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Pfiffikus verschlägt es 1805 ins fiktive Glückshausen im Donauries. Die historischen Umstände entsprechen den tatsächlichen Gegebenheiten um die napoleonischen Kriege. Desgleichen gilt für die damaligen Lebensumstände. Auch die Tier- und Pflanzenwelt werden artgerecht geschildert und Volkslieder zitiert, die schon damals gesungen wurden. Mit herzerfrischendem Humor werden im Verlauf spannender Abenteuer Lebensweisheiten vermittelt. Die aufrichtigen Charaktere der Hauptpersonen vemitteln gute Vorbilder und durch glückliche Zufälle und Magie wendet sich am Ende alles zum Guten.
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2023
Marion Wolf
Pfiffikus Pfeffernuss Sammelband
9 Abenteuer im Jahreslauf
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Personen
Einleitung
1. Rettung im Walde
2. Pfiffikus’ geheime Herkunft
3. Holz und Besenzauber
4. Hexenfasching
5. Frühlingsfeuer
6. Pfiffikus’ Hochzeit
7. Wanderlust
8. Die Räuberbraut
9. Zum guten Schluss
Hinweis
Impressum neobooks
Pfiffikus Pfeffernuss, tatkräftiger Tausendsassa mit Humor
Räuber Rupert Rappl, schlau und rabiat
Hexe Holterdipolder, hilfsbereite Kräuterhexe
Griselda Guglhupf, Großmutter, Schäfer-Witwe
Blasius Blüml (Blasl), ihr aufgeweckter Enkel
Schnuffi, ihr Hundchen
Gabriele Blüml, ihre Tochter und Bäckersfrau
Benedikt Blüml, Bäcker
Polizist Poldi, feiger Gesetzeshüter, der gern trinkt
Bürgermeister Balduin Birkenbogen,
Bettina Birkenbogen, seine Frau
Nachtwächter Nepomuk Nebelspieß
Müller Magerstroh, ruppiger Hagestolzmit Prinzipien
Wastl, geschäftstüchtiger Wirt
Berta, seine Bedienung und spätere Frau Pfeffernuss
Mombert Muckel, fahrender Musikant
Graf Gerald Grips, weiser Regent
Prinzessin Poema, genannt Pudernase,Träumerin
Prinz Paul, genannt Plappermaul, vorlauter Naschkater
Diener Jan, auch Dummerjan genannt
Zofe Zimperliese, einfältig und eitel
Köchin Karline, resolut und einfallsreich
Baron Brenzig, feiger Offizier
Prinz Saphir, 777. Sohnes-Sohn des Königs Salomon
...ist der pfiffigste Kerl weit und breit. Seine Sprüche sind gepfeffert, aber seine Gesinnung ist edel und als Spaßvogel bringt er die Leute zum lachen. Er packt mit an, wo Hilfe gebraucht wird, hat stets gute Ideen und ist handwerklich geschickt.
Wenn ein Abenteuer überstanden ist, schaut er hinauf in den Nachthimmel und winkt seinem Glücksstern zu.Dann legt er sich ins Bett, gähnt herzhaft und schläft wie ein Murmeltier.Und wenn zur Geisterstunde die Mondfee durch die Nebel der Nacht schwebt, schickt sie ihm wunderschöne Träume als Dank für seine guten Taten.
Die Witwe vom alten Schäfer bäckt den besten Mohnkuchen weit und breit — selbst ihr Schwiegersohn, Bäcker Blüml, beneidet sie darum. Enkel Blasl weilt oft bei ihr, mampft Kuchen und spielt mit ihrem Hund Schnuffi.
Die mutige Großmutter hat das Herz am rechten Fleck und ist im Städtchen hoch geachtet. Auch Bürgermeister Balduin Birkenboden verehrt sie.
Auf ihre alten Tage hat sie sogar den schrecklichen Räuber Rappl das Fürchten gelehrt — und dabei den Pfiffikus gerettet.
Wollt ihr wissen wie?
In einer eisigen Winternacht lag der Räuber Rappl mit grummelndem Magen in seiner Höhle. Zwar hingen in seiner Speisekammer drei Hasen und zum Erntedank hatte er einige Würste geraubt —doch immer nur Fleisch mag selbst ein Räuber nicht. Rupert gelüstete es zur Abwechslung mal nach Brot.
Also machte er sich in stockdunkler Nacht auf den langen Weg nach Glückshausen, dem kleinen Städtchen im Donauries, um der Bäckerei einen Besuch abzustatten…
Bäcker Blüml stand frühmorgens um vier Uhr auf und heizte den Backofen. Um fünf schob er die Brotlaibe hinein, die er am Abend vorbereitet hatte, um sechs holte er sie heraus und danach buk er die vorbereiteten Semmeln und Butterhörnchen.
Ab sieben Uhr bot seine Frau Gabriele im Laden frisches Brot an und Sohn Blasl brachte den Bürgern von Glückshausen frische Semmeln und Plundergebäck an die Haustür. Dann frühstückte er zuhause und ging zur Schule. Doch heute sollte alles anders werden…
Kaum hatte es sechsmal geschlagen, kletterte der Räuber über die Stadtmauer und gleich darauf stand Rupert erwartungsfroh im Hinterhof der Bäckerei. Die Ladentür an der Straße war um diese Zeit noch verschlossen, doch die Hintertür zur Backstube war einen Spalt geöffnet, um den Backdunst rauszulassen. Darauf hatte der Räuber spekuliert. Mit Schwung riss er die Tür sperrangelweit auf, sodass ein eiskalter Wind durch die Backstube wehte. Der Bäcker erschrak heftig.
Rappl polterte mit seinen Stiefeln über den mehlbestäubten Holzboden und brüllte bedrohlich: „Brot her! Sofort drei Brote in meinen Sack!“ — „Bedien’ Dich, wenn Du Dir gern die Finger verbrennst“, erwiderte Benedikt Blüml und verschanzte sich mit dem Schürhaken in der Hand hinterm großen Holztrog, in dem gerade der Brötchenteig hoch quoll. „Danke für die Warnung“, brummte Rappl, der dem Bäcker gar nicht ans Fell wollte, und schaute sich um. Grinsend packte er eine Palette und ließ fünf knusprige Roggenbrote gemächlich in den Räubersack gleiten. „Vergelt's Gott“, rief er daraufhin vergnügt und trampelte hinaus auf die Straße.
Rupert hatte genug Zeit, sich aus dem Staub zu machen, denn Blüml musste ja die Teiglinge formen, aufs Blech legen, mit Wasser bestreichen, kurz gehen lassen und in den Backofen schieben. Bevor die Brötchen fertig gebacken waren, konnte der Bäcker nicht weg, um den Überfall zu melden. Bis dahin aber wäre der Räuber längst im Wald verschwunden und konnte sich das frisch gebackene Roggenbrot schmecken lassen. Das hatte Rappl genau durchdacht und voller Vorfreude marschierte er durch das schlafende Städtchen.
Rappls Nagelstiefel klirrten unheimlich auf dem Kopfsteinpflaster und ließen den braven Bäckerbuben unsanft aus seinem Weihnachtstraum erwachen. Nichts Gutes ahnend sprang er aus dem Bett, sauste zum Fenster und sah den Räuber mit dem dampfenden Sack die Straße hinunter laufen. Blasl schwante Fürchterliches. Hoffentlich lag sein Vater nicht tot in der Backstube...
Mir nichts, dir nichts, zog er sich an, schlüpfte in seine Pantoffeln und raste, noch seine Wolljoppe zuknöpfend, die Treppe hinunter zur Backstube. Sein Vater erstarrte vor Schreck, als der Bub übermütig anbot, den Räuber zu verfolgen:
„Um Himmels willen!“, rief er, „der rabiate Kerl packt Dich doch locker mit links und verschleppt Dich in seine Räuberhöhle!“ Blasl hätte gern mal in die Räuberhöhle gelugt und meinte keck: „Na und?“ Benedikt standen die Haare zu Berge. Was dachte sich sein Bub dabei? Also warnte er ihn: „Dort kriegst Du Abfälle zu essen, musst dem Räuber als Knecht dienen und wenn Du nicht spurst, setzt es Prügel.“ Auwei, da wollte Blasl lieber Semmeln austragen und zur Schule gehen.
„Nachdem Du schon angezogen bist“, überlegte der Vater, „könntest Du den Poldi wecken, damit er den Rappl gleich verfolgt.“ V „Der hat doch selber einen“, murmelte Blasl, „so wahr hier der Räuber reingeplatzt ist.“ Lustlos trottete er in die Diele, zog seine Bommelmütze über die Ohren, den Lodenumhang über die Schultern, schlüpfte in seine Stiefel und stapfte zur Polizeistation.
„Vermaledeiter Mist!“ fluchte der Bäcker. Der Semmelteig war übergequollen und tropfte auf den Boden. Jetzt musste er sich sputen, um zu retten, was zu retten war. „Ein Unglück kommt selten allein“, jammerte Frau Gabi, als sie betrübt die Backstube betrat. Mäuse hatten in der Nacht ihr Lebkuchenherz angeknabbert. Doch nun war keine Zeit zum Klagen, sie musste helfen, die Teiglinge zu formen.
Blasl stand im Hinterhof der Wache vorm Eingang zur Wohnung und läutete Sturm, doch Poldi schnarchte im Tiefschlaf vor sich hin. Zwar schlug sein Wachhund an, aber alles Gebell nutzte nichts. Schließlich zog der Hund so lange an der Zudecke, bis der Ordnungshüter aus dem Bett fiel. Ächzend erhob er sich und schaute verwundert aus dem Fenster. Da stand doch der Bäckerbub und gestikulierte wie wild.
Schnell zog Poldi den Morgenrock über, öffnete das Fenster und fragte, was es gäbe. Blasl meldete, der Räuber Rappl habe die Bäckerei überfallen. Poldi versprach, sogleich zu kommen. Dann eilte der Bub zurück, um Semmeln auszutragen, sonst wäre mit dem Vater nicht gut Kirschen essen gewesen — und Blasl liebte Kirschen, besonders in süßem Plundergebäck. Als alle Bürger mit knusprigen Brötchen und einer brühwarmen Räubergeschichte versorgt waren, kehrte der Bäckerbub hungrig nach Hause zurück.
Gabriele hatte den Frühstückstisch reich gedeckt. Bevor jedoch Poldi, dem die Wurst zugedacht war, zugreifen konnte, hatte Blasl das beste Stück stibitzt. „Halt!“ versuchte ihn Gabi zu bremsen. Doch Blasl störte das nicht: „Wetten, dass wir den Räuber schneller fangen, als der Dickwanst da?“ — „Sei nicht so frech!“ erboste sich Poldi und erklärte, dass er erst in die Hauptstadt reiten müsse, um einen amtlichen Durchsuchungsbefehl für die Räuberhöhle zu bekommen. Vorher könne er nichts tun, denn freiwillig würde ihn der Räuber wohl kaum in seine Höhle lassen.
Gabriele fiel die Kinnlade herunter, Blasl grinste und Benedikt Blüml schlug entsetzt die Hände überm Kopf zusammen: „Du hast eine Muskete und dem Rappl ist es schnurzegal, ob Du ihm ein Papier vor die Nase hältst, der kann eh nicht lesen und schert sich einen Dreck darum!“ — „Vorschrift ist Vorschrift“, behauptete Poldi und schnappte sich noch ein Butterhörnchen, ehe er sich verdünnisierte. Da verzieh Gabi ihrem vorwitzigen Sohn sein ungebührliches Verhalten. Vermutlich hatte ihr mutiger Lausbub die gute Wurst eher verdient, als der feige Wachtmeister.
Blasl rannte zur Großmutter, um ihr von diesen Ungeheuerlichkeiten zu berichten. Großmutter freute sich über den Besuch ihres Enkels. Über seine Neuigkeiten schüttelte sie jedoch den Kopf: „Bis der Poldi zur Räuberhöhle kommt, falls er die in drei Tagen überhaupt noch findet, hat der Rappl die Brote doch längst aufgegessen!“ Vor Aufregung verschluckte sie sich am Zichorienkaffee. Blasl klopfte ihr den Rücken, doch kaum bekam sie Luft, prustete sie erneut drauflos: „Ein Durchsuchungsbefehl für eine Räuberhöhle, so ein Unfug!“
Der Bub mampfte Apfelkuchen und dachte nach: „Vielleicht ist der Poldi zu feige, um den Rappl zu verfolgen?“ „Das wird ’s sein“, pflichtete sie ihm bei und dachte kopfschüttelnd darüber nach, wie sie ihrem Eidam helfen könnte. Blasl räumte freiwillig den Tisch ab, weil er sich von Großmutter so ernst genommen fühlte, wie ein großer Mann. „Ob der Räuber aus Hunger geraubt hat?“ fragte er nach einer Weile mitleidig. „Iwo“, schimpfte Großmutter, „der hat bestimmt genug Gold, um die Bäckerei zu kaufen und das Milchgeschäft daneben gleich dazu.“ Vermutlich hatte ihr mutiger Lausbub die gute Wurst eher verdient, als der feige Wachtmeister. „Bist Du sicher?“, fragte Blasl ungläubig. Großmutter strafte ihn mit grimmigem Blick: „So wahr ich den leckersten Mohnkuchen von Glückshausen backe!“ Daran zweifelte nicht mal Benedikt Blüml, dem sie ihr Rezept nicht verriet. Ab und an will eben auch eine Großmutter bewundert werden. Und jetzt fühlte sich Griselda Guglhupf herausgefordert die Familienehre zu verteidigen. Der Bäcker musste ja in der Backstube bleiben, ihre Tochter Gabi bediente im Laden und ihr Enkel war noch zu klein, um es mit einem Räuber aufzunehmen.
Griselda holte die Körnermühle und mahlte Mohn. Wenn ihr dabei was einfiel, buk sie Mohnkuchen mit immer mal wechselnden Zutaten: Im Mai süßte sie den Teig mit Waldmeistersirup, im Sommer gab sie Rosenwasser und gemahlene Mandeln ins Mehl, im Herbst nahm sie Buchweizen dazu und spickte ihn mit Rum-Rosinen, im Winter schnippelte sie Pomeranzen hinein.
Blasl wollte beim Denken nicht stören und schlich zu Schnuffi auf die Ofenbank. Nach einer Weile innigen Kraulens jaulte der Hund vor Wohlbehagen laut auf. Griselda schreckte aus ihrer Versenkung und fragte entgeistert: „Ja Blasl, musst Du nicht zur Schule?“ Auwei, da gab es für ihn keine Ausrede, denn Drückebergerei duldete Großmutter nicht und verscherzen wollte er es sich mit ihr auf keinen Fall. Dazu hatte er sie viel zu lieb.
Verdrossen machte sich Blasl vom Acker, schlurfte seufzend durch die leeren Gassen des Städtchens und merkte nicht, dass er seinen Schulranzen vergessen hatte. In Gedanken war er beim Räuber Rappl, dem Polizisten Poldi und seiner Großmutter, die beim Duft frisch gebackenen Mohnkuchens phantastische Ideen hatte. Was sie wohl gerade für eine List ausbrütete? Wie gern wäre er heute bei ihr und Schnuffi geblieben…
Traumwandlerisch erreichte Blasl die Schule. Der Überfall hatte auch dort die Runde gemacht und der Lehrer übte Nachsicht, als der verstörte Bub mit einer Stunde Verspätung und ohne Schultasche zum Unterricht erschien. In der Pause wurde Blasl von allen Seiten bestürmt. Alle Kinder wollten hören, wie der Räuber Rappl die Bäckerei überfiel. Blasl genoss es, im Mittelpunkt zu stehen und schmückte das schreckliche Ereignis gehörig aus.
Voller Neugierde kamen an diesem Tag alle Bürger Glückshausens in den Laden, fragten nach Benedikts Befinden und kauften die Regale leer. Womöglich kam der Räuber ja wieder und sackte auch noch das Plundergebäck ein… Am Mittag blieb der Familie Blüml selber kein Krümel. Gabriele war froh, als die letzte Kundin draußen war. Wegen des großen Andrangs hatte sie kaum Zeit zum Kochen und so gab es nur eine magere Suppe. Blasl dachte an das Gold vom Räuber Rappl. Damit könnten sie im Wirtshaus einkehren und Hirschbraten mit Knödeln, heißen Maroni, Apfelrotkraut und Preiselbeeren speisen…
„Ich geh’ zur Großmutter“,verkündete er nach dem kargen Mahl und weg war er. Benedikt musste in die Backstube, um Nusskuchen für den Nachmittag und Roggensemmeln fürs Abendbrot zu backen. Gabriele half bis zum Ende der Mittagspause mit und hoffte, dass am Abend noch was für ihre Familie übrig blieb.
Als Blasl zur Großmutter gestürmt kam, roch es verführerisch nach Mohnkuchen... ‘Hoppla’, dachte er, ‘da ist ihr bestimmt was Gescheites eingefallen!’ Während er ein großes Stück warmen Mohnkuchens mampfte und dazu heiße Milch trank, erzählte Großmutter, was sie vorhatte: „Heut scheint die Sonne und die Spuren vom Räuber Rappl müssten deutlich zu sehen sein. Bis der Poldi wiederkommt, kann der Schnee schmelzen oder Neuschnee die Spur verdecken.“„Dann gehen wir gleich los!“ rief Blasl, der sich mit Mohnkuchen im Bauch so mutig fühlte, wie ein Reiter von Dschingis Khan. — “Das können wir machen“, meinte Großmutter, schränkte das Vorhaben aber gleich wieder ein: „In die Räuberhöhle gehen wir aber nicht, das wäre zu gefährlich. Wir markieren nur den Weg, damit ich ihn bei Nacht wiederfinde.“ — „Und wie willst Du das machen?“ fragte Blasl, „Krümel streuen wie Hänsel und Gretel?“ — „Aber nein, Bub, denen haben doch die Vögel alles weg gepickt und Steine sind mir zu schwer. Wir nehmen meinen alten Reisigbesen und fegen eine Spur an Rappls Fußstapfen entlang.“
Gesagt, getan. Griselda nahm den Besen in die Hand und Blasl den Schnuffi an die Leine, denn der sollte sie zum Ausgangspunkt führen. Am Hinterausgang der Backstube nahm der Hund Witterung auf und führte sie kreuz und quer durch verwinkelte Gassen zur Stadtmauer. Griselda hob Blasl hoch. An einer Stelle war der Schnee weggetaut. Dort hatte der Räubersack mit den heißen Broten gelegen und riesige Fußstapfen führten Richtung Wald. Großmutter warf den Reisigbesen hinüber, dann liefen sie zum Tor und draußen an der Stadtmauer entlang, bis sie ihn wiederfanden. Griselda fegte den Schnee entlang der Räuberspur von der Wiese. Als sie nach einiger Zeit erschöpft innehielt, schwang Blasl den Besen, während sie mit dem aufgeregten Schnuffi voran stolperte.
Als sie den Waldrand erreichten, tat den beiden alles weh. Auf dem bemoosten Waldboden verlor sich die Spur, doch der Hund roch, wohin Rappls Weg führte und zog an der Leine. „Die Räuberhöhle findet er heut’ Nacht auch noch“, meinte Griselda und setzte sich auf einen Baumstumpf. Blasl schmiegte sich an sie, bekam Staub in die Luftröhre und hustete. Aufgeschreckt flatterte ein Vogel aus der Baumkrone. Schnee rieselte herab und Griselda sah hinauf ins Geäst einer Erle. Schmunzelnd legte sie den alten Reisigbesen ins knorrige Holz des Hexenbaums — wer weiß, wer ihn dort finden würde? Dem Räuber fiele er dort oben bestimmt nicht auf...
Ein Blick zurück mahnte zum Aufbruch: Die Sonne strahlte schon schräg über die Stadt und funkelte auf dem Kupferdach des Kirchturms. Es war Zeit heimzukehren. „Auf die Plätze, fertig los!“ rief Großmutter. Blasl rannte wie ein geölter Blitz, Schnuffi hopste neben ihm durch den Schnee und die alte Griselda keuchte hinterdrein.
Als sie das Stadttor erreichten, ging der Mond am glutroten Abendhimmel auf und tauchte die Welt in fahles Licht. Die Dächer der Stadt bildeten eine düstere Silhouette und in weiter Ferne erhob sich schweigend der schwarze Wald. Blasl schauderte. Ob der Räuber sie von dort aus beobachtete?
Zuhause fragte er bang: „Großmutter, ist der Rappl bei Nacht nicht gefährlich?“ — „Nicht, wenn man ihn selbst erschreckt“, meinte sie verschmitzt und kicherte vielsagend. „Wie willst Du das denn schaffen?“ fragte Blasl erstaunt. „Der Rappl“, raunte Großmutter belustigt, „dieser furchteinflößende Räuber aus dem Glückshausener Wald, fürchtet sich vor Gespenstern.“ Der Bub wunderte sich: „Kennst Du denn ein Gespenst, das Dir helfen will?“ Griselda schmunzelte: „Das Gespenst, mein Lieber, bin ich!“ Blasl blieb wie angewurzelt stehen: „Aber Großmutter, Du bist doch kein Gespenst!“ — „Natürlich nicht, ich spiele nur eins.“ — „Ach sooo.“ Blasl atmete auf und stellte sich Großmutters Maskerade vor. Das versprach ja ein aufregendes Abenteuer zu werden…! „Darf ich mit heut’ Nacht?“ fragte er. „Nein!“ erwiderte sie entschieden, „kleine Buben gehören ins Bett.“ Blasl sah enttäuscht zu Boden. Als sie vor ihrem Haus ankamen, schlug sie zum Trost vor: „Wenn Du willst, darfst Du heut Nacht in meinem Bett schlafen und mir die Federn anwärmen. Aber sag’ Deinen Eltern ja nicht, was ich vorhabe!“ Da strahlte er und beteuerte hoch und heilig. „Ich schweige, wie ein Grab.“ Griselda lächelte: „Dann nimm noch zwei Stück Mohnkuchen mit, wenn Du Bescheid sagen gehst.“ Blasl nickte: „Ich komme aber gleich wieder!“
Griselda verschwand im Hühnerstall und holte frische Eier aus den Nestern. Daheim erklärte Blasl, dass er heut’ unbedingt bei Großmutter schlafen müsse. Dann staubte er noch fünf Semmeln ab, ehe der Wirt die Reste abholte. Zum Abendbrot gab es bei Großmutter Rührei. Blasl schmierte dick Butter auf die Brötchen, Lindenblütentee dampfte aus den Bechern und im Kachelofen knisterte das Feuer. Schnuffi lag auf der Ofenbank und kaute an einem Knochen. Es war so richtig behaglich, doch ans Kartenspielen war heute Abend nicht zu denken, denn Großmutter brauchte noch eine passende Verkleidung für ihren Nachtausflug...
Also ging ’s die knarzende Stiege hoch zum Dachboden. Griselda öffnete eine uralte Truhe, aus der es nach Wermutkraut roch. Dort hatte sie allerlei Zeug verstaut, darunter auch verschlissene Laken. Blasl rümpfte die Nase, als Großmutter ihm das muffige Bettzeug in die Arme legte. Dann kramte sie am Boden der Truhe herum und zog eine kaum abgebrannte Schmuckkerze hervor: „Das ist Großvaters Totenkerze“, erklärte sie. „Wenn der Rappl die sieht, kriegt er bestimmt Gewissensbisse. Außerdem beschützt mich die geweihte Kerze vor bösen Geistern.“ Der Bub staunte Bauklötze und zweifelte nicht daran, dass Großmutter von diesem Abenteuer heil zurückkehren würde.
In der Stube vernähte Griselda zwei Laken miteinander und schnitt Löcher für die Augen heraus. Dann stopfte sie trockenes Moos in die Spitzen von Großvaters Pelzstiefeln. Mit dicken Socken passten sie. „Warum gehst Du nicht in Deinen eigenen Schuhen?“ wunderte sich Blasl. Griselda schüttelte den Kopf: „Der Rappl könnte mich an meinen Stiefeln erkennen. Mit denen vom seligen Großvater wird er glauben, dessen Geist stünde vor ihm.“
„Sapperlot, Großmutter, Du bist mutiger, als der Poldi und klüger, als der Balduin.“ — „Für Dich ist das der Herr Bürgermeister Birkenbogen!“ mahnte Griselda. „Wenn ich ihn Balduin nenne, dann nur, weil ich ihn als Kind aus dem Mühlbach gefischt habe, damit er nicht ertrinkt.“
Blasl nickte verschämt. Dann fragte er: „Warst Du schon immer so mutig?“ — „Notgedrungen“, erwiderte Großmutter. „In düsteren Winternächten schlichen die Wölfe heulend um den Pferch. Da Schafe wehrlose Tiere sind und zwei Hirtenhunde nicht gegen ein großes Rudel hungriger Wölfe ankommen, mussten wir sie mit lautem Geschrei und Fackeln vertreiben.“
Langsam begriff Blasl, warum das Stadtoberhaupt immer eine tiefe Verbeugung machte, wenn er Großmutter auf der Straße begegnete — und auch, warum er selber nie am Mühlweiher spielen oder allein in den Wald laufen durfte.
Griselda sah zum Fürchten aus, als sie gen Mitternacht heimlich still und leise das Haus verließ: Von ihrer Hüfte hing die rostige Eisenkette, mit der einst der Schafpferch verrammelt wurde, und in der Hand hielt sie Großvaters Totenkerze. Vorsichtig schlüpfte sie durchs kleine Tor in der Stadtmauer, das von ihrem Garten hinaus zur Wiese führte. Es war totenstill. Der Vollmond tauchte die verschneite Winterlandschaft in ein zartes Licht und kein Lüftchen regte sich.
Blasl drückte sich an der Fensterscheibe ihrer Schlafstube die Nase platt, bis das 'Gespenst' den Waldrand erreicht hatte. Dann kuschelte er sich mit der Wärmflasche ins Bett und begann klopfenden Herzens Schäfchen zu zählen. Lange fand er keine Ruhe, denn nun hatte er doch Angst, seine Großmutter könne vom wilden Räuber Rappl erschlagen werden...
Ein andrer Zeitgenosse hielt den Atem an, als er die schaurige Gestalt über die verschneite Winterwiese wandeln sah... Nachtwächter Nepomuk Nebelspieß lugte, von seinem Rundgang zurückgekehrt, über die Turmzinnen zum Wald, um rechtzeitig Alarm zu blasen, falls sich der Räuber erneut nähern sollte.
Stattdessen spazierte ein Gespenst vom Städtchen in Richtung Wald. Nepomuk überkam ein heiliger Schauder Ob es den Räuber heimsuchen wollte? Ihm gefiel die Idee so gut, dass er ein Schnäpschen auf das Wohl der Spukgestalt trank.Vielleicht war der alte Schäfer aus dem Jenseits gekommen, um für seinen Eidam Gerechtigkeit zu fordern? Der Alte war zu Lebzeiten ein beherzter Mann gewesen…
Und weil man vom Schnäpschen trinken Hunger bekommt, schnitt sich Nepomuk noch ein Stück Dauerwurst ab und legte beruhigt die Füße hoch. Wenn ein Gespenst das Städtchen bewachte, konnte er alle Fünfe gerade sein lassen und ein Schläfchen halten. Sobald das Glöckchen dreimal bimmelte, würde er aufstehen, die 77 Stufen hinunterlaufen, um beim ersten Schlag der großen Kirchenglocke das Ende der Geisterstunde auszurufen.
Griselda kam heftig ins Schwitzen, als sie mit ihren dicken Wollsocken in Großvaters Pelzstiefeln zum Wald marschierte. Unter der knorrigen Erle steckte sie die Totenkerze in den Schnee, ging vor dem Wind in die Hocke, schlug Feuerstein an Zunder, hielt den Docht in die Flamme und nahm die brennende Kerze in die Hand. Dann ahmte sie den Schrei des Käuzchens nach, um den Räuber zu erschrecken.
Auf einmal hörte sie ein Rauschen in der Luft. Erstaunt sah sie hoch: Über den Wipfeln der Bäume flog die Hexe Holterdipolder auf ihrem Besen. Beim Schuhuuu zuckte sie zusammen, kam ins Trudeln, überschlug sich, segelte in weitem Bogen über die mondbeglänzte Schneewiese und steuerte auf die Erle zu, unter der Großmutter stand. „Heiliges Kanonenrohr!“ staunte Griselda. Prompt stürzte der Besen ab. Die Hexe rappelte sich auf und schimpfte: „Vermaledeiter Mist! Wer flucht denn hier so fromm, dass mein Flugzauber bricht?“ Griselda holte tief Luft und keuchte mit verstellter Stimme „Ich.“ Dabei hielt sie die geweihte Kerze vor ihre Nase, um nicht verhext zu werden.
„Bleib’ mir vom Leib, Du Spukgestalt!“, zeterte Holterdipolder und verhedderte sich in ihren Röcken. Beinahe wäre sie dabei über ihre eigenen Füße gestolpert. Dann besah sie ihren zerborstenen Besen und jammerte: „Der ist nicht mehr zu retten! Wie komm ich jetzt nach Hause?“ — „Du kriegst Ersatz“, begütigte sie das Gespenst. Holterdipolder staunte: „Was bist Du denn für ein seltsamer Geist, der eine harmlose Hexe erst mit heiligen Sprüchen aus der Luft holt, und dann mit Besen beschenkt?“ — „Ich bin der Geist vom alten Schäfer und bin gekommen, um den Räuber Rappl zur Rede zu stellen, weil er meinen Eidam, den Bäcker Blüml, beraubt hat.“
„Und was hab’ ich damit zu tun?“, fragte die Hexe eingeschnappt. „Das hat alles seinen Sinn“, behauptete das Gespenst, denn inzwischen war Griselda eingefallen, dass sie Schnuffi vergessen hatte. Da kam ihr die Hexe gerade recht: „Das Schicksal will, dass Du mir einen Dienst erweist.“
„Soso, welchen denn?“ fragte die Hexe.„Zeig mir den Weg zur Räuberhöhle. Wenn ich den Rappl bestraft habe, kriegst Du einen ganzen Besen und magst fliegen, wohin Du willst.“ — „Wie soll ich den Rappl denn finden, ich hab' doch meine gläserne Kugel nicht dabei“, redete sich Holterdipolder heraus und hoffte, schnell verschwinden zu können. Doch Griselda durchschaute das Manöver:„Hexen haben doch eine feine Nase, oder?“ Holterdipolder nickte und das Gespenst fuhr fort: „Siehst Du die Fußstapfen? Da da ist der Räuber heut Morgen in den Wald gegangen. Das müsste doch noch zu erschnüffeln sein.“ — „Na dann“, lenkte die Hexe ein, machte einen Katzenbuckel und steckte ihre spitze Nase in die mächtigen Fußabtritte. ‚Die macht das genauso gut, wie Schnuffi, dachte Griselda und stiefelte hinter den wackelnden Hexenröcken her.
Sie waren noch nicht lange durchs Holz gestapft, da wurde die Hexe nervös und rannte hin und her: „Hier muss es sein, nein dort, nein da…“ Von dem Kuddelmuddel an Düften wurde sie ganz wirr im Kopf. „Schon gut“, beschwichtigte sie das Gespenst und durchleuchtete die Umgebung. Doch die Kerze strahlte nicht weit, und der Mond schien nur spärlich durch die Baumwipfel. Holterdipolder richtete sich auf und rieb sich das Kreuz. Auf einmal reckte sie die Nase hoch, schnupperte und krächzte: „Ich rieche Rauch und Bratenduft.“ Auf Zehenspitzen trippelte sie voran, immer den Gerüchen folgend. Bald hatte sie den Kamin der Erdhöhle gefunden. Die Falltür war verriegelt, der Räuber offenbar kurz ausgegangen. „Eiderdaus, da hat er wohl gewildert“, vermutete das Gespenst, „weit kann er nicht sein, sonst ließe er den Braten nicht brutzeln.“ Die Hexe nahm erneut Witterung auf, doch die Fußspuren führten in drei verschiedene Richtungen.
Griselda wurde schon ungeduldig, da gellte ein Schuss durch die Nacht und sie zuckte zusammen. Zum Glück hatte auch die Hexe in Richtung des Krachs geblickt, sonst hätte sie das Gespenst schlottern sehen und ihr wären Zweifel an dessen Echtheit gekommen. Griselda holte tief Luft. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Auf einmal wieherte ein Pferd, eine laute Stimme donnerte „Halt!“, gleich darauf hörte man den Reiter davongaloppieren. Griselda atmete auf. Da war einer wohl gerade noch davongekommen... Doch nun schien ein andrer in Gefahr... „Warte, Bürscherl, Dich krieg’ ich!“ brüllte der Räuber außer sich vor Wut. „Nichts wie hin!“ befahl das Gespenst. Holterdipolder rauschte durch den Wald und blieb mit ihren sieben Röcken prompt im Unterholz stecken. Der Mond leuchtete in eine Schneise, wo Rappl seine Keule ins Gestrüpp sausen ließ. „Au!“ schrie eine junge Männerstimme, „meine Nase!“ — „Geld her, oder ich schlag’ Dir den Schädel ein“ brüllte der Räuber. Jetzt war es höchste Zeit, einzuschreiten! „Das wirst Du nicht!“ fauchte Griselda und schritt wie ein Dämon auf den Räuber zu.
Der wurde käsebleich, ließ vor Schreck die Keule fallen, und bibberte wie Espenlaub: „Tu mir nichts!“ japste er, „ich habe Dir doch auch nichts getan!“ — „Mir nicht“, hallte es schaurig zurück, „aber dem Burschen da hast Du gerade die Nase gebrochen und dem Bäcker Blüml fünf Brote geraubt.“ — „Ich hatte so Hunger“, beteuerte Rappl. Doch das ließ das Gespenst nicht gelten: „Wenn Du Brot willst, dann kaufe es! Der Bäcker kriegt das Mehl auch nicht umsonst. Und rauben, was andre erarbeitet haben, gehört sich schon gleich gar nicht.“ „Wenn ich nicht raube, habe ich kein Geld zum Bezahlen“, widersprach der Räuber, „wenn ich aber sowieso raube, dann eben auch Brot.“ — Das Gespenst schüttelte den Kopf: „Papperlapapp, dann arbeite eben!“ „Nie wieder!“ jammerte Rappl, „ als armer Waisenknabe hat man mich um meinen Lohn betrogen, sowas tut in der Seele weh!“ — „Ein Nasenbeinbruch ist schlimmer!“ klagte der Bursche, drückte einen Schneeball auf die Wunde und suchte Schutz hinter dem hilfreichen Gespenst. „Genauso ist es“, betonte der Geist, „der Geschädigte bekommt eine Entschädigung und jetzt ab die Post zur Räuberhöhle!“„Wenn ’s sein muss“ lenkte Rappl ein, „aber komm’ mir ja nicht zu nahe!“ Ängstlich lief er zu seiner Heimstatt. „Warte hier“, raunte Griselda der Hexe zu, die im Gebüsch kauerte. Vermutlich war sie dem Räuber ja wohlgesonnen...
Vor der Falltür stotterte Rappl, er habe den Schlüssel verloren. Als ihn das Gespenst anzischte „Du lügst“, bemerkte er, dass nur der Riegel vorgeschoben war.
Drinnen war es kuschelig warm und der fremde Geselle setzte sich ans Feuer. Die Nase hatte zu bluten aufgehört — doch Waschwasser gab es in der Höhle nicht. „Gib dem Burschen Schnaps zum Säubern der Wunde!“, befahl das Gespenst. Widerwillig rückte Rappl eine Flasche Obstler heraus, die er einem Obstbauern geklaut hatte. Wenn das Gespenst doch nur bald verschwände…! Der Verletzte tupfte sich die wunde Nase ab und nahm einen Schluck aus der Pulle. „Das ist mein Schnaps!“ plärrte Rappl. „Papperlapapp“, fuhr ihn das Gespenst an, „Dich kümmert es auch nicht, wenn Du Dich bei anderen Leuten bedienst.“ Der Räuber knirschte erbost mit den Zähnen. Dann stieg eine seltsame Beklemmung in ihm auf und er überlegte, ob seinen Opfern genauso bang zumute war, wie ihm jetzt? Der Offiziersbursche betrachtete voller Wohlgefallen den Hasen über der Glut. Langsam drehte er den Spieß um…
„Wo hast Du Dein Gold?“ fragte das Gespenst. „Ich hab keins!“ beteuerte Rappl kleinlaut. „Dann gib mir was anderes für die Brote!“ ― „Ich habe nichts, schau Dich ruhig um“, beteuerte er, den armen Sünder mimend. Und wohin führt die Tür hinter Dir?“ Dem vermaledeiten Gespenst blieb auch nichts verborgen, so breit sich der Räuber davor gestellt hatte… „In meine Speisekammer“, brummte er. „Mach sie auf!“, befahl das Gespenst und schritt bedrohlich auf Rupert zu. Rappl gehorchte mit schlotternden Knien und als der Geist seine Vorratskammer begutachtete, wurde ihm mulmig zumute, denn da hingen reichlich Wildbret und Würste...„Mir gibst Du einen Hasen für die sechs Brote und der Bursche bekommt eine Dauerwurst für seine lädierte Nase.“ Dem Räuber fiel die Kinnlade herunter, doch um den gruseligen Gast loswerden, musste er wohl oder übel Opfer bringen. Zitternd übergab er dem Gespenst, was es verlangte.
Im nächsten Augenblick sollte noch etwas sein Gemüt erzürnen, das ihm gehörig gegen den Strich ging: Da saß doch der fremde Geselle fröhlich schmatzend am Feuer und vertilgte ein knuspriges Hasenbein! Wütend wollte er sich auf ihn stürzen, da stellte sich ihm das Gespenst in den Weg und befahl, er solle dem Burschen noch eine Scheibe Brot abschneiden, schließlich habe er ihn um sein Abendbrot gebracht. Grollend säbelte Rupert einen dicken Rampfen vom Brotlaib.„So gefällt mir das“, schmunzelte der Bursche und ließ es sich schmecken. Rappl knurrte indes der Magen. Hoffentlich verschwanden die ungebetenen Gäste bald… Griselda lief auch die Spucke im Mund zusammen Zu dumm, dass sie nichts vom Braten probieren durfte, denn Gespenster essen ja bekanntlich nichts… Als der Bursche satt war, nahm er noch einen Schluck aus der Schnapspulle und bedankte sich grinsend für die vorzügliche Gastfreundschaft.
Angeheitert tänzelte der Gerettete hinter dem Gespenst aus der Räuberhöhle. „Auf Nimmerwiedersehen!“ brüllte ihnen Rupert Rappl hinterher und verriegelte die Falltür von innen. „Ebenso!“ rief der Bursche zurück und folgte frohgemut dem hilfreichen Geist. Draußen wartete Holterdipolder. „Wer ist denn das?“ fragte er. „Die Hexe, die mir den Weg gezeigt hat“, raunte Griselda mit tiefer Stimme. „Sapperlot, staunte der Bursche, dass mich mal ein Gespenst aus den Fängen eines Räubers befreit und mir eine Hexe den Weg weist, hätt’ ich mir niemals träumen lassen!“ Satt und mit leichter Schnapsfahne machte er trotz gebrochener Nase einen frohen Eindruck.
„Zurück“, trieb Großmutter die beiden an, denn die Kerze war fast runtergebrannt. Im Schein eines winzigen Stumpens kam sie unter der Erle an und lobte ihre Schnüfflerin: „Gut hast Du das gemacht, Hexerl.“ „Mein Rücken ist da andrer Meinung“, krächzte Holterdipolder, sah ihren zerborstenen Besen am Boden liegen und heulte hemmungslos drauflos: „Mein guter alter Sausebraus, 66 Jahre hast Du mich durch die Lüfte getragen...“ — „Was soll ich da sagen“, meldete sich der Bursche zu Wort, „eine gebrochene Nase ist schlimmer, als ein kaputter Besen!“ — „Wollt ihr eine Jammer-Orgie feiern?“ schalt das Gespenst. „Das Schlimmste haben wir doch hinter uns! Also reißt Euch zusammen!“
Die beiden verstummten und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Mit dem flackerndem Docht leuchtete der Geist in die Baumkrone: „Dort oben steckt Dein neuer Besen, Holterdipolder, jetzt gebe ich Dich frei.“ — „Uiii“, schrie die Hexe, hangelte sich hoch, zog Griseldas alten Reisigbesen aus dem Geäst, setzte sich rittlings drauf und rief:
„Fideldumdei, dein Name sei, nun saus’ geschwind im Winterwind!“
Und schon zischte sie davon.
Als Holterdipolder über den Wipfeln des Waldes verschwunden war, schaute der gerettete Bursche das Gespenst treuherzig an und fragte dankbar: „Soll ich Dich noch zum Friedhof begleiten?“ Griselda lachte hellauf und erwiderte: „Das wäre ein großer Umweg“, warf die brennende Funzel in den Schnee und seufzte: „Beinahe hätt’ ich mir die Finger verbrannt.“ Der Bursche stutzte: „Seit wann können sich Gespenster verbrennen?“ — „Seit sie aus Fleisch und Blut sind“, war die verschmitzte Antwort. Dabei ließ Griselda den Hasen fallen und kroch aus der Bettwäsche. „Dann bist Du gar nicht tot?“ staunte er. „Nein, die Witwe des Toten“, erläuterte sie schmunzelnd. Der fremde Bursche brach in Gelächter aus. So eine Posse hatte er nicht erwartet. Und dass der schreckliche Räuber drauf reingefallen war, gab dem Ganzen noch eine besondere Würze.„Tragen in dieser Gegend eigentlich alle Frauen Knickerbocker?“ schäkerte er. „Du kannst bei der Kälte ja gern mal nachts im Rock auf Räuberjagd gehen“, schlug Griselda schlagfertig vor. „Von Räubern habe ich die Nase voll“, meinte er und griff schmerzerfüllt an sein lädiertes Riechorgan. „Sie ist noch dran“, bemerkte Großmutter. „Übrigens, ich bin Griselda Gugelhupf und die Schwiegermutter vom Bäcker Blüml, dem die Brote geklaut wurden.“ — „Alle Achtung, eine Großmutter, die so schlau ist, eine Hexe zu überlisten, und so mutig, einen riesigen Räuber das Fürchten zu lehren, trifft man nicht alle Tage!“ „Und wer bist Du?“, wollte sie wissen. „Pfiffikus Pfeffernuss, zuletzt Stiefelknecht bei Baron Brenzig“, erklärte er, „doch dem Feigling laufe ich nicht mehr hinterher.“ — „Recht hast Du“, bestätigte Griselda, „sag, hättest Du nicht Lust, bei mir zu bleiben? Du bist ein kräftiger Bursche und ich könnte Hilfe gebrauchen. Meine Tochter steht im Bäckerladen und ihr Sohn Blasl ist noch zu klein für schwere Arbeiten.““Witwe Guglhupf!“ rief Pfiffikus erfreut, „eine richtige Familie hab’ ich mir schon immer gewünscht!“ Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, packte die Wurst in die Arme des Hasen, rollte ihn in die Leintücher, wickelte die Eisenkette drum herum und hievte das Paket auf seine Schultern. Griselda marschierte freudestrahlend los und Pfiffikus lief fröhlich pfeifend hinterdrein.
Welch wunderschöne Winternacht war das doch. Die Schneedecke schimmerte im Mondenschein wie weißer Samt und die gekehrte Spur zog sich wie ein trauliches Band zum Städtchen hin.Pfiffikus fühlte sich wie im Märchen. Zuerst hatte ihn sein Herr im Stich gelassen, als ihn der Räuber beinahe erschlug, dann wurde er von einem verkappten Geist gerettet, schmauste in der Räuberhöhle eine Hasenkeule und trank Schnaps, bekam eine Dauerwurst, lernte eine Hexe kennen und nun folgte er als frisch gebackener Hausknecht einer gewitzten Großmutter in ihr Zuhause. Was sein Schicksal wohl noch für Überraschungen bereit hielt? Seine Nase schmerzte, aber die glückliche Fügung freute ihn ungemein.
Als die Stadtmauer einen Steinwurf vor ihnen lag, wisperte Griselda: „Pssst!“ Er raunte: „Gibt es hier Wachhunde?“ — „Nein, aber der Turmwächter soll uns nicht hören.“ — „Warum?“, wunderte er sich, „ist hier nachts das Spazierengehen verboten?“ — „Das nicht“, flüsterte Griselda, „aber der gute Nepomuk glaubt wohl, das Gespenst sei echt gewesen. Und wer weiß, wozu uns das noch nützt!“ Da hatte sie auch wieder recht und er war der letzte, der Geheimnisse ausplauderte. Also schlichen sie heimlich still und leise im Schatten der Stadtmauer zum kleinen Tor und schlüpften in Griseldas Garten. Dort ging es zwischen den Gemüsebeeten zur Hintertür in die Küche.
Zunächst brachte sie den Hasen in die Speisekammer und legte im Küchenherd Briketts nach. Dann wuschen sie ihre Hände, legten im Flur ihre Mäntel ab und schlichen in die gute Stube. Schnuffi schreckte hoch, kläffte und sprang den Fremden an. Griselda besänftigte ihn und Pfiffikus ließ ihn seine Hand schnuppern. Als der Hund dann noch einen Wurstzipfel bekommen hatte, verzog er sich auf sein Kissen. Offenbar war dieser Fremde ein neuer Freund. Pfiffikus verbrachte die restliche Nacht mit einer Wolldecke auf der Ofenbank, denn Gabrieles alte Schlafstube war total verstaubt und Großmutter hundemüde.
Blasl staunte, als am Morgen ein neuer Hausgenosse in der Stube schnarchte. Beim Frühstück erzählte Großmutter, was sie beim Räuber Rappl erlebt hatten und Pfiffikus grinste über beide Ohren, obwohl sein Nasenbeinbruch angeschwollen war. Bevor der Bub zur Schule aufbrach, schwor er noch ein heiliges Ehrenwort, dieses Geheimnis zu hüten, denn wenn es sich herumsprach, dass Großmutter das Gespenst gewesen war, käme das womöglich auch dem Räuber zu Ohren. Der würde sich dann vor nichts mehr fürchten und das wäre für alle Menschen in Glückshausen hundsgefährlich.
Familie Blüml wurde am Sonntag von Großmutter zum Hasenbraten eingeladen. Pfiffikus erzählte, wie das Gespenst vom alten Schäfer ihn vor dem wilden Räuber gerettet und nach dem Abschied von der Hexe zu seiner Witwe geführt habe. Blasl stopfte sich einen Knödel in den Mund, um nicht laut lachen zu müssen, als seine Eltern bei der Schilderung des Gespenstes käsebleich wurden. Wenn die wüssten, was Großmutter für ein Schlitzohr war! Insgeheim war er mächtig stolz auf seine Oma und ihr neuer Hausgenosse schien ein netter Kerl zu sein. Selbst Schnuffi mochte ihn — und das wollte was heißen.
Als Poldi mit dem Durchsuchungsbefehl für die Räuberhöhle erschien und zutiefst bedauerte, dass die Sonne alle Spuren weggeschmolzen hatte, lachte Bäcker Blüml und erklärte, ihm habe schon ein guter Geist geholfen. Das war dem feigen Polizisten nur recht, denn vor der Keule des riesigen Räubers hatte er gehörig Mummensausen.
Im Wirtshaus erfuhr Poldi von Nepomuk, dass das Gespenst des alten Schäfers den Räuber nach dem Überfall heimgesucht und dabei gleich einen fremden Burschen vor dem Wüterich gerettet habe, der nun bei dessen Witwe lebte. Da pries der Gesetzeshüter die göttliche Gerechtigkeit, lief zur Kirche, entzündete eine Kerze für den Toten und marschierte frohgemut zu seiner Wachstube. Solange der Himmel über Glückshausen wachte, konnte er eine ruhige Kugel schieben...
Dem Räuber Rappl allerdings war nach jener schaurigen Nacht das Stehlen im Städtchen gründlich vergangen. Doch wie lange der Schreck bei ihm anhalten würde?
Pfiffikus war der fleißigste Hausgenosse, den sich Griselda hätte wünschen können. Und sie sorgte für ihn, wie für einen Sohn. Als sie Gabrieles Stube für ihn stöberte, räumte er alle Möbel raus, strich die Wände und putzte danach den Fußboden blitzblank, denn sie hatte es im Kreuz. Während er das ganze Haus säuberte, holte sie gut erhaltene Kleidungsstücke ihres Mannes aus der Truhe, wusch sie und änderte sie für ihn. Bald war sein Schrank voll Hosen, Hemden und Joppen. Gürtel hingen an einer Leiste in der Schranktür, sogar einen Pelzmantel beförderte Griselda aus der Mottenkiste. Ohne, dass sie ein Wort sagen musste, holte er die Kohlen aus dem Keller, hackte Brennholz, schaffte die Abfälle auf den Kompost, schippte den Schnee vom Hof, kehrte den Gehweg und streute Sand.So lebten sie in Eintracht mit Schnuffi im Hause und Blasl kam gerne zu Besuch. Großmutters Hausknecht war immer zu Scherzen aufgelegt und das machte an trüben Tagen gute Laune. Damit er sich im Städtchen auszukennen lerne, nahm ihn Griselda mit zum Einkaufen. Da nahm er ihr gleich die schweren Taschen ab. Als eines Tages die Sonne Schnee und Eis taute, mistete der Bursche den Hühnerstall aus, holte Latten aus der Scheune und reparierte den Zaun. Dann baute er Schnuffi eine geräumige Hütte, stellte sie auf Backsteine, damit der Boden trocken blieb und legte die Hundehütte mit Stroh aus. So konnte der kleine Hund im Winter draußen die Hühner bewachen, ohne sich zu verkühlen. Am 23. Dezember zogen Pfiffikus und Blasl mit Schlitten und Säge in den Wald und holten zwei kleine Fichten. Noch vor dem Abendbrot hatten sie die Bäume aufgestellt, einen im Hause Guglhupf und einen bei Familie Blüml.
Während Großmutter und Gabi am Abend ihre Weihnachtsbäume schmückten, lud Benedikt den Pfiffikus zum Glühwein ins Wirtshaus ein. Er gehörte zwar schon zur Familie, trotzdem blieb noch ein bisschen Fremdheit zwischen dem hilfsbereiten Gesellen und den guten Leuten, bei denen er nun lebte. Schließlich wusste keiner, wo er eigentlich herkam... Das sollte sich ändern, als alle am ersten Weihnachtstag Bei Kaffee und Stollen in Großmutters guter Stube saßen.
Pfiffikus spielte gerade auf Großvater Guglhupfs alter Quetsche, da fragte Blasl, wo er das denn gelernt habe. „Ich komme von einem Wandertheater“, begann Pfiffikus, „ich habe dort oft den dummen August gespielt, der zum Schluss mit der Quetsche durchs Publikum tanzt und Geld für die Truppe sammelt.“„Habt ihr denn keinen Eintritt verlangt?“ fragte Bäcker Blüml verwundert. „Das ging schlecht“, lachte Pfiffikus, „wir haben meist auf freien Plätzen gespielt.“ — „Dann gehörst Du zum fahrenden Volk?“, fragte Gabi verlegen, denn Spielleute hatten nicht den besten Ruf. „So ungefähr“, erwiderte Pfiffikus, „wir waren jedoch ehrenhafte Schauspieler und unterhielten unsere Zuschauer mit fabelhaften Stücken.“Großmutter nickte, denn sie hatte mit ihrem neuen Hausgenossen bisher nur gute Erfahrungen gemacht.
„Und wo hast Du das Handwerkliche gelernt?“ wollte Bäcker Blüml wissen. „Wir waren zu arm, um Handwerker zu bezahlen“, lachte Pfiffikus und erzählte: „Wir haben die Kulissen selbst gebaut, die Kostüme genäht, die Wagen repariert und Essen gekocht. Auf diese Weise wird man zum Tausendsassa ums Überleben.“
„Aber wie bist Du dann zu jenem Baron Brenzig gekommen, der Dich beim Überfall im Stich ließ?“, fragte Griselda.„Das ist eine fatale Geschichte“, klagte Pfiffikus und spielte eine traurige Weise. „Wir zogen von Ort zu Ort, spielten in Dorfschenken, auf Marktplätzen und in Fürstenhöfen vieler Länder. Eines Tages gerieten wir im Krieg gegen Napoleon zwischen die Fronten. Jedes der beiden Heere dachte, wir wären der Feind und es hagelte Kugeln von allen Seiten. Verzweifelt schwenkten wir weiße Stoff-Fetzen. Das rettete unser Leben — doch die Kulissen und Wagen waren kaputt. Weil uns beide Seiten für Spione hielten, wollte man uns nicht laufen lassen. Also teilten sie uns jenen Offizieren zu, die im Kampf ihre Knechte verloren hatten. So kam ich zu Baron Brenzig, der mich mit sich nahm, als die Schlacht zu Ende war. Wo hätte ich auch hin sollen? Die Schauspieltruppe war in alle Winde verstreut und hätte sich kaum wiedergefunden. Und unser Hab und Gut war ohnehin verloren.