Penne Pauker Pleiten - Martin Schäfer - E-Book

Penne Pauker Pleiten E-Book

Martin Schäfer

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Beschreibung

Warum gibt es so viele Schulversager in Deutschland? Warum werden die Talente der Schüler selten entdeckt und so wenig gefördert? Und warum haben so viele Kinder Lernstörungen, Legasthenie oder AD(H)S? Martin Schäfer hat durch seine jahrelange Arbeit als (Schul-)Sozialarbeiter viele Erfahrungen mit Jugendlichen, Lehrern und Eltern gesammelt und sich eindringlich mit dem Thema Schulversagen beschäftigt. In seiner "Streitschrift" rechnet er mit dem überholten deutschen Schulsystem, der lahmen Bildungspolitik, überforderten Lehrern und erziehungsschwachen Eltern unverhohlen ab und zeigt auf, was bei uns wirklich schiefläuft. Der "Schulpsycho" prangert aber nicht nur das Bestehende an, sondern hat eine genaue Vorstellung davon, wie ein funktionierendes Schulsystem idealerweise aussehen sollte und gibt außerdem wertvolle Tipps für Pädagogen und Kids.

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Andreas Siebert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
2. Auflage 2015
© 2015 by riva (powered by 100 FANS),
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: Melanie Melzer
Umschlagabbildung: Simon Winning
Satz: Carsten Klein
E-Book: Daniel Förster
ISBN Print 978-3-95705-010-6
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95708-012-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95708-013-4

Inhalt

Ein paar Worte vorab

Über mich

© Terry Pfeifferling

Ich bin jetzt 56 Jahre alt und vor 40 Jahren war ich ein schwieriger und schlechter Realschüler. Meine Schulzeit war deshalb hart; nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern und sicherlich auch für die meisten meiner Pauker. Irgendwie hab ich mich dann aber durch-gekämpft, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Ich habe Mitschüler verprügelt, Lehrer beleidigt und schlechte Noten mit nach Hause gebracht. Auf Schule hatte ich meistens einen richtigen Hass und deshalb habe ich auch fast nichts dafür gelernt. Worum es im Leben wirklich geht, hab ich erst mit 18 Jahren begriffen, als ich zunächst im Zivildienst, später als Taxifahrer und auf dem Bau arbeitete. Gelernt im richtigen Leben also. Gelernt und verstanden, worauf es ankommt: auf Konzentration, Respekt, Disziplin, Ausdauer, Leistung, Qualität und so. Auf fachliche und soziale Kompetenz eben. Ganz langsam ging’s dann aufwärts mit mir … Erst begann ich ein Studium, dann kam der erste erfolgreiche Aushilfsjob während des Studiums, danach mein erster richtiger Job …

Und heute …

… bin ich Sozialarbeiter. Somit habe ich seit über 25 Jahren mit schwierigen jungen Menschen in schwierigen Situationen zu tun: mit auffälligen Sonder- oder Hauptschülern, mit Arbeitslosen, Kleinkriminellen, Überschuldeten, Drogenabhängigen. Die ganze Palette.

Ein Heer von Losern, wie manche meinen: Lumpenproletariat, »ausgebildet« an deutschen Schulen. Dazu gleich mehr …

Aber erst mal bedanke ich mich jetzt:

Bei Anke, die mich hart, aber fair begleitet hat.

Bei Birsel, der tollen Mathefachfrau, die mir gesagt hat: »Schreib mal alles auf.«

Bei Helwig, dem COOLEN Pauker, der mit seiner Lehrerbrille alles gelesen hat.

Bei Selim, meiner Inspiration.

Und bei Asta, Sabine, Terry, Wiebke, Adnan, Alex, Alex, Elvis, Ekrem, Friedrich, Jürgen, Manfred, Matthias, Mike, Özgün, Paul, Robert, Roman und Ugo: für eure COOLE Praxis (siehe Rezepte im Teil II).

Martin Schäfer im März 2015

Kontakt: [email protected] / https://www.facebook.com/martin.schafer.986

Über dieses Buch

Mein böses (Schul-)Buch in drei Sätzen:

•Satz 1: Viel zu viele (Förder-, Haupt- und Real-)Schulen sind Trauma-Fabriken oder Pisa-Gettos, die (mindestens) 15 Prozent entmutigte Schüler oder PISA-Loser produzieren und deren Pauker und Eltern am Stock gehen.•Satz 2: Zu wenige Schulen sind dagegen Traum-Fabriken, also zu 100 Prozent voll COOLE Schulen, in denen COOLE Lehrer COOLE Streber fürs Leben ausbilden.•Satz 3: COOL bedeutet souverän, kontrolliert und ist voll positiv, weshalb COOL bei mir immer ganz großgeschrieben wird.

Und für alle, die mehr über Trauma-Fabrik und Traum-Fabrik, uncool und COOL wissen wollen: Lest die drei Teile dieses Buches!

Mindestens 15 Prozent aller Haupt- und Förderschüler sowie einiger Realschüler packen Schule nicht wirklich, sagen die Fachleute.1 Und wir verlieren diese 15 Prozent! Frühzeitige »Loser«, junge PISA-Versager. Sockel der Abgehängten. Bildungsverlierer. Absteiger. Aufstocker. Hartzer. Und diese 15 Prozent suchen sich ihre Herausforderung später dann woanders … Und 15 Prozent Ausschuss ist viel zu viel, sage ich.

Wir brauchen für ein starkes Deutschland 100 Prozent Schulerfolg, 0 Prozent Schulversagen. Wir brauchen keine PISA-­Looser, sondern Gewinner. Und dafür brauchen wir eine COOLE (Ganztags-)Penne, die wirklich allen Bock aufs Lernen macht und Lust auf Leistung vermittelt. Eine Schule, die auch die gestressten und überforderten Eltern beim Erziehen mehr oder weniger mit unterstützt.

Wir brauchen keine softe Wohlfühlschule und auch keine reine Erziehungsanstalt, sondern harte, aber faire Lernorte. Lernen statt Belehrung. Bilden statt pauken. Traum-Fabrik statt Trauma-Fabrik.

Das geht! Es bedeutet aber eine große Herausforderung für COOLE Politiker, Pauker, Pädagogen, Mamas und Papas. Es bedeutet einen großen Kampf gegen Benachteiligung, gegen idiotische (Schul-)Bürokratie, gegen die Beamten-Staatsschule.

Deshalb schreibe ich für alle COOLEN Pauker, Pädagogen, Politiker, für alle schwierigen und anspruchsvollen Schüler und Exschüler, aber auch für entnervte Eltern. Mein Buch ist also für alle klugen Leute, die jetzt eine bessere Schule haben wollen. Eine Penne, in der alle jungen Leute fürs Leben lernen und nicht einfach nur für gute Noten pauken müssen.

Ich beschreibe die Trauma-Fabrik, den durchschnittlichen Wahnsinn, das gemütliche Elend, das wahrhaftige Unwesen unserer staatlichen (Haupt- und Förder-)Schulen und auch so mancher Realschule. Risiko Schule …

Ich kritisiere in meiner Streitschrift, meinem »bösen« Schul-Buch, diese Risikoschulen, um damit klarzumachen, was das wirkliche Leidwesen dieser uncoolen, respektlosen, stressigen und überforderten Lernfabriken ist. Und gleichzeitig beschreibe ich, wie eine bessere, COOLERE, wertschätzende, exzellente, disziplinierte, harte, aber faire Schule aussehen kann: Trauma-Fabrik versus Traum-Fabrik. Meine Streitschrift ist also kein neues Fach(idioten)buch; davon gibt’s schon genug in Deutschland. Eigentlich ist von den Fachleuten auch alles längst gesagt ...

Apropos Fachleute: Im Anhang sind manche fachliche Inhalte noch mal genauer erklärt. An den entsprechenden Textstellen habe ich jeweils einen Verweis eingefügt.

Übrigens

Meine Ideen, Meinungen, Kritik und wichtige Anmerkungen habe ich in diese grauen Kästchen gesetzt.

Und am Ende der Geschichten gibt’s auch immer etwas Platz für eure eigenen Notizen und Gedanken …

Mein Buch ist drei Bücher in einem, es besteht aus drei Teilen.

Teil I: Trauma-Fabrik. Über PISA-Loser, Pappnasen, Pannen: acht wahnsinnige Geschichten aus dem PISA-Getto.

Denn für mindestens 15 Prozent der Schüler gilt: frustriert in der Förderschule. Horror in der Hauptschule. Mittelmaß in der Mittelschule. Pauken im PISA-Getto.

Acht wahre Geschichten über Risikoschule, Risikolehrer, Risikoschüler, (Eltern-)Zoff, Zensuren, Scheißmathe und über ein paar COOLE Typen.

Meine Geschichten habe ich in den Jahren 2001 bis 2013 erlebt.

Teil II: Traum-Fabrik. 100 Prozent voll COOLE Schule. Erste Hilfe für COOLE Pauker.

Was macht den Menschen zum Menschen? Dass er wissen will ...

Und COOLE Bildung ändert alles: meistens zum Guten. Deshalb hab ich auch alles, was für mich COOLE Schule bedeutet, im zweiten Teil meines Buches aufgeschrieben – ein Handbuch für 100 Prozent voll COOLE Schule. Hier gibt es Erste Hilfe für kluge Pauker, COOLE Pädagogen, mutige Mamas und Papas und herausfordernde2 beziehungsweise anspruchsvolle Leute. Dieser Teil ist auch für herausfordernde Schüler (ab 16 Jahren) geeignet, die sich nicht mehr mit uncooler Penne abspeisen lassen wollen.

Übrigens

»100 Prozent voll COOLE Schule« bezieht sich zwar auf die besagten 15 Prozent der Sonder- und Hauptschüler, nützt aber auch den anderen 75 Prozent (also auch Real- und Oberschülern).

Ich plädiere für exzellente Bildung für alle: mehr COOLE Streber und weniger PISA-Loser.

Teil III: Erste Hilfe für Schüler

Und wie können Problemschüler jetzt und heute ihre uncoole Penne überleben? Wie das geht, hab ich im dritten Teil meines Buches aufgeschrieben: Erste Hilfe für Schüler. Überlebenstraining in uncooler Schule. Auch für COOLE Pauker geeignet.

Genug Vorwort.

Penne Pauker Pleiten beginnt.

Starten wir mit einem Klassenbesuch bei den PISA-Losern …

PS: Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zwar zufälliger Natur, aber ähnliche Schulen mit ähnlichen Schülern, Paukern, Mamas und Papas gibt’s wirklich. Ich schwör’s. Okay, das eine oder andere ist vielleicht hinzugedichtet und manches leicht verfremdet. Und damit es keinen Stress gibt, hab ich in meinen Geschichten natürlich nur fiktive Namen verwendet.

In den folgenden Geschichten kommen außerdem überwiegend Jungs vor; das ist deshalb der Fall, weil sie sich in der Schule tatsächlich meist schwerer als Mädchen tun.

1 Füller, Christian (2012): Bundesbildungsbericht 2012: Jeder fünfte Schüler hat keine Chance. In: Spiegel Online vom 22.06.2012. Online unter: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/bundesbildungsbericht-jeder-fuenfte-schueler-hat-keine-chance-a-840347.html, [Stand 03.02.2015].

2 Mit »herausfordend« meint der Autor: Junge Menschen sind mehr oder weniger provokativ, angriffslustig, aber auch extrem still, extrem schüchtern oder auch extrem angepasst; eben immer eine Herausforderung für Erwachsene, gerade in offenen Gesellschaften wie Deutschland.

Teil I

Trauma-Fabrik: PISA-Loser, Pappnasen, Pannen: Acht wahnsinnige Geschichten aus dem PISA-Getto

Erste Geschichte: Besuch in einer Hauptschulklasse – ein Drama in sieben Akten

Vorbemerkung

Die folgende Geschichte ist zwar ziemlich krass und ich habe auch etwas dick aufgetragen, aber sie ist wirklich passiert und voll wahr. Die Geschichte zeigt eine Hauptschulklasse und einen Lehrer, wie sie an einer ganz normalen Schule immer mal wieder vorkommen, im Jahr 2001, als ich mit Schulsozialarbeit begann, und leider auch noch heute. Dieses Drama in sieben Akten zeigt das (Un-)Wesen von ganz normaler staatlicher, uncooler (Risiko-)Schule und wie diese »funktioniert«.

Akt 1: Risikoschule

Ich besuche eine ganz normale Risikoschule mitten in Deutschland. Das neue Schuljahr ist gerade drei Wochen jung und für die Pauker scheinen die letzten Sommerferien schon wieder weit weg. Viele Lehrer sind jetzt schon wieder voll im Stress und bereits ziemlich genervt: schlechter Stundenplan, nervige Arbeitsgruppen, neue Befehle von oben und erste Vertretungsstunden – denn einige Lehrer sind mal wieder im Urlaub erkrankt.

So geht das seit Jahrzehnten. Alle hetzen im 45- beziehungsweise 90-Minuten-Takt wild umher: Stundenpläne, Lehrpläne, Konferenzen, Pausenaufsicht (viele Lehrer hassen das), Busaufsicht, Arbeitsgruppen und so weiter und so fort. Der tägliche, normale Wahnsinn halt.

Akt 2: Der Schulsozialarbeiter

Ich habe viele Jobs: »Feuerwehrmann«, Troubleshooter, (Nach-)Erzieher und Respekttrainer für schwierige Schüler.

Apropos Respekt

Viele Lehrer bräuchten eigentlich auch Nachhilfe in Respekt, also in Sachen Sozialkompetenz. Damit wollen die sich aber meistens nicht abgeben. Das sind für mich echte Pappnasen. Trotzdem sag ich es ausdrücklich an dieser Stelle: Natürlich gibt’s auch ’ne Menge COOLE Lehrer. Aber dazu später …

Erste große Pause. Wir befinden uns im kleinen Konferenzraum der Schule: ein mittelgroßes Zimmer, vollgestopft mit altem Lehrmaterial. Die Regale scheinen nur so überzuquellen mit Büchern, Arbeitsblättern, Schülerplakaten und anderem Papierkram. Eine alte Landkarte aus den 1950er-Jahren mit der untergegangenen UdSSR hängt hinter einer total vertrockneten Zimmerpflanze. Trostlos hier und ziemlich uncool. Alles ist verstaubt, unübersichtlich, chaotisch. Es riecht alt. Abgestanden. Verbraucht. Alles wirkt leblos – ein Grab. Und hier werde ich erfahren, was mein nächster Beratungsfall ist. »Pflegefälle«, wie manche Pauker sagen und damit Schüler meinen, die »Probleme machen«. »Risikoschüler«, sagen die Fachleute. Mein Hauptjob ist die Beratung von diesen »Pflegefällen« oder sogenannten Risikoschülern. Die haben echt viele Probleme mit Lehrern, mit Eltern, mit Drogen, mit Schulden, mit Übergewicht, mit Magersucht, mit Ritzen, mit der Polizei. Und vor allem mit sich selbst.

Bleibt die Frage, wer hier »Risiko« ist – Schüler oder Lehrer.

»Pflegefall«

Das ist eine voll respektlose Bezeichnung, die uncoole Pauker manchmal für Schüler verwenden, die eigentlich unglücklich, frustriert, genervt, verzweifelt und – zugegeben – oft auch anstrengend und respektlos sind. Aber nicht diese Schüler, sondern die Pauker, die so was sagen, sind Pflegefälle!

So ’ne Panne!

Akt 3: Die Risiko(hauptschul)klasse

Nach der gestrigen Beratung im kleinen Konferenzraum will ich eine siebte Hauptschulklasse vor Ort besuchen: Eine neu zusammengewürfelte Klasse, lauter »Pflegefälle«. Ich will wissen, was da los ist, mich mit dem auseinandersetzen, was die meisten Pauker am liebsten von sich schieben würden. Und ich will denen, die in der Grundschule mit so viel Bock und Begeisterung begonnen hatten, zurufen: »Hey! Gib nicht auf! Da geht noch was!« Oder so was in der Art.

Akt 4: Risikolehrer »Bocklos«

Vorm Klassenbesuch red ich mit Hauptschulpauker »Bocklos«.

Höllenjob Hauptschulklasse

Wenn es um schwierige Klassen geht, wehren sich viele Pauker mit Händen und Füßen gegen diesen Höllenjob. Der Schulleiter redet, bittet, bettelt, fleht oder macht Druck, wenn’s gar nicht anders geht. Manchmal gibt’s soziale Pauker, die machen’s freiwillig. Oft trifft es aber Lehrer, die sich nicht so richtig wehren können: Vertretungskräfte, neue Lehrer oder sonstige schwache Typen: »Opfer«.

Pappnasen.

Hauptschullehrer »Bocklos« wirkt auf den ersten Blick auch wie so ’n Opfer: nett, ein bisschen kriecherisch, mittelalt, ergraut, leicht dicklich, kleines Wohlstandsbäuchlein.

Ich versuche, irgendwelche Absprachen über meinen geplanten Klassenbesuch mit ihm zu treffen, aber ihm scheint irgendwie alles egal zu sein: »Ich freu mich über jeden Besuch, Unterricht kann man mit denen ja eh nicht machen.«

Er kommt ins Reden …

Zur Benotung sagt »Bocklos«: »Mein Gott, ich geb schon mal Gefälligkeitsnoten, um zu überleben, andere machen das doch auch …«

Klaro, er macht eben, was die Schüler wollen: Filme schauen, Diktate schreiben …

Und was er wirklich denkt, ist: »Hauptsache, so viel unterrichtsfreie Minuten wie möglich; Klassenbesuche sind da immer gut.«

Herr »Bocklos« schwatzt mich weiter zu. Auch über sein Hobby, Singen in einem Chor. Darauf scheint Pauker »Bocklos« zumindest echt richtig Bock zu haben, aber leider nicht aufs Unterrichten in seiner Hauptschulchaosklasse.

Akt 5: Kampfzone

Ich bin auf dem Weg in die Hauptschulklassenkampfzone. Es ist die vierte Stunde, früher Mittag. Alle, Lehrer wie Schüler, sind jetzt also schon seit vier Unterrichtsstunden in der Schule. Konzentration und Aufmerksamkeit der Schüler sind am Nullpunkt. Dabei sind es immer noch zwei Stunden bis zum letzten Läuten. Viele Pennäler (Schüler) wollen heim und nur noch weg hier.

Erst hatten sie Arbeitslehre, dann Deutschstunde, später noch Englisch. In diesem Fächerchaos rasen die (Haupt-)Schüler stündlich von Klassenzimmer zu Klassenzimmer; und nach 13 Uhr rasen dann alle raus, die Schüler zum Bus und die Lehrer zum Parkplatz. Nichts wie weg!

Das ist doch Wahnsinn!

Für Oberschüler ist diese Art von Unterricht vielleicht auch nervig; sie ziehen’s aber durch und denken pragmatisch: »Muss halt …«

Hauptschüler fühlen sich aber einfach oft nur noch verarscht und sind total entnervt, wenn’s um Schule geht. Völlige Lustlosigkeit meistens. Natürlich sind sie dann nicht unbedingt nett zu den Paukern. Und die Lust aufs Lernen ist gleich null.

Auf dem Flur, 100 Meter vor der Klassentür, höre ich bereits spitze Schreie, hysterisches Kreischen, krachende Stühle und das Kratzen der Tischbeine auf dem Boden. Die Klassentür steht weit offen. Ohrenbetäubender Krach. Kein Lehrer weit und breit zu sehen. Ich betrete das Zimmer, stelle mich vors Pult, warte. Ich frage mich, warum sich bei dem Krach kein benachbarter Pauker hier blicken lässt. Desinteresse? Bocklosigkeit?

Und wo ist überhaupt Lehrer »Bocklos«?

Ich schau mich im Raum um: In der linken Ecke ein Pulk Mädchen, in der rechten eine Bande Jungs; die meisten sitzen lässig auf den Tischen, auf denen angebissene Brote, umgefallene Eisteetüten, Schminkzeug, Trinkflaschen und Sandwichbrocken liegen. Der Boden ist übersät mit Kreide, Papierschnipseln und sonstigem Dreck. Butter- und Nutellareste an den Wänden. Stühle und Tische sind bekritzelt. An der hinteren Wand stehen billige Ikea-Kellerregale mit zerknittertem Papierkram drin. Außerdem hängen schiefe, unordentlich angeklebte Poster von Stars und Sternchen an den Wänden. Wie im Chill-out-Bereich des Jugendzentrums. An den Fenstern: giftgrüne Vorhänge!

Es ist voll warm im Raum, die Heizung scheint fett aufgedreht – im Herbst? Verbrauchte Luft. Es stinkt nach Schweiß und Wurstbrot. Vollgekritzelte Tafel, ein alter, stinkender nasser Schwamm hängt tropfend über dem Eimer mit trübem Kreideschleim drin. Abgefuckt. Ein einziges Elend. Wie auch gestern im Konferenzraum, ihr erinnert euch, das Grab, in Akt 2.

Ich fühle mich ziemlich unwohl hier und bin leicht gereizt von dem Lärm, der Luft, diesem ganzem Müll. Wie soll man hier lernen?

»Alles assig hier«, schreit mir ein Hauptschüler zu. Stimmt, denke ich.

Einige Minuten beobachte ich die Situation. Es herrscht weiterhin Unruhe. Ich schaue mich um und lehne mich ans Lehrerpult. Wo bleibt Herr »Bocklos«? Den hatte ich doch vorhin noch im Lehrerzimmer gesehen!

Es wird Zeit, Kontakt zu den Schülern aufzunehmen.

Akt 6: Dschungelcamp: Ich bin ein Hauptschüler – Holt mich hier raus!«

Die ersten Schüler reagieren auf meine Präsenz, schauen mich an, setzen sich langsam auf ihre Plätze. Kurzes Nicken, beiläufiges Grinsen.

Ich stelle mich der Klasse kurz vor. Langsam nehme ich Peilung zu einzelnen Jungs auf, indem ich auf sie zugehe. Kurzgespräche, Small Talk.

Die Mädchen kichern, schalten in den Flirtmodus.

Ich gehe zurück an das Pult, die Lehrersicherheitszone zwischen Schülern und Lehrern.

Ein großer und durchtrainierter Schüler mit Sixpack ruft: »Der Herr Bocklos kann sich hier nicht durchsetzen. Der hat auch kein Interesse an uns! Der kommt immer zu spät, hat eh keinen Bock auf uns.«

Ein anderer schreit: »Ist eh alles sinnlos hier … Scheißfotzenschule.«

Manch eine(r) sitzt still und starrt stumm vor sich hin. Die leiden undercover; aber die meisten leiden laut. Die Stimmung ist aggressiv, gereizt, alles wirkt völlig außer Kontrolle. Die Schüler benehmen sich hyperaktiv, hypergereizt, fast hysterisch; jeder fällt jedem ins Wort. Es ist extrem laut, ständig kippen Stühle und landen krachend auf den Boden.

Diese Klasse ist ein wilder Haufen von Frustrierten. Verwahrlost. Verlassen. Die 15 Prozent.

Ich fühle mich immer mieser: Hab Mitleid mit denen. Und in mir steigt Wut hoch, Wut über diese Schule. Dieser Klassenraum ist abscheulich. Wie kann so was sein? Was soll das hier? Wo ist Pauker Bocklos? Wieso kommt nicht mal ein benachbarter Lehrer und schaut nach dem Rechten?

Es gilt immer noch der alte Spruch:

»Wird der Abstand zum Klassenbesten groß, ist der Weg zum Klassenrüpel klein«.

Bitte keine PISA-Loser mehr …

Akt 7: Das Opfer

Nach ca. 20 Minuten hetzt der Deutschlehrer Bocklos kommentarlos in die Klasse.

An alle Pauker und (Schul-)Pädagogen!

Die ersten Sekunden der Lehrerperformance vor der Klasse sind entscheidend für das künftige Lehrer-Schüler-Verhältnis. Wenn du in den ersten Minuten Mist baust und irgendwas Peinliches machst, wirst du schnell zum Opfer. Die Kids kennen sich aus mit Körpersprache, Haltung und Blick; die checken dich voll durch und riechen Angst und Not.

Also aufgepasst, ihr Pauker!

Bocklos steht im Raum und wird sofort von Jessica in einen Fight verwickelt. Jessica schminkt sich gerade. Bocklos schnauzt: »Pack bitte dein Schminkzeug weg!«

Jessica lächelt die Aufforderung aufreizend weg und schminkt sich einfach weiter.

Unser Pauker brüllt jetzt: »Pack jetzt sofort deinen verdammten Schminkkram weg!«

Und Jessica lächelt und schminkt sich lässig weiter.

Lehrer Bocklos gibt auf, eilt zum Pult und begrüßt mich hektisch.

Und die Klasse lacht ihn aus – er hat schon nach zwei Minuten komplett für heute (oder auch für immer) verloren.

Ich hab mich der Klasse dann noch mal vorgestellt und ein paar Fragen zu mir beantwortet beziehungsweise irgendwie lustig pariert (wie alt, Freundin ja oder nein, wie ich in der Schule war …), und dann nichts wie raus aus dem ganzen Chaos!

Später lass ich diesen Film eben noch mal vor meinem inneren Auge ablaufen: Lehrer Bocklos missachtet seine Klasse und wird dementsprechend behandelt. Auch der Klassenraum spiegelt die Situation wider: Er ist verwahrlost, abstoßend. Die Schüler verweigern den Unterricht, weil sie als Menschen überhaupt nicht angesprochen werden. Ein Teufelskreis entsteht: Der Lehrer geht nicht auf seine Schüler ein und diese gehen voll auf Angriff. Voll das Opfer, der Pauker Bocklos. Der hat verloren … genauso wie seine Schüler.

»Ein schlechter Jahrgang«

Übrigens, so eine chaotische Klasse gibt’s an fast jeder Schule immer mal wieder. »Ein schlechter Jahrgang!«, sagt dann meistens die Schulleitung. Dann wird mit Hektik, Aktionismus, Strafen, Klassenkonferenzen, Schuldzuweisungen und ungemütlichen Elternabenden versucht, die Situation in den Griff zu bekommen. Aber danach geht’s weiter wie immer … So funktioniert das!

Aber dass uncoole Schulen mit uncoolen Paukern solche Chaos-PISA-Loser-Truppen geradezu heranzüchten, weil sie keinen gemeinsamen Schulerziehungsplan haben und jeder Lehrer eigentlich macht, was er will, das wird nicht gesagt. Es gibt einfach keinen gemeinsamen Matchplan, kein Dazulernen, keine Strategie! Das Ergebnis ist: zu wenige Gewinner, zu viel Loser. Das habe ich immer mal wieder auch in stinknormalen Mittelschichtsrealschulklassen erlebt. Von wegen »schlechter Jahrgang«!

Es gibt zu viele schreiende oder stumm-verzweifelte Lehrer ohne Autorität, deren einzige Waffe die Notenkeule ist. Sie sind unfähig, ihre entfesselten Schüler und deren frustrierte und verzweifelte Eltern zu verstehen.

So ’ne Pleite.

Und jetzt stell ich euch erst mal ein paar Haupt- und ’nen Sonderschüler vor …

Zweite Geschichte: »Risikoschüler« und PISA-Loser

In Hauptschulklassen sind oft mehr Schüler als Schülerinnen. Mädchen kommen auch mit uncooler Schule meistens besser klar als Jungs und immer mehr von ihnen machen Abitur und studieren. Mädchen sind oft flexibler, selbstkritischer, ruhiger, kommunikativer als Jungs und damit auch besser fürs Pauken im Klassenraum geeignet.

Jungs sind nicht selten unruhig, maulfaul, wenig selbstkritisch. Sie machen deshalb nicht so eine gute Figur im Klassenraum. Die 15 Prozent sind überwiegend männlich! Ganz schlecht dran sind Jungs, die in Hauptschulklassen oder gar in Förderschulen gelandet sind. Furchtbar krass!

Deshalb folgen jetzt dreieinhalb krasse Geschichten über richtig schlechte männliche Haupt- beziehungsweise einen Förderschüler; die nur halb krasse Geschichte handelt von einer Hauptschülerin.

1. Walid

Die erste Geschichte handelt von einem 14-jährigen muslimischen jungen Mann namens Walid. Walid lernt langsam. Deshalb wird er als lernbehindert bezeichnet und als sogenannter Lernbehinderter ist er deshalb auch auf einer Lernbehindertenschule (Förderschule). Klingt erst mal normal korrekt. Denn das ist alles genau vermessen, getestet, selektiert und abgegrenzt in Deutschland. Statt Inklusion gibt’s Exklusion.

In Deutschlands Schulen wird nämlich andauernd gemessen und getestet, sodass man dann auch immer mehr kranke Schüler findet, die zum Beispiel ADS, AHDS oder wie Walid ’ne Lernbehinderung haben.

AD(H)S & Co.

ADHS, ADS, Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche), Dyskalkulie und Dysgrammatismus, Schulphobie, Schulverweigerung/Schulabsentismus und vieles mehr kann man an deutschen Schulen finden.

»Dys« bedeutet: abweichend von der Norm; krankhaft, übel, schlecht oder falsch …

Und manchmal gibt’s dazu sogar Dys-Pillen – arme Dys-Kids!

Zugegeben, unsere schwierigen Kids, diese 15 Prozent, sind mehr oder weniger unruhig, unzuverlässig, unkonzentriert, unmotiviert und unreif, aber nicht so oft krank, wie Eltern und Ärzte behaupten!

Klar gibt es wirklich kranke Kids. Aber Professor, Psychoarzt und Pillendreher erfinden immer neue Dys-Krankheiten und Dys-Pillen. Die Dys-Docs haben verdächtig viel zu tun, denn ihre Praxen sind voll mit Dys-Kids. Da kann doch was nicht stimmen!