Peter Falk oder die Kunst, Columbo zu sein - Uwe Killing - E-Book

Peter Falk oder die Kunst, Columbo zu sein E-Book

Uwe Killing

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Beschreibung

"Ach, eine Frage hätte ich da noch ..." Wegen seines Glasauges prophezeite man Peter Falk (1927-2011) keine besondere Zukunft - heute zählt er zu den populärsten Figuren der Fernsehgeschichte. Columbo ist Kult. Doch wer verbarg sich hinter diesem liebenswerten, zerknautschten Gesicht? Uwe Killing verfolgt in seiner Biografie bisher unbekannte Spuren, die einen neuen Blick auf Peter Falks Leben ermöglichen: Seine Anfänge in New York genauso wie seine abenteuerlichen Reisen nach Europa, das den Sohn jüdisch-osteuropäischer Auswanderer wie magisch angezogen hatte - von einer geheimen Liebe in Wien über lange römische Nächte bis zu seinen kuriosen Erlebnissen in Berlin, wohin er dem Ruf von Wim Wenders gefolgt war. Sichtbar wird der Mensch Peter Falk, der sein Leben genauso unangepasst und mit großer Lust auskostete wie sein legendäres Alter Ego Columbo.

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Uwe Killing Peter Falk

Uwe Killing

PETER FALK

oder

Die Kunst, Columbo zu sein

Biografie

Osburg Verlag

Erste Auflage 2016

© Osburg Verlag Hamburg 2016www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: G&U Language & Publishing Services GmbH, Flensburg ISBN 978-3-95510-103-9 eISBN 978-3-95510-110-7

FÜR LIV

INHALT

Prolog

1 A kid from New York

2 Der kleine Pate von Greenwich Village

3 Wo bitte geht’s nach Hollywood?

4 Eine Nacht in Wien

5 Mord nach neuem Rezept

6 Wer zuletzt lacht

7 Etüden in Schwarz

8 Teuflisch gut

9 Ladykiller

10 Spazieren gehen

11 Good Old Days

12 Ein Denkmal für Columbo

Anmerkungen

Literatur

Filmografie

Bildnachweis

Personenverzeichnis

»Ich liebe diesen Mann, und wahrscheinlich bin ich in meiner Persönlichkeit längst Columbo und habe es gar nicht gemerkt … Dieser Mann will sich nicht profilieren. Er ruht in sich, und es kümmert ihn nicht, was andere über ihn denken. Die Leute unterschätzen ihn gerne, und so kann er in aller Ruhe seine Arbeit erledigen.«

Peter Falk

 

Szene aus Der Himmel über Berlin – Drehort: Berlin-Wilmersdorf, Bundesallee

PROLOG

»Vom Suchen verstehe ich mehr als vom Finden.« Aus: Der Himmel über Berlin

Der Stand von Mehling’s Imbiss ist in keinem guten Zustand. Hier, direkt am Treppenaufgang der U-Bahn-Station Güntzelstraße, Linie 9, in Berlin-Wilmersdorf wird schon seit Jahren keine Currywurst mehr verkauft. Die Farbe am rot-weißen Bretterverschlag blättert ab. Neben der Verkaufsluke pappt hinter einer Glasscheibe die mit Fettspritzern versehene Urkunde einer Metzgerinnung. Seitlich davon hängen ein Zeitungsauschnitt mit dem herzhaft lachenden Richard von Weizsäcker in seiner Zeit als Regierender Bürgermeister und einige dieser Aushangfotos, mit denen in den achtziger Jahren noch Kinofilme in Schaukästen beworben wurden.

Eines der Motive zeigt den Schauspieler Peter Falk. Er trägt einen dunklen Wintermantel mit Fellkragen. In der linken Hand hält er eine Zigarette, seine Rechte hat er ausgestreckt, mit einer Geste, als wolle er den Betrachter näher zu sich heranziehen. Es ist sein unnachahmlicher Silberblick. Etwas zerstreut, aber warmherzig und sehr entspannt.

Dieses Bild, auch in diesem eher trüben Umfeld, löst sofort viele andere Bilder im Kopf aus, Kinobilder in satten Technicolor-Farben: Villen, die es nur in Beverly Hills gibt. Wo sich Sitzlandschaften mit Mustern wie auf den Hawaii-Hemden von Tom Selleck ausbreiten, so groß wie ganze Möbelhaus-Etagen. Dazwischen verteilt: vergoldete Telefone, stets griffbereiter Alkohol, devote Hausangestellte. Eine Welt, in der das Böse wohnt. Und in diese Welt tapst plötzlich jemand hinein, der so wirkt, als sei er gar nicht richtig wach oder mit seinen Gedanken ganz woanders. Doch man hat die Gewissheit: Am Ende wird der selbstherrliche Hausherr eines Mordes überführt sein, gestolpert über seinen Hochmut und entzaubert durch die Gerissenheit dieses kleinen, zerknautscht wirkenden Mannes.

Das Columbo-Phänomen: Ein Bild, ein kurzer Moment, eine typische Geste genügt, und nahezu jeder, der mit dem Fernsehen der siebziger Jahre aufgewachsen ist, hat sofort den Krimiklassiker vor Augen. Inspektor Columbo und seine unkonventionellen Ermittlungsmethoden. Seine liebenswerten Marotten. Die unterhaltsame Verbrechensaufklärung ganz ohne Waffengewalt. Dabei ist Columbo mehr als nur eine Kultfigur. Der Name weckt Vertrauen und Sympathie, das Columbohafte hat sich längst vom Fernsehen gelöst, ist in unseren allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Polizisten aller Länder machen von der »C-Methode« Gebrauch. Sie ist heute eine gängige Praxis, bei der bewusst kleine Ablenkungsmanöver eingesetzt werden, um ein Verhör in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und weit über das kriminalistische Milieu hinaus steht »Einer wie Columbo« dafür, dass man seine Ziele sehr wohl erreichen kann, auch wenn man sich nicht eitel in den Vordergrund spielt. Dass man seine Schwächen nicht verstecken muss. Dass man menschlich bleibt. Columbo ist universell. Er ist der Held aller Unterschätzten und Liebling der Unangepassten.

Der Begriff Ikone wird heute inflationär verwendet, und jede zweite Pizzeria schmückt ihre Wände mit den Autogrammkarten von C-Fernsehpromis. Die Betreiber von Mehling’s Imbiss aber konnten zu Recht stolz auf ihren Gast sein. Das vergilbte Foto zeigt Peter Falk in einer Szene des Filmes Der Himmel über Berlin, die im November 1986 vor ihrem Currywurst-Grill, dieser Berliner Institution, gedreht worden ist. Darin wärmt sich der Mann mit dem Columbo-Gesicht an einem gelben Plastikbecher mit Kaffee, als vor ihm aus dem herbstlichen Nebeldunst die Trapezkünstlerin Marion auftaucht. Sie sucht die Stadt nach einem Fremden ab, der ihr Herz berührt hat, aber plötzlich wieder verschwunden ist. Peter Falk verkörpert einen ehemaligen Engel, der inzwischen unter den Menschen wandelt. Und zwar in der Gestalt eines berühmten amerikanischen Schauspielers, der nach Berlin gekommen ist, um hier einen Film zu drehen. Dieser Ex-Engel weiß genau: Der gesuchte Fremde ist ein Engel, Damiel (Bruno Ganz), der sich aus Liebe zu dieser irdischen Frau entschlossen hat, ein Mensch zu werden, in diesem ungewohnten Zustand aber noch fröstelnd und hilflos umherirrt. Die Trapezkünstlerin (Solveig Dommartin) fragt: »Sie sind doch Inspektor, können Sie mir nicht helfen, ihn zu finden?« Dieser antwortet lächelnd und schüttelt leicht den Kopf: »Ach, ich verstehe wohl mehr vom Suchen.«

Peter Falk und sein Alter Ego Columbo verbanden sich im Himmel über Berlin zu einer engelhaften Erscheinung. Wim Wenders’ Großstadtmärchen entwickelte sich international zu einer der erfolgreichsten deutschen Kinoproduktionen der Nachkriegszeit. Wenige Jahre vor der deutschen Wiedervereinigung hielt es das geteilte Berlin mit seinen Kriegswunden und den Bewohnern dieser eingemauerten Insel in eindringlichen Bildern fest. Auch für Falk waren die Dreharbeiten ein einschneidendes Erlebnis. Er machte gerade eine mehrjährige Fernsehpause von Columbo und war glücklich, mit einem Filmemacher zu arbeiten, der für ein ambitioniertes Autorenkino stand. So wie sein enger Freund John Cassavetes, mit dem er einige Filme gedreht hatte, die heute zu den wichtigsten Werken des amerikanischen Independent-Kinos zählen, darunter Eine Frau unter Einfluss und Ehemänner.

Während der Dreharbeiten zu Der Himmel über Berlin erwanderte Peter Falk auf eigene Faust die Stadt, die für ihn auch Bezüge zur eigenen Lebensgeschichte herstellte. Den Westen, aber auch den Ostteil hinter der Mauer, der ihn besonders interessierte.

Er erinnerte sich an seine Deutsch sprechende »Oma«, an seine Vorfahren, die als jüdische Emigranten, vertrieben aus Polen, Russland, Ungarn und Tschechien, in New York ein neues Zuhause gefunden hatten. Als Student hatte er im früheren Jugoslawien geholfen, eine Eisenbahnstrecke zu bauen. Und während des Kalten Krieges wirkte er Mitte der sechziger Jahre in einem sowjetischen Film mit, was Falk beinahe seine hoffnungsvoll gestartete Karriere im Kino (eine Oscar-Nominierung an der Seite von Bette Davis) zunichte gemacht hätte.

Peter Falk war in jungen Jahren abenteuerhungrig und rebellisch. Er probierte vieles aus, fuhr als Schiffskoch zur See, erlebte die Kulturrevolution im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village, wurde auf Kuba irrtümlich für einen Kampfgenossen von Che Guevara gehalten. An seiner Berufung als Schauspieler zweifelte er lange. Als er sie schließlich annahm, machte er bald von sich reden, blieb aber zeitlebens ein unberechenbarer Künstler und suchender Mensch. Davon zeugen seine höchst unterschiedlichen Kinofilme und Theaterprojekte, aber auch die Art und Weise, wie er seine erfolgreichste Rolle, den außergewöhnlichen Ermittler Columbo, in mehr als drei Jahrzehnten mit seinen Lebenserfahrungen anreicherte.

Peter Falk, der für Wim Wenders zum Freund wurde, sei auf eine gewisse Art »sehr europäisch« gewesen«, so der Regisseur. Er hielt sich regelmäßig in Paris, Rom, Wien und vielen anderen Städten auf. Er interessierte sich für die Kulturschätze des Alten Kontinents, schätzte die Literatur, besuchte Museen und Ausstellungen. Mit der Wiener Künstlerin Susanne Widl unterhielt er mehr als 20 Jahre lang eine heimliche Beziehung.

Columbo gehört heute zur Popkultur. Die Serie setzte Maßstäbe, und trotz der atemberaubenden Weiterentwicklung der digitalen Massenmedien hat sie bei TV-Wiederholungen oder Sammler-Editionen auf DVD nichts von ihrem Charme verloren. Ihr Hauptdarsteller starb im Jahr 2011 nach einem erfüllten Leben im Alter von 83 Jahren. Peter Falk war mit Columbo verschmolzen. Er liebte diese Rolle in all ihren Facetten – und dass sie dabei immer ihr Geheimnis behielt.

Vieles aus dem Leben Peter Falks ist bekannt, aber längst nicht alles erzählt. Es gibt noch neue Spuren, die es lohnt zu verfolgen, und etliche unbekannte Seiten. Viele Zusammenhänge fügen sich neu zusammen oder werden aus der heutigen Distanz klarer.

Die Suche beginnt. Nach dem Mann, der die Kunst beherrschte, Columbo zu sein.

 

1 A KID FROM NEW YORK

Über dem Straßenschild hing ein großer Fetzen aus grauem Stoff. Aus der Entfernung sah es so aus, als sei er die Hinterlassenschaft eines wütenden Sturmes, der in den breiten, baumbesäumten Straßen von Ossining keine Seltenheit ist. Doch als die Menschen dem Schild näher kamen, erkannten sie: Es war ein Regenmantel. Nicht das graubeige Original, das Peter Falk jahrzehntelang als Dienstkleidung vor der Kamera aufgetragen hatte. Aber eine stilechte Columbo-Nachbildung, die sogar Flecken wie von verblassten Ketchup-Spritzern aufwies. Und auch sonst gab sich das Komitee der Stadtverwaltung viel Mühe, ihren berühmten Sohn nach so vielen Jahren willkommen zu heißen. In seiner alten Nachbarschaft, wo man ihn als »Falk’s Boy« kannte.

Am 30. August 2005, knapp sechs Jahre vor seinem Tod, stand Peter Falk ein letztes Mal vor dem Haus seiner Kindheit, 73 Prospect Avenue, Ossining, Bundesstaat New York. Es hatte sich wenig verändert hier. Eine kleine, beschauliche Vorstadt am Hudson River, rund fünfzig Kilometer flussaufwärts vom lärmenden Manhattan entfernt: Einfamilienhäuser mit großen Gärten, viele mit rot gestrichener Holzverkleidung, die meisten bereits erbaut in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wie auch das ehemalige Zuhause von Peter und seinen Eltern Michael und Madeline Falk, die in der Main Street, im Ortszentrum von Ossining, ein Textilgeschäft betrieben hatten.

Der junge Peter Falk in New York: »Ich habe mich langenicht getraut zu sagen: Ich bin Schauspieler.«

»Mein Mann hat als Junge mit Peter Basketball gespielt«, berichtete Barbara DiRito aufgeregt einem Reporter der New York Times. Und während sich der prominente Heimkehrer den Weg durch die Gruppe von schätzungsweise 200 Schaulustigen bahnte, erblickte er den winkenden Donald DiRito. Peter Falk, aus Los Angeles mit Baseball Cap und großgemustertem Blumenhemd angereist, steuerte sofort auf seinen alten Kumpel zu, um ihn herzlich zu umarmen: »Oh, ja, natürlich erinnere ich mich, aber in unserem Alter sollten wir das mit dem Sport jetzt lieber sein lassen, oder?« Ein anderer Mann möchte von dem ergrauten, 76-jährigen Hollywood-Star wissen, wann er das letzte Mal in Ossining gewesen sei. »Oh, Moment«, antwortete Falk, dabei angestrengt wie sein Alter Ego Columbo grübelnd, »ja, ich denke, das war 1995 zur fünfzigjährigen Feier meiner Abschlussklasse.«1

An diesem heißen Sommernachmittag kam es noch zu vielen solchen Begegnungen. Einige Menschen riefen ihn »Pete«. So wie in Jugendtagen, auf dem Schulhof oder beim Spielen auf der Straße, in der vornehmlich italienische Einwandererfamilien lebten. Einige frühere Weggefährten ließen sich im Rollstuhl zu diesem Ereignis schieben, sie wollten sich das Wiedersehen mit dem bekanntesten Sohn von Ossining (das heute rund 38 000 Einwohner zählt) nicht entgehen lassen. Ein nur in Jazz-Kreisen bekannter Gitarrist namens Sonny Sharrock war hier geboren. Und auch die Schauspielerin Anne Francis, die 1956 durch den Science-Fiction-Film Alarm im Weltall bekannt wurde. Francis war dann Mitte der sechziger Jahre die erste Frau im amerikanischen Fernsehen, die als scharfsinnige Detektivin Honey West eine eigene Serie erhielt. Eine außergewöhnliche Schauspielerin und ihre Rolle eine große Pioniertat im männerdominierten Krimigenre, aber dennoch kein Vergleich mit dem Mann, den als Inspektor Columbo die ganze Welt kennt. »Mein Gott, Pete, so gut, dich zu sehen.« – »Pete, hier bitte, noch einmal in die Kamera …«

Peter Falk schüttelte unentwegt Hände, ließ sich, geduldig lächelnd, mit lokalen Politikern und Bewohnern fotografieren, signierte viele gelbe Jahrbücher seiner alten Schule, der Ossining High School. Der Schauspieler war sichtlich gerührt von dem Empfang, an dessen Ende eine besondere Geste stand: Falk durfte das neu aufgestellte Straßenschild unweit seines Elternhauses enthüllen, indem er es unter lautstarkem Beifall von Columbos Trenchcoat befreite. Seitdem trägt der Rasenplatz an der Kreuzung Prospect Avenue/ Upper Eastern Avenue den Namen »Peter Falk Place«.

Peter Michael Falk wurde am 16. September 1927 in New York geboren und wuchs in der Bronx auf, wo er seine ersten sechs Lebensjahre verbrachte. Sein Vater Michael und seine Mutter Madeline, geborene Hochhauser, entstammten jüdischen Familien aus Osteuropa. Mehr als zwei Millionen Juden, die vor allem in Russland und Polen wegen ihres Glaubens verfolgt worden waren, erreichten zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und 1924 (dem Jahr, an dem die Einreisebestimmungen drastisch verschärft wurden) den rettenden Hafen von New York. Die meisten Juden ließen sich auch gleich in der pulsierenden Stadt mit der 1886 eingeweihten Freiheitsstatue nieder. Michael Falks Eltern waren Polen mit Verbindungen nach Ungarn. Die Familie von Madeline Hochhauser hatte ihre Wurzeln in Russland und Tschechien.

Jeder vierte Einwohner New Yorks war Mitte der zwanziger Jahre jüdischer Herkunft. In der Mehrheit übten die Juden Kaufmannsberufe aus oder fassten Fuß in der boomenden New Yorker Finanzwelt. Mit dem Börsencrash von 1929, der die Ära der großen, zwölf Jahre andauernden Depression einleitete, verschlechterten sich dann mit einem Schlag die Lebensbedingungen, insbesondere unter den Einwanderern. Sich in der gepriesenen »Neuen Welt« zu behaupten, wurde zum täglichen Kampf um Arbeit und Brot. Michael Falk, der einen Textilhandel betrieb, zog daraus die Konsequenz, indem er im Jahr 1933 mit seiner jungen Familie New York den Rücken kehrte.

Für die Eröffnung eines neuen Geschäfts wählte der Kaufmann den Ort Ossining aus. Dort war die Einwohnerzahl in den Jahren 1920 bis 1930 von 12 300 auf 18 000 angestiegen, und dieser Aufschwung hatte vor allem mit dem bekanntesten Gebäude der Kleinstadt zu tun – der Haftanstalt Sing-Sing. Diese ist in den USA mindestens genau so legendär wie die Gefängnisinsel von Alcatraz. Der Name ist indianischer Herkunft und verweist darauf, dass die Hochsicherheitseinrichtung im Jahr 1836 auf dem ehemaligen Land des Sint-Sinck-Stammes errichtet worden war. Schwerverbrecher aus allen Bundesstaaten saßen hier ein, darunter viele Kriminelle aus dem nahen New York, wo das organisierte Verbrechen zu Zeiten von Depression und staatlichem Alkoholverbot einen rasanten Aufstieg erlebte. Berüchtigte Mafia-Killer wie Harry Maione oder Louis Capone wurden in Sing-Sing hingerichtet.

Das Gefängnis sorgte als größter Arbeitgeber dafür, dass die Menschen in Ossining besser durch die Wirtschaftskrise kamen als in vielen anderen Orten. Auch Michael Falk machte gute Geschäfte mit der Gefängnisverwaltung, er lieferte Stoffe für Häftlingskleidung und Bettwäsche, bot in seinem Laden zudem Waren wie Knöpfe, Garne und Schnallen an. Ehefrau Madeline half tatkräftig im Laden mit aus und kümmerte sich um die Buchhaltung. Sohn Peter war deshalb nach Schulschluss meistens auf sich allein gestellt. Er fand jedoch schnell Freunde in seiner Klasse wie auch in der Nachbarschaft. Der aufgeweckte Junge mit den lockigen, dunklen Haaren war beliebt. Er machte ständig Witze, konnte andere mitreißen und war jemand, der sofort im Mittelpunkt stand, ob als Klassensprecher oder Anführer der Baseball-Schülermannschaft. »Falk’s Boy«, der Neue, der Zugezogene aus New York, war etwas Besonderes. Auch deshalb, weil er etwas besaß, das ihn von allen anderen Jungs der Schule unterschied: Peter konnte eines seiner beiden Augen herausnehmen. Es bestand aus Glas.

Peter hatte sein künstliches Auge im Alter von drei Jahren bekommen. Und es ist das erste Kindheitserlebnis, an das er sich später bewusst erinnern konnte: »Ich weiß noch genau, dass ich mit meiner Mutter und einem Doktor vor einer offenen Aufzugstür stand. Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Dann sagte meine Mutter zu mir: ›Junge, ich muss noch einmal ins Zimmer zurückgehen und meine Handtasche holen.‹ Dann hat der Doktor meine Hand genommen und ist mit mir in den Aufzug gegangen. Und ich habe ihm immer wieder gesagt, er solle noch warten, meine Mutter komme bestimmt sofort zurück. Sie müsse nur ihre Tasche holen. Dann kann ich mich nur noch erinnern, dass ich eingeschlafen bin und irgendwann alles vorüber war.«2

Der Dreijährige wachte ohne sein rechtes Auge auf. Es musste operativ entfernt werden, weil die Ärzte einen bösartigen Tumor in seinem Kopf, direkt hinter dem Sehorgan, entdeckt hatten. Glücklicherweise waren die Symptome rechtzeitig diagnostiziert worden. Bei einem späteren Eingriff wäre es wahrscheinlich gewesen, dass die Krebswucherungen auch Teile des Gehirns angegriffen und zu lebensbedrohlichen Schäden geführt hätten. Einem der Erzieher in der Ganztags-Vorschule, die Peter in der Bronx besuchte, war bei ihm ein merkwürdiges Verhalten aufgefallen: Immer wenn der Junge beim Spielen etwas mit seinem Blick fixierte, legte er seinen Kopf schräg. Nachdem seine Mutter daraufhin einen Arzt aufgesucht hatte, überwies dieser Peter an ein Hospital, wo der Eingriff gleich am nächsten Tag vorgenommen wurde.

»Meine nächste Erinnerung ist, dass ich mich in einem großen Raum befand, einen Apfel aß und zwischen Erwachsenen herumlief, die in Betten lagen, aber nichts sagten. Und irgendwann stand ich vor einem Schaufenster, während mir meine Mutter ihre Hand auf die Schulter legte. Ich schaute auf die Fotos von Männern, die Augenbinden trugen, und Mom fragte mich, welche mir am besten gefiele. Dieser Moment hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.«3

Aus einer Narkose aufzuwachen und dann festzustellen, dass einem ein Auge fehlt, muss für ein dreijähriges Kind ein traumatisches Erlebnis sein. Wenn er allein war, habe er das Glasauge oft herausgenommen und damit gespielt. In Gegenwart anderer Kinder war das anders. Da wollte er nicht auffallen, und ihm sei es zunächst unangenehm gewesen, wenn er auf sein Handicap angesprochen wurde: »Doch dann kam die Zeit, in der ich realisierte, dass es unwichtig ist, ob du ein oder zwei Augen hast. Und in dieser Phase hat es mir sehr geholfen, mit den anderen Jungs Sport zu treiben.«4 Peter meldete sich für alle Team-Sportarten seiner Schule an. Beim Baseball gehörte er aufgrund der Beeinträchtigung seiner Zielgenauigkeit zwangsläufig nicht zu den besten Werfern. Doch das machte er durch Schnelligkeit und unbändigen Einsatzwillen wett. Seine Mitspieler liebten ihn, vor allem auch seine Spontaneität und seine Fähigkeit zur Selbstironie, die sich allmählich herausbildete. Als Peter sich in einem Baseball-Spiel aufgrund einer für ihn offensichtlichen Fehlentscheidung des Schiedsrichters benachteiligt fühlte, rannte er aufgebracht auf diesen zu: »Ich habe mich darüber so geärgert, dass ich mein Glasauge herausnahm, es ihm entgegenreichte und sagte: ›Versuchen sie es einmal mit diesem hier. Sie glauben nicht, was das für ein Brüller war. Sogar die Spieler der gegnerischen Mannschaft wälzten sich im Gras vor Lachen.«5 In solchen Situationen lernte Peter etwas, das ihn in seinem späteren Beruf – und auch im Umgang mit anderen Menschen – noch sehr viele Sympathien einbringen würde: Er wusste, wie man sein Gegenüber mit einer gut gesetzten Pointe zum Lachen bringt.

Obwohl der umtriebige »Pete« zu den kleinsten Jungs seines Jahrganges zählte, wurde er schließlich sogar in das Basketball-Jugendteam der Stadt Ossining berufen. Auch hier überragten ihn fast alle, doch man schätzte sein dynamisches, kaltschnäuziges Spiel und die Tricks, mit denen er seine Gegner verwirren konnte: »Ich war schnell wie der Teufel, und deshalb durfte ich mitmachen.« Sein Team trat während der Saison auch regelmäßig zu Freundschaftsspielen auf dem Court des städtischen Gefängnisses an. »Die Häftlinge waren jedoch zu stark für uns«, so Falk, »wir bekamen jedes Mal den Hintern versohlt. An einen Spieler erinnere ich mich besonders. Er hieß Piggy Sands, saß lebenslänglich, und konnte unglaublich gut Basketball spielen.«6

Die schweren Jungs übten auf Peter und seine Gang eine große Faszination aus. Denn in Sing-Sing erlebten sie das als hautnahe Realität, was andere Gleichaltrige sonst nur aus dem Kino kannten. Ihnen jedoch traten echte Schnapsschmuggler, Auftragskiller, sogar Mafia-Mitglieder gegenüber oder klauten ihnen den Ball. Das berüchtigte Gefängnis wurde öfters als Drehort genutzt, etwa für den vom Casablanca-Regisseur Michael Curtiz gedrehten Gefängnis-Film 20 000 Jahre in Sing-Sing (1932) mit Spencer Tracy und Bette Davis in den Hauptrollen. In vielen anderen Filmen des in den dreißiger und frühen vierziger Jahren so populären Gangstergenres stand Sing-Sing als Synonym. Es war der Ort, den all die eleganten Mobster, die sich aus kleinen Verhältnissen mühsam emporgearbeitet hatten, ihr Leben lang fürchten mussten. So taten James Cagney, Edward G. Robinson oder der noch junge Humphrey Bogart in ihren Rollen alles, um nicht »up the river« oder »in the big house« zu enden (wie das Gefängnis samt seinem berüchtigten Elektrischen Stuhl im amerikanischen Gangster-Slang genannt wurde).

Die populärsten Darsteller dieser Herrscher der Unterwelt waren alle keine Riesen. Auch das gefiel dem jugendlichen Peter an seinen damaligen Kinohelden: Kleine, zähe Männer, die sich auf ihre Art enormen Respekt verschafften. Und wenn Peter mit seinen Freunden, darunter etliche Italoamerikaner, auf der Straße oder in verrauchten Kneipen zum Pool-Billard herumhing, mimte er zur Unterhaltung der anderen gern die Gesten der kleinen, großen Gangster-Könige nach. Besonders Edward G. Robinson und dessen unerschütterliches Pokerface hatten es ihm angetan.

Die Jahre an der High School hat Peter Falk, wie er später immer wieder hervorhob, sehr genossen. Es war eine unbeschwerte, aufregende Zeit. Alles erschien ihm spielerisch – der Sport, die Streiche mit seinen Kumpels, das Witzereißen und Nachspielen von Filmszenen. Religion interessierte ihn überhaupt nicht, und nach seiner Bar-Mizwa-Feier mit 13 Jahren kam er mit dem jüdischen Brauchtum nie wieder in Berührung. In seinem Freundeskreis offenbarte sich schon ganz früh sein darstellerisches Talent und seine Improvisationsgabe. Dennoch kam ihm lange nicht in den Sinn, sich für den Beruf des Schauspielers zu interessieren. Dabei gab er in seinem Abschlussjahr sein Bühnendebüt in der Theatergruppe der Schule. An das Engagement war er ohne eigene Anstrengung gekommen: Zwei Tage vor der Premiere erkrankte ein Darsteller, und als Klassensprecher wurde Peter gebeten, einzuspringen und die Rolle zu übernehmen. Trotz dieses kurzfristigen Engagements absolvierte Peter seinen Auftritt in dem Melodram mit dem Titel Double Door souverän: Er trat lediglich in der letzten Szene auf, bezeichnenderweise in der Rolle eines Detektivs, der alle Rätsel der versponnenen Handlung mit einem Mal auflöst. Dem Neuling, der zuvor lediglich in einem Kinder-Musical während eines Ferienlagers aufgetreten war, gefiel die Bühne auf Anhieb. Doch auch da sagte er sich: »Es ist lächerlich, einem meiner Freunde von der Idee, Schauspieler zu werden, zu erzählen. Und ich hatte sehr naive und romantische Vorstellungen, nahm an, dass alle Schauspieler aus Europa kamen, weil ich dort, wo ich herkam, nie einen Schauspieler zu Gesicht bekommen hatte.«7

Nach der High School, die er mit guten Noten abschloss, hatte Peter wenig konkrete Vorstellungen bezüglich seiner Berufswahl. Eine Karriere als Profisportler hätte er schon gerne eingeschlagen.

Aber mit nur einem Auge? Keine Chance. Ziemlich genau wusste er allerdings, was er nicht wollte, nämlich irgendwann im Geschäft seines Vaters, eines prinzipientreuen Menschen und gewissenhaften Kaufmanns, zu arbeiten. So kreisten die Gedanken des 17-Jährigen vor allem darum, Mädchen kennenzulernen und das angenehme Leben der High-School-Jahre erst einmal auch auf dem College fortzusetzen. Literatur, Kunst, Politik und Geschichte, besonders die seiner Vorfahren aus Europa: All das interessierte ihn. Doch wie man damit später Geld verdienen könnte, fragte er sich nicht. Und so besaß Peter Falk keinerlei Plan für seine Zukunft, als er sich Juni 1945 am Hamilton College in Clinton, einer idyllischen Kleinstadt nördlich von New York, einschrieb.

Das College gefiel ihm überhaupt nicht. Auf dem Campus herrschte eine merkwürdige Stille. Die wenigen Studenten, die Peter dort antraf, waren fast alle deutlich älter als er, einige von ihnen waren gerade aus Europa zurückgekehrt, wo sie als Soldaten gekämpft hatten. Das Ende des Zweiten Weltkrieges lag erst wenige Wochen zurück. Peter war unzufrieden: »Ich habe gleich gespürt, dass ich mich hier nicht besonders wohl fühlen werde. Vor allem: Wo waren die Mädchen?« Es gab keine. Peter wurde erst nach Tagen bewusst, dass er sich an einem ausschließlich für Jungen zugelassenen College angemeldet hatte: »Jemand, der halbwegs bei Verstand ist, hätte das wissen müssen. Ich halte mich eigentlich nicht für dumm, aber ein Teil von mir lebt anscheinend auf dem Mond.«8

Nach nur einem Monat hatte Peter genug von der gedämpften Stimmung auf dem College-Gelände und dem auch nicht gerade aufregenden Nachtleben in Clinton. Ihm stand der Sinn nach Abenteuern und neuen Erfahrungen. Und so beschloss er, sich bei der Army zu bewerben. Noch waren große Bataillone der US-Army in Europa und vor allem Deutschland stationiert. Ihn reizte die Aussicht auf Kameradschaft und eine spannende Mission in Europa. Trotz seines Handicaps trat er zur Aufnahmeprüfung an, und er glaubte, sich mit seiner Schlitzohrigkeit durch den obligatorischen Sehtest mogeln zu können. Er las zwei Mal mit dem linken Auge und versuchte, seine Prothese (die mittlerweile aus Plastik bestand und sehr viel widerstandsfähiger war) zu vertuschen. Der Schwindel flog auf. Man gab ihm jedoch die Empfehlung mit auf den Weg, es bei der Handelsmarine zu versuchen.

Peters Einäugigkeit verhinderte jegliche Arbeit an Deck. Sie boten ihm stattdessen den Kombüsendienst an. Der verhinderte Soldat, dem sonst keine rechte Job-Alternative einfiel, willigte ein. Als dritter Koch stand er in der Rangordnung ganz weit unten. Doch die Fahrt sollte ihn über den Atlantik nach Frankreich führen. Eine Aussicht, die ihm gefiel. Im Hafen von Marseille gingen amerikanische Soldaten an Bord des Schiffes, das sie mit zurück in die Heimat nahm. Aufgabe des Hilfskochs war es, täglich 400 Schweinekoteletts für das Mittagessen an Bord zuzubereiten. Während der Fahrt freundete sich Peter mit zwei anderen Köchen an, Chip und Joe.

»Joe stammte aus Kalifornien, ich teilte mir die Kajüte mit ihm. In der ersten Nacht an Bord lag er schon im Pyjama in seiner Koje und beobachtete mich schweigend dabei, wie ich mich auszog. Damals trug ich eine herausnehmbare Zahnspange über den Vorderzähnen. Ich nahm das Teil heraus und legte es mit einem klappernden Geräusch auf das Regalbrett neben meinem Bett. Dann fischte ich mein Auge aus der Höhle. Es machte dann auch ein kleines Geräusch, als es auf das Holz stieß. Dann habe ich mich zu meinen Knien hinuntergebeugt und so getan, als ob ich ein künstliches Bein in Position bringen würde. Daraufhin ist Joe aus seiner Koje gesprungen und meinte zu mir: ›Entschuldige, aber ich muss noch mal an die frische Luft.‹«9

Nach ihrer Rückkehr heuerten Chip, Joe und Peter wenig später gemeinsam für einen neuen, sehr viel längeren Trip nach Südamerika an. Peter war in der Mannschaft beliebt und fühlte sich wohl an Bord, wo er die Küche zeitweilig verlassen konnte, um als Aushilfskraft an Deck das Essen zu servieren. Die Zeit auf See und vor allem auch die Erkundungen an Land genoss er, doch nach einem Jahr reichte ihm das Herumreisen. Zunächst setzte er formell sein Studium in Clinton fort, doch nach nur drei Monaten verließ ihn der studentische Elan wieder. Er hatte gehört, dass sich im Roosevelt Hotel in Manhattan eine Rekrutierungsstelle der israelischen Armee befand. Der junge jüdische Staat Israel führte damals Krieg mit Ägypten und anderen arabischen Nachbarn. Peter, amerikanischer Jude, meldete sich als Freiwilliger. Das Ticket für die Reise nach Israel war bereits ausgestellt, doch mit dem Waffenstillstandsabkommen, das die Kriegsgegner im Februar 1949 abschlossen, wurde die Mission hinfällig. Der junge Peter Falk sollte sich weder als glühender amerikanischer Patriot noch als militanter Glaubenskrieger hervortun. Zum Militär hatte es ihn ein zweites Mal gezogen, weil er einfach Abwechslung in seinem Leben suchte.

Nach diesem Erlebnis nahm sich Peter eine erste eigene Wohnung im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Das College hatte er endgültig verlassen, er deckte sich mit Stapeln von Büchern ein, um möglicherweise über die Literatur zu einem höheren Lebenssinn vorzustoßen. Zu seinen bevorzugten Autoren zählten Ernest Hemingway, Joseph Conrad, John Dos Passos, aber auch die großen russischen Erzähler Tschechow und Dostojewski. Peters Vater weigerte sich, diese Art von Privatstudium weiterhin finanziell zu unterstützen. Michael Falk, der hart arbeitende Kaufmann, betrachtete so etwas als Nichtstun. Peter hatte auf den Handelsschiffen genug Geld verdient, um zunächst selbst für die Miete aufzukommen. Nach einigen Monaten des Lesens und Herumstreifens im Künstlerund Studentenviertel von Greenwich Village beschlich ihn jedoch ein merkwürdiges Gefühl: »Es fiel mir schwer, anderen Menschen zu erklären, was ich eigentlich machte.«10 An einem College eingebunden zu sein, würde ihm lästige Fragen ersparen und ihm nach außen hin einen anderen Status verleihen.

Peter schrieb sich an der New School of Social Research ein. Die private Universität, nur einige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, war bekannt für ihr linksliberales Klima. Viele Exilanten und aus Europa vertriebene jüdische Intellektuelle hatten hier ihre geistige Heimat gefunden. Peter wählte die Fächer Politik sowie Literatur und konnte somit seiner Leseleidenschaft weiter nachgehen. Im Vorlesungsverzeichnis entdeckte er, dass ihm die Mitwirkung an einem Theaterstück zusätzliche Punkte zur Erlangung seines Abschlusses (Bachelor of Arts Degree) einbringen würde. Er hatte auf der High School bereits auf der Bühne gestanden – warum also nicht? Das Drama, in dem er eine Rolle erhielt, hieß The Time of your Life und stammte von William Saroyan, der dafür den Pulitzer-Preis bekommen hatte. Wieder hinterließ Peter einen starken Eindruck, und direkt nach der Premiere kam der Leiter auf ihn zu und bot ihm einen festen Platz in seiner Schauspielklasse an.

Der Theater-Direktor hieß Erwin Piscator. Piscator war ein großer Name in der internationalen Bühnenwelt. Der gebürtige Deutsche gehörte im Berlin der Weimarer Zeit zu den herausragenden Theoretikern und Erneuerern des politischen Theaters. Nach dem vorübergehenden Exil in Moskau und seiner Umsiedlung in die USA im Jahr 1940 war dem überzeugten Kommunisten angeboten worden, einen »Dramatic Workshop« an der New School of Social Research aufzubauen. Zu seinen prominenten Schülern zählten in den Folgejahren namhafte Schauspieler wie Marlon Brando, Harry Belafonte, Walter Matthau, Tony Curtis, Ben Gazzara (mit dem Falk später eng befreundet sein sollte) und auch der Dramatiker Tennessee Williams. Erwin Piscators Klasse war eine Institution des progressiven Theaters – weit über die Grenzen von New York hinaus. In der McCarthy-Ära geriet er zwangsläufig in den Fokus des Komitees für unamerikanische Umtriebe. Piscator erhielt im Jahr 1951 eine Vorladung für das berüchtigte Tribunal, bei dem andersdenkende Film- und Theaterschaffende in aller Öffentlichkeit als Kommunistenfreunde geächtet und mit Berufsverbot belegt wurden. Der verdiente Theatermann erschien dort aber nicht, sondern verließ umgehend und verbittert die USA, um in sein Geburtsland Deutschland zurückzukehren und dort wieder an Bühnen zu arbeiten.

Peter Falk ist die Bedeutung von Erwin Piscator erst später bewusst geworden. Das damalige Angebot des großen Regisseurs, in seine Klasse zu kommen, hatte er höflich abgelehnt: »Noch in der Premieren-Nacht erzählte ich Freunden in einer Kneipe namens Louie’s Tavern über das Gespräch mit Piscator. Ich hatte ihm geantwortet, dass ich mein Spiel als ganz ordentlich empfunden hätte. Doch verglichen mit dem wirklichen Leben, sei es nichts gewesen. Piscator sah das offensichtlich anders, und ich hatte ihn tragischerweise missverstanden. Denn über das Schauspielern dachte ich zum damaligen Zeitpunkt immer noch, dass es eine durch Geburt gegebene außerordentliche Gabe ist.« Eine Gabe, die der orientierungslose Student aber nicht zu besitzen glaubte: »Zu den Jungs an der Bar sagte ich: Dazu sind andere berufen. Nicht ich. Fall beendet.«11

Peter studierte zu Ende, und seinen Bachelor-Abschluss im Sommer 1951 konnte er kaum erwarten. Nicht um, einen Beruf zu ergreifen, sondern um möglichst bald nach Paris zu fliegen. Dort wartete eine amerikanische Studentin namens Sheila auf ihn. Er hatte sie am College kennengelernt, und nun verbrachte sie ein Auslandssemester in der französischen Hauptstadt. Peter reiste ihr nach: »Wenn man mich gefragt hätte, wie lange ich bleiben wollte oder welche Pläne es für die Zeit nach Paris gäbe, ich hätte es nicht beantworten können. Meine Perspektive reichte bis zum nächsten Wochenende. Es konnte alles passieren. Das Einzige, was ich wusste, war: Ich wollte mit Sheila zusammen sein.«12

Eine Liebe in Paris. Das Paar verbrachte unbeschwerte Tage. In Europa war Anfang der fünfziger Jahre vieles anders und freier als in den Staaten. In den Pariser Cafés wurde heftig über Politik debattiert, und man hatte plötzlich Zugang zu Nachrichten, die hier auf europäischem Boden eine unmittelbare Brisanz entfalteten. Das betraf insbesondere die Entwicklung in Jugoslawien, wo sich der frühere Partisanenführer und nunmehrige Staatschef Tito aus dem starren Ostblock herauslöste, um einen unabhängigen sozialistischen Staat zu etablieren. Nachdem es 1948 schließlich zum totalen Bruch mit dem sowjetischen Diktator Stalin gekommen war, wurden die jugoslawischen Grenzen durchlässiger. Tito begann, Geschäfte mit dem kapitalistischen Westen zu machen, und er forderte Jugendliche aus aller Welt auf, in sein Land zu kommen und sich vom Aufbau einer neuen Gesellschaftsform zu überzeugen. Sheila und Peter fühlten sich angesprochen: »Wir waren neugierig, wie es hinter dem Eisernen Vorhang aussieht. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wer von uns beiden die Idee zuerst aufbrachte, aber wir haben uns schließlich gesagt: Warum nicht? Lass uns einfach dort hinfahren und sehen, was passiert.«13

Von Paris brach das Paar mit Louie, dem Cockerspaniel von Sheila, in einem gemieteten Jeep in Richtung Italien auf, um in Triest die jugoslawische Grenze zu passieren. Dort drohte das Unternehmen bereits zu scheitern. Triest stellte damals eine besondere diplomatische Schutzzone unter amerikanischer, britischer und italienischer Verwaltung dar, nachdem am Ende des Zweiten Weltkrieges Titos Truppen versucht hatten, sich die lange zu Österreich-Ungarn gehörende Stadt einzuverleiben. Der Schwarzhandel blühte in der Grenzstadt, wurde aber auch polizeilich streng verfolgt.

In dieser Situation versuchte Peter einen heiklen Deal: Es war Wochenende, und die Banken hatten geschlossen. Deshalb wollte er in einem Restaurant mit italienischen Lire zahlen, um US-Dollar zurückzubekommen, die er dann auf dem Schwarzmarkt gegen jugoslawische Dinar eintauschen wollte. Doch der Besitzer wollte keine Lire akzeptieren, und da ihm der Amerikaner verdächtig vorkam, rief er die Polizei. Peter: »Als diese eintraf, habe ich mich ziemlich erregt, und Sheila hatte ein noch größeres Mundwerk. Das war eine ziemlich dumme Aktion. Sie endete für mich in einer Gefängniszelle.«14 Am nächsten Tag wurde er jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem Sheila ihre Redekunst inzwischen erfolgreich bei einem amerikanischen Offizier eingesetzt hatte. Es sollte nicht Peter Falks einzige Verhaftung bleiben. Das Schicksal erteilte den Mann, der in seiner Jugend mit den Häftlingen von Sing-Sing Basketball gespielt hatte, noch drei Mal in seinem Leben.

Das Paar reiste fast ein halbes Jahr durch Titos Reich. Da es nur wenige gut befestigte Straßen gab, blieb ihr Fahrzeug regelmäßig im Schlamm stecken oder wurde von einem geplatzten Reifen zum Stehen gebracht. Es gibt ein Foto, das die beiden zeigt, wie sie bei einem ihrer unfreiwilligen Stopps von neugierigen Einheimischen in Trachtenkleidung umringt werden. Einen Jeep kannte man dort aus Militäreinsätzen, aber nicht als Gefährt von zwei verwegenen Amerikanern, die auf eigene Faust ihr gerade für Ausländer geöffnetes Land erkunden. Ein paar Wochen verbrachten Peter und Sheila schließlich in einem internationalen Arbeitscamp in der Nähe von Sarajewo, dem heutigen Bosnien. Es gehörte zu den Lieblingsprojekten von Tito. Junge Menschen verschiedener Herkunft, vornehmlich aus den Jugendorganisationen sozialistischer, europäischer Parteien (z.B. »Die Falken – Die sozialistische Jugend Deutschlands«), nahmen daran teil. Ein Liebespaar aus dem Land des langjährigen Klassenfeindes, vom Abenteuerhunger so weit getrieben, stellte in diesem Kreis politischer und friedensbewegter Aktivisten etwas absolut Exotisches dar.

»Wir haben geholfen, eine Eisenbahnlinie zu errichten. Besondere Ingenieurkenntnisse waren dafür nicht erforderlich. Unsere Aufgabe war es, Steinblöcke von A nach B zu transportieren. Wir haben dort viel gelacht. Allein die Versuche, sich unter solch vielen Sprachen verständlich zu machen, waren sehr komisch. Und dann gab es eine völkerverbindende Gemeinsamkeit: Wir alle litten unter heftigem Durchfall.«15

Die Romanze von Sheila und Peter endete wenig später im Hafen von Genua, wo sich nach Falks Erinnerungen vor dem Abschied filmreife Szenen abspielten. Das Paar hatte ein Schlafwagenabteil im Nachtzug von Paris gebucht, um unter Mithilfe von schwerem Rotwein letzte kostbare, intime Stunden miteinander zu verbringen. So verschliefen sie allerdings die Ankunft in Genua und mussten sich mit dem Zusammenpacken beeilen, um das nach Amerika auslaufende Schiff nicht zu verpassen. Unglücklicherweise hielten sie dann mehrere Pass-Kontrollen zusätzlich auf, und Peter, ein durchtrainierter Sportler, musste alle seine Kräfte für einen halsbrecherischen Sprint in Richtung Ablegestelle mobilisieren. Das Schiff war nur einige Meter von ihm entfernt, als schließlich ein übereifriger Kontrolleur nochmals den Pass des abgehetzten, völlig verschwitzten Passagiers sehen wollte. Während Peter das Dokument nicht auf Anhieb fand (weil er es in der Hektik zuvor in einen anderen Koffer gesteckt hatte), legte das Schiff mit lautem Tuten ab: »In diesem Moment habe ich meinen Pass hochgerissen und den Mann damit geohrfeigt. Ein heftiger Kampf war die Folge, und ich fiel zu Boden. Drei Beamte knieten schließlich auf mir und hielten mich fest, während Sheila herbeieilte und mit ihrem Regenschirm auf die Männer einschlug.«16 Es folgte die zweite Verhaftung während des Europatrips.

Auf dem Polizeirevier von Genua musste er nur wenige Stunden verbringen, nachdem die Gemüter sich abgekühlt und Peter mit demütigem Blick beim diensthabenden Kriminalbeamten zu Kreuze gekrochen war. Er konnte dann am nächsten Tag von Neapel aus die Heimreise antreten – mit gemischten Gefühlen: »Am Dock in New York würde niemand auf mich warten, schlimmer noch, was würde ich am nächsten Morgen machen? Womit soll ich nur meinen Lebensunterhalt verdienen?«17 Als Einziges fiel ihm ein, ein weiteres Mal seine Studienzeit zu verlängern. So wälzte er die Vorlesungsverzeichnisse verschiedener Lehrinstitute in und um New York. Dabei stieß er auf einen neuen Modell-Studiengang an der Syracuse University: Er war auf 30 Studenten limitiert und sollte diese für einen Verwaltungsjob in einer Bundesbehörde ausbilden.

Washington, Weißes Haus, große Politik: Das schwirrte Peter wohl im Kopf herum, als er einen der Plätze erhielt. Er machte sich aber wohl nicht richtig klar, dass er dabei war, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Was ihn ablenkte, war erneut die Theatergruppe der Universität. Dort erhielt er eine Rolle in Shakespeares Drama Der Sturm. Er spielte Gonsalo, den weisen Vertrauten Alonsos, des Königs von Neapel. Auf die Proben freute er sich ganz besonders, denn hinter der Bühne half eine angehende Modezeichnerin mit dem Namen Alyce in der Requisite aus. Sheila und die Erinnerung an Pariser Nächte waren längst verflogen. Peter war neu verliebt und er überlegte, wie er das Mädchen am besten ansprechen könne. Da stand Alyce plötzlich bei einer Vorstellung direkt neben ihm auf der Bühne. Sie war für eine erkrankte Elfe eingesprungen und tanzte in einer Szene mit anderen lieblichen Fabelwesen um den königlichen Hofstaat herum. Als sie Peter ganz nah kam, flüsterte dieser ihr zu:

»›Ich gebe dir nachher einen Vierteldollar, wenn du es schaffst, am Bart des Königs zu ziehen.‹ Als sie später wieder bei mir vorbeikam und mich streifte, hauchte sie mir ins Ohr: ›Du kannst mich mal.‹ Das waren ihre ersten Worte zu dem Mann, der später ihr Ehemann werden sollte. Als sie mich dann ein drittes Mal umtänzelte, lud ich sie zum Kaffee ein.«18

Gegen Ende des Studienprogramms realisierte Peter seine Zukunft dann doch allmählich: Arbeit am Schreibtisch, Akten sichten, geregelte Bürozeiten von neun bis fünf. Im Rahmen einer Abschlussfahrt nach Washington sollten die 30 Stipendiaten schließlich verschiedene Abteilungen und ihre möglichen Vorgesetzten kennenlernen. Die Reise versetzte Peter in nervöse Anspannung. Er spürte, alles in ihm sträubte sich gegen das Beamtendasein. Er überlegte, sich krank zu melden, sogar alles hinzuschmeißen. Er fuhr dann aber doch mit und glaubte, eine geniale Idee zur Lösung seiner Misere gefunden zu haben: »Ich werde nicht in ein Büro gehen. Ich mache etwas Aufregendes. Ich werde für den CIA arbeiten, vielleicht nach Übersee gehen und Spion werden.«19