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Abgekämpft, aber unversehrt setzen die drei Auswanderer Jacob Adler, Martin Bauer und Irene Sommer ihre Reise in der 6. Folge der großen »Amerika«-Saga auf dem Mississippi fort: Sie verlassen Cairo an Bord des Schaufelraddampfers QUEEN OF NEW ORLEANS. Bevölkert von Matrosen, Glücksrittern und allerlei zwielichtigem Gesindel ist der gewaltige Strom eine Welt für sich, die eigenen Gesetzen folgt. Doch die drei Deutschen ahnen nicht, dass ihr Kapitän sich auf eine gefährliche Wette eingelassen hat: ein Wettrennen zwischen ihrem Schiff und der QUEEN OF ST. LOUIS. Als der dicke Rauch aus den Schiffsschornsteinen über dem Mississippi aufsteigt, fahren die beiden Schiffe einem lebensgefährlichen Ausgang entgegen … Jörg Kastners große »Amerika«-Saga begleitet die beiden Auswanderer Jacob Adler und Irene Sommer in die Neue Welt. Mit ihnen suchen zahllose Menschen – Verarmte, Verbitterte, Verfemte – eine neue Heimat jenseits des Atlantiks. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten warten auf die Auswanderer viele unbekannte Gefahren: Naturkatastrophen, wilde Tiere, Banditen und Indianer. Zudem tobt in Amerika ein erbarmungslos geführter Bürgerkrieg. Doch trotz aller Bedrohungen durchqueren Jacob und Irene den riesigen Kontinent und begegnen dabei so manch berühmter Persönlichkeit. Jede Mühsal und jedes Abenteuer nehmen die beiden auf sich für ihre neue Heimat – Amerika.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2014
Jörg Kastner
Folge 6 der großen SagaAmerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Roman
Als der junge Zimmermann Jacob Adler nach dreijähriger Wanderschaft in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrt, ist dort nichts mehr wie vorher. Seine Mutter ist tot, der Vater und die Geschwister sind angeblich nach Amerika ausgewandert, und seine Verlobte ist mit dem Bierbrauersohn Bertram Arning verheiratet. Von Arning fälschlicherweise des Mordversuchs beschuldigt, verlässt Jacob seine Heimat und schifft sich nach Amerika ein, um nach seiner Familie zu suchen. Aber auch in der Neuen Welt lauern Gefahren auf Jacob und seine Reisegefährten Martin Bauer und Irene Sommer. Sie werden in den Bürgerkrieg hineingezogen, der zwischen den amerikanischen Nord- und den Südstaaten ausgebrochen ist. Dabei bekommen sie es mit Waffenschmugglern des Südens zu tun und können im letzten Augenblick ein Attentat auf den Präsidenten des Nordens verhindern: Abraham Lincoln.
Am Mittag dieses heißen Junitages geriet die Stadt Cairo, wo der Ohio in den mächtigen Mississippi, den Vater der Ströme, mündete, in helle Aufregung. Händler verließen ihre Stände und Geschäfte, Kunden den Barbier, Kinder den Schulhof und Frauen den Herd, um zum Hafen zu eilen. Nichts konnte diesem Menschenstrom standhalten; wer nicht rechtzeitig aus dem Weg trat, wurde einfach mit- oder umgerissen. Erst auf dem Kai machte die bunte, johlende Menge halt, drängte sich dicht an der Wasserfront zusammen und spähte hinaus auf den breiten Fluss, um Näheres zu erkennen. Dorthin, wo der Grund für die ganze Aufregung am nördlichen Horizont zu sehen war: schwarzer Rauch über dem Mississippi.
In zwei dicken, fetten Säulen stieg dieser Rauch fast kerzengerade in den azurblauen, von keinem Wölkchen getrübten Himmel, verweigerte standhaft die Auflösung und schien bis in die Unendlichkeit klettern zu wollen. Erst allmählich schälte sich vor den Augen der aufgeregten Menge die Ursache dieser beständig näherkommenden Rauchsäulen heraus: ein riesiges, prachtvolles, hellweißes, im Sonnenlicht flirrendes Gebilde aus Holz und Eisen, über dem bunte Flaggen lustig im Wind flatterten und doch nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten, die dem beeindruckenden, schwarzen Rauch geschenkt wurde. Er, nicht die Flaggen, war der Vorbote des Ereignisses, dem die Stadt schon den ganzen Tag entgegengefiebert hatte: die Ankunft der beiden gewaltigen Wilcox-Schaufelraddampfer.
In früheren Zeiten, vor zwei Jahren noch, wäre das nicht die große Besonderheit gewesen wie an diesem Sommertag im Jahre 1863. Gewiss, ein großer Mississippi-Steamer brachte immer Leben in die Städte. Aber damals, als die ganz großen Schiffe noch in beträchtlicher Zahl und ungehindert zwischen St. Louis an der Missourimündung und New Orleans am Golf von Mexiko pendelten und Cairo für sie nur eine Durchgangsstation war, bedeutete das Auftauchen eines prächtigen Passagierdampfers nichts Besonderes.
Der Bürgerkrieg hatte dies, wie so vieles, geändert. Die Krieg führenden Nord- und Südstaaten hatten viele Schiffe in ihre Kriegsflotten übernommen, sie zu Kanonenbooten, Nachschubtransportern oder schwimmenden Hospitälern umgewandelt.
Als dann auch auf dem Mississippi die Kampfhandlungen ausbrachen, kam die Passagierschifffahrt fast völlig zum Erliegen. Viele Reisende wählten aus Angst den Landweg oder blieben lieber gleich zu Hause. Offiziere, Lotsen und einfache Seeleute verspürten häufig keine Lust, vor den Mündungen feindlicher Kanonen entlangzuschippern und dabei ihren Kopf zu riskieren. Sie wechselten schneller den Beruf, als man Mississippi oder auch nur Missouri sagen konnte. Die blutigen Gefechte an dem großen Strom machten eine durchgehende Fahrt von St. Louis oder noch weiter oben zum Golf von Mexiko unmöglich.
Inzwischen konnte man wieder bis hinunter zur Staatsgrenze von Louisiana fahren. Ab dann wurde es gefährlich bis unmöglich, auf dem Old Man River zu reisen. Die zurückgedrängten Südstaatler hatten sich in der Mississippi-Stadt Vicksburg verschanzt und verteidigten sich auf Teufel komm raus. Doch hier im Norden hatten sich die Verhältnisse einigermaßen normalisiert. Besonders Cairo war durch das Kriegsgeschehen belebt worden, weil viele Nachschubwaren für die Unionsarmee über den Ohio herangeschafft wurden.
Aber Fracht war nicht alles. Eine Menge Menschen trauerten der Zeit nach, in der die schwimmenden Paläste mit ihren prächtigen Salons und eleganten Passagieren gleich reihenweise auf dem Fluss vorübergezogen waren oder im Hafen festgemacht hatten. Deshalb war die Ankunft eines solchen, selten gewordenen Schiffes nicht nur wegen seiner Seltenheit ein Ereignis, sondern auch, weil es die Menschen an die gute, alte Zeit erinnerte. An die Zeit vor dem Krieg, die noch nicht so lange vorbei war und doch nie existiert zu haben schien.
Zwei Schiffe waren es besonders, die diese Erinnerung hochhielten, in ihrem äußeren Erscheinungsbild so ähnlich wie in ihrem Namen: die QUEEN OF NEW ORLEANS und die QUEEN OF ST. LOUIS. Größere, prächtigere Schiffe hatte man selbst vor dem Krieg, in den glorreichen Tagen der Dampfschifffahrt, selten auf dem Mississippi gesehen. Fast schien es wie eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet sie die Fahne der Passagierschifffahrt hochhielten. Aber aus einem anderen Blickwinkel war es nur zu passend. Denn auch die beiden Schiffe waren in einen Krieg verwickelt; einen Krieg, den sie gegeneinander führten.
Auch das war ein Grund für die Aufgeregtheit der Menschen. Der Krieg zwischen den beiden Mississippi-Steamern spornte sie an, erweckte ihre Neugier, die Sensationslust und in vielen auch die Wettleidenschaft. Wer würde diesmal das Rennen gewinnen und als erste glückliche Braut in den Hafen ihres Bräutigams Cairo einlaufen, die stolze QUEEN OF NEW ORLEANS unter Kapitän Homer F. Wilcox oder ihre Rivalin, ihr nicht minder stolzes Schwesterschiff QUEEN OF ST. LOUIS unter Kapitän Henry F. Wilcox?
Die Leute wussten es nicht, was aber die meisten verheimlichten. Von diesen scheinbar Allwissenden hatte jeder seine Favoritin, hatte häufig Geld auf sie gesetzt und manchmal einen nicht unbeträchtlichen Betrag. Und während die doppelte Rauchsäule näher rückte, wurden noch schnell die letzten Wetten abgeschlossen, glaubte doch dieser oder jener in dem Wahn, über die Augen eines Habichts zu verfügen, sichere Erkennungsmerkmale des einen oder anderen Schaufelraddampfers an dem weißen Fleck, der sich unter der Linie des Horizonts näherte, erkannt zu haben.
Man rief sich Dollarbeträge und Wettquoten zu, notierte sich das eilig auf einem Fetzen Papier, der Hemdmanschette oder im Gedächtnis und hoffte auf sein Glück. Das war die alte Spielleidenschaft der Menschen, die aus den großen Fahrgastschiffen zugleich schwimmende Spielklubs gemacht hatten. Willkommene Abwechslung in einem sonst nicht sehr aufregenden Leben am großen Mississippi.
Aber es gab auch Spielverderber unter den Menschen. Solche Leute, die anderen ihren Spaß nicht gönnten. Und solche, die aus ihm ihren eigenen Gewinn zogen. Ein zur zweiten Gruppe gehörender, in einen etwas abgewetzten Rock und einen leicht zerbeulten Zylinder gekleideter Mann kämpfte sich wichtigtuerisch zum Rand der Kaimauer vor. Er warf sich dort in unübersehbare Positur, zog in einer der wichtigen Angelegenheit angemessenen Bedächtigkeit ein golden glänzendes Fernrohr in die Länge, setzte es ebenso bedächtig an sein linkes Auge und starrte so eine Ewigkeit lang auf den Fluss, als wäre er Christoph Columbus, der jeden Augenblick mit der Entdeckung Amerikas rechnete.
Die Menschenmenge verstummte, hing an seinen Lippen, die sich standhaft weigerten, die Nachricht, auf die alle warteten, kundzutun. Fordernde Rufe wurden laut, Angebote für ein Glas Kentucky-Whiskey oder auch zwei, wenn der Mann, ein stadtbekannter Schnapsschnorrer namens Billy Allbright, endlich sein Wissen mitteilen würde. Als Allbright genug solcher Angebote eingeholt hatte – eine Prozedur, die sich jedes Mal wiederholte, wenn die beiden konkurrierenden Dampfer in Cairo erwartet wurden –, räusperte er sich laut und vernehmlich, womit er erneut alle zum Schweigen brachte.
Für Sekunden genoss Allbright die atemlose Spannung und seine gottgleiche Macht über die Menschen, bevor er sagte: »Das Schiff ist die …«
Er legte eine Kunstpause ein und beschwor damit erneut fordernde Rufe herauf.
»Spuck’s schon aus, Billy!«
»Nun sag’s schon, Allbright!«
»Drei doppelte Whiskey für dich, wenn du endlich das Maul aufkriegst!«
Das Angebot ließ sich hören, und er fuhr fort: »Es ist die QUEEN OF …«
Eine erneute Kunstpause, und noch einmal hochprozentige Angebote, wie es das Ritual erforderte.
»Die QUEEN OF NEW ORLEANS!«
Jetzt war es heraus und Allbright für die eine Hälfte der Menschen der Held des Tages, für die andere ein Verräter, Lump, Schuft, dreckiger Südstaatenrebell oder einfach nur Luft. Von den Angehörigen der letzteren Gruppierung, die voller Zuversicht auf die QUEEN OF ST. LOUIS gewettet hatten, würde er an diesem Tag gewiss keinen einzigen Tropfen Whiskey bekommen. Deshalb erforderte es das Ritual ja gerade, dass Allbright genügend Angebote einholte, bevor er die Information weitergab, die er durch sein erstklassiges Fernrohr erhielt.
Allbright hatte so ziemlich alles in Whiskey umgesetzt, was ihm einmal gehört hatte. Das Fernrohr aber zu behalten, war eine weise Entscheidung gewesen, die sich jede Woche in Form eines berauschenden Abends auf fremde Kosten auszahlte. Denn die Wettgewinner würden nicht kleinlich sein. Heute waren es die Menschen, die auf die QUEEN OF NEW ORLEANS schworen. Nächste Woche würden es vielleicht die glühenden Anhänger der QUEEN OF ST. LOUIS sein.
Der weiße Fleck wuchs zu den allmählich unterscheidbaren Konturen des Dampfers heran. Jetzt erkannte man, dass der tiefschwarze Rauch – die Farbe war ein extra für die imposante Ankunft durch ein wenig Pechtanne hervorgerufener Effekt – keineswegs kerzengerade in den Himmel stieg, wie es auf weitere Entfernung den Anschein gehabt hatte, sondern durch den Fahrtwind nach achtern über die ganze Länge des Dampfers wehte. Das hielt die Passagiere nicht davon ab, die oberen Decks in solchen Massen zu bevölkern, dass die Decks schwarze Inseln im Weiß des Schiffes bildeten. Auf dem Vorschiff des Hauptdecks drängten sich die Matrosen zusammen und bildeten eine weitere dunkle Insel, die Aufmerksamkeit genießend, die ihrem Schiff und damit auch ihnen zuteilwurde.
Je näher das Schiff kam, desto langsamer drehten sich die beiden großen Schaufelräder an seinen Seiten. Die zwischen den Schornsteinen angebrachten, golden leuchtenden Buchstaben wurden für das bloße Auge entzifferbar und bestätigten Billy Allbrigths Meldung. Kapitän Homer F. Wilcox und seine QUEEN OF NEW ORLEANS hatten das Wettrennen nach Cairo gewonnen.
Die Zurufe, Winke und geschwenkten Hüte der Menschen auf dem Kai wurden von den Schiffspassagieren erwidert. Nur die Matrosen auf dem Vorschiff bewahrten ihre stoische Ruhe, der Würde unerschütterlicher, sich ihrer herausgehobenen Stellung bewusster Dampfschiffer angemessen. Hinter ihnen leuchtete es feuerrot auf, wie die Menschen an Land jetzt erkennen konnten: Um einen zusätzlichen beeindruckenden Effekt zu erzielen, hatte man die Kesseltüren geöffnet, und durch die starke Sauerstoffzufuhr flackerten die Feuer nur umso heftiger.
Neben dem über allem thronenden, protzig mit einer pagodenartigen Kuppel versehenen Ruderhaus stand stolz Kapitän Homer F. Wilcox auf dem Texasdeck und genoss den Sieg über seinen Bruder und dessen Schiff. Das Ruder hatte er einem Lotsen überlassen, der sich genau mit den Tiefenverhältnissen und Strömungen im Hafen von Cairo auskannte und die QUEEN OF NEW ORLEANS unter dem zufriedenen Tuten der Dampfpfeife auf ihren Anlegeplatz zugleiten ließ.
Immer langsamer wurde der ins Riesenhafte angewachsene Steamer und der gedrosselte Dampf schoss zischend durch die Druckventile. Auf der breiten Laufplanke, die auf dem Hauptdeck von ein paar Matrosen weit hinausgeschoben wurde, machte sich ein Leichtmatrose mit der aufgeschossenen Festmacherleine sprungbereit.
Fast schien es, als wollte der Dampfer die Kaimauer rammen. Da hob der Kapitän die rechte Hand – das Haltezeichen. Im großen Ruderhaus schlug ein Matrose die Glocke, der Lotse zog den Befehlshebel des Maschinentelegrafen auf die Stoppstellung in der Mitte, und die mächtigen Schaufelräder standen still. Aber die QUEEN OF NEW ORLEANS trieb weiterhin auf die Menschen am Pier zu. Nur für Sekunden, dann zog der Lotse den Befehlshebel auf ›ganz langsam zurück‹. Die Schaufelräder griffen wieder ins Wasser, drehten sich langsam rückwärts und brachten den Steamer endlich zum Stillstand.
Der Leichtmatrose sprang von der Laufplanke an Land, befestigte die Leine am nächsten Poller und zog die von seinen Kameraden noch weiter über Bord geschobene Planke auf die Kaimauer. Damit war die Verbindung zwischen der QUEEN OF NEW ORLEANS und Cairo hergestellt. Der Leichtmatrose sonnte sich in seinem flüchtigen Ruhm und beantwortete möglichst gewissenhaft alle Fragen nach den jüngsten Ereignissen flussaufwärts. Wo er die Antworten nicht wusste, ließ er seiner Fantasie freien Lauf.
Doch schon wurde er von seinen eigenen Kameraden beiseitegeschoben, die weitere Planken ausfuhren, die Menschen an Land zurückdrängten und mehrere Brückenköpfe bildeten, damit Passagiere und Fracht den Dampfer ungehindert verlassen konnten. Jetzt war es mit dem Ruhm des jungen Leichtmatrosen auch schon wieder vorbei, ebenso mit dem von Billy Allbright.
*
Die drei deutschen Auswanderer, die am Rande der Menge auf dem Pier standen, freuten sich zwar auch über die Ankunft des Schiffes, ließen sich von dem übrigen Trubel aber nicht anstecken. Für die beiden Männer und die Frau, die einen Säugling in den Armen hielt, war nur wichtig, dass sie möglichst schnell nach Norden kommen würden. Sie wollten sich einem Oregon-Treck anschließen und mussten sich beeilen, um noch vor Einbruch des lähmenden, tödlichen Winters über die gewaltigen Rocky Mountains zu kommen.
Hinter Jacob Adler, Martin Bauer und Irene Sommer lagen ein paar ruhige Tage, während der sie in Cairo auf das Eintreffen der QUEEN OF NEW ORLEANS gewartet und sich ein wenig von den zurückliegenden Strapazen erholt hatten. Irene und ihr kleiner Sohn Jamie waren dabei, eine Erkältung auszukurieren, die sie sich beim mehrfachen unfreiwilligen Bad im Ohio zugezogen hatten. Und Martin plagten noch die Schmerzen einer Schussverletzung. Zwar war die Kugel eines Südstaatenfreischärlers, die in seinen linken Oberarm gefahren war, von einem Militärchirurgen herausgeholt worden, aber der Arm, den er in einer Schlinge trug, überfiel ihn zuweilen mit heftigen Schmerzanfällen.
Die Fahrt auf dem großen Flussdampfer würde, so hofften die die Auswanderer, so ruhig und erholsam sein wie die Tage in Cairo. Immerhin reisten sie als Deckspassagiere, für die zwei Kabinen reserviert waren. Nicht von ihrem eigenen Geld; das wäre ihnen viel zu teuer gewesen, und sie hätten sich mit einer Zwischendeckspassage begnügt. Nein, sie reisten auf Kosten der US-Regierung. Als kleines Dankeschön dafür, dass Jacob und Martin dabei geholfen hatten, Präsident Abraham Lincoln vor der Entführung oder gar Ermordung zu bewahren.
Fuhrwerke rollten heran, um die Fracht zu übernehmen, die vom Hauptdeck oder aus den Tiefen der Laderäume von Trägern oder mit der Hilfe von Davits und Taljen an Land geschafft wurde. Die drei Freunde mussten zurückweichen, um die Arbeiten nicht zu stören. Sie taten das staunend, das prachtvolle Schiff bewundernd. Sie hatten auf ihrer Reise den Ohio hinunter viele Raddampfer gesehen, aber keiner war so riesig, prächtig und eindrucksvoll gewesen wie die QUEEN OF NEW ORLEANS. Gewiss, in den Häfen von Hamburg und New York hatte es weitaus größere Schiffe gegeben. Aber die waren für die Fahrt über den weiten Atlantik gebaut worden. Der zuckerweiße Schaufelraddampfer, der jetzt vor ihnen lag, wirkte für ein Flussschiff geradezu gewaltig.
Aber es war ja auch ein gewaltiger Fluss, auf dem er verkehrte. Der Mississippi, was in der Sprache der Indianer ›Vater der Gewässer‹ bedeutete, war nicht nur der größte Fluss des großen nordamerikanischen Kontinents, sondern mit seinen 4300 Meilen auch der längste Fluss der Welt. Über fünfzig mit Dampfschiffen befahrbare und einige hundert nur mit flachen Kielbooten oder Prahmen erreichbare Nebenflüsse speisten ihn von seinem Ursprung bei Itasca in Minnesota bis zu seiner Mündung im Golf von Mexiko mit ihren Wassermassen.
Die Auswanderer hatten sich von einem aus der Nähe von Köln stammenden und jetzt in Cairo lebenden Händler sagen lassen, dass der Mississippi fünfundzwanzigmal so viel Wasser mit sich führte wie der Rhein. So beeindruckend wie seine Länge war auch seine Breite, die an einigen Stellen mehrere Meilen betrug. Hier in Cairo war er immerhin eine Meile breit, was das gegenüberliegende Ufer für das bloße Auge fast so weit entfernt erscheinen ließ wie einen anderen Kontinent.
Der Fluss war nicht nur groß, sondern auch schmutzig, wenn auch eingefleischte Mississippi-Schiffer schworen, das schlammige Flusswasser sei die nahrhafteste und gesündeste Flüssigkeit der Welt. Selbst wenn der größte Nebenfluss des Mississippi, der Missouri, was auf indianisch ›Schlammfluss‹ hieß, als ebensolcher oder Big Muddy, wie die Amerikaner sagten, bekannt war, stand ihm der Old Man River kaum nach. Als sich die drei Auswanderer Cairo auf einem Militärdampfer genähert hatten, war ihnen der Mississippi aus der Ferne wie ein unendlich breites, silbern glänzendes Band erschienen. Aber je näher sie gekommen waren, desto mehr war der Silberglanz in ein schmutziges Gelblichbraun übergegangen. An der Stelle, wo der Ohio in den Mississippi floss, fiel das besonders auf. Das klare Wasser des Ohio weigerte sich schlichtweg, sich mit den schmutzigen Fluten des größeren Stromes zu vermischen, und floss eine ganze Strecke als klarer, sauberer Fluss im Fluss deutlich unterscheidbar neben den gelblich braunen Wassern her.
Während die Wettbegeisterten noch ihr Geld begierig einforderten oder widerwillig in fremde Hände zählten, machte sich eine neue Art von Geschäftemachern an der Anlegestelle der QUEEN OF NEW ORLEANS breit. Verkäufer aller möglichen und unmöglichen, nützlichen und unnützen Artikel bauten ihre Stände auf, die oft nur aus einem Bauchladen bestanden. Schuhputzer boten den feinen Herrschaften, die jetzt an Land gingen, unterwürfig ihre Dienste an. Gaukler und Taschenspieler versuchten, etwas von dem locker sitzenden Geld der Passagiere und Schaulustigen für sich abzuzweigen.
Einer dieser Taschenspieler hatte es Martin angetan. Ein kleiner, scheinbar erlesen gekleideter Mann, dessen teure Kleidung beim näheren Hinschauen allerdings verriet, dass sie zu oft getragen und zu wenig gepflegt wurde. Er hatte ein schmales, spitz zulaufendes Gesicht, das an eine Maus oder eine Ratte erinnerte und von großen Augen beherrscht wurde, die er ganz nach Belieben von links nach rechts, von oben nach unten und zurück kullern lassen konnte. Vor sich hatte er eine leere Kiste aufgebaut, auf der er drei mit dem Rücken nach oben zeigende Spielkarten hin und her schob; eine Kreuzsieben, eine Kreuzacht und eine Herzdame.
»Herzdame ist Trumpf«, verkündete er mit einer heiser und gleichwohl laut klingenden Stimme. »Ganz wie im richtigen Leben. Wer die Herzdame findet, findet das Glück. Versuchen Sie Ihr Glück, Ladys und Gentlemen. Setzen Sie einen halben Dollar oder zehn. Ich halte dagegen. Der Sieger bekommt nicht nur die Herzdame, sondern auch das Geld. Versuchen Sie Ihr Glück!«
Dabei mischte er die mit dem Bild auf der Kiste liegenden Karten wild durcheinander, legte sie in eine Reihe und deckte schließlich eine, die er wohl für die Herzdame hielt, auf. Manchmal war sie es, noch öfter aber auch nicht. Nach Martins Meinung hatte der Spieler kein allzu gutes Auge, denn der Auswanderer hatte in Gedanken jedes Mal auf die richtige Karte getippt.
Ein bärtiger, nach einem Farmer aussehender Mann in leicht schmuddeliger Kleidung, der das Treiben des Spitzgesichtigen ebenfalls eine ganze Weile beobachtet hatte, trat an den Tisch heran, kramte umständlich in seinen Taschen herum und förderte eine zerknitterte Fünfzigcentnote zutage, die er etwas verschämt glatt strich und auf den provisorischen Spieltisch legte.
»Fünfzig Cent darauf, dass ich die schöne Dame find’, Mister«, quetschte er undeutlich zwischen seinen mit einem Priem Kautabak beschäftigen Zähnen hervor.
»Das ist ein Wort, Sir«, freute sich der Spieler darüber, endlich einen Kunden gefunden zu haben. Er drehte alle drei Karten um, und die Herzdame lag zu seiner Linken.
Dann legte er die Karten wieder mit den Bildern nach unten. »Jetzt müssen Sie höllisch gut aufpassen, Sir, damit Sie meinen flinken Händen folgen können!«
»Fangen ‘Se schon an«, verlangte der Farmer.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, verkündete der Spieler und begann mit dem Mischen der Karten.