Hans Joachim Schädlich - Theo Buck - E-Book

Hans Joachim Schädlich E-Book

Theo Buck

0,0

Beschreibung

Hans Joachim Schädlich, 1935 im Vogtland geboren, arbeitete nach seiner Promotion in Germanistik als Sprachwissenschaftler für die Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Dort verfasste er seit dem Ende der 1960er Jahre seine ersten literarischen Arbeiten. Doch diese regimekritischen Werke wurden in der DDR nicht veröffentlicht, vielmehr ließ ihn das Ministerium für Staatssicherheit bespitzeln. 1976 wurde Schädlich für die Regierenden zum Staatsfeind, nachdem er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. 1977 reiste er mit seiner Familie aus der DDR in den Westen aus. Sein erster Erzählband "Versuchte Nähe" war kurz zuvor in der Bundesrepublik erschienen und hatte große Beachtung gefunden. In der Folge avancierte Schädlich mit seiner Prosa zu einem der bedeutendsten Autoren in der zeitgenössischen deutschen Literatur. Der Germanist Theo Buck legt hier die erste Biografie und Werkanalyse des international renommierten und mit zahlreichen Literaturpreisen und Ehrungen ausgezeichneten Schriftstellers Hans Joachim Schädlich vor.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 395

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Preußische Seehandlung, Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

 

Umschlagabbildung: Hans Joachim Schädlich. Portrait von Dieter Eikelpoth (2012)

 

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar WienUrsulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Rainer Borsdorf, IlmenauUmschlaggestaltung: Guido Klütsch, KölnGesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln

ISBN 978-3-412-22449-3eISBN 978-3-412-21901-7

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics, Griesheim

Für meinen Sohn Bertolt,ohne dessen anhaltende Aufforderung es dieses Buch nicht gäbe.

„Das Vergnügen am Erzählen, an der Schreibarbeit ist –ich spreche von mir –, abgesehen von der Neigung zudiesem oder jenem Gegenstand, zur Hälfte oder mehr dasVergnügen an der Form, und das bedeutet das Vergnügenan der Formung.“

Inhalt

Vorwort

Der Angelpunkt: Wegfahrt aus der DDR, Wegfahrt aus einer Hälfte des Lebens

I   Leben unter „diktierten Verhältnissen“ im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR

1935 geboren im vogtländischen Reichenbach

Schuljahre in Reichenbach, Bad Saarow und Templin

Studium in Berlin und Leipzig

Arbeit an der Akademie der Wissenschaften

Schreiben oder „Der andere Blick“

Eine erste Stilprobe: „Versammlung“

Die Probe auf’s Exempel: DDR-Alltag, gesehen mit dem „anderen Blick“. Zur ersten Erzählsammlung „Versuchte Nähe“

„Fahndungsobjekt Schriftsteller“

Von der Buchveröffentlichung im Westen zur Ausreise aus der DDR

II Die Entfaltung eines Schriftstellers in der Freiheit

Das andere Leben im Westen: Krise und Neubeginn

Schreiben mit verlagertem Interesse: „Irgend etwas irgendwie“, „Der Sprachabschneider“ und „Mechanik“

Ein „halber Roman“: „Tallhover“

„Ostwestberlin“

Freies Leben, freies Schreiben

Reaktion auf das Ende der DDR

Ein ganzer Roman: „Schott“

Das Jahr 1992 und die Folgen

„Mal hören, was noch kommt. Jetzt, wo alles zu spät is“

Tallhover und Hoftaller oder Das Ende einer Freundschaft

„Der Kuckuck und die Nachtigall“

„Trivialroman“

„Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop“

Eingedenkende Erinnerung an Hans Sahl, den Unabhängigen

„Anders“

Stefan Jerzy Zweig verklagt Schädlich und den Rowohlt Verlag

„Der andere Blick. Aufsätze, Reden, Gespräche“

„Vorbei. Drei Erzählungen“

Zum Ende des Mannes, der für die Stasi ‚Schäfer‘ hieß

„Kokoschkins Reise“

„Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.“

Beiläufige Bildbetrachtung ‚unter vier Augen‘ oder Schlaglicht auf die Werkstatt des Sprachbildners

Kurzer Exkurs über den poetischen Mehrwert

Die Preise des Schriftstellers

Internationales Echo

Schädlich und Berlin

Fazit

Statt eines Nachworts

Anmerkungen

Abbildungen

Danksagung

Siglenverzeichnis

Bibliographie

Abbildungsnachweise

Personenregister

Vorwort

Biographien von Schriftstellern sind eine zweischneidige Sache. Sie nähren nämlich die zweifelhafte Auffassung, man könne einen Autor besser verstehen, wenn man möglichst genau über dessen Lebensumstände Bescheid weiß. Reales Leben und fiktionales Werk sind jedoch durchaus verschieden voneinander. Biographien können keine Leseanleitung vermitteln. Sie können aber durch die zusammengestellten Informationen über gewisse Lebensumstände den Zugang zur poetischen Reflexion eines Autors erleichtern. Freilich gilt hierbei allemal der Rat des weltklugen Verfassers von „Lady Chatterley’s Lover“, David Herbert Lawrence: „Never trust the teller, trust the tale“. Der literarische Text ist das, worauf es für das Lesepublikum ankommt. Andererseits ist es wiederum von den Adressaten der Bücher entschieden zu viel verlangt, weithin auf biographische Informationen zu verzichten, weil zwischen Werk und Leben unleugbar Zusammenhänge bestehen, sei es die Beeinflussung der Texte durch bestimmte persönliche Erlebnisse und Vorfälle oder durch allgemeine historische Erfahrungen im Leben eines Autors. Mögen sie noch so stark transformiert in das Werk überführt werden, ist ihre Einwirkung doch herauszulesen. Unmöglich kann die literarische Leistung völlig von der geistigen und psychosozialen Entwicklung des Schreibenden getrennt werden. Manche Lebensereignisse beeinflussen eben einen bestimmten Text oder lösen ihn sogar aus. Allein schon deswegen ist das Interesse an der Biographie von Künstlern verständlich. Es kommt nur darauf an, Leben und Werk in die richtige Relation zueinander zu bringen. Das gilt ganz besonders für einen Autor, dessen Bücher zu einem nicht geringen Teil von Erinnerung und Gedächtnis leben.

Bezeichnenderweise inspirieren Dokumente und Fakten Hans Joachim Schädlichs Schreiben in besonderem Maße. Nur selten allerdings geschieht das in direkter Übernahme. Vielmehr macht er von ihnen, ganz „nach seiner Vorstellung“1, fiktionalisierenden, in diesem Fall literarisierenden Gebrauch. Bei ihm haben wir den merkwürdigen [<<9||10>>] Sachverhalt zu vermerken, daß im ersten Teil seines Lebens die äußeren Umstände eine größere Rolle spielen, während in der zweiten Phase, nach dem unumgänglichen Weggang aus der DDR, die Bedeutung der persönlichen Lebenszusammenhänge gegenüber der Werkentwicklung sich zwar zunächst zuspitzte, dann jedoch immer mehr zurücktrat. Selbstverständlich muß der Biograph das bei seiner Darstellung berücksichtigen.

Deshalb unterscheiden sich beide Teile des Buches deutlich voneinander. Die Erklärung für diesen Unterschied ist einfach. Schädlichs Leben und Werk kann in den Anfängen als eine individuelle Gegenparabel zum Totalitarismus des Dritten Reiches und der DDR gesehen werden. Noch als Kind und dann während der ganzen Jugendzeit sowie danach in Studium und Beruf, durchlief er die auf übelste Weise ‚lehrreichen‘ Schulen beider Diktaturen. Was er dabei für sein weiteres Leben gelernt hat, ist zwei kurzen Texten unschwer zu entnehmen. Man braucht nur die knapp gefaßten Erzählungen „Fritz“ (1985) und „Unterricht I, II“ (1994) zu lesen, um konkret nachvollziehen zu können, welche Folgerungen er aus den Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Kommunismus gezogen hat2.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, handeln Schädlichs Texte nicht in eigener, direkt auf sein Leben bezogener Sache. Allermeist gehen sie auf Erinnerungen und Eindrücke des allgemeinen Lebensalltags in Gegenwart und Geschichte zurück. Für die Anfänge waren das zum Teil noch Erlebnisse aus den ersten Schuljahren der Nazizeit wie etwa mit dem prügelnden Lehrer aus der Hans-Schemm-Schule, danach dann vor allem die vielfältigen Facetten der kommunistischen Stasi-Realität in der DDR. Aber auch da taucht schon mit Nikodemus Frischlin, Paul Scarron, Heinrich Heine und Wilhelm II. der weitgespannte Horizont historischer Beispiele auf, mit denen der Autor uns zeigt, daß die Gesellschaft leider ihre Fehler stets ungebrochen weiterträgt. Hinter den unter dem Titel „Versuchte Nähe“ gesammelten Erzählungen steckt insofern eine Art verweigerter Biographie, weil das individuelle Leben unter dem Druck der Verhältnisse in ideologische Schablonen gepreßt wurde, denen sich zu entziehen der Autor von Beginn an mit Erfolg bemüht war. Ablauf und Gestaltung der [<<10||11>>] individuellen Existenz wurden deshalb für ihn umso wichtiger. Aus diesem Grund ist die Biographie jener Jahre unabdingbare Voraussetzung der Werkdeutung. Schädlich hatte sich allerhand vorgenommen für sein Leben als Schreibender, und das machte ihn stark gegenüber den ideologisch starren Machthabern der staatlichen Gewalt in der DDR. Ohnehin galt und gilt daneben immer auch seine eindeutige Ablehnung der Nazi-Diktatur und ebenso den Umtrieben von Neonazis3. In der Demokratie sieht Schädlich die „einzige vernünftige Alternative zu jeglicher Diktatur“4. Diese Einstellung ist das von ihm mühsam erarbeitete Resultat langer Auseinandersetzungen mit den Zwängen eines Unrechtsstaates.

Nach dem Eintritt in die demokratische Freiheit der westlichen Welt änderten sich dann für Schädlich die Voraussetzungen des Schreibens von Grund auf. Mit einem Mal stand ihm gleichsam die ganze Weite der Welt offen. Er konnte jetzt ständig versuchen, sich – und damit uns – die volle Wirklichkeit zu ergründen. Nach anfänglichen, großen Schwierigkeiten erlaubte ihm die allmählich unter Mühen gewonnene Souveränität den freien Umgang mit Menschen und ihrer Geschichte. Die unbegrenzte Offenheit des Schreibens und das ästhetische Engagement des Schreibenden brachten es mit sich, daß nun die Biographie weithin im Werk aufgehoben wurde. Dem entsprechend spielen Lebensdokumente, abgesehen von wirklichen Schicksalsschlägen, nur noch eine geringere Rolle. Die damit verbundene Tendenz zur Werkbiographie hängt eng zusammen mit der ausgeprägten äußeren Zurückgezogenheit des die Welt vom Rand her skeptisch beobachtenden Chronisten, der das ambivalente Spiel des Lebens durchschaut und ganz der Literarisierung seiner Erfahrungen lebt.

Wer nach einer durchgängigen Linie in Schädlichs Leben sucht, sei auf einen Satz verwiesen, den er 1999 in das Gästebuch der befreundeten Sarah Kirsch eingetragen hat. Er lautet schlicht und einfach: „Die Sanftheit ist ein poetisches Mittel der Subversion“. Darüber längere Zeit nachzudenken, sei allen Lesern gleich zu Beginn mit Nachdruck empfohlen. Wir können nämlich vom Verfasser dieser Maxime lernen, unserer zwiespältigen Wirklichkeit subversiv zu begegnen [<<11||12>>] und somit unser Leben mit dem nötigem kritischen Abstand ‚sanfter‘, will sagen mit der nötigen Sensibilität, aber gleichmütig zu bestreiten.

[<<12||13>>]

Der Angelpunkt: Wegfahrt aus der DDR, Wegfahrt aus einer Hälfte des Lebens

Am 10. Dezember 1977, einem Samstag, verließ um die Mittagszeit bei trübem Nieselwetter ein schwer beladenes, altersschwaches Auto, Typ Lada, den Teil Berlins, der sich damals ‚Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik‘ nannte. Die ungewöhnliche Fahrt ging in nordwestlicher Richtung. Den Reisenden stand nichts Geringeres bevor als ein Wechsel der Staatsangehörigkeit in Gestalt der definitiven Ausreise aus der DDR. Im Auto saßen ein Ehepaar und die beiden damals noch kleinen Töchter. Es gab dabei eine klare, staatlich verfügte Zielvorgabe: Um Mitternacht mußten sie die Grenze der DDR –„Grenzübergang mit PKW ist Horst, Bezirk Schwerin“ – hinter sich haben. Rückkehr ausgeschlossen. Im Westen sollte es dann über Hamburg weitergehen nach Wewelsfleth in Schleswig-Holstein zum Haus von Günter Grass. Alles in allem waren nur etwa 350 Kilometer zu bewältigen. Aber erst lange nach Mitternacht kamen die Fahrenden mit einem Taxi übermüdet dort an, weil das Auto in Hamburg endgültig streikte5.

Bei den verspäteten Ankömmlingen handelte es sich um den Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, seine Frau Krista Maria, die zwölfjährige Susanne und die vierjährige Anna. Mit dem Weggang aus der bisherigen Heimat veränderten sich die gesamten Lebensumstände der vier. Was Zuhause war, zerfloß mit einem Schlag in ein Nichts. Denn es war keine gewollte Auswanderung, sondern unumgängliche Flucht. Mit Recht betonte der Autor zur Auswirkung dieser für die ganze Familie bestimmenden Sachlage: „Der Wechsel aus der ‚östlichen‘ Welt in die ‚westliche‘ Welt ist ein Wechsel in die Fremde“6. Zwangsläufig wurde so die Ausreise aus der Diktatur in eine demokratische Gesellschaft zu einem radikalen Wendepunkt im Leben der ‚eingereisten Ausreisenden‘. Ab diesem Zeitpunkt gab es für sie nur noch ein „Davor“ und ein „Danach“, wie Susanne Schädlich im Rückblick zutreffend schrieb7. Ihrer Schwester Anna hat sich als „erzählte Erinnerung“ eingeprägt: „Meine Eltern hatten der Kindergärtnerin gesagt, daß die Familie in den Westen gehe. ‚Das arme Kind‘, soll sie gesagt [<<13||14>>] haben“. Die linientreue Erzieherin erlag mit dieser Bemerkung zwar einer ideologischen Täuschung, hatte aber insofern recht, als Anna und die übrige Familie tatsächlich „unvorbereitet in die Fremde gestoßen“ wurden8. Krasser hätte der Einschnitt für diejenigen, die keine andere Wahl hatten, nicht sein können.

Wie kam es dazu? Der Grund ist leicht zu benennen: Seit mehreren Jahren war der Schriftsteller Schädlich für die DDR-Oberen zum „Fahndungsobjekt“ geworden. Nach dem Studium hatte er 1960 seine Promotion mit einer Dissertation über „Die Phonologie des Ostvogtländischen“ abgeschlossen und mehr als ein Jahrzehnt eine unauffällige Tätigkeit im Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Akademie der Wissenschaften in den Bereichen von Dialektologie, Phonologie, Grammatik und Orthographie übernommen. Im Rahmen der von der Parteidiktatur geschaffenen sozialpolitischen Befangenheitslage empfand er diese Tätigkeit als „eine Art Refugium“9. Nebenher arbeitete er als freier Übersetzer. Ab 1969 trieb den damals 34-jährigen seine engagierte mitbürgerliche „Beobachterposition“ dazu, selbst über die Erfahrungen im gesellschaftlichen Umfeld zu schreiben. Antrieb für ihn war, wie er erläuterte, „etwas im Schreiben erkennen“ und hierdurch „etwas erkennbar machen“10. Neben den Erfahrungen des Alltags in der DDR kamen ihm dabei seine historischen und linguistischen Kenntnisse zustatten. Nacheinander entstand so eine ganze Reihe kurzer Prosatexte. Sie kreisten, oft in Form historischer Parabeln, um aktuelle Eindrücke der DDR-Wirklichkeit. Den Anstoß dazu gab von Anfang an ein für ihn als Autor charakteristisches Interesse, „Dinge, die uns gewissermaßen vertraut erscheinen, durch die Suche von Worten oder Konstruktionen fremder zu machen, als sie uns erscheinen, nämlich so fremd, wie sie in Wirklichkeit sind, obgleich sie vertraut erscheinen“11. Solch hintergründiger Blick war den Machthabern, seiner entlarvenden Wirkung wegen, nicht genehm. Darum wurden die vorgelegten Texte von den Verlagen lange hingehalten und am Ende immer abgelehnt. Die Publikationsversuche des Autors blieben allesamt vergeblich. Jedoch geriet Schädlich dadurch unversehens ins Netz des Staatssicherheitsdienstes. Da er außerdem seit 1974 an den von Günter Grass und Bernd Jentzsch angeregten privaten Zusammenkünften [<<14||15>>] von Schriftstellern aus Ost und West teilnahm, bei denen unveröffentlichte Texte vorgelesen und diskutiert wurden, systematisierte sich die staatliche Überwachung. Schädlich wurde von der ‚Stasi‘ zum ‚operativen Vorgang‘ erklärt, zum „OV Schädling“. Die Wahl gerade dieses Kennworts sagt alles über diejenigen aus, die es gebrauchten. Weil der Schriftsteller dann im November 1976 auch noch zu den Unterzeichnern des Protestbriefs gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns gehörte, galt er fortan als „Staatsfeind“. Zu den ‚politisch operativen Maßnahmen‘, die gegen ihn eingeleitet wurden, gehörte die sofortige Entlassung aus der Akademie sowie die Beendigung der Übersetzungsaufträge. Im Frühjahr 1977 entschloß er sich deshalb, sein von den DDR-Verlagen abgelehntes Manuskript des Erzählbands „Versuchte Nähe“ in den Westen schmuggeln zu lassen. Der Rowohlt-Verlag erklärte sich bereit, das Buch zu veröffentlichen, was dann auch umgehend geschah.

Seit dem Erscheinen des Buches im August 1977 machten deswegen das ‚Büro für Urheberrechte der DDR‘ und die leitenden Herren des Schriftstellerverbands dem Autor zum Vorwurf, seine Texte unerlaubt im Westen publiziert zu haben. Das sei „Landesverrat“ und „staatsfeindliche Hetze“12. Die Schikanen hatten schon nach der Unterschrift auf der Biermann-Petition eingesetzt. Seiner Frau wurde nahegelegt die Scheidung einzureichen, wenn sie ihr Promotionsprojekt weiterverfolgen wolle. Ganz ohne Einkünfte, versuchte Schädlich, als Chauffeur oder Taxifahrer eine Arbeit zu finden. Doch wurde das mit dem Hinweis auf seine „zu hohe Qualifikation“ abgelehnt13. In dieser haltlosen Situation blieb ihm, jeder legalen Verdienstmöglichkeit beraubt, allein ein Ausweg: die Beantragung der Ausreise. Er hielt dazu nüchtern fest: „Die vollständige politische und gesellschaftliche Isolation, die mit der Androhung einer Gefängnisstrafe verbunden war, veranlaßte mich, die DDR zu verlassen“14. Der Ausreiseantrag vom 4. September 1977 wurde am 29. September von der ‚Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Köpenick‘ zunächst einmal abgelehnt. Dank verschiedener Interventionen aus dem Westen, nicht zuletzt wegen des dortigen Bucherfolgs und der außergewöhnlichen Resonanz in den Medien, wurde schließlich am 2. Dezember 1977 dem ‚Ersuchen [<<15||16>>] auf Übersiedlung‘ in die Bundesrepublik Deutschland doch stattgegeben. Offenkundig fürchteten die Verantwortlichen im Ministerium für Staatssicherheit und im Politbüro das Presseecho im Westen, das ein Strafprozeß und die mit Sicherheit zu erwartende anschließende Gefängnishaft ausgelöst hätten.

Der Staatsbetrieb ‚VEB Deutrans‘ wurde mit dem Umzug beauftragt. Drei Tage später mußten Listen des gesamten Umzugsguts, einschließlich der mitzunehmenden Bücher, vorgelegt werden, ebenso eine Schuldenfreiheitserklärung der Sparkasse, Lebensläufe, Urkunden und Paßbilder15. Absurde Schikanen. Die Ausreise hatte am 10. Dezember bis 24 Uhr zu erfolgen. Die Genehmigung war mit der Auflage verbunden, die DDR nicht wieder zu betreten. Damit hatte der 42-jährige Schädlich sich abzufinden. Er mußte sich auf ein Leben im Westen einstellen und zog darum die Konsequenz: „Ich muß jetzt für mich versuchen, zur Arbeit zurückzufinden. Das setzt die Kenntnis der hiesigen Umstände und Verhältnisse voraus. Diese Kenntnis muß ich erwerben“16. Freilich gestaltete sich der Prozeß der Eingewöhnung alles andere als einfach. Galt es doch, in einen völlig neuen Lebenszusammenhang hineinzufinden.

So endete die erste Lebenshälfte des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich. Denn die Ausfahrt aus der DDR bedeutete eine Ausfahrt aus dem Gewohnten. Vom Abstand des Jahres 1989 her merkte Schädlich zur Eingewöhnung in den Westen an: „Ich habe Jahre gebraucht, um mich hier zurechtzufinden – in der Sache, mit den Leuten. Mit diesem ganzen Literaturbetrieb, mit der Möglichkeit, von einer Arbeit zu leben, die ich zuvor als Lieblingsbeschäftigung ausgeübt hatte. Ich hab bestimmt vier, fünf Jahre dazu gebraucht, um mich so zurechtzufinden, daß ich sagen kann: es geht jetzt. … Als ich dann die Fremdheit hier überwunden hatte, mich auch zurechtfand, wurde mir immer klarer, daß das eigentlich die große oder letzte Chance meines Lebens war“17. [<<16||17>>]

I   Leben unter „diktierten Verhältnissen“ im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR

„Jemand wie ich, der zeit seines Lebens unter streng diktierten Verhältnissen gelebt hatte“

 

1935 geboren im vogtländischen Reichenbach

Am 8. Oktober 1935, einem Dienstag, wurde Hans Joachim Schädlich in Reichenbach, der kleinen Kreisstadt im Südwesten von Sachsen an der Handelsstraße von Leipzig nach Dresden, geboren. Mitten im Nordteil der vogtländischen Kuppenregion, unweit der Göltzsch gelegen, wurde der Ort durch die von dort stammende Schauspielerin und Reformatorin des deutschen Theaters, Friederike Caroline Neuber (die ‚Neuberin‘) und durch seine Tuchmacherei sowie später durch die Metallindustrie bekannt. Ganz in der Nähe dieses Städtchens, im nur sechs Kilometer entfernten Oberheinsdorf, erlebte Schädlich die ersten fünf Jahre seiner Kindheit. Beide Orte waren durch eine Schmalspurbahn, die sogenannte Rollbockbahn (‚de Rollbock‘), miteinander verbunden, die mit ihren zahlreichen Fabrikanschlüssen für die industrielle Aktivität der Gegend zeugte18. Der Vater, Heinrich Schädlich (1907–1943), hatte seine Anfänge als Kaufmann seit dem siebzehnten Lebensjahr im elterlichen Drogeriegeschäft in Schöneck, dem hochgelegenen ‚Balkon des Vogtlands‘, gemacht. Als sein Vater im Frühjahr 1929 ein zweites Drogeriegeschäft am Ort eröffnete, übernahm der junge Mann dort die Leitung. Anfang 1930 lernte er Johanna Reichenbach, die künftige Mutter Schädlichs (1911–2000) kennen. Beide verliebten sich ineinander und wohnten nach der Heirat am 26. April 1931 zunächst in Schöneck. Dort wurde am 24. September der erste Sohn, Karlheinz, geboren. Mitte 1932 zog die junge Familie um nach Oberheinsdorf, weil der Vater in die Handelsfirma seines [<<17||18>>] Schwiegervaters, des erfolgreichen Wollkaufmanns Paul Reichenbach, Großvater Schädlichs mütterlicherseits, eintrat. 1933 wurde der zweite Sohn, Dieter, geboren. Im folgenden Jahr konnte der Vater in Oberheinsdorf ein eigenes, zweistöckiges Haus bauen lassen, das er mit seiner Familie bis 1940 bewohnte. 1935 wurde als dritter Sohn Hans Joachim Schädlich geboren. Ihm folgte 1937 die einzige Tochter Hannelore. Im selben Jahr machte sich der Vater als Wollhändler selbständig, „er hat Rohwolle aufgekauft, waschen lassen und an Spinnereien verkauft“19. Für seinen Erfolg spricht die Tatsache, daß er 1940 mit seiner Familie nach Reichenbach in eine geräumige „Villa mit Zwiebeltürmen, weitläufigem Balkon und Terrasse und Garten mit Brunnen“20umzog. Das als Brunnen bezeichnete Gebilde war in Wirklichkeit ein mehrere Meter breiter, flacher Springbrunnen, der den Kindern als willkommenes Plantschbecken diente. Das große Haus in der Heinsdorfer Straße 36 wurde verständlicherweise zum ungetrübten Rahmen von Schädlichs Kindheitstagen mit den beiden älteren Brüdern und der jüngeren Schwester. Es war klar, daß die beiden „Kleinen“ sich enger zusammenschlossen, um gegenüber den beiden „Großen“ bestehen zu können.

Schädlichs Erinnerung nach war der Vater „ein sanftmütiger und gutherziger Mensch“21. Der hatte, wie man annehmen kann, das verständliche Bedürfnis, sich einen Platz in der örtlichen Gesellschaft zu schaffen. 1923 trat er in Schöneck in den sogenannten ‚Völkischen Block‘ ein, eine der rivalisierenden rechtsgerichteten Gruppierungen, die sich nach dem vorübergehenden Verbot der NSDAP bildeten. Noch in Schöneck gründete er die lokale ‚Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumverein‘22. Diese verbreitete Organisation der Einzelhändler und des gewerblichen Mittelstands geriet durch ihre Ablehnung der gewerkschaftlichen Konsumgenossenschaften fast zwangsläufig in die ideologische Nähe zum aufkommenden Nationalsozialismus. Ende 1931 trat Heinrich Schädlich in die Partei Hitlers ein und wurde im Februar 1932 als Mitglied bestätigt. In Oberheinsdorf brachte er es schnell vom Stützpunktleiter zum Ortsgruppenleiter. Sein gutgläubiges Engagement wurde wohl gestärkt durch den Drang, das ‚rassisch zweifelhafte‘ Erscheinungsbild seiner schwarzgelockten [<<18||19>>] Haare mit Hilfe von Wasser durch Glattkämmen zu korrigieren, weil er immer wieder für einen Juden gehalten wurde23. Als er 1942 merkte, wie sehr er sich getäuscht hatte („Ich hab meine besten Jahre für diese Verbrecher geopfert“24), war es zu spät. Die Vermutung drängt sich auf: „er ist sozusagen in den Tod geflüchtet“25. Er starb 1943 an Herztod. Sein Jüngster war damals noch nicht einmal acht Jahre alt und erst seit einem guten Jahr eingeschult. Bereits als Vier- oder Fünfjähriger hatte er freilich, weil er sehr an seinen beiden älteren Brüdern hing, mit Erlaubnis des Lehrers in der Dorfschule von Oberheinsdorf, einer sogenannten Einklassenschule, „als Mitläufer unter der Bank“ am Unterricht teilnehmen dürfen26.

Man muß sich in diesem Zusammenhang bewußt machen, was es bedeutete, im Jahr 1935 in Deutschland geboren zu werden. Das Land war innerhalb kurzer Zeit radikal umgekrempelt worden. Eine seit 1930 durch die sogenannten ‚Notstandsgesetze‘ rasant zerfallende ‚demokratische Ordnung‘ verwandelte sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 im Eiltempo in ein System totalitärer Herrschaft der NSDAP. Neunzehn Monate genügten, um den ohnehin schwach ausgeprägten demokratischen Humanismus der Weimarer Republik gänzlich wegzufegen. Was als ‚nationale Erhebung‘ propagiert wurde, war nichts anderes als die brutale Gleichschaltung zur Durchsetzung des Führerstaats auf der ideologischen Grundlage von deutschem Sendungsbewußtsein sowie primitivem Rassenantisemitismus und Sozialdarwinismus. Den antidemokratisch gesinnten Rechtsparteien und weiten Teilen des konservativ-bürgerlichen Lagers kam die verkündete ‚nationale Neubesinnung‘ nicht ungelegen. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit trug im Verein mit populären ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Maßnahmen schnell dazu bei, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich gerne zu Volksgenossen machen ließ. Mögliche Hindernisse wurden rigoros beseitigt. Der wohlinszenierte Reichstagsbrand erlaubte auf der Grundlage des sogenannten ‚Ermächtigungsgesetzes‘ die Ausschaltung der anderen Parteien, der Gewerkschaften und damit das Ende des Parlamentarismus sowie die Isolierung politischer Gegner in Arbeitslagern. Die Niederschlagung des vermeintlichen ‚Röhmputsches‘ diente [<<19||20>>] der gezielten Ermordung Andersdenkender bei stillschweigender Beseitigung des demokratischen Rechtssystems. Als dann der Tod Hindenburgs am 2. August 1934 Hitler zum Staatsoberhaupt und zum Oberbefehlshaber der Reichswehr machte, war der Gleichschaltungsprozeß abgeschlossen, der nationalsozialistische Einheitsstaat hergestellt. Unter dem herrschenden Meinungsdruck durch Propaganda, Zensur und Sprachregelung gab es keinen Raum mehr für offenen Widerstand. Der Nährboden für die alsbald herrschende „Führerhysterie“ (Eugen Kogon) war geschaffen, die Unterwerfung des Gewissens eingeleitet. Am 1. April 1935 konnte mit den ‚Nürnberger Gesetzen‘ der offizielle Judenboykott verkündet werden. Die Nazi-Diktatur zeigte so ungeniert ihre verbrecherische Kehrseite und hatte damit Erfolg. Den Bürgern war die geistige und sittliche Selbstbestimmung genommen. Wie im übrigen Deutschland erfaßte die Gleichschaltung auch die Stadt Reichenbach im Vogtland. Nacheinander wurden, wie vielerorts, Adolf Hitler und der ‚Reichsstatthalter in Sachsen‘, Martin Mutschmann, eilfertig zu Ehrenbürgern erklärt. Unvermerkt hatte das deutsche Volk den ‚großdeutschen‘ Marsch in den Zweiten Weltkrieg und damit in den Untergang angetreten. Unter solchen Sternen geboren zu werden, kann schwerlich als Chance begriffen werden.

All das konnte der kleine Junge, Jochen genannt, selbstverständlich nicht realisieren. Er war am Ende des ungeheuren deutschen Selbstvernichtungsprozesses durch die Nazi-Diktatur gerade etwas mehr als neun Jahre alt. Rückblickend sieht jeder einigermaßen vernünftig Denkende dieser Generation jene Jahre kritisch ablehnend. Schädlich jedenfalls hat das ungeheure Maß an Verbrechen und an Lebensverlust, wie es vom Dritten Reich verschuldet worden ist, gründlich durchschaut. Er zog auch die einzig richtige Folgerung daraus: „Für Gewalt der Demokratie gegen die Gewalt der Nazis“27. In den Kindertagen lebte er indes gleichsam im Stande der Unschuld. Das änderte sich erst durch den frühen Tod des Vaters („Das habe ich nicht verstanden. Aber ich mußte es sehen“28). Hinzu kam das weitere einschneidende Erlebnis von Tod und Untergang, als am 21. März 1945 bei einem amerikanischen Bombenangriff viele Reichenbacher ums Leben kamen [<<20||21>>] und ein Teil der Stadt völlig zerstört wurde. Wirklich erfahren hat er jedoch vom ganzen Ausmaß der Verbrechen des Dritten Reiches erst 1946/47, also „mit elf oder zwölf Jahren“ durch „die Radioberichte von den Nürnberger Prozessen“. Da erklärten ihm die älteren Brüder die Zusammenhänge der braunen Diktatur, „… und da hab’ ich zum ersten Mal so gehört, was da eigentlich passiert ist bei den Nazis“29.

Doch zurück nach Reichenbach mit der in der nahen Umgebung im 12. Jahrhundert errichteten Burg Mylau, der Göltzschtalbrücke und der reizvollen Hügellandschaft zwischen Plauen und Zwickau. Dort lebte die Familie Schädlich seit 1940 in der „hochherrschaftlichen“ Villa mit „Bediensteten, dem Heizer und Gärtner, … dem Kindermädchen Ruth und dem Mädchen Hanna, das … für die Wäsche zuständig war und was sonst anfiel“30. Der vier Jahre ältere Bruder Karlheinz brachte dem jüngeren bei, wie man einen Schneemann baut, einen Drachen steigen läßt, wie man schwimmen und rechnen lernt, ebenso daß man sich von der Stelle bewegen muß, um weiterzukommen31. Er hatte ihm die Erfahrungen von vier Schuljahren voraus. Schädlichs Einschulung erfolgte im Herbst 1942 in der damaligen ‚Hans-Schemm-Schule‘32, der nach dem Krieg wieder Altstadtschule genannten Grundschule „neben der Kirche in der Unterstadt“33. Aus dieser nur kurzen Phase haben sich ihm hauptsächlich drei Dinge eingeprägt: die vom Lehrer praktizierte Prügelstrafe, dessen unmenschlicher Umgang mit einem körperlich und geistig behinderten Mitschüler sowie das Aufspringen der Schüler beim Eintreten des Lehrers und der morgendliche, zackig vorgebrachte Hitlergruß („Heil Hitler!“ > „Heitler!“)34. Schädlich hat diesem typischen Schulmann der Nazizeit mit dem Schreckbild des Lehrers Sänger am Anfang des Romans „Tallhover“ und ebenso in der autobiographischen Erzählskizze „Unterricht“ einen angemessenen ‚Nachruf‘ zugedacht35. Im Rückblick erscheint es bezeichnend, daß der Junge großen Spaß daran hatte, „auf der Schiefertafel zu schreiben, mit einem Schiefergriffel, der so schön knirschte“36. Der bewußte Schreibgestus war ihm offenbar angeboren. Noch heute schreibt Schädlich mit dem Füllhalter, weil, wie er dazu bemerkte, „ich dabei noch am ehesten eine direkte Verbindung zwischen meinem Kopf und dem Geschriebenen auf dem Papier herstelle“37.

[<<21||22>>] Vom Geschehen des Zweiten Weltkriegs hatte man bis zu diesem Zeitpunkt, abgesehen vom Jubel über immer neue Siege, in Reichenbach noch nicht viel gemerkt. Lediglich fiel auf, daß in der Nachbarschaft plötzlich russische Zwangsarbeiterinnen untergebracht wurden, denen die Mutter von den Kindern Butterbrotpakete über die Mauer zuwerfen ließ. Die Wende im Krieg durch die Niederlage von Stalingrad wurde dann jedoch von den Eltern besorgt registriert. „Ich glaube, es geht böse aus“, soll der Vater gesagt haben38. Alles Weitere hat der Herzkranke nicht mehr erlebt. Für den kleinen Jungen war der Tod des Vaters ein lebenslang nachwirkender Schock. Einmal ließ er dazu verlauten: „Ich bin immer traurig, wenn ich an ihn denke. … Mir fiel einmal auf, daß viele meiner Texte mit dem Tod der Figuren enden. Merkwürdig“39. Dadurch wird klar, welche Bedeutung die unvermeidliche „Endlichkeit der menschlichen Existenz“40 für Schädlich durch die Verlusterfahrung des so früh verstorbenen Vaters bekommen hat.

Schuljahre in Reichenbach, Bad Saarow und Templin

Der Tod des Vaters veränderte die Lebensumstände von Grund auf. Zunächst zog sich die vaterlos gewordene Familie in die erste Etage der Villa zurück. Aber auch das war materiell nicht lange durchzuhalten. Noch vor Ende des Krieges mußte die Mutter das Haus an das Rote Kreuz verkaufen41. So blieb der Schulalltag Schädlichs auf den engen Rahmen seines Geburtsorts beschränkt. Von der Welt außerhalb lernte der Junge während der Grundschulzeit so gut wie nichts kennen. Er erinnert sich vage an „Eindrücke auf einer Reise von Reichenbach bis in die Alpen nach Reichenhall, 1943, oder auf einer Reise von Reichenbach in den Schwarzwald, nach Lahr, 1944“42. Dann kam das Kriegsende und die Einrichtung der Zonengrenze zwischen Ost- und Westdeutschland. Danach gab es lediglich noch riskante „nächtliche Fußmärsche an der Hand Erwachsener über die Grenze nach Bayern, bäuerliche Verwandtschaft im Landkreis Hof zu besuchen“43, bis dann auch derlei nicht mehr möglich war, weil der ‚Eiserne Vorhang‘ sich immer dichter schloß.

[<<22||23>>] Nach dem schweren Bombenangriff auf Reichenbach am 21. März 1945 ging die Mutter mit den Kindern in den letzten Kriegstagen aus Sicherheitsgründen „auf’s Dorf“ in ihr Elternhaus zurück nach Oberheinsdorf. Wenig später, am 17. April 1945, marschierten die Amerikaner ein. Sie wurden mit aus den Fenstern flatternden Bettlaken als weißen Fahnen begrüßt. Glücklicherweise hatte der Oberbürgermeister von Reichenbach für die kampflose Übergabe der Stadt gesorgt, so daß es keine weiteren Zerstörungen mehr gab. Dem neunjährigen Jungen hat sich eingeprägt, wie er damals „neugierig und ängstlich“ stundenlang unablässig beobachtete, „was geschieht“44. Ergebnis dieser Beobachtung war ein „Unterricht“45 für das ganze weitere Leben.

Es war ein intensiver, tief reichender Blick aus dem Fenster, genau genommen eine Ur-Szene im Leben des Schriftstellers. Denn zu den Früchten seiner einläßlichen Beobachtung gehörte, neben der materiellen Erfahrung von Jeeps, großen Lastwagen und Panzern, von Lucky Strike und Glenn-Miller-Klängen, von Kaugummi und Schokolade für die Kinder46, die aufkeimende Ahnung einer anderen Welt hinter dem gewohnten Alltag. Von Beginn an war Schädlich ein aufmerksamer und höchst genauer Registrator. Hierin kann man die Wurzeln sehen für die ihm eigene, Erkenntnis, Phantasie und kritische Energie anregende andere Sicht der Wirklichkeit. Diese Fähigkeit erlaubt es ihm, das scheinbar Vertraute verfremdend zu überprüfen und gleichermaßen das Ungewohnte sich schrittweise vertraut zu machen. So zeigten sich bereits Ansätze jener gründlichen Wirklichkeitssuchung, aus der dann eines Tages die poetische „Satzsuchung“47 des dann schon über dreißigjährigen Autors werden sollte.

Stark prägte sich Schädlich die Erinnerung ein, daß vor dem Abzug der amerikanischen Truppen amerikanische Offiziere ins Haus kamen und der Mutter vorschlugen, mit den Kindern, Betten und Haushaltsgegenständen auf einem Lastwagen nach Hof in Bayern zu übersiedeln. Offenbar sagten sie: „Nach uns kommen die Russen, und das wird nicht lustig“. Doch die Mutter konnte sich nicht dazu durchringen, in ein bayrisches Flüchtlingslager gehen zu müssen. Am 1. Juli 1945 zogen die Amerikaner ab und überließen das Feld den anderen Siegern. [<<23||24>>] Alliierter Übereinkunft nach gehörte ganz Sachsen und damit auch das Vogtland zur sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ)48. Schädlichs trockener Kommentar dazu lautet: „So kamen wir unter die Russen“. Bleibender Eindruck ging von den Bildern dieses Wechsels aus. Als nämlich kurz darauf russische Truppen die amerikanische Besatzung ablösten, schockierte es den Jungen, der gerade noch die Amerikaner bewundert hatte, die „in ihren Uniformen eher sportlich, sportlich lässig“ aussahen, mit ihren Jeeps „und mit ihrer Musik“, daß nun die Russen kamen „mit kleinen Panjewagen, Pferdchen davor“49. Das wirkte entschieden desillusionierend auf ihn.

Infolge der unter dem Besatzungsregime gründlich veränderten Verhältnisse gab es vom April bis zum Herbst 1945 keinen Schulunterricht. Durch Eigeninitiative mehrerer Familien wurde lediglich in einer Fahrschule Privatunterricht erteilt, „um Rechnen zu lernen“. Schädlich registrierte diese Zeit als den „schönsten Sommer der ganzen Schulzeit“50. Im Nachhinein beurteilt er nämlich die Jahre der Nazizeit entschieden kritisch mit dem Satz: „Es war immer – von jetzt aus kann man das sagen – mit einer latenten Gefahr verbunden, in die Schule zu gehen“. Aus späterem Abstand heraus erkannte er den eigentlichen Grund darin, „daß man immer eine Art Existenz- oder Konkurrenzkampf … führen mußte“51. Das bedeutete für ihn die entlarvende Erkenntnis des vom Nationalsozialismus erzeugten Systems alltäglicher Gewalt und Unmenschlichkeit.

1948 mußte die Familie in eine bescheidene Dreizimmerwohnung in der Reichenbacher Bahnhofstraße, Haus Nr. 48, umziehen. Die beiden älteren Brüder brachen bald danach die Oberschule ab und verließen zur weiteren Ausbildung Reichenbach52. Ein Jahr später heiratete die Mutter den Ingenieur Hans Eichstädt und zog mit ihm und der Tochter Anfang 1950 nach Bad Saarow am Scharmützelsee im Landkreis Oder/Spree. Dort hatte der Stiefvater eine Stelle als Technischer Direktor im benachbarten Reifenwerk Fürstenwalde gefunden. Schädlich blieb noch bis Sommer 1950 in Reichenbach, um die Grundschule am gleichen Ort abzuschließen. Er wohnte bei den Großeltern väterlicherseits, die ebenfalls von Schöneck dorthin gezogen waren. Mit dem Ende der Grundschulzeit stellte sich für ihn die brennende [<<24||25>>] Frage, wie es weitergehen sollte. In Reichenbach bot sich die Möglichkeit zur Ausbildung an einer Textilfachschule, um dann „irgendein Textilmensch zu werden“. Vom Großvater väterlicherseits, der, wie es der Autor ausdrückt, „so’n bißchen in die Familie hineinregiert hat“, ging der klare Ratschlag aus: „Also die Jungs müssen vor allen Dingen ganz schnell was lernen und Geld verdienen“. Schädlich hingegen wollte in die Oberschule überwechseln und zog deshalb zur Mutter nach Bad Saarow. Mit der Übersiedlung dorthin ging die Zeit im Vogtland und damit sein erster Lebensabschnitt zu Ende.

In Bad Saarow absolvierte Schädlich die 9. Klasse der Oberschule. Die dortige Schule war nach dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki benannt53. In diese Zeit fällt eine gewagte Eskapade des noch sehr jungen Schülers. Er machte sich einfach auf: „jugendlich selbständig, einem Anführer vertrauend, der Grenzgänger für ein Handgeld hinter sich her zog, über die Grenze zwischen Marienborn und Helmstedt, mitzufahren auf einem Lastwagen von Helmstedt bis an die abenteuerliche Nordsee“54. Vermutlich wollte er vorübergehend der häuslichen Atmosphäre entrinnen, weil die familiären Verhältnisse denkbar schlecht waren. Rückblickend diagnostiziert Schädlich für das dort verbrachte Jahr „eine furchtbare Lage“, ja „eine tiefe Krise“55. Das alltägliche Zusammenleben gestaltete sich unerfreulich bis unerträglich, denn die zweite Ehe war alles andere als glücklich. Der Stiefvater schlug die Mutter. Gesprächsweise brachte der Sohn diese bedrückende Situation deutlich zum Ausdruck: „Meine Mutter war, man würde sagen, sauarm“56. Sie mußte sich, „ohne Beruf, recht und schlecht durchschlagen“. 1952 kam es zur Scheidung. Da war Schädlich schon ein Jahr aus dem Haus. Jochen und seine jüngere Schwester wollten unbedingt weiter in die Schule gehen. Die Mutter war mit dieser Entscheidung überfordert. Indes zeigte der Direktor, ein Mathematiklehrer, Verständnis für seinen Schüler. Er drängte die Mutter dazu, den Sohn weiter die Oberschule besuchen zu lassen. Da jedoch die Oberschule in Bad Saarow mit der 9. Klasse endete, war guter Rat teuer. Glücklicherweise wurde durch die Initiative des Schuldirektors die unhaltbare Situation gelöst. Mit dessen Empfehlungsschreiben fuhr der Fünfzehnjährige ins Ministerium für Volksbildung nach Potsdam [<<25||26>>] und wurde –„sehr unbürokratisch“57 – zum Anfang des zehnten Schuljahrs in ein Internat aufgenommen. Ab dem Schuljahr 1951/52 bekam er vom Staat die Möglichkeit, kostenlos die Landesschule Templin in der Uckermark, das frühere Joachimsthalsche Gymnasium, zu besuchen58.

Das in Bad Saarow verbrachte Jahr bildete einen harten Einschnitt im Leben Schädlichs. Mit diesem Zeitpunkt setzten aber für ihn auch „prägnante Erinnerungen ein“. Während es in Reichenbach keine „direkten politischen Appelle an die Kinder“ gegeben hatte, änderte sich das mit dem Wechsel von der Grundschule in die Oberschule. „Da war’s üblich, das war irgendwie von der Schule nahegelegt, daß die Schüler ein blaues Hemd trugen“59, also zur sogenannten ‚Freien Deutschen Jugend‘ (FDJ), der kommunistischen Jugendorganisation der DDR, gehörten. Allerdings hatten die Zusammenkünfte dort, seiner Erinnerung nach, eher den Charakter „normaler Gesellung mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen“. Es gab Heimabende mit Liedersingen, Filmbesuchen, gemeinsamen Schularbeiten, aber auch Rauchen und Alkohol und sogar unerlaubte Ausflüge nach West-Berlin. Entscheidendes Erlebnis war dabei die „Gemeinschaftserfahrung“ einer Art „Clique“, die sich „als Pubertierende von den Erwachsenen“ abgrenzten60. Hier stieß Schädlich zum ersten Mal auf den Namen Bertolt Brecht: „Da habe ich dann plötzlich gehört, daß es einen Brecht gibt. Und dann lernten wir ein Lied von ihm, das war Brechts ‚Fort mit dem Alten und was Neues hingebaut, um uns selber müssen wir uns selber kümmern‘, das mußte ich da lernen“61.

Schädlich kehrte in der Folgezeit immer wieder nach Bad Saarow zurück, weil seine Mutter dort wohnen blieb. Mit guten Gründen ließ deshalb der Autor die Titelfigur des Romans „Kokoschkins Reise“, seinen Fjodor Kokoschkin, in Begleitung von Hlaváček dorthin fahren, um an dessen Erinnerungen als Dreizehnjähriger anzuknüpfen, den er eine Weile an diesem Ort mit seiner Mama leben ließ; übrigens im Umfeld Gorkis, der sich dort 1922, schwer lungenkrank, zur Kur aufhielt. Die von Kokoschkin evozierten Bilder verbinden sich mit den eigenen Erinnerungen des einjährigen Aufenthalts von Schädlich dort. Zwei einprägsame Merkmale wurden dabei festgeschrieben: „der [<<26||27>>] Bahnhof leuchtete. Die gelbe Fassade, das Fachwerktürmchen, das rote Ziegeldach. Die Holzsäulen, die das freie Dach zu beiden Seiten des Gebäudes trugen“62; und ferner: „Der Ortskern von Bad Saarow war fast fünfzig Jahre lang von der Sowjetarmee besetzt. Das besetzte Areal von einem hohen grünen Bretterzaun umgeben. Einheimische durften nicht hinein“63. Weimarer Jahre und sowjetische Besatzungszeit überlagern sich in diesen Bildern.

Auf das deprimierende Intermezzo in Bad Saarow folgte nun für Schädlich das dreijährige, gleichfalls wenig erbauliche, aber für das Weiterkommen notwendige Internatsabenteuer in Templin. Die dortige Landesschule in der Prenzlauer Allee 28 war ein größerer, ockergelber, in sich geschlossener, hufeisenförmiger Gebäudekomplex aus sechs Wohnheimen und einem Hauptschulgebäude mit der Aula und der Turnhalle, einem Sportplatz dahinter, dem direkt angrenzenden See zugewandt. Wie sein (fiktiver) Kokoschkin in der Weimarer Ära kam Schädlich dorthin, zum Glück jedoch nicht für sechs Jahre. Wie dieser aber war er dort immerhin „untergebracht und versorgt“64. Der Autor von „Kokoschkins Reise“ hat einen Teil der Templiner Erinnerungen in seinen Text hineingenommen. Deshalb war es ein schöner Gedanke des Feuilleton-Redakteurs der „Süddeutschen Zeitung“, Lothar Müller, der sich unlängst vorstellte, daß eigentlich in der heute leerstehenden „Aula eine dramatische Fassung von Schädlichs Roman“ aufgeführt werden sollte65.

Zur Zeit von Schädlichs Aufenthalt hatte sich der Geist des altpreußischen Joachimsthalschen Gymnasiums unter den neuen Verhältnissen der DDR gründlich gewandelt. Die ursprünglich christlich-humanistische Zielsetzung mußte, wie schon während des Dritten Reiches, parteipolitischer Indoktrination weichen. Bestimmend war dabei die staatlich betriebene ‚schulpolitische Durchsetzung der Einheitsschule‘66. Im Vordergrund stand eindeutig die parteilich-sozialistische Ausrichtung des Schulwesens. Für die Landesschule Templin bedeutete das eine ideologische Ausrichtung zu einer Institution, „die vor allem die Bauernkinder der Uckermark sammeln sollte“67. Vorwiegend von der SED eingesetzte Neulehrer bestimmten den angestrebten ideologischen Kurs. Schädlich hielt dazu kritisch fest: „Eigentlich ein kleiner Staat [<<27||28>>] im Staate, dieses Internat. Dort bin ich schon früh mit etwas bekannt geworden, das mir dann immer vertrauter wurde – der Internatskomplex war von einer … Mauer umgeben. Natürlich konnten wir raus in die Stadt, aber gegen Abend wurde die Schul-Kaserne geschlossen. … Da ich kein Arbeiter- und Bauernsohn war, sondern aus bürgerlichen Verhältnissen stammte, kam ein Studium für mich nur in Frage, wenn ich ein ausgezeichnetes Abitur ablegte. … Ich denke an diese Zeit nicht gern zurück. Es war in vielerlei Hinsicht eine unfreie Zeit. Einerseits wegen des Anspruchs der FDJ, die sich da entwickelte, andererseits wegen des Leistungsdrucks, den man auf sich nahm, da man sich vorgenommen hatte, zu studieren“68.

Besonders bezeichnend für den neuen Kurs der Landesschule war die von der Partei zum Schuljahr 1951/1952 gezielt vorgenommene Einsetzung des Neulehrers Peter Hübener als Direktor. Ungeachtet seiner „intellektuell und pädagogisch limitierten Ausbildung“69 – er hatte kein Abitur und demzufolge auch kein Studium durchlaufen, sondern lediglich mit Erfolg ein Lehrerbildungsinstitut besucht – wurde dem erst 24-jährigen diese verantwortungsvolle Aufgabe übertragen. Er bedankte sich für dieses Vertrauen durch seine enge Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als GI (d. i.: geheimer Informant, später sogar als GHI, d. i.: geheimer Hauptinformant)) unter dem Kennwort „Abraham“.

Im Unterschied zu Bad Saarow war die FDJ in Templin „von Anfang an eine ganz bewußt politisch ausgerichtete und politisch geleitete Organisation“70 mit regelmäßigen Schulungen in Klassengruppen und Vollversammlungen. Wie der Schulalltag aussah, zeigt der Tagesplan eines Internatsschülers, der als ‚Leiter der Lernbewegung‘ und ‚Schriftführer der Klasse‘ fungierte:

6.15

Aufstehen

7.00

Frühstück

7.30 – 13.00

Unterricht

13.00 – 14.00

Ges(ellschaftliche) Arbeit, Anl(eitung) des LK’s (Leistungskurses), Teilnahme am LK

14.00

Mittag

[<<28||29>>] 14.30 – 16.30

Sport, Tanzproben, Proben, Besorgungen, Einsätze, Versammlungen

16.30 – 19.00

Arbeitsstunde, Schularbeiten

19.00

Abendbrot

19.30 – 21.30

Heimabend, Klassenabend, Tanzgruppen, Einsätze, Versammlungen

21.30 – 22.00

Lesen etc.

22.00

Bett.

71

Angesichts der Fülle von gezielt in das Unterrichtsprogramm eingefügten ideologischen Erziehungselementen kam Schädlich zu der Einsicht: „Das war ‚ne sehr strenge und unattraktive Einrichtung. Und da hab‘ ich mich dann überhaupt nicht mehr beteiligt, weil es mich nicht mehr interessierte. … Jeder mußte dabei sein. Man mußte aber nicht unbedingt irgendwas machen, außer daß man an allen Aktivitäten der Schule teilnehmen mußte, die zugleich, von der Schule so befohlen, FDJ-Aktivitäten waren“72. Der das sagte, ließ sich nicht vereinnahmen. Wenn man ihm die Teilnahme am jährlichen Ernteeinsatz mit der Frage aufdrängte „Bist du nicht für’n Frieden?“, konnte ihn diese Art der Begründung nicht überzeugen. Das bezeichnende Bild des Neulehrers Max Lobedan73 hat sich ihm als besonders abstoßend eingeprägt: „Der Biologielehrer, der ein ganz strenger Politikaster war“, eine „Mischung aus Ex-Offizier und strammem SED-Parteimann“74 mit „Reithosen ohne Stiefel aus seiner Wehrmachtszeit und darüber ein Blauhemd der FDJ“75. Der wollte in seiner Eigenschaft als Sekretär der SED-Betriebsgruppe den 17-jährigen Schädlich beim Tode Stalins 1953 unbedingt für die Partei gewinnen, stieß damit jedoch auf unverhohlene Ablehnung. Den jungen Mann störte die aufgesetzte „Gefühligkeit“ der bekundeten Trauer, die er als unangemessen ansah („Wieso denn?“). Nach der Wiedervereinigung konnte er dann in den Stasi-Akten die auf den Bericht Lobedans zurückgehende Eintragung finden: „Der Schüler Schädlich weigert sich hartnäckig in die SED einzutreten, um die Lücke, die der Tod des Genossen Stalin gerissen hat, füllen zu helfen“76. Derlei hatte in der totalitär regierten DDR von Beginn an Methode.

[<<29||30>>] Schon früh war Schädlich, der Heimschüler des Alumnats I, der Schulleitung verdächtig. Das belegt die Existenz einer ausschließlich auf ihn konzentrierten „geheimen Verschlußsache mit dem Decknamen ‚Abiturient‘“. Sie setzt ein mit einem „Spitzelbericht vom 21. November 1952“. Der hatte „neben seiner verspäteten Kritik am frechen Abhören der Sendungen des RIAS im Heim I selbst in der Hörweite des Brandenburgischen Volksbildungsministers anläßlich seines Besuchs am 7. Oktober 1951“ vor allem „die Protestaktion derjenigen Schüler dieses Heimes zum Gegenstand, … die ihr Heimessen als ‚Fraß‘ disqualifiziert hatten“. Der Oberschüler Schädlich sei der eigentliche „Wortführer“ gewesen. Er habe „sich außerdem im Auftrage des Heimes über den Heimleiter“ beschwert, weil „der von den Heimschülern ‚Untertanengeist verlange‘ und ‚im Feldwebelton kommandiere‘“77. Daraufhin verlangte die Bezirksverwaltung Neubrandenburg des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) am 5. Dezember 1952 „von der MfS-Kreisverwaltung Templin die sofortige Erteilung eines operativen Auftrages an den Oberschüler-GI ‚Bob‘ zur ‚Bearbeitung‘ von Schädlich, um herauszufinden, ob dieser eventuell eine Verbindung zur verdächtigen ‚Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit‘ unterhalte“78. Außerdem führte das am 9. Dezember 1952 zu der brieflichen Aufforderung des zuständigen Oberkommissars Albrecht Scholz von der Kreisverwaltung Templin an die Bezirksverwaltung Neubrandenburg in Neustrelitz, im Falle Schädlich „Postüberwachung einzuleiten“79. Da das zu nichts führte, veranlaßte Scholz am 14. November 1953 im Einvernehmen mit Schulleiter Hübener, unter den Mitschülern einen „GI zu werben“, der „feststellen sollte, ‚ob Schädlich Feindtätigkeit gegen die DDR betreibe“80. Erst durch die Akteneinsicht nach dem Ende der DDR erfuhr Schädlich vom ganzen Ausmaß seiner Überwachung.

Natürlich wurde auch ein Besuch des Bruders Karlheinz in Templin genau vermerkt. Der Unteroffizier Tüpke von der MfS-Kreisverwaltung fügte den Akten einen Nachtrag bei: „Nach seiner Beobachtung war der Bruder ca. 25 Jahre alt und Lehrer an einer Oberschule in Berlin im Prenzlauer Berg, der ihm durch sein Auftreten, seinen Haarschnitt und seine Kleidung als ‚typisch prowestlich‘ aufgefallen sei“81. Ebenso [<<30||31>>] wurde ab dem zweiten Jahr das selbstverständliche „häufige Zusammensein des Oberschülers Schädlich mit seiner Schwester Hannelore, die im … Heim IV wohnte“82, mit Mißtrauen registriert. In seinem Spitzelbericht ließ der „Oberschüler GI ‚Wacholder‘“ durchblicken, beide zählten zum Kreis möglicher „konspirativer Verbindungen“83. Nach alledem mußte sich Schädlich in jeder Hinsicht verraten und verkauft vorkommen, als er diese Akten zu Gesicht bekam. Mit gutem Grund legte er in einem 1997 verfaßten Text Wert auf die Feststellung: „Die berufsmäßigen Büttel der Diktatur und ihre Hobby-Schnüffler, die Spitzel, haben mehrfachen Verrat begangen: Verrat an der Idee einer freien, friedlichen Gesellschaft, Verrat an der Freiheit der Andersdenkenden und Verrat an ihren Nächsten“84.

Bei der Schulleitung und den parteitreuen Lehrern setzte sich so der Eindruck fest, die „politische Haltung und gesellschaftliche Mitarbeit“ des Schülers Schädlich sei „undurchsichtig“. Darum ist es bezeichnend, in den einschlägigen Stasi-Akten den folgenden Fragenkatalog zu finden:

Wer hat festgestellt, daß Jochen Schädlich Rias hört und in der Schule verbreitet?       selbst stellte dieses zweimal im September 1952 fest und zwar wie folgt:

Schädlich saß im Musikzimmer und hörte nicht, wie der Gen.       ins Zimmer kam. Dabei wurde er überrascht, daß er den Rias-Sender hörte. Beim zweiten Mal verhielt es sich ähnlich so. Schädlich ist FDJ-Funktionär. Bei Funktionärsbesprechungen der FDJ bringt er in versteckter Form die Rias-Argumente an den Tag, und zwar mit dem Bemerken, er hätte es in der Bahn von einem Unbekannten gehört, bzw. von einer Person in der Stadt. Die fortschrittlichen Schüler       und       sowie der Gen.       waren oftmals Zeuge, dieser von Schädlich vorgebrachten Rias-Argumente.

Am 12. Oktober 1952 stellten die Schüler       und       fest, daß Schädlich das Radio aus dem Musikzimmer durch seinen Freund       in sein eigenes Zimmer bringen ließ, dieses Zimmer verdunkelte und dann Radio hörte. Am nächsten Morgen ließ Schädlich das Radio durch       wieder ins Musikzimmer schaffen. …85.

[<<31||32>>] Kurz vor der Ausbürgerung Schädlichs, am 14. November 1977, berichtete der Leiter der MfS-Kreisdienststelle Templin an die zuständige Hauptabteilung der Stasi in Berlin das folgende ‚Ermittlungs‘-Ergebnis über den als „politisch undurchsichtig“ eingestuften ehemaligen Schüler:

… Er versuchte eine ihm eigene Neutralität zu wahren, so zeigte er keine negativen Haltungen offen, war jedoch entgegen den meisten Mitschülern nicht bereit nach dem Tode des Gen. Stalin bzw. nach dem 17. Juni 1953 Kandidat der SED zu werden.

Mehrmals wurden negative Ereignisse im Schülerkollektiv insziniert (sic!), so z. B. ein Schulstreik als kein Heizmaterial vorhanden war. Alles deutete darauf hin, daß Schädlich hier der geistige Urheber war, er gab es jedoch nicht zu. Zu einzelnen Lehrern hatte er kein engeres Verhältnis, bei den Schülern sah das ähnlich aus, denn Schädlich war ein sehr intelligenter Typ und fühlte sich erhaben gegenüber den Neubauernkinder (sic!) der Uckermark.

Hans-Joachim Schädlich besuchte eine Sprachenklasse, seine Leistungen waren sehr gut, so legte er auch die Abiturprüfung ab, obwohl ihm dafür kein Fleiß notwendig erschien, da er eine bemerkenswerte Auffassungsgabe hatte.

Besondere Vorkommnisse sind der Quelle nicht bekannt. Rückverbindungen nach Templin wurden nicht ermittelt.86

Schädlichs Bekundung dazu ist unzweideutig: „Ich war politisch undurchsichtig, ich hab‘ mich an dem Schülerstreik beteiligt, RIAS abgehört und das weitererzählt und hab‘ mich hartnäckig geweigert, in die SED einzutreten“87. In einem Punkt sah er sich indes zu einer Korrektur des Berichts genötigt. Die Zeit vor dem Abitur war nämlich mit gnadenloser Vorbereitungsarbeit verbunden: „Ich mußte alle diese Prüfungen machen. Und ich mußte die Zeiten zwischen den Prüfungen dazu nutzen, um Tag und Nacht für die nächste Prüfung zu pauken wie ein Verrückter“88. Es besagt entschieden zu wenig, wenn ihm die Templiner Schuljahre wie ein „Kasernenleben“ („meine preußischrote Kaserne“)89 vorkamen.

[<<32||33>>] Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 erweckten bei dem damals siebzehnjährigen Schädlich besonderes Interesse, weil „auf der Hauptstraße vor der Schule in der Nacht unentwegt Panzer in Richtung Süden fuhren, also nach Berlin“. Um zu erfahren, was da los war, schlich er sich in den Aufenthaltsraum, wo das einzige Radiogerät stand, um die RIAS-Nachrichten zu hören. Dabei mußte er feststellen: „das, was ich vom RIAS hörte, stand im totalen Widerspruch zu dem, was wir in der Schule gehört haben“. Dort erfuhr man bloß von einem vom Westen gesteuerten ‚faschistischen Putsch‘. Die unterschiedliche Berichterstattung gab ihm zu denken. Mit einigen seiner Mitschüler hat er darüber gesprochen: „da hat man das Gefühl gehabt, das stimmt eher, was die (RIAS) sagen“90. Darum wirkte der selbständig denkende Schüler auf einige der parteitreuen Lehrer wie ein unerbetener Detektiv.

Immerhin gab es in der Schule auch den aus der Nazizeit ‚nicht belasteten‘ Lateinlehrer Dr. Hildebrandt, der „war schon Mitte siebzig, ein gebrechlicher Mann, ein wunderbarer Lehrer“91. Schädlich erinnert sich daran, wie dieser aus der Zeit gefallene Erzieher angesichts des Desinteresses mancher Schüler seinen klassischen „Standardausspruch“ verlauten ließ: „Von einem Haufen Scherben versucht ein Gott vergebens Frucht zu ziehen“92. Ebenso war in Templin Walter Dressler, ein „ehemaliger Pfarrer“, tätig, „der, aus politischen Gründen als Pfarrer gescheitert, sehr guten Unterricht“ gab. Das war, wie der Autor berichtet, „ein, wie man sagte, ‚fortschrittlicher‘ Mann, der sich als einziger die Mühe machte, auf uns Kinder persönlich einzugehen“93. Der bemerkte Schädlichs besonderes Interesse für Sprache und Literatur. Einmal sagte er zu ihm: „Meinst du nicht, daß du dich dafür interessieren könntest, Germanistik zu studieren?“94 Der so Angesprochene nahm den wohlmeinenden Rat auf. Auch er wollte unbedingt „etwas … studieren, was mit der Sprache zu tun hat“95. Damit sollte sich eine für seine Zukunft entscheidende Entwicklung anbahnen. Zumindest war dadurch die nächste Phase im Leben des Autors vorbereitet. Weil er jedoch studieren wollte, mußte er unbedingt ein sehr gutes Ergebnis vorweisen. Er schaffte das Abitur dann sogar mit der selten vergebenen Note „ausgezeichnet“. Da blieb selbst dem Direktor alias „Abraham“ nichts anderes übrig als den [<<33||34>>] „politisch undurchsichtigen“ Abiturienten für die Zulassung zum Studium zu empfehlen.