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Verbrochen, verjährt und bisher nicht erzählt Verbrochen, verjährt und bisher nicht erzählt $ick, bekannt für sein von Drogen, Exzess und Kriminalität geprägtes Leben, erzählt eine bisher unveröffentlichte Episode seiner Geschichte: Seine Verbindung zu Hermann, einem Räuber, dem er vertraut, der ihn aber auch tief in die Beschaffungskriminalität zieht. Die packende Erzählung handelt von Raubzügen, Drogenexzessen und $icks Kampf um innere Zufriedenheit. Trotz seiner dunklen Vergangenheit gelingt es ihm, sich emotional mit dieser auseinanderzusetzen und dabei aufzuklären, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.piper.de
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: André Welter aka $ick
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Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen und Alternativtexten
Dieses Buch ist
KEINE
Aufforderung,
harte Drogen zu konsumieren
oder schwere Straftaten zu begehen.
Der Autor
gibt Euch lediglich
einen Einblick
in seine vergangene
REALITÄT!
Cover & Impressum
Widmungen
Vorwort
Intro
Rückblende
Kapitel 1
Erstkontakt im Pferdestall
Meine Feuertaufe
Vaterfigur verzweifelt gesucht
Kapitel 2
Die Nacht vor meiner Waffen-Premiere
Baut keiner Scheiße, wird niemand verletzt!
Kapitel 3
Wut, Angst & Suchtdruck
Scham, Schande, Ekel & Selbsthass
Kapitel 4
In Mamas Fußstapfen Oder – unsere Flucht vor uns selbst.
Kapitel 5
Kriminelle Weisheiten
»Der Plan war doch eigentlich ganz gut … verdammt?!«
Kapitel 6
»Aber erstens: Kommt es anders.« – »Und zweitens: Als man plant!«
Kapitel 7
Der einsame Weg zum Exitus
Letzte Haft-Notiz:
Prävention – Intervention – Aufklärung – Entstigmatisierung
Kommentare auf Youtube
Warum Stigma e. V.?
Was ist Stigmatisierung?
Stigmata der Sucht
Stigmatisierung bei Suchtabhängigkeit
Mögliche Folgen von Stigmatisierungen
Stigmatisierung und Verdrängung
Prävention und Intervention
Lerneffekte des Modelllernens
Modelle
Prozess des Modelllernens
Die beteiligten Systeme – Ein ganzes Dorf erzieht ein Kind
Psychologische Grundbedürfnisse
Bindungsarbeit
Unsere Inhalte
Einblick in die Impulsphase
1. Warum werden eigentlich Substanzen konsumiert?
2. Zum Umgang mit Gefühlen
Freude, Angst, Trauer, Wut und Neugier
Schuld, Scham und Ekel
3. Was hat eigentlich Suchtpotenzial?
Das Belohnungssystem
Konsummuster
Und wann ist man jetzt abhängig?
ICD-10 (Abhängigkeitssyndrom, F1x.2)
ICD-11 (Disorder due to substance use)
DSM-5 (Substance Use Disorder)
Zusammenfassung unserer Inhalte und Angebote
Seminare für Jugendliche
Wissensvermittlung
Erarbeitung individueller Strategien und Fähigkeiten
Seminare für Erwachsene
Pädagogische Haltung und Kommunikation
Unsere Formate
Das Team
Paul Lücke
Unsere Erfahrungsexpertin Ise
Unser Erfahrungsexperte Roman
Unsere Erfahrungsexpertin Sara
Unser Erfahrungsexperte Simon
Unsere Erfahrungsexpertin Hilly Skoric
Seminaranfrage:
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Kontakt:
Literatur
Links
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Dieses Buch widme ich all jenen Menschen, die an ihrer Konsum-Gebrauchs-Störung verstorben sind!
#ihrfehlt
Ebenso widme ich dieses Buch all den Menschen,
die Opfer von Gewalttaten wurden
und bis heute darunter leiden!
#estutmirleid
Doch dieses Buch ist auch meinen Liebsten gewidmet.
Für ihre Liebe und ihre Geduld mit mir.
Der besten Mama der Welt!
&
Meiner wunderbaren Tochter Luka!
Ich hab euch beide ganz schrecklich lieb.
Aber es gibt noch zwei Menschen,
denen ich hier von ganzem Herzen danken möchte.
Paul Lücke
Für seine unerschütterliche, nicht wertende Freundschaft.
&
Magdalena Markić
Für ihren emotionalen Zuspruch & ihre Inspiration.
Danke!
Berlin, Frühling 2024
Was soll ich sagen?
Als ich 2016 meine Biografie beim Verlag abgab, fehlte in der Erzählung nach meinem Gefühl ein sehr prägnanter Teil meines Lebens. Nämlich meine schwer gestörte »Beziehung« zu einem Räuber namens Hermann, und was ich alles mit ihm verbrochen hab’.
Der allerwichtigste Grund, den ich damals hatte, euch meine Ausflüge mit Hermann nicht zu erzählen, war, dass die 25 Jahre Verjährungsfrist, die für schweren bewaffneten Raub gilt, noch nicht um waren. Und Klaus, mein Anwalt, mir deshalb ganz dringend davon abriet.
Denn zu der Zeit lagen erst 21 Jahre zwischen unseren Straftaten und meinem aktuellen Leben. Und theoretisch hätte ich für diese Taten noch belangt werden können, wenn ich sie damals publik gemacht hätte. Also hab’ ich es gelassen.
Seit Ende 2020 besteht nun jedoch für mich die straffreie Möglichkeit, euch auch diesen Teil meiner Geschichte zu erzählen.
Doch irgendwie behinderten mich immer wieder mein schlechtes Gewissen und die dazugehörigen nagenden Gedanken daran, mich einfach hinzusetzen und mit der Arbeit zu beginnen.
Aber seit ich im Spätsommer 2012 meine Video-Biografie Shore, Stein, Papier auf YouTube veröffentlicht habe, hat sich extrem viel in meinem Leben zum Positiven verändert. Ich hab’ mich verändert! Mama sagt sogar, ich hätte mich um 180 Grad gedreht.
Und is’ stolz wie Oskar, wenn die Frage kommt, »Und, was macht Ihr Sohn denn so beruflich?«, und sie antworten kann, »Grimme-Preis-Gewinner und Bestsellerautor«.
Es ist schön, sie so zu sehen. Endlich muss sie sich nicht mehr für mich schämen. Endlich können wir uns sagen, dass wir uns lieb haben.
Aber auch ich bin stolz auf mich. Stolz, dass ich nun gute zwölf Jahre clean bin und mich inzwischen ziemlich gut mit meinem »normalen« Leben arrangiert habe.
Das Erzählen meiner Geschichte hat mir, und wie ich heute ganz sicher weiß, auch vielen anderen, geholfen, einen Umgang mit sich selbst und den eigenen Emotionen zu finden. Innere Zufriedenheit zu erlangen ist seitdem mein großes Ziel.
Als mein Team und ich 2015 den Grimme-Preis für »Aufklärung ohne moralisch erhobenen Zeigefinger« bekamen, konnte ich endlich fühlen, dass ich auf dem richtigen Weg angekommen war. Also gründete ich 2016 gemeinsam mit Paul Lücke (Geschäftsführer von Stigma & Produzent von SSP) und ein paar anderen sehr lieben Menschen meinen gemeinnützigen Verein Stigma e. V., den ich euch im letzten Kapitel dieses Buches noch etwas ausführlicher vorstellen werde.
Aber vorab hier schon mal ein kleiner Einblick in unsere Arbeit.
Wir geben Seminare in Kriminalitäts- und Suchtprävention für Schüler, Lehrer und auch für die Eltern der Kinder.
Wir haben es geschafft, aus meiner bis dahin verkorksten Biografie das Konzept »Lernen aus Lebenserfahrung« herauszuarbeiten und sind seitdem an Schulen in ganz Deutschland unterwegs. Wir geben auch Seminare für junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, Selbsthilfegruppen, Entgiftungsstationen und, man höre und staune, sogar für die Polizei.
Im Fokus unseres Unterrichtes steht groß der Umgang mit unseren Emotionen und wie alles entscheidend genau dieser für unser gesamtes Leben ist.
Denn kümmern wir uns nicht um unsere Emotionen, vor allem um die negativen, können wir nicht glücklich werden. Punkt!
Und wenn wir unglücklich und deprimiert sind, is’ der Wunsch danach, nichts mehr zu fühlen, oft so groß, dass selbstzerstörerischer Konsum und Verhalten zur Selbstverständlichkeit werden. Genau wie bei mir.
Ich liebe diese Arbeit. Sie is’ maßgeschneidert für mich, und sie gibt den verschwendeten drei Jahrzehnten meines Lebens einen Sinn. Endlich habe ich verstanden, wie Leben funktioniert. Außerdem habe ich sehr große Freude daran entwickelt, dieses Wissen auch an andere weiterzugeben. Dafür habe ich mich im Jahr 2022 sogar noch weitergebildet und hab’ bei zwei ganz wundervollen Menschen, Bärbel Römer Biesinger und ihrem Mann Rainer Biesinger (Der Heavy Metal Coach), meinen Persönlichkeitstrainer-Schein machen dürfen. Ein dickes Dankeschön noch mal an »Das Seminarhaus« an dieser Stelle für die 325 unglaublich intensiven Stunden, in denen ich so vieles dazulernen durfte.
Und, ohne Scheiß. Die Arbeit mit Stigma e. V. gibt mir das schöne Gefühl, etwas sehr Wichtiges besonders gut zu machen. Und: ebenso das wunderbare Gefühl, etwas wiedergutzumachen. Denn das muss und das werde ich. So oder so. Denn mein schlechtes Gewissen befiehlt es mir.
Und bedenkt bitte auch, dass ich in dieser Zeit, in die wir nun gleich abtauchen werden, so suchtgesteuert war wie nie zuvor in meinem Leben. Selbst als der Sensenmann schon vor mir stand, konnte ich nicht damit aufhören, mir das verdammte Koks in die Venen zu ballern. Man musste mich verhaften, damit ich keine Gefahr mehr für andere und mich selbst sein konnte. Heute schäme ich mich sehr dafür und kann nur sagen, dass es mir von ganzem Herzen leidtut.
Also seid bitte auf den folgenden Seiten nachsichtig mit mir. Justitia ist es inzwischen auch.
Hannover, Herbst 1994
In den Augen spiegelt sich die blanke Panik wider, als Hermann seine Luger mit Schalldämpfer anhebt, auf die Stirn des Mannes zielt und mit ganz ruhiger Stimme sagt: »Gib mir den Koffer.« Die beiden Geldboten erstarren mitten in der Bewegung. Der mit dem Koffer fängt augenblicklich an, am ganzen Körper zu zittern. Der andere wirkte recht gefasst.
Drei Atemzüge vergehen, ohne dass etwas geschieht. Durch das Koks schwitze ich wie ein Schwein unter der Skimaske. Mein Kiefer ist brutal auf Spannung. Ich bin völlig überdosiert. Drauf geschissen. Ich hab’ die beiden Affen fest im Blick.
Dann plötzlich.
Plopp!!
Ein satter Sound, als ob man ne’ Pulle Schampus köpft, hallte in der kühlen Nachtluft wider, als Hermann den Abzug zog. Dem einen schoss er, ohne weitere Vorwarnung, ins rechte Bein, dann kehrte die Waffe mit einer fließenden, fast anmutig wirkenden Bewegung wieder ins Gesicht des Kofferträgers zurück.
Erneut wiederholte Hermann seine Forderung.
Nur diesmal lauter und mit mehr Nachdruck in der Stimme:
»GIB MIR DEN KOFFER!«
Durch das Gewimmer seines blutenden Kollegen, der sich auf dem nassen, dreckigen Asphalt vor Schmerzen wand, wirkten die Worte Hermanns noch intensiver, noch gefährlicher. Er is’ voll in seinem Element, während der Geldbote beinahe kollabiert vor Angst. Genau in diesem Moment war eigentlich mein Einsatz gefragt.
Aber als ich mit dem riesigen Bolzenschneider aus Feuerwehrbeständen auf die drei zugehe, dreht Hermann erst richtig auf.
Er machte zwei schnelle Schritte, knockte mit einem gezielten Tritt an den Unterkiefer den angeschossenen Typen aus und stand nur einen Wimpernschlag später, Nase an Nase, vor dem Kofferträger, drückte ihm brutal die Luger an die Schläfe, und zischte. »Stell den verfickten Koffer auf die Erde und lass den Scheiß-Griff los.« Und wieder waren seine Bewegungen dabei sauber und fließend.
Beinahe so, als würde er tanzen. Der Geldbote nahm das mit Sicherheit ganz anders wahr. Er pisste sich ein, kniete sich dann weinend und vor Angst zitternd auf den Beton und stellte das Objekt der Begierde direkt vor Hermanns Füßen ab. Als seine Hand den Koffer losließ, wurde die Kette sichtbar, mit der er an ihn gefesselt war.
Kein Ding. Jetzt kam mein Bolzenschneider-Einsatz. Das Werkzeug durchschnitt den Stahl wie Butter. Fantastisch. Ich greif mir den Koffer und eile zu dem geklauten nachtblauen 5er-BMW. Das Adrenalin zerfetzt mir alle Gehirnwindungen. Mein Atem geht schnell und flach. Wir müssen weg hier!
Jetzt, sofort!
»KOMM ENDLICH!!«
Meine Stimme klingt heiser. Der Hals trocken und taub vom Kokain.
Mein Shirt und der Pulli sind klitschnass vom Schweiß.
Unter der juckenden Sturmhaube sieht es genauso aus. Die Suppe läuft mir in die Arschritze und jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als ich das zweite Mal nach ihm brülle, während ich mich nach links beuge, um ihm die Fahrertür zu öffnen.
»JETZT KOMM ENDLICH!!«
In dem Moment, als ich wieder gerade sitze und durch die Frontscheibe des Wagens starrte, hörte ich einen dumpfen Einschlag, als Hermanns Knie den Schädel des Mannes traf.
Bäms!
Der Typ kippte wie ein nasser Sack zur Seite und blieb regungslos liegen. Hermann drehte sich zu mir um, riss die Arme hoch und schrie:
»JA, MANN!! Das hab’ ich jetzt gebraucht!«
Er lachte, als er sich hinters Lenkrad schwang, den Wagen startete und wir im Schritttempo an den beiden bewusstlosen Geldboten in unserem BMW vorbeirollten, bis uns die Dunkelheit von Hannovers Straßen verschluckte.
Für alle, die Shore, Stein, Papiernoch nicht kennen.
Geboren wurde ich 1973 in Homburg/Saar, einem kleinen Dreckskaff im Saarland nahe der französisch-belgischen Grenze. Mein Vater war damals ein durch die Kneipen ziehender Hurenbock und Tunichtgut mit dem starken Drang, Differenzen körperlich zu regeln – um es mal nett zu formulieren.
Außerdem war damals schon immer fragwürdig, womit er sein Geld verdiente, und so trennte sich meine Mutter von ihm, als ich vier Jahre alt war. So zogen wir nach Sindelfingen, zu meinem Stiefvater. Er war cool, ich mochte ihn.
Doch leider war er Alkoholiker, und die Beziehung der beiden zerbrach nach neun Jahren, genau daran. Denn ohne seinen Alkoholpegel war er einfach nicht in der Lage, Emotionen zuzulassen oder gar zu zeigen.
Wie auch immer.
Ich bin dreizehn, und der nächste Lebensgefährte meiner Mutter sagte mir drei Stunden nachdem wir uns kennengelernt haben und wir gerade erst zu ihm nach Hannover ziehen, dass er meine Mutter zwar liebe, ich aber nur ein unerwünschtes Mitbringsel sei. Ich hab’ den Wichser so was von gehasst und trieb mich schon wenige Wochen später lieber mit meinen neuen Freunden herum und kiffte mir die Rübe dicht, als »zu Hause« zu sein.
Ich war kaum fünfzehn geworden, als mein gesamter Freundeskreis und ich auf Shore abdrifteten und ich muss sagen, ich liebte es. Dieses wohlig warme Gefühl, diese Umarmung des Opiats.
Das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Ich wollte nie wieder ohne es sein und bekam von Anfang an den Hals nicht voll genug davon. Was folgte, waren unzählige Diebstähle und Einbrüche. Schnaps, Zigaretten, teure Klamotten, Schuhe, Elektroartikel.
Egal, ob als Einzeltäter oder mit meinen Jungs zusammen.
Selbst geplant oder auf Tipp.
Ganz egal.
Ich war ständig auf der Jagd nach mehr Geld für noch mehr Stoff.
Als ich an meinem achtzehnten Geburtstag nach einjähriger Ansage zu Hause rausflog und obdachlos wurde, drehte ich noch mal einen Gang höher, was Straftaten und das Konsumieren anging.
Anstatt »wach zu werden«, wie es sich meine Mutter gewünscht hatte. Die Quittung dafür waren dann zwei Jahre zehn Monate Strafhaft in der JA Hameln. Wovon ich aber nur zwei absaß und zwischendurch sogar ein paar Wochen auf der Flucht war. Mit Sägen und Über-die Mauer-Klettern.
Mit dem ganzen Pipapo, das zu einem Gefängnisausbruch dazugehört.
Drei Tage vor Weihnachten, 1993, wurde ich dann offiziell und topfit aus der Jugendhaft wieder in die Obdachlosigkeit entlassen.
Denn wenn du Festabgang machst, also deine gesamte Strafe bis zum letzten Tag absitzt, interessiert es die Justiz einen Scheißdreck, ob du nach der Haft in ein vorbereitetes, gesichertes Umfeld kommst oder nicht. Keine Entlassungsvorbereitungen, nichts. Nichts, was mir irgendwie hätte helfen können, wieder in die Gesellschaft zurückzufinden und ein »normales« Leben zu führen. Nur ein emotional verkrampftes Abschlussgespräch mit meinem Gruppenbetreuer, den das Ganze damals genauso überforderte wie mich. Dabei soll die JA Hameln damals angeblich der modernste und fortschrittlichste Jugendvollzug Deutschlands gewesen sein.
Aber drauf geschissen.
Denn wir sind schon sehr nahe an dem Punkt, an dem die Räuberpistolen beginnen, also weiter.
Ich wurde noch am selben Tag, an dem ich aus dem Knast kam, mit Heroin rückfällig und zog bei dem Kollegen ein, bei dem ich auch auf meiner Flucht untergekommen war.
Was soll ich dir sagen?
Ich hatte das ganz enorme Gefühl, dass ich etwas nachholen musste, und verlor mich in einer Welt voller Ecstasy, MDMA, Popas, Speed und all dem anderen Scheiß der dazugehört. Ich war so geflasht von der gewaltigen Welle an Liebe und Zuneigung, die diese Substanzen größtenteils mit sich bringen, dass ich mir in manchen Nächten 15, 20 Pillen in den Kopf kloppte und wie ein Bescheuerter jede Line wegzog, die meinem Rüssel zu nah kam. Selbst mit blau angelaufenen Lippen und totalem Gesichtskasper schnüffelte ich noch an irgendeinem Fläschchen oder klinkte mir irgendeinen Scheiß.
Ich gab mir die volle Dröhnung. So lange, bis ich sechs Monate später nur noch heulend bei meiner damaligen Freundin im Bett saß und überhaupt nicht mehr klarkam.
In diesem Stadium meines Lebens lernte ich dann Kokain in Form von Steinen kennen. Diese Seuche hatte Hannovers Straßen im Sturm erobert, während ich in Hameln dumm rumgesessen hatte. Nach der ersten Pfeife war ich bereits so extrem angefixt und gierig auf mehr, dass sich nur wenige Tage später mein Arbeitsmodus an den neuen, teureren Stoff anpasste und ich vielfach in die Juwelierabteilung der Galeria Horten einbrach.
War viel weniger zu schleppen.
Viel mehr Geld. Mehr Stoff.
Noch mehr konsumieren.
Bis ich durch das viele Koks gar nichts mehr fühlte und schließlich Hermann kennenlernte.
Hannover Steintor, August 1994
Es waren knapp zwei Wochen seit meinem letzten Bruch in der Juwelierabteilung der Galeria Horten vergangen. Seitdem hatte ich mir mindestens fünfzig Gramm Stein durch die Pfeife gezogen. Den Großteil meiner Beute hatte ich noch in derselben Nacht gegen knapp sechzig Gramm Koks, dreißig Gramm Shore und einen halben Müllbeutel voll französischem 2mg Rohypnol eingetauscht.
Eigentlich ein richtiges scheiß Geschäft für mich.
Hätte ich die Uhren und den Schmuck einzeln verkauft, wäre Minimum das Fünffache dabei rumgekommen.
Aber egal.
Ich war wieder mal so gierig auf das verfickte Koks gewesen, dass ich einfach darauf geschissen hab’.
Das war Standard inzwischen bei mir.
So hing ich dann wie ein Gestörter sieben oder acht Tage an der Pfeife, bis ich wohl irgendwann nebenbei, im Koks-Wahn, damit angefangen hab, mir die Pillen reinzudrücken und dicke Bleche Heroin zu rauchen.
Das muss so vor ungefähr zwei, vielleicht drei, Tagen gewesen sein.
Als ich vor ein paar Stunden auf dem dreckigen Teppich in meinem Dachbodenzimmer von einem richtig perversen Turkey geweckt wurde, klebte mir ein angebrochener Tablettenriegel in der Fresse. Vier leere Blister lagen auf dem zugesifften Couchtisch direkt neben dem halb verkippten Beutel Heroin und mindestens zehn bis 15 angerauchten Shore-Folien.
Kein Plan, warum ich mir im Pillen- und Koka-Schädel immer wieder ein neues Blech gemacht hatte. Die Benzodiazepine hatten wohl zum Schluss das Sagen.
Aber drauf geschissen.
Ich war entzügig, wie Sau.
Ich brauchte dringend Heroin.
Nachdem ich gute zwei Stunden mit Kotzen und Blechrauchen verbracht hatte, um meinen Affen zu töten, war ich nun am Steintor vorm Pferdestall angekommen. Noch vor wenigen Jahren verkehrten in dieser Kneipe hauptsächlich Luden und ihre zwielichtigen Kumpels. Jetzt fast nur noch Koks-Albaner. Hoffentlich waren die Jungs, bei denen ich noch ne’n Kombi offen hatte, nicht da. Kein Bock drauf, meine Restbeute für nix weggeben zu müssen.
In meinem Kopf summte es wie in einem Hornissennest. Alle Muskeln komplett auf Krampf. Mir war wieder nach Kotzen zumute, doch ich riss mich zusammen. Der fette Stein, den ich mir grad’ noch auf’m Parkplatz reingezogen hab’, direkt bevor ich die Kneipe betreten hatte, schob gewaltig, als ich auf Fliege zuging, zur Begrüßung zweimal auf den Tisch klopfte und mich gegenüber von ihm auf einen Stuhl fallen ließ.
»Was geht ab, Junge? Du siehst kacke aus.« Er hob nicht mal den Kopf, als er das sagte. Stattdessen machte er sich eine Notiz auf einem Schmierzettel, leckte seinen rechten Zeigefinger an, und blätterte eine Seite weiter in seinem Sportklamotten-Katalog. Fliege liebte die teuren Jogger aus Ballonseide. Allein bei mir hatte er vor meiner ersten Haft mindestens 50 Stück bestellt und gekauft.
Ich ignorierte, was er gesagt hatte, und fiel direkt mit der Tür ins Haus.
»Kannst’e mir helfen, den Scheiß hier loszuwerden? Sind paar Frauenkettchen, Armbänder, Ringe. Das meiste 585er und bisschen 333er. Über’n Daumen ein gutes halbes Kilo plus drei Uhren. Preise sind auch noch dran.«
Nun schielte er über den Rand seiner Porsche-Brille zu mir rüber und fragte neugierig: »Wie viel willst’e dafür?«
Ich ließ meinen Blick durch den Laden schweifen und antwortete: »Wenn du 1.5 auf schnell kriegst, bekomme ich 1.2 von dir. Das Angebot steht, solange ich hier bin.«
Allerdings wollte ich nicht lange bleiben.
Nun lehnte er sich ganz langsam zurück, atmete einmal tief ein, knackte mit dem Nacken, sodass seine blonde Lockenmähne umherwirbelte, und seufzte grinsend: »Na gut. Dann zeig mal her, du kleiner Wichser.«
Fliege war zuverlässig neugierig, und ich wusste es.
Doch er warf nur einen kurzen, enttäuschten Blick in meine Bauchtasche, während er mit seinem Montblanc-Kuli den Schmuck darin hin und her schob, um keine Spuren zu hinterlassen.
»Nee Alter. Geh mal weg mit dem Schrott.«
Und lächelte abfällig dabei.
»Ok, dann halt nich’. Ich zieh direkt wieder durch. Wir sehen uns die Tage.«
Doch Fliege sah mich an, deutete mit seinem rechten Daumen auf den Typen hinter sich an der Bar und erwiderte.
»Geh mal erst mit deinem Kleine-Mädchen-Schmuck zu Hermann, bevor du abhaust. Kann gut sein, dass er dir den Rotz abkauft.« Er machte eine kurze Sprechpause, griff nach seiner über 200 Gramm schweren 750er-Massivgold-Königskette, die ich ihm vor ein paar Wochen verkauft hatte, und fügte grinsend hinzu:
»Ansonsten weißte ja, mit richtigem Schmuck kannste immer zu mir kommen. Und mit Joggern natürlich auch.«
Und wie auf Kommando vertiefte er sich sofort wieder in seinen beschissenen Sportkatalog.
Kann ich den Typen denn einfach so anquatschen? Mir war nicht so wohl bei dem Gedanken, dem Vogel meine Beute zu zeigen. Auch wenn es nur noch die Reste davon waren. Ich kannte den Wichser doch gar nicht.
Als Fliege bemerkte, dass ich immer noch unentschlossen vor ihm stand, schaute er mich fragend an:
»Auf was wartest du? Auf ’ne Extraeinladung? Hermann is’ alte Schule, Junge. Geh hin und mach’n Geschäft, wenn er Bock drauf hat.
Er wollte sowieso wissen, woher ich meine Kette hab’. Also geh rüber und verrat’s ihm.«
Ich nickte.
»O. k., cool. Hau rein. Und danke für den Tipp.«
Fliege verbürgte sich quasi für den komischen Vogel. Aber, was für alte Schule? Der Typ sah auf den ersten Blick aus wie ein beschissener Vorschullehrer. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig, hinter seiner Sonnenbrille. Blasses, unscheinbares Gesicht mit ungepflegtem Bart.
Haare dunkel.
Der Schnitt längst überfällig. Farbloses 0815-Hemd, bis obenhin zugeknöpft. Beige Bundfaltenhose, weiße Sportsocken, und – was für ’ne Überraschung – verfickte Birkenstock an den Füßen. Als ich mich ein paar Minuten zuvor umgesehen hatte, dachte ich, da sitzt ein verklemmter Freier am Tresen, um sich Mut für eine der verfilzten Nutten anzusaufen.
Aber nein. Das war Hermann. Alte Schule.
Ich ging langsam auf ihn zu, setzte mich auf den freien Barhocker links daneben, schaute ihn an und fragte ohne Umschweife: »Du willst wissen, wo Fliege seine Kette herhat?«
Er nickte nur bejahend mit dem Kopf, während er weiter vor sich auf den Tresen starrte und sehr geschickt eine Goldmünze zwischen seiner leeren Espressotasse und einem halb vollen Glas Wasser kreiseln ließ. Sein linker Hemdärmel verschob sich beim Spielen und gab den Blick auf eine wunderschöne Cartier frei.
Verdammt, Alter.
Der Typ war garantiert kein Vorschullehrer. Die Uhr kostete einige Tausend Mark.
Die Goldmünze.
Und dann war da noch das Dupont-Feuerzeug mit China-Lack und Goldstaub, das neben dem Aschenbecher stand, in dem sein Zigarillo vor sich hin qualmte.
Während ich noch versuchte, schlau aus dem Typen zu werden, nahm er ganz langsam seine Brille ab, legte sie vor sich auf den Tresen, drehte den Kopf zu mir und starrt mir direkt in die Augen.
Nein.
Es war mehr als Starren.
Er fixierte mich regelrecht mit seinen tiefdunklen Augen. Niemals werde ich diesen Moment vergessen. Diese bodenlose Dunkelheit in seinem Blick. Beruhigend und zeitgleich bedrohlich. Beeindruckend. Machtvoll. Beängstigend.
»Und? Von wem hat Fliege nun seine Kette?« Dieser tiefschwarze Blick seiner Augen.
Perverse Scheiße.
Liegt sicher nur an meinem Zustand.
Versuchte ich mich selbst zu beruhigen.
»Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht möchtest.«
Er lächelte amüsiert, als er meine Unsicherheit bemerkte. Dann ließ er wieder, dreckig grinsend, seine Goldmünze auf der Theke kreiseln, zog an seinem Zigarillo und deutete dem Wirt per Handzeichen, ihm noch einen Espresso zu bringen.
Mann, reiß dich zusammen, du Idiot. Fliege hat gesagt, der is’ cool, also is’ er cool. Geld scheint er auch zu haben, auch wenn er wie ein Vollpfosten angezogen ist. Also los.
Zieh einfach durch! »Er hat das Ding von mir.«
Presste ich heiser hervor. Mein Hals war staubtrocken.
Immer noch betäubt vom Stein.
»Hab’ ich immer wieder im Angebot solche Kaliber. Manchmal auch Diamanten ohne Fassung.«
Schickte ich noch leicht großkotzig hinterher und wartete gespannt auf seine Reaktion.
Wieder fixierte er mich mit seinen dunklen Augen, nickte schmatzend und sagte.
»O. k. Das hatte ich mir schon fast gedacht.«
Während er eine Sprechpause machte, löcherte er mich buchstäblich mit seinem Blick, bevor er fragte. »Hast du Fliege eben wieder Gold angeboten?«
Ich schaute kurz verstohlen zu Fliege rüber und nickte.
»Ja. Die Reste von meinem letzten Bruch. Frauenkettchen. Armbänder. Paar Ringe. 585er das meiste. Drei Uhren. Mit Preis dran. Is’n Schnapper. «
Blablabla.
»Für dich nur 1500.« Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten listete ich den Inhalt meiner Bauchtasche auf. Hoffentlich wurde ich die Scheiße jetzt los.
Voll kein Bock drauf, damit noch weiter durch die City zu schleichen. Die Kripo hing zurzeit verschärft am Steintor und am Kröpcke ’rum. Außerdem neigte sich mein Koks dem Ende. Ich brauchte die Kohle. Dringend.
»Und wie viel wolltest du von Fliege dafür haben?« Dieser stechende Blick und dieses scheinbar wissende Lächeln auf seinen Lippen während er mich das fragte, ließen irgendwie nicht zu, dass ich ihn anlog, also antworte ich wahrheitsgemäß.
»Wir kenn’ uns schon paar Jahre. Hab’s ihm für 1200 angeboten. So hätte er sich bestimmt noch 300 Kröten verdienen können. Wollt’ er aber nicht. Dann hat er mich zu dir geschickt.« Genervt kratzte ich mir den Hinterkopf.
Das Heroin ließ langsam wieder nach. Die kalten Schweißschübe machten mir mies zu schaffen. Meine Klamotten klebten überall an mir. Ekelhaft. Ich musste ganz dringend nachlegen.
»Verstehe.«
Sagte er, und fixierte mich wieder mit seinem durchdringenden Blick, und fügte mit angenehmer, ruhiger Stimme hinzu.
»Meine Frau hat sechs Schwestern. Davon haben fünf Kinder. Die meisten davon sind Mädchen. Die eine Schwester hat drei Jungen. Genau wie meine Frau und ich …«
Was, zur Hölle, laberte der Typ da plötzlich für eine Scheiße? Am Anfang versuchte ich ihm noch zu folgen, aber ab dem Wort »Kinder« war ich raus, atmete einmal tief ein und aus, und unterbrach ihn dann leicht genervt. »Warum erzählst du mir das alles? Dafür hab’ ich keine Zeit.« Und ich hatte auch absolut keinen Bock auf seine langweiligen Familiengeschichten. Diese Scheiße gehörte nicht hierher.
»Du hörst nicht richtig zu, mein junger Freund.« Im Bruchteil einer Sekunde stand er ganz nah neben mir, legte seinen linken Arm über meine Schulter und zog mich fest an sich ran. Ich konnte hören, wie er mit dem Kiefer knirschte. Seine Augen funkelten bösartig, als er mir mit seiner Espressofahne direkt ins Gesicht zischte.
»Ich habe dir gerade versucht zu erzählen, dass ich immer wieder viele Geschenke für viele Frauen und Mädchen in meiner Familie brauche, du Vollidiot. Aber du hörst nicht richtig zu, Junge.«
Verdammte Scheiße, Alter. Jetzt war ich diesem unheimlichen Typen auch noch auf’n Schlips getreten. Heute war wohl echt nicht mein Tag.
Ich will plötzlich nur noch raus aus dieser bedrohlichen Situation. Doch seine Umarmung ließ mir keinen Millimeter Spiel. Meine Muskeln waren ausgezehrt und kraftlos.
Und nach einem kurzen, erfolglosen Versuch, mich aus seinem unangenehmen Griff zu lösen, verharrten wir genau in der Position, in der er mich, wie eine Schraubzwinge, fixierte. Panik stieg in mir auf. Mein Puls begann zu rasen. Adrenalin durchflutete alle meine Gehirnwindungen. Warum ließ der Hurensohn mich nicht los? Und warum starrte er mir die ganze Zeit direkt in die Augen?
Der Typ war Furcht einflößend.
Verzweifelt schielte ich zu Fliege rüber. Doch der grinste nur dreckig und zeigte mir den Daumen nach oben. Ist der dumm, oder was? Sieht das hier ernsthaft aus, als ob alles in Ordnung wäre?
Grad als ich in Betracht ziehe, dass Fliege mich womöglich an den Wichser vermittelt hatte, nur damit er mich abziehen kann, ließ er mich los und schwang sich grinsend wieder auf seinen Barhocker.
»Hier, dein Espresso, Hermann. Frisches Wasser kriegste auch gleich noch.«
Als er sich beim Wirt bedankte, versuchte ich die Sekunde zu nutzen, um mich vom Acker zu machen, doch Fliege versperrte mir kopfschüttelnd den Weg. Jetzt war ich mir ziemlich sicher, dass die beiden mich zusammen abziehen wollten. Verfickte Scheiße, Alter! Kein Plan, wie ich an dem Hünen vorbeikommen sollte. Trotzdem schließe ich meine Jacke, klick mir die Bauchtasche um und mach mich dazu bereit, an Fliege vorbeizustürmen. Notfalls auch über Tische und Stühle. Ich wollte einfach nur noch raus hier. Fünf oder sechs der albanischen Koks-Dealer beobachteten bereits amüsiert das Geschehen. Jetzt fehlten nur noch die Arschlöcher, denen ich seit Wochen das Geld für zehn oder 15 Gramm schuldete.
In dem Moment hörte ich Hermann hinter mir sagen:
»Beruhig dich und überzeug mich mit dem schönsten Stück in deiner Bauchtasche. Wenn du’s schaffst, geb’ ich dir die 1.5, die du haben möchtest und nehm’ den Rest ungesehen. Ich geb’ dir mein Wort drauf. Ich mag dich irgendwie.«
Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Vor einer Sekunde hatte ich noch befürchtet, ich müsste mich hier rausboxen und würde ziemlich sicher den Kürzeren dabei zieh’n und so richtig den Arsch vollkriegen.
Und nun so was. Ich war fix und fertig, als ich erneut auf dem Barhocker neben ihm Platz nahm. Meine Hände zitterten, als ich nach dem dicksten Kettchen kramte und einen mit Diamantsplitter versehenen Herzanhänger auffädelte. Darauf sollte er wohl anspringen, nach dem, was er mir gerade erzählt hatte.
Und tatsächlich.
Nur wenige Sekunden nachdem ich ihm das Kettchen rübergereicht hatte, lächelte er mich nickend an, und sagte:
»Gekauft.«
Und während er eine faustdicke Rolle Scheine aus seiner Hosentasche fingerte und die volle Summe vor mir auf den Tresen legte, fügte er noch neugierig hinzu:
»Ich hab’ gesehen, dass du einen Pieper bei dir trägst. Also theoretisch jederzeit einsatzbereit bist. Is’ das so bei dir? Bist du jederzeit einsatzbereit?«
Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, schob ihm grinsend die Bauchtasche rüber und antwortete blauäugig.
»Klar. Bin ich immer.«
Bei meiner Antwort huschte kurz ein diebisches Grinsen über sein Gesicht, bevor er weitersprach und mir dann noch 500 Mark extra, nur für meine Pieper-Nummer, gab. Als Gegenleistung musste ich ihm mein Wort geben, dass ich mich sofort melde wenn mein Pieper dreimal hintereinander vibrierte, jedes Mal mit der Textnachricht »ABC«. Selbstverständlich sagte ich ihm das fest zu. Der Typ hatte mir grad’ 500 Flocken für nix gegeben. Dem saß die Kohle anscheinend locker, und es würd’ sich bestimmt für mich lohnen, ihn wiederzusehen.
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was da in naher Zukunft für ein gewaltiger Sturm über mir hereinbrechen würde, als ich Hermann fünf Minuten später die Hand schüttelte und mich von ihm verabschiedete. Fliege zeigte ich im Vorbeigehen nur den Mittelfinger. Er mir wieder, dämlich grinsend, den Daumen nach oben. Ich wurd’ das Gefühl nicht los, dass die beiden unter einer Decke steckten und etwas wussten, wovon ich keine Ahnung hatte.
Und mein Bauchgefühl sollte mich nicht trügen.
Es lagen nur wenige Tage zwischen dem Kennenlernen mit Hermann und unserer ersten Spritztour, wie er es nannte. Dass sich das Ganze wortwörtlich zu einer »Spritztour« für mich entwickeln würde, ahnte ich noch nicht einmal und hätte es vermutlich auch nicht geglaubt, wenn man es mir vorhergesagt hätte.
Aber wie dem auch sei.
Ich schleifte meinen Kadaver schon drei, vier Tage ziemlich erfolglos durch die City und hielt mich mit Ladendiebstählen über Wasser, als Hermann sich überraschend bei mir meldete und mich sofort treffen wollte. 30 Minuten später stieg ich vor dem Pavillon, hinterm Raschplatz, in seinen Wagen. Ich war ziemlich aufgekratzt, weil ich nicht wusste, was mich erwartete. Vermutlich auch, weil ich schon ewig nicht mehr so niedrig dosiert war. Aus der Not heraus hatte ich es in den letzten Tagen wenigstens zweimal geschissen bekommen, meine 18 ml Methadon in Lehrte abzuholen. Und bis auf das und die beiden kleinen Bleche, die ich heute geraucht hatte, war ich praktisch nüchtern.
»Du siehst heut’ bedeutend besser aus als bei unser’m Kennenlernen.«
Begrüßte mich Hermann, mit einem wohlwollenden Kopfnicken, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
»Hey! Ja, danke.«
Antwortete ich mit einem gequälten Lächeln, und fügte neugierig hinzu: »Was geht denn jetzt? Was machen wir?«
Hermann trat aufs Gas, reihte sich zügig in den Verkehr ein und deutete dann mit dem Finger auf mich.
»DU, mein junger Freund, machst heute gar nix. Aber dafür zeige ich dir, was ICH so mache.«
Er betonte das Du, und ich extra stark, als er das sagte, und fügte mit diebischem Grinsen hinzu.
»Also wie Räuber ihr Geld verdien’, und so.«
Heute kam er mir überhaupt nicht mehr so bedrohlich und einschüchternd vor. Ganz im Gegenteil.
Eher sympathisch.
Freundlich.
Gut gelaunt.
Und als er kurz später Gangster’s Paradise von Coolio voll aufdrehte und die Hook laut mitgrölte, hatte er mich. Der Typ war anscheinend echt ganz o. k.
Und irgendwie auch ziemlich lustig. Dass er mir gerade gesteckt hatte, dass er ein Räuber ist, also schwerste Straftaten begeht, und mich da jetzt anscheinend mit reinziehen wollte, ist irgendwie an mir vorbeigegangen. Aber ich weiß noch genau, dass ich übelst breit grinsen musste, als er beim Singen bescheuerte Grimassen zog und sich dabei sichtlich amüsierte. Richtig lachen konnte ich leider nicht. Während er zügig den Wagen aus Hannover Richtung Abenddämmerung lenkte, driftete ich in Gedanken ab. Wie lange hab’ ich eigentlich schon nicht mehr so richtig herzhaft gelacht? Oder an irgendwas Freude gehabt??
Wann war das denn, verdammt noch mal???
Ich hatte noch immer keinen Schimmer, als Hermann mich circa 20 Minuten später von meiner deprimierenden Gedankenspirale befreite und den Wagen parkte.
»So, Junge, da wären wir.«
Ich schüttelte den Kopf, um die beschissenen Bilder darin zu vertreiben. Dann sah ich mich über beide Schultern gründlich um und war wieder verwirrt, aber versuchte trotzdem zusammenzufassen, was ich sah.
»Wir parken mit dem Gesicht vor einer circa zwei Meter hohen Hecke. Rechts von uns nur leerer Parkplatz. Links ist Ende vom Gelände und ne Ausfahrt. Und was ist das da hinter uns? Die Rückseite von nem Baumarkt?« Ich wurde nicht ganz schlau aus dem, was ich sah, trotzdem nickte Hermann zufrieden, und antwortete.
»Du hast den zukünftigen Tatort schon fast gut auf den Punkt gebracht mein junger Freund. Aber eben nur fast.« Er machte eine Sprechpause, drehte seine Sitzlehne nach hinten und deutete mir mit einem Handzeichen an, das Gleiche zu tun. Als unsere Köpfe hinter den Mittelholmen des Wagens verschwunden waren, stellte er seinen Außenspiegel ein und sprach leise weiter.
»Schauen wir uns jetzt mal gemeinsam an, was du alles NICHT gesehen hast.«
O. k.
Meine Neugierde war geweckt. Jetzt wollte ich sehen, was er sieht.
»Und? Was siehst du, was ich nich’ sehe?«
Hermann schaute mich gelassen von der Seite an und erwiderte amüsiert. »Entspann dich mal. Wir haben noch mindestens 30 Minuten Zeit, bis der Spaß losgeht. Stell dein’ Spiegel und Sitz so ein, dass du bequem zurückgelehnt den Papiercontainer, die graue Stahltür und das vergitterte Fenster daneben sehen kannst.«
Gesagt. Getan. Nachdem ich das Bild kurz wirken gelassen hatte, fiel mir auf, dass Licht in dem Raum hinter dem Gitter brannte und sprach es, ohne die Augen vom Spiegel abzuwenden, aus.
»Sehr schön. Und jetzt kombiniere das, was du siehst mit dem Wissen, dass zwischen 21.45 Uhr und spätestens 22.05 Uhr das Licht in dem Raum ausgeht. Und dann, nur wenige Sekunden später, geht die Stahltür neben dem Container auf, und ein kleines, unscheinbares Männlein in einem billigen Anzug mit einer prall gefüllten Geldtasche kommt heraus. Und genau den Vogel werde ich mir heute schnappen.«
Er grinste so unglaublich dreckig, als er das sagte, und fügte mit theatralischem Ton hinzu:
»Also natürlich nur, falls es Ihnen genehm’ ist, mein junger Freund.«
Wieder musste ich grinsen und schaute ihn verdutzt an.
»Heute?
Echt jetzt? Soll ich denn auch irgendwas machen?«
Ich hab’ bis zum heutigen Tag keine wirklich kluge Antwort darauf, wieso ich mich einfach so auf diesen gefährlichen Typen einließ, und warum ich Vollidiot dabei wie selbstverständlich mitmachte. Ich schätze mal, ich hab’ mich nach dem ersten großen Schreck einfach wohlgefühlt mit Hermann. Ein kleines bisschen gesehen … Aber vielleicht lockte mich auch irgendwie der Adrenalinkick, der unweigerlich bei solchen Straftaten einsetzt.
Ich feierte diesen Rausch, unterbewusst, jedes Mal. Bei Ladendiebstahl.
