Professor Zamorra 1250 - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Professor Zamorra 1250 E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Gerade war die Stelle am Waldrand noch leer gewesen.
Jetzt war das Haus da.
Es war nicht irgendein Haus, sondern eine prachtvolle viktorianische Villa - oder war es zumindest einmal gewesen - und es war auch nicht von einem Blinzeln auf das nächste einfach erschienen oder hatte sich aus dem Nebel herausgeschält, der lautlos wie eine Hand mit tausend rauchigen Fingern aus dem Wald griff, sondern auf eine vollkommen unmöglich-bizarre Art in die Wirklichkeit hereingewachsen, unvorstellbar schnell und zugleich mit der unaufhaltsam langsamen Beharrlichkeit eines wandernden Gletschers; als wäre die Zeit auf gespenstische Weise zweigeteilt worden ...
Und genau darum geht es: um die Zeit. Und die wird Zamorra plötzlich zum Verhängnis!


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Seitenzahl: 157

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Inhalt

Cover

12:50

12:40 Uhr

12:30 Uhr

12:20 Uhr

Epilog

Leserseite

Vorschau

Impressum

12:50

von Wolfgang Hohlbein

Gerade war die Stelle am Waldrand noch leer gewesen.

Jetzt war das Haus da.

Es war nicht irgendein Haus, sondern eine prachtvolle viktorianische Villa – oder war es zumindest einmal gewesen – und es war auch nicht von einem Blinzeln auf das nächste einfach erschienen oder hatte sich aus dem Nebel herausgeschält, der lautlos wie eine Hand mit tausend rauchigen Fingern aus dem Wald griff, sondern auf eine vollkommen unmöglich-bizarre Art in die Wirklichkeit hereingewachsen, unvorstellbar schnell und zugleich mit der unaufhaltsam langsamen Beharrlichkeit eines wandernden Gletschers; als wäre die Zeit auf gespenstische Weise zweigeteilt worden ...

Der Boden hatte sich bewegt und angefangen Wellen zu schlagen wie die Oberfläche eines schlammigen Tümpels, in den unsichtbare Steine geworfen wurden. Erdreich und Krume hatten sich verflüssigt und neu und auf vollkommen unmögliche Weise zu noch viel unmöglicheren Dingen zusammengefunden. Wurzeln hatten sich Tentakeln gleich aus dem Boden erhoben und Gräser und Büsche und selbst kleinere Bäume umschlungen und in etwas ... anderes verwandelt, das wie lebendig war und zugleich das genaue Gegenteil, und zu Mauerwerk und Fenstern wurde, Dachsparren und Türen und Wänden und Balkonen, als beobachte er viel weniger das Erscheinen als vielmehr die Geburt von etwas, das auf grässliche Weise lebte.

Vielleicht auch einfach nur verschlang, alles und jeden.

Zamorra war sich vollkommen des Umstandes bewusst zu träumen, gefangen in einem jener äußerst seltenen und beunruhigenden Träume, in denen man weiß, dass man träumt, ohne dass dieses Wissen in irgendeiner Form dabei half, sich gegen die Schrecken der Anderswelt zu wehren oder gar daraus aufzuwachen; doch da die Gesetze der Natur in diesem Traum nicht galten, wunderte er sich auch nicht allzu sehr über das, was er sah, sondern beobachtete den bizarren Prozess mit fast wissenschaftlichem Interesse weiter.

Er war noch lange nicht zu Ende. Das Haus entwickelte sich und mochte zu etwas werden, das er weder erkennen konnte noch wollte, aber das war es nicht allein.

Die Wirklichkeit verknotete sich weiter, zerrann zu in sich selbst gekrümmten Möbiusschleifen aus geronnenem Irrsinn und Dingen, für die es in keiner Sprache der Welt Worte gab und auch nicht geben sollte, und bildete schließlich Gestalten, menschliche und tierische Umrisse, die schneller wieder zerstoben, als sie entstehen konnten, grässliche Insektenmonster ebenso wie niedliche Buschbabys mit den Augen von Dämonen und Haifischgebissen, peitschenden Tentakeln und Dingen jenseits des Beschreibbaren, und doch war auch das nur die Ouvertüre zu dem, was bevorstand.

Etwas erschien unter der Tür der Villa, eine ... Entität ... aus lebendig gewordener Finsternis, die in einen Mantel aus wehenden schwarzen Schatten gekleidet war.

Etwas Unvorstellbares würde geschehen, wenn es aus den Gefilden des Irrsinns in die Albtraumrealität des Nachtmahrs heraustrat. Zamorra versuchte sich mit aller verzweifelter Macht gegen das Unvorstellbare zu stemmen, aber er war weiter zum bloßen Zuschauen verdammt. Der Schatten näherte sich, wuchs und gewann an Bedrohlich- und Wahrhaftigkeit, und

Zamorra erwachte.

Oder auch nicht.

Im allerersten Moment war er nicht einmal sicher. Kopf und Herz hämmerten begeistert um die Wette, und im Mund spürte er einen solch schlechten Geschmack, als hätte er gestern Abend eindeutig zu viel des guten Rotweins getrunken, als gut war. Natürlich konnte das gar nicht sein. Zamorra war kein Abstinenzler und wusste einen guten Tropfen zu schätzen, vor allen den eigenen, aber das letzte Mal wirklich betrunken war er in seiner Sturm- und Drangzeit während des Studiums gewesen, und so betrunken, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, was überhaupt passiert war, eigentlich noch nie.

Zamorra versuchte die Augen zu öffnen und stellte überrascht fest, dass es ihm erst mit dem dritten Versuch und mühsam gelang. Seine Lider waren schwer wie Blei.

Als er die Augen schließlich aufbekam, konnte er im ersten Moment auch nicht viel mehr sehen. Und das wenige überhaupt Erkennbare blieb verschwommen und unscharf, als wäre ihm der unheimliche Nebel aus seinem Traum ins Wachsein gefolgt, um seine Geheimnisse weiter eifersüchtig zu verbergen.

Der Traum!

Die Erinnerung kehrte endgültig und mit der Wucht eines heimtückischen Fausthiebs zurück und ließ ihn so abrupt hochfahren, dass ihm schwindelig wurde und er beinahe sofort wieder auf die Seite gekippt wäre. Seine Kopfschmerzen explodierten zu einem Feuerwerk aus weißen und gelben Lichtblitzen, das für einen Moment die unheimlichen Schatten auslöschte, dann folgte ein Schub plötzlicher und so heftiger Übelkeit, dass er fast seine gesamte Willenskraft brauchte, um sich nicht zu übergeben.

Der Moment ging so schnell vorüber, wie er gekommen war, aber er ließ einen sehr beunruhigten Zamorra zurück. Wurde er etwa krank? Die Erklärung lag nahe, überzeugte ihn aber nicht. Immerhin trug er mit der TI-Watch einen elektronischen Wachhund am Handgelenk, der seinen körperlichen Zustand ununterbrochen überprüfte und manchmal schon regelrecht lästig war, weil er bei der kleinsten Unregelmäßigkeit losbrüllte, als hätte er die Beulenpest, Cholera, Tuberkulose und Ebola auf einmal entdeckt.

Apropos ...

Zamorra hob den Arm vor das Gesicht und erlebte die zweite unangenehme Überraschung. Das Gerät war noch da, aber das war schon alles. An seinem Handgelenk prangte ein Band aus mattschwarzem Plastik, auf den sich rein gar nichts tat; auch nicht, als er mehrmals mit den Fingern auf den – ebenfalls erloschenen – Touchscreen tippte. Es war eindeutig tot, und das sollte unmöglich sein, denn das von Tendyke Industries entwickelte Wunderwerk war robust genug, dass man darüber mit einem ausgewachsenen Panzer fahren konnte, ohne ihm auch nur einen einzigen Kratzer zuzufügen.

Und jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, fiel ihm auch noch mehr auf:

Nirgends im Raum brannte auch nur ein einziges Licht. Das Visofon neben der Tür war so tot wie seine TI-Watch, die adaptiven Nachtlichter neben dem Bett, die sich automatisch im gleichen Maße dimmten, in dem der darin Liegende in den Schlaf hinüberglitt, und das stecknadelkopfgroße Nachtlicht über der Badezimmertür. Alles war dunkel, schattig und irgendwie ... schwammig.

Ein Stromausfall? Das war beinahe noch unwahrscheinlicher als der Ausfall seines elektronischen Wachhunds. Wenn es ein Gebäude in diesem Teil der Welt gab, das gegen technisches Versagen geschützt war, dann war das Château Montagne. Sämtliche Systeme waren gleich mehrfach redundant und gegen jeden bekannten Angriff gehärtet, und es gab zusätzliche Sicherheitssysteme, von deren bloßer Existenz die meisten Menschen auf der Welt nicht einmal etwas ahnten, und darüber hinaus auch noch etliche Schutzmechanismen – insbesondere die M-Abwehr – gegen magische, dämonische oder interdimensionale Angriffe, kurz: Eigentlich war ein Stromausfall unmöglich.

Dummerweise wurde er ganz offensichtlich gerade Zeuge eines ebensolchen.

Wenn die Erklärung denn wirklich so einfach war ...

Zamorra gestattete dem Gedanken nicht, sich zu verfestigen und aus seiner ohnehin wachsenden Beunruhigung womöglich etwas Schlimmeres zu machen, sondern kam mit einiger Verspätung auf die Idee, nach Nicole zu tasten.

Sie war nicht da. Und damit nicht genug: Als er sich aufsetzte und die Beine aus dem Bett schwang, wurde ihm bewusst, dass er komplett angezogen und selbst mit Schuhen an den Füßen dagelegen hatte. Allmählich wurde es wirklich mysteriös ... um nicht ein anderes Wort zu gebrauchen, vor dem er im Moment noch zurückschreckte.

Sehr behutsam stand er auf und tastete sich zum Fenster vor, ohne irgendwo anzustoßen, sah hinaus und stellte fest, dass der Stromausfall offenbar nicht nur das Château betraf, sondern alles andere auch.

Was er sah, ähnelte auf unheimliche Weise dem Anblick, den auch das gesamte Schlafzimmer bot, nämlich nichts. Alles war dunkel, nahezu schwarz, und die wenigen vertrauten Umrisse, die er ausmachte, erkannte er eigentlich nur, weil er wusste, dass sie da waren. Das galt nicht nur für das Anwesen. Wo die Lichter des Dorfes unten im Tal sein sollten, gähnte nur ein schwarzer Schlund, der geradewegs bis in die Ewigkeit zu führen schien. Selbst die Sterne waren verschwunden, als hätte jemand eine Decke aus purer Finsternis über der Welt ausgebreitet, die jedes Licht und jede Bewegung erstickte. Und vielleicht nicht nur das.

Eine erste, noch vage Furcht begann sich in Zamorra auszubreiten, was schon etwas hieß bei jemandem, der so viele Gefahren gemeistert und so vielen entsetzlichen Bedrohungen und Grauen erregenden Kreaturen gegenübergestanden hatte.

Er hatte das Gefühl, dass dort draußen etwas heraufdämmerte, dem er noch nie zuvor begegnet war, weder in dieser noch in einer der zahllosen anderen Welten und Realitäten, die er im Laufe seines abenteuerlichen Lebens besucht hatte. Dort draußen lauerte etwas, etwas so vollkommen Fremdes und Andersartiges, dass schon der bloße Versuch, es zu erfassen zum Scheitern verurteilt sein musste.

Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber ganz gelang es ihm nicht. Ein Teil davon blieb, tief in einem fast vergessenen Winkel seines Bewusstseins eingesperrt, aber immer noch da wie der Keim einer bösartigen Krankheit, der wachsen und sich zu einem verheerenden Flächenbrand ausweiten mochte.

Und wieso war es eigentlich so still? Zamorra fiel plötzlich die vollkommene Abwesenheit jeglichen Geräusches auf. Das war nicht normal. Selbst wenn es tatsächlich tief in der Nacht sein sollte – auch wenn er sich das ebenso wenig erklären konnte wie so manches andere hier – hätte es nicht so völlig still sein dürfen. Ein so großes Haus wie das Château Montagne war niemals völlig still, schon gar nicht ein so altes Gebäude. Häuser arbeiteten. Sie lebten. Das Mauerwerk setzte sich, Dachsparren und Wandvertäfelungen knackten, Glasscheiben knisterten, wenn sich die Temperaturen änderten, Bodendielen ächzten, auch wenn niemand darüber ging. Im Inneren eines so großen Hauses war es ebenso wenig still wie im Inneren eines menschlichen Körpers. Aber nun hörte er ... nichts.

Auch wenn er sich selbst ein bisschen albern dabei vorkam, schnippte Zamorra mit den Fingern und hätte erleichtert sein sollen, das dazugehörige Geräusch zu hören, doch auch damit schien etwas nicht zu stimmen, auch wenn er selbst nicht genau sagen konnte, was.

Schließlich riss er sich endgültig vom Anblick der auf so gespenstische Weise erloschenen Welt vor dem Fenster los und ging zur Tür, wobei er zweimal schmerzhaft gegen Hindernisse stieß, von denen er sich gar nicht mehr erinnerte, dass sie dagewesen waren.

In der fast völligen Finsternis war es gar nicht so einfach, das Visofon zu finden, und er ahnte das Ergebnis seiner Bemühungen bereits voraus, drückte aber trotzdem mehrmals auf sämtliche Tasten und Knöpfe und bearbeitete den Touchscreen mit wachsender Frustration, bis die einzig denkbare Steigerung noch darin bestanden hätte, ihn zu zerdrücken. Aber irgendwie war er sich diesen allerletzten Versuch auch selbst schuldig gewesen.

Doch endlich gab er auf, sah sich noch einmal in dem fast völlig schwarzen Zimmer um und trat durch die Tür.

Absolute Stille empfing ihn.

Aber nicht nur.

Nicole überlegte ernsthaft, ein zweites Glas Sherry zu bestellen, obwohl sie eigentlich gar nicht so auf Sherry stand und es nun wirklich nicht die Uhrzeit dafür war. Aber das Zeug war einfach zu köstlich, und genau genommen wäre es ja auch erst das erste, denn der winzige Probeschluck, den Mostache ihr eingeschenkt hatte, zählte kaum. Er war gerade ausreichend gewesen, um ihre Geschmacksnerven regelrecht explodieren und jeden einzelnen davon aus Leibeskräften mehr schreien zu lassen. Was natürlich auch der Sinn der Sache gewesen war.

»Und ich habe bis jetzt gedacht, wir wären Freunde, Mostache«, sagte sie über den Rand des leeren Glases hinweg, das sie ihm über die Theke reichte.

»Und warum glaubst du das jetzt nicht mehr?« Der Wirt des Gasthauses Zum Teufel machte gar keine Anstalten, nach dem Glas zu greifen, sondern sah sie mit schräg gelegtem Kopf abwartend an.

»Freunde verführen ihre Freunde nicht zum Alkoholismus«, antwortete Nicole. »Und schon gar nicht am helllichten Tag.«

Mostache nahm das Glas nun doch entgegen und sah zugleich demonstrativ zu der Uhr an der gegenüberliegenden Wand hin und griff dann unter die Theke, um eine interessant geformte Flasche ohne Etikett herauszuholen, aus der er ihr diesmal ein normales Glas einschenkte. »Gut, nicht wahr?«

Gut war gar kein Ausdruck. Nicole musste sich beherrschen, um ihm das Glas nicht aus der Hand zu reißen, und noch mehr, um den Inhalt nicht sofort herunterzustürzen, während sie daran nippte. Ein bisschen wunderte sie sich über sich selbst. »Woher hast du den edlen Tropfen?«

»Das ist mein Geheimnis«, erwiderte Mostache wichtigtuerisch. »Aber er ist gut, oder? Mein seliges Fräulein Mutter hatte dafür einen Spruch: Als ob einem ein Engelchen auf die Zunge gepinkelt hätte.«

Nicole fand den Spruch zwar ein wenig ... sonderbar, aber sie kam nicht dazu, entsprechend zu antworten, einerseits weil sie in diesem Moment erneut an ihrem Glas nippte und gar nicht anders konnte als zuzugeben, dass Mostaches Mutter nicht so ganz falsch gelegen hatte, hauptsächlich aber, weil in diesem Augenblick etwas losbrach, das sie im allerersten Moment einfach nur für Krach hielt und erst in der zweiten Sekunde als etwas identifizierte, das sein Verursacher für Musik halten mochte. In der dritten Sekunde sah sie über die Schulter zurück und erblickte etwas, das ihr bisher noch gar nicht aufgefallen war: Das Gasthaus Zum Teufel hatte eine Neuerung, eine wuchtige in hellen Farben leuchtende und chromblitzende Wurlitzer-Jukebox, die ungefähr so gut in das eher mittelalterliche Ambiente des Teufel passte wie eine Disco-Kugel in einem Kohlekeller.

Ein junger Mann in abgetragenem Leder- und Jeans-Outfit kniete vor der geöffneten Wartungsklappe und fummelte in ihrem Inneren herum. Er schien Nicoles Blick zu spüren, denn er drehte nun seinerseits den Kopf und sah zu ihr hoch. Er hatte kurzgeschnittenes, blondes Haar und seltsame Augen, ohne dass sie genau sagen konnte, was ihr daran seltsam vorkam.

»Nicht ganz so laut, mon ami« rief Mostache. »Du bist nicht allein hier.«

Sah man von ihm selbst und Nicole ab, war er das sehr wohl, denn selbst angesichts der noch relativ frühen Stunde herrschte im Gasthaus ungewohnte Lehre. Nicole musste allerdings zugeben, dass es auch sie eher durch Zufall hierherverschlagen hatte. Und wenn sie ganz genau darüber nachdachte, dann konnte sie nicht einmal mehr sagen, warum sie auf dem Rückweg noch einmal hier Halt gemacht hatte.

Der Gedanke entglitt ihr, und der Blonde fummelte irgendetwas im Inneren der Musikbox, woraufhin die Musik – unwesentlich – leiser wurde.

»Was für ein Lärm«, sagte sie, nun wieder an Mostache gewandt.

»He, he!« Der Wirt drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. »Vorsichtig, junge Dame. Das ist ein Klassiker.«

»Einstürzende Industriebauten?«, vermutete Nicole.

»Steppenwolf, Born To Be Wild«, antwortete Mostache, und jetzt erkannte Nicole das Stück ebenfalls und kam sich fast ein bisschen dumm vor.

»Seit wann stehst du auf Heavy Metal?«

Jetzt wirkte Mostache tatsächlich ein bisschen eingeschnappt. »Zu der Zeit, in der dieses Prachtstück komponiert wurde, gab es das Wort noch gar nicht«, erklärte er indigniert. »Das ist klassischer Rock. Noch gute alte Handarbeit!«

»Du wirst aber nicht auch noch headbangen, oder?«

»Damit mir das Gebiss wegfliegt und du es mir zurückgeben musst?« Mostache griente noch breiter. »Nein, den Gefallen tue ich dir nicht.«

Nicole lachte. »Woher hast du das Ding überhaupt? Es sieht beinahe echt aus.«

»Sie ist echt«, erwiderte Mostache. Er klang ein bisschen stolz.

»Eine echte Wurlitzer?« Nicole schürzte anerkennend die Lippen. »Die muss ja ein Vermögen wert sein!«

»Das ist sie, aber mich hat sie keinen Cent gekostet«, erklärte Mostache in nichts anderem als selbstzufriedenem Tonfall.

»Wie das?«

»Wenn ich das wüsste«, erwiderte Mostache, als hätte er es darauf angelegt, sie nun vollends zu verwirren. »Manchmal hat man einfach Glück. Wie es aussieht, habe ich wohl vor etlichen Jahren ein paar Euro in eines dieser neumodischen Kickstart-Unternehmen gesteckt. Nicht viel, und ehrlich gesagt musste ich nachsehen, wann das war, aber die Investition hat sich gelohnt.«

»Ach?«, fragte Nicole. Wieso hatte sie eigentlich das Gefühl, dass mit seinen Worten etwas nicht stimmte? Nicht dass er log – das hätte sie gespürt – aber sie klangen dennoch irgendwie ... falsch.

»Hättest du vor zehn Jahren ein paar Euro in Bitcoins investiert, dann wärst du jetzt Millionärin«, sagte Mostache.

»Das bin ich«, erinnerte Nicole, doch Mostache schüttelte nur den Kopf und fuhr unbeeindruckt fort:

»Und so bin ich jetzt Teilhaber eines gut florierenden Unternehmens, das die Dinger restauriert und an die Gastronomie vermietet. Leider bleibt sie nur ein paar Wochen hier, um Werbung zu machen, aber so lange habe ich großen Spaß daran.«

»Auch an dem Radau?«, stichelte Nicole, obwohl sie sich dabei ertappte, im Takt des Rock-Klassikers mit den Zehen zu wippen.

Der Blonde musste ihre Worte verstanden haben, denn Steppenwolf endete mit einem schrillen Misston, der an das Kratzen der Diamantnadel über eine Schallplatte erinnerte, und stattdessen schmettert nun Iron Man von Black Sabbath aus den Lautsprechern. Natürlich noch lauter.

Mostache verdrehte die Augen, enthielt sich aber jeglichen Kommentars und wedelte stattdessen mit der Sherry-Flasche. »Und das Schätzchen hier stammt aus derselben Quelle. Sozusagen ein Willkommensgeschenk. Noch einen auf den Weg?«

Nicole schüttelte mit echtem Bedauern den Kopf. »Dann gibt es keinen Nachschub?«

»Ich fürchte nein«, sagte Mostache betrübt. »Aber ich schließe sie gut weg, keine Angst. Komm doch in den nächsten Tagen einfach mit Zamorra vorbei, und wir machen sie gemeinsam leer.«

»Nichts lieber als das«, antwortete Nicole, während sie bereits die Beine vom Barhocker schwang. »Aber jetzt muss ich wirklich los, bevor derselbe Zamorra eine Vermisstenanzeige aufgibt oder gleich eine Suchexpedition zusammenstellt. Ich bin schon viel zu lange ... «

Sie verstummte, denn während sie sprach, hatte sie die Hand gehoben, um die Uhrzeit abzulesen. Es gelang ihr nicht. Alles was sie sah, war ein schmaler Reifen aus schwarzem Kunststoff, der sich um ihr Handgelenk schmiegte.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Mostache. Anscheinend sah man ihr die Verwirrung an.

»Es ist ... ausgefallen«, sagte sie stockend. »Aber das kann gar nicht sein.«

»Seltsam«, kommentierte Mostache. »Aber mit der Uhrzeit kann ich dienen.« Er legte die Stirn in Falten. »Oder auch nicht.«

Nicole sah einen Moment lang ihn an, dann zu der Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Die beiden Zeiger standen auf 12:50 Uhr, und der Sekundenzeiger rührte sich gar nicht.

»Scheiß moderner Kram«, kommentierte Mostache, zog eine Schublade auf und wühlte einen Moment darin herum, bevor er eine altmodische Taschenuhr mit Deckel an einer goldenen Kette in die Höhe zog. »Gut, dass ich so gut wie nie etwas wegwerfe. Das gute Stück hier stammt noch von meinem Großvater und ist älter als wir beide zusammen, aber es funktioniert immer noch wie am ersten Tag.« Er klappte den Deckel auf, legte die Stirn in noch tiefere Falten und sah plötzlich erschrocken aus.

»Was ist los?«, fragte Nicole alarmiert. »Ist sie auch stehen geblieben?«

Statt zu antworten, drehte Mostache die Uhr herum, sodass sie das Ziffernblatt erkennen konnte. Sie war nicht stehen geblieben. Der Sekundenzeiger bewegte sich.

Aber in die falsche Richtung.

Die Uhr lief rückwärts.

Die Stille war hier draußen sogar noch einmal tiefer und hatte eine schon fast aktive Qualität angenommen, als wäre sie nicht nur die Abwesenheit jeglichen Lautes, sondern etwas, das unsichtbar und körperlos jeden Winkel des Hauses ausfüllte und keinerlei Geräusch zuließ. Etwas Knisterndes, Vages schien gerade unterhalb der Wahrnehmungsschwelle jeden seiner Schritte zu begleiten und sich wie Spinnweben auf seine Haut zu legen, nur um immer wieder zu verschwinden, gerade wenn er danach zu greifen versuchte. Und da war das Licht.