und vor allem Französisch. Der Wechsel von einer Sprache in die andere wurde ihm zur Gewohnheit. Mühelos war er deshalb später in der Lage, seine Sprachkenntnisse so zu erweitern, daß er jederzeit von einer Sprache in die andere überwechseln konnte49. Souverän lebte er in den verschiedenen Sprachen. Aber als Dichter gebrauchte er allein die deutsche Sprache.

Über die Zeit in der hebräischen Grundschule ging Paul, wie gesagt, mit Schweigen hinweg. Er scheint dort auch keine Freunde gefunden zu haben. Das änderte sich mit seinem Eintritt ins rumänische Staatsgymnasium Liceul Ortodox de Băeţi50 im Herbst 1930. Diese Institution galt als »Hort des rumänischen Nationalismus«. Juden waren dort zwar »zugelassen, aber nicht sehr gern gesehen«51. Die Eltern hatten diese Wahl getroffen, weil das gesellschaftlich hohe Ansehen des Gymnasiums dafür sprach. Außerdem bildete dort die für das spätere Fortkommen wichtige rumänische Staatssprache als Unterrichtssprache den Kern der Erziehung. Daneben gehörte Französisch zum Pensum. Auf diese Weise wurde schon früh ein solider Grund gelegt für den souveränen Umgang Pauls mit der französischen Sprache. Da ebenfalls jüdischer Religionsunterricht im Lehrplan vorgesehen war, stimmte sogar der Vater dieser Lösung zu. Eine wichtige Veränderung in Pauls Alltag ergab sich durch zwei Freundschaften, die für das weitere Leben Bestand hatten. Der beste Klassenkamerad war Gustl Chomed. In dessen Haus in der Töpfergasse verkehrte Paul regelmäßig. Hinzu kam die Freundschaft mit Erich Einhorn, der zwar ein anderes Gymnasium besuchte, aber häufig mit Paul und Gustav zusammen war. Einhorn hatte einen Onkel, der ein Sägewerk in Frumosul betrieb. Von dort aus unternahmen die Freunde in den Ferien Wanderungen in den Karpaten52. In Briefen hat Celan später mehrfach bekundet, was diese Freundschaften damals für ihn bedeuteten. Jedenfalls trugen sie dazu bei, seinen Blick auf das Leben Anderer zu wecken. Immer schon hatten ihn Tiere, Pflanzen und Steine interessiert. Diese Seite seiner Interessen konnte er nun gleichfalls systematischer betreiben. Im Verein bewirkten all diese Einwirkungen die allmähliche Befreiung Pauls aus der bisherigen Abgeschlossenheit. Anfängliche Erfolge, hauptsächlich auf sprachlichem und naturwissenschaftlichem Gebiet (Rumänisch, Französisch und Biologie) belohnten den Eifer, mit dem er sich der Schularbeit in der Grundstufe des Gymnasiums widmete. Wenn Gedichte öffentlich vorgetragen werden sollten, griffen die Lehrer fast immer auf ihn zurück. Man kann vermuten, daß ihm damals bewußt wurde, er sei eigentlich für eine Künstlerlaufbahn prädestiniert. Außerdem wurde er als ›Monitor‹ eingesetzt, also zu einer Art Aufseher innerhalb der Klasse. Darum sahen die meisten Mitschüler in ihm einen Streber. In den Sommerferien auf dem Land bei Verwandten im nahe gelegenen Milie lernte er den in Wien lebenden, etwas jüngeren Vetter Paul Schafler kennen. Von ihm gibt es einen interessanten Bericht über den etwas älteren Paul Antschel. Es heißt da :

Ich liebte und verehrte Paul wegen seines Verhaltens mir gegenüber. Er war […] durch Veranlagung und eine sicherlich härtere Kindheit reifer und erfahrener. Nie aber war auch nur die Spur von Herablassung zu merken, die bei Kindern dieses Alters und dieses Altersunterschiedes eigentlich normal ist. […] Wir ritten zusammen, spielten Fußball, strichen gemeinsam durch die Wiesen, Feldwege und Felder dieser Gegend53.

Die beiden Pauls lasen zusammen begeistert zum einen Karl May, zum anderen die jiddischen Fabeln von Elieser Steinbarg. Der Aufenthalt auf dem Land eröffnete dem Gast ein gänzlich neues Lebensumfeld. Offenkundig war Paul Antschel energisch dabei, die eigenen Möglichkeiten nach allen Richtungen hin auszuloten. Aber Chalfen berichtet ebenso von einer typischen psychischen Reaktion Pauls noch in der Zeit, als er die hebräische Volksschule besuchte. Plötzlich in sein Gitterbett kriechend, rief er aus : »Ich hab Angst, der Tod kommt mich holen ! Ich muß mich vor ihm verstecken !«54 Der Schriftstellerkollege Erich Fried hat später zutreffend darauf aufmerksam gemacht, wie stark in Celan der »Zusammenstoß zwischen den großen uralten Bildern der menschlichen Seele, der menschlichen Phantasie und den Metaphern der Gegenwart« entwickelt war55. Das Bild des leidenden Subjekts beschäftigte ihn demnach von Jugend an.

Immerhin brachte das Jahr 1933 für Paul und seine Eltern eine erfreuliche Verbesserung der Wohnsituation. Durch den Wegzug der anderen Familienangehörigen konnten die Antschels nun allein über die Wohnung in der Wassilkogasse verfügen. Für Paul bedeutete das ein eigenes Zimmer, in dem er ganz für sich sein konnte. Das Gitterbett der Kinderjahre wurde endlich durch eine Schlafcouch ersetzt. Er konnte nun auch Freunde zu sich einladen. Vom Zimmerfenster aus hatte er Aussicht auf die Kastanienallee. Dieser Eindruck wurde für ihn zum bleibenden Bild der Erinnerung an seine Anfänge. Darum beginnt und endet eines seiner ersten Gedichte mit dem Vers : »Erst jenseits der Kastanien ist die Welt«56. In der Tat war Paul nun im Begriff, sich für die Welt »jenseits der Kastanien« zu interessieren. »Von dort« wehte ihm, wie er es im Gedicht lyrisch ausdrückte, »ein Wind im Wolkenwagen«, also ein Ansturm der Freiheit, entgegen. Damit steigerte sich für ihn neben der Selbsterkenntnis auch die Begegnung mit der vielgestaltigen Außenwelt und ihrer Geschichte. Er nahm all das in sich auf und leitete so die allmähliche Verwirklichung seiner Identität ein. Ihm wurde bewußt, daß selbständiges Denken der einzige Weg zu freier Lebensgestaltung ist. Dieser entscheidende Schritt war unerläßlich für die weitere Entwicklung »jenseits der Kastanien«, besonders unter dem Aspekt seiner späteren Tätigkeit als freier Künstler.

Ein Beispiel für die erfolgte Wandlung sei angeführt. Zur selben Zeit, 1933, ließ Paul die Feier der religiösen Mündigkeit der Juden, der Bar Mizwa, über sich ergehen. Er wurde aber dadurch nicht etwa zum ›Sohn der Pflicht‹, der die religiösen Gebote einhält, sondern er nahm im Gegenteil ab diesem Zeitpunkt nicht mehr am religiösen Leben der jüdischen Gemeinde teil. Zweifellos war das seinerseits ein bewußter Schritt. Er lehnte die im orthodoxen Elternhaus geübte religiöse Praxis ab und verließ deshalb auch den zionistischen Jugendbund. Sein sozialpolitisches Engagement brachte ihn sogar dazu, mit anderen jüdischen Freunden 1934 einer kommunistischen, antifaschistischen Jugendgruppe beizutreten und in diesem Rahmen eine Zeitlang an der illegalen Zeitschrift Roter Schüler mitzuarbeiten. Als dann aber einer der älteren Anführer vorübergehend verhaftet wurde, stellten sie diese Aktion schnell wieder ein. Sie beschränkten sich in der Folgezeit bis kurz vor dem Abitur darauf, sich zum einen genau zu informieren über die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland, zum andern gemeinsam die wichtigsten Texte der sozialistischen Wortführer zu lesen, auch teilweise ins Rumänische zu übersetzen und sodann 1936 Gelder zur Unterstützung der spanischen Republikaner zu sammeln. Deren Kampfruf zur Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus, ›No pasarán‹ (›sie kommen nicht durch‹57), wurde für sie zum Erkennungszeichen und zum geflügelten Wort58. Alles in allem kann man Chalfen in jeder Hinsicht zustimmen, wenn er feststellte : »Paul war allmählich aus der Enge der Kindheit herausgewachsen und zeigte sich jetzt freier, aufgeschlossener und geselliger«59.

Anfang September 1934 brachte dem nun dreizehnjährigen Paul ein Besuch von Onkel David Teitler, der die Familie mit seiner auffallenden ›reichsdeutschen‹ Aussprache überraschte, erste Eindrücke vom staatlich organisierten ideologischen Antisemitismus im Dritten Reich. Schon damals erfuhr er also von der Bedrohung jüdischen Lebens durch den faschistischen Rassismus. Seine Berichte wirkten nachhaltig auf den Jungen ein. Er begann etwas zu ahnen von dem »Rauch […], der war schon von morgen«60. Vor dem Beginn des neuen Schuljahrs nahm jedoch der als Junggeselle lebende Onkel David den Neffen für einige Tage mit nach Bukarest. Es war Pauls erster Aufenthalt in einer Großstadt. Auch in dieser Hinsicht war er im Begriff, die bisherige Eingeschlossenheit hinter sich zu lassen. Gewiß nicht zufällig lenkte er 1945 seine ersten Schritte der Unabhängigkeit dorthin. Was der Onkel ihm über den Antisemitismus berichtet hatte, trug sicher mit dazu bei, daß Paul mit dem Schuljahr 1934/35, also seinem fünften Gymnasialjahr, das Gymnasium wechselte. Er hatte nun die gymnasiale Unterstufe hinter sich und damit den Abschluß des sogenannten ›Kleinen Bacalaureats‹ erreicht.

In der Zeit vor dem Schulwechsel bereitete Paul allein die Mathematik Probleme. In allen übrigen Fächern gehörte er zu den Klassenbesten. Die Schwierigkeiten mit der Mathematik verschafften ihm wenigstens eine Genugtuung. Er konnte den Vater davon überzeugen, den zusätzlichen Hebräischunterricht aufzugeben. Zum erfolgreichen Jahresabschluß der Unterstufe durfte Paul dann mit der Familie des Freundes Manuel Singer, dem er nach dem Ende der Schulzeit dann in Tours wiederbegegnete, zwei Wochen aufs Land fahren. Er genoß diesen Aufenthalt mit Wandern, Schwimmen, Spielen und anderem freundschaftlichen Umgang. Wohl nicht zuletzt auch unter diesen Eindrücken harmonischen Miteinanders bestätigte sich ihm die Notwendigkeit des Schulwechsels. Er reagierte damit auf die durch einige Lehrer und Mitschüler unerträglich gewordene antijüdische Stimmung an seiner bisherigen Schule. Schon der nun in Palästina lebenden Tante Minna hatte er im Januar 1934 geschrieben : »[…] was den Antisemitismus in unserer Schule betrifft, da könnte ich ein 300 Seiten starkes Buch darüber schreiben«61. Jetzt kehrte er dem unliebsamen Lyzeum (Liceul Ortodox de Băeţi) den Rücken. Für den Rest der Schulzeit besuchte er vier Jahre hindurch, 1934–1938, das Liceul Marele Voevod Michai, das frühere Ukrainische Staatsgymnasium, welches nun den Namen des königlichen Thronfolgers Michael trug. Dort bildeten die jüdischen Schüler die Mehrheit und sicherten damit zugleich den Einfluß fortdauernder altösterreichischer Kultur. Selbstverständlich war Rumänisch auch dort die Unterrichtssprache, doch nahm der Deutschunterricht ebenfalls einen gewichtigen Platz ein. Im literarischen Bereich reichte die Beschäftigung von Lessing und den Klassikern über die Romantiker bis zu Rilke. Von ihm her ergab sich auch Pauls Interesse am Werk Auguste Rodins. Überhaupt nahm Rilke in der Folgezeit für ihn, und damit folgte er seiner Mutter, einen Ehrenplatz ein. An Fremdsprachen kamen im Unterricht Französisch und Latein, im letzten Schuljahr dann auch noch Englisch dazu. Für eine solide Bildungschance war mithin gesorgt. Paul ergänzte das gute Angebot durch ausgedehnte Privatlektüre. Unter den Klassenkameraden galt er mit Abstand als der Belesenste. Allein der zeitweilige Mitschüler Immanuel Weißglas konnte da einigermaßen mithalten. Das Interesse der Freunde brachte Paul wohl auf den Gedanken, einen Lesezirkel zu veranstalten. Die politischen Themen waren dabei mehr für männliche Zuhörer, die literarischen mehr für weibliches Publikum gedacht. Denn mit der Pubertät und ihrer vibrierenden Erotik und Sexualität setzte bei ihm ein großes Interesse am weiblichen Geschlecht ein. Die ersten Freundinnen waren vor allem Edith Horowitz (die spätere Edith Silbermann) sowie Ruth Glasberg und Ilse Goldmann. Doch hatten diese Beziehungen, wie Emmerich betonte, »wohl fast alle gänzlich platonischen Charakter«62. Es handelte sich dabei offenkundig um die typische Problematik Heranwachsender, wobei in Celans Fall immer mitzudenken ist, daß in seinem weiteren Leben Frauen und Sexualität eine ganz wesentliche Rolle spielten. Was für Edith die erste, große Liebe war, gehörte für ihn zu einer ganzen Reihe von Beziehungen zu Mädchen, Zeichen natürlicher Liebeleien.

Die Jahre am Michaels-Gymnasium verliefen weithin ungetrübt, zumal die Familie 1935 in eine neue Behausung, eine Eigentumswohnung in der Masarykgasse 10, unweit vom Gymnasium, umziehen konnte. Sehr zu Recht gab Chalfen in seiner Darstellung der Jugendzeit Celans dem Zeitabschnitt der gymnasialen Oberstufe die Überschrift : »Es war eine Freiheit«63. Denn Paul fühlte sich nunmehr wirklich frei. Die Autoritätssituation innerhalb der Familie hatte nämlich eine gründliche Umwandlung erfahren. Der resignierende Vater unternahm keine weiteren Erziehungsversuche mehr, weil Paul sich jetzt durchweg widerspenstig zeigte. Er ging beispielsweise abends aus dem Haus, wie es ihm paßte. Eine nicht zu übersehende Entfremdung bestimmte ebenso das Verhältnis des Vaters zu Frau und Sohn. Was von der bisherigen familiären Beziehung allein blieb, war die enge Mutter-Sohn-Bindung. Die neue Sachlage wird unter anderem daran erkennbar, daß der Vater, wenn Paul Freunde empfing, sich in sein Büro zurückzog, während die Mutter sich eingehend mit den Besuchern unterhielt. Anteil nehmend, gab sie Paul auch ihr Urteil über seine Freunde und Freundinnen ab. Denn der Freundeskreis vergrößerte sich laufend. Paul war inzwischen zu einem von der Mehrzahl seiner Bekannten geschätzten, aufgeschlossenen und umgänglichen jungen Mann geworden. Von dieser Entwicklung her leuchtet auch sein wachsendes Engagement in sozialpolitischer Hinsicht als Mitglied der antifaschistischen Jugendgruppe ein. Zusammen mit den übrigen Mitgliedern verfolgte er genau die politischen Entwicklungen mit dem allenthalben und gerade auch in Rumänien, aber hauptsächlich im faschistischen Deutschland Hitlers, auftrumpfenden Antisemitismus. Daß der ausgesprochen kosmopolitisch ausgerichtete Paul dabei den anderen intellektuell überlegen war, zeigt die Aussage der Freundin Ruth Kaswan. Sie sagte :

Es war in den Jahren 1934–37, und die uns beherrschenden Ereignisse waren das Aufkommen Hitlers in Deutschland, der wachsende Antisemitismus in Rumänien und der Bürgerkrieg in Spanien […] Unsere politische Einstellung war romantisch-kommunistisch, doch nicht sehr tiefgehend. Und Pauls Einfluß auf uns war wohl sehr groß, obwohl er keinen Druck ausübte und nicht autoritär war. Er sagte uns nicht, was wir denken sollten, er wußte einfach viel mehr64.

Noch wichtiger war freilich für Paul die eingehende Beschäftigung mit der Literatur weit über das klassische Schulpensum hinaus. Wann immer er konnte, machte er sich ans Lesen. Nicht zuletzt interessierte ihn Shakespeare und die damals neuere französische Literatur, vor allem Verlaine, Rimbaud und Gide. Bei seinen literarischen Streifzügen stützte er sich hauptsächlich auf die Benutzung der reich ausgestatteten Bibliothek des Vaters der Freundin Edith, Dr. Karl Horowitz, der seine Tätigkeit als Deutschlehrer mit der des Bankbeamten vertauscht hatte, weil er nicht über die von ihm geliebte Literatur in rumänischer Sprache unterrichten wollte. Unter den vielen Entdeckungen, die Paul in dessen Bücherschränken machte, beglückten ihn besonders Nietzsches Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse, mehr noch der Brief des Lord Chandos von Hofmannsthal und die Erzählung Ein Landarzt von Kafka. Ohnehin hinterließ dieser Autor bei ihm einen besonders starken Eindruck. Kafka wurde für ihn sogar zum lebenslangen Begleiter. Zeitlich fallen diese bildenden Erfahrungen zusammen mit einer Beobachtung an Paul, welche die Freundin Ilse Goldmann scharfsichtig anstellte. Sie beschrieb ihren Eindruck folgendermaßen : »Er hatte in diesen Jahren eigentlich nur Sinn für das Außerordentliche, das sich in ihm vollzog«65. Sie hat damit feinfühlig erkannt, daß in Paul etwas erwacht war, das sein ganzes Leben bestimmen sollte : Er begann Gedichte zu schreiben. Den Freunden und in erster Linie den Freundinnen las er nicht mehr nur Verse Rilkes, Shakespeares, Hölderlins oder Trakls vor, sondern Beispiele eigener Produktion. Einigen von ihm verehrten Mädchen überreichte er sogar Abschriften eines ihnen jeweils zugedachten Gedichts. Nebenbei bemerkt, hatten seine Lesungen auch besonderen Erfolg aufgrund der Art seines Vortrags. Er orientierte sich dabei an der Rezitationskunst des Czernowitzer Schauspielers Jehuda Eren-Ehrenkranz, der gelegentlich jiddische und deutsche Texte vorzutragen pflegte66. Wie man sich Pauls genau modulierende, geradezu melodiös unterstreichende Art Gedichte vorzutragen vorzustellen hat, läßt sich unschwer nachweisen beim Hören der Aufnahme seiner Lesung der Todesfuge67. Damit stieß er bei den Schriftstellerkollegen der Gruppe 47 später auf weitgehende Ablehnung. Darauf wird im Zusammenhang der einzigen Tagung, an der Celan teilnahm, genauer einzugehen sein. Einzelne der Teilnehmer hatten offensichtlich keinerlei Gespür dafür, daß in der Bukowina, ganz am Rande der damals gerade noch deutschsprachigen Welt, ein wirklicher Dichter herangewachsen war, der eben in der Kulturtradition der k.-u.-k.-Monarchie groß geworden war.

Naturgemäß waren die dichterischen Anfänge Pauls noch sehr von der Tradition bestimmt. Aber unter die konventionellen Formen und Motive seines Czernowitzer Umfelds mischten sich bereits Töne, die aufhorchen lassen. Neben überkommenen Stimmungen, »elegisch, voller Trauer und Verzicht«68, finden sich auch Verse, in denen der dichtende Paul »die Nacht in sich« zum Ausdruck bringt. So etwa in den wohl 1943 entstandenen, extrem konventionell-gesuchten Versen unter dem Titel »Die Frühlingsschönen sind es nie, die Licht / umspielt«, die keiner sonderlichen Interpretation bedürfen, weil es darin von lyrischen Klischees in Wort, Bild, Ton, Tempus und Modus nur so wimmelt.

Die Frühlingsschönen sind es nie, die Licht

umspielt. Sie leben, daß sie Finsternis erküre.

Die hellen Herzen holt der Nebelwicht,

daß jedes vor ihm seinen Tanz vollführe.

Für Augenblicke frei von diesem Bann,

blicktest du bang in jenes blaue Auge.

Mit deiner Schwermut hängst du oft daran.

Verhehl nicht, daß ich zum Vergessen tauge.

So werde ich, von deinem Mund belehrt,

der schwarzen Nessel lichtersüß entbrennen.

Und weil dein Aug die Nacht in mir vermehrt,

wird Tod nur uns berauschen und uns trennen.69

Hierzu kann man mit den späteren Worten des Autors sagen : »Immer mehr, immer häufiger muß ich mir sagen, daß es auf die Veröffentlichung meiner Gedichte wohl weniger ankommt als darauf, neue zu schreiben«70.

Zweifellos greift der Dichter Paul Antschel in seinen Anfängen tief in das Bildregister der romantischen und der symbolistischen Bildungskonvention. Den meisten seiner frühen Gedichte merkt man den ›Rilke-Ton‹ oder Anklänge an Hofmannsthal und Trakl an. Wie bei allen Lyrikern, insbesondere bei den Bukowiner Dichtern, gehören Natur, Liebe und Tod zum durchgängigen Themenrepertoire. Im Unterschied zu den meisten anderen konfrontiert er uns allerdings bereits in den Anfängen nicht einfach mit einer Reihung beschreibender und mehr oder weniger ›poetisierender‹ Abbilder, sondern verfolgt – wie die großen Vorbilder – die klare Absicht, den Adressaten zu intensiv mitdenkendem Lesen oder Hören einzuladen, will sagen, einen mit den Mitteln der Sprache dargestellten wesentlichen konkreten Lebens- oder Denkzusammenhang möglichst genau mit zu vollziehen. Man kann das, mit Barbara Wiedemann, eine den anderen Autoren abgehende oder jedenfalls weniger ausgeprägte »Literaturhaltigkeit«71 nennen. Besser sollte man von der ästhetisch stimmigen Verinnerlichung bestimmter Lebensstrukturen im Sinne freier schöpferischer Umsetzung in lyrische Sprache, also von wirklicher Dichtkunst sprechen.

Was damit gemeint ist, erklärt sich am besten mit einem konkreten Beispiel. Gewählt sei dabei das lange unveröffentlicht gebliebene Gedicht Woher, das später mit der Überschrift Im Park versehen wurde. Hier der Wortlaut :

Im Park

Nacht. Und alles ist da :

der See, die Bäume, der Kahn ;

die Kreise im Wasser …

Weiß

schimmerts vorbei an der Weide :

ein Mädchen,

das eilt.

Der einzige Schwan kommt vorüber.

Wie, wenn ein zitternder Stern,

sich schälte aus seinem Feuer

und fiel’ in den See ?

In die Wasserrose ?

Ob das Rotkehlchen stürbe ? …72

Wir haben es mit einem typischen Jugendgedicht zu tun. Ersichtlich beruht es zu weiten Teilen auf genauer Kenntnis anderer dichterischer Gestaltungen desselben Themas. Rilke, Trakl und George haben sich ebenfalls mehrfach ›im Park‹ getummelt73. Besonders auffallend aber ist in den Versen dieses jungen Anfängers die Nähe zum Schlußgedicht der Fêtes galantes von Paul Verlaine mit den Eingangsversen : »Im alten Garten, vereinsamt im Eise, / fanden zwei Schatten gemeinsame Gleise« (»Dans le vieux parc solitaire et glacé / Deux formes ont tout à l’heure passé«). Verlaines Verse gehörten zu den Lieblingsgedichten des Schülers Antschel. Er hat sogar dieses Gedicht selbst ins Deutsche übersetzt. Von der Nacht-Stimmung geht für Paul Antschel alles weitere aus, wie für Paul Verlaine alles auf die Nacht zuläuft : »Es hört sie einzig die stumme, die Nacht« (»Et la nuit seule entendit leurs paroles«74). In beiden Gedichten evozieren die nächtlich verschatteten Elemente der Parkszenerie den Gedanken an den Tod. Doch nun zum Gedicht selbst75.

Die Anordnung des ersichtlich sprachlich genau überlegt durchgeformten Textes zeigt sogleich, daß es sich um ein unregelmäßig gegliedertes, reimloses Gedicht aus 13 ›Versen‹ in der Anordnung 3–4–1–4–1 handelt. Immerhin gibt die Aufteilung in ›Verse‹ (oder besser in Abschnitte) ein klares Ordnungsbild zu erkennen, das den syntaktischen Bau des Ganzen aufreißt und umakzentuiert. Bestimmte Worte und Wortgruppen bekommen dadurch ein besonderes Gewicht (z. B.: »weiß«, »ein Mädchen«, »das eilt«, »ob das Rotkehlchen stürbe«). In drei Fragen auslaufend, verliert der Text seinen zunächst gegebenen Abbildcharakter und geht über in die Beschreibung einer verunsichernden Bewegung, die wiederum zur konjunktivisch fragenden Gedankenbewegung wird (»Park«, »Nacht«, »See«, »Bäume«, »Kahn«, »Weide«, »Mädchen«, »Schwan«, »Stern«, »Feuer«, »Wasserrose«, gleich Seerose, »Rotkehlchen« > »Kreise im Wasser«, »Weiß / schimmerts vorbei an der Weide«, »ein Mädchen, / das eilt«, »der einzige Schwan kommt vorüber«, »Wie, wenn ein zitternder Stern, / sich schälte aus seinem Feuer, / und fiel’ in den See ?«). Selbst die angedeutete erotische Erscheinung des vorbeieilenden Mädchens (»weiß«, »Mädchen«, »Schwan«, »Wasserrose«) bleibt ihrer nur kurzen Dauer wegen zunächst unscharf. Ganz eindeutig aber beunruhigt dann den Leser erst der isolierte Schlußvers mit dem Bild des möglichen Sterbens eines »Rotkehlchens«. Weiterhelfen könnte der ursprüngliche Titel des Gedichts : Woher. Das dann wieder fallengelassene Adverb stellte die Frage nach Ursache und Wirkung des im Gedicht beschriebenen Vorgangs. Dadurch