Ricardos Weg - Marc Schuhmacher - E-Book

Ricardos Weg E-Book

Marc Schuhmacher

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Beschreibung

Ricardo, Sohn portugiesischer Einwanderer, geht seinen Weg in Deutschland. Er lebt mit Iva, seiner über alles geliebten Freundin, ein gutes Leben und ist auch im Beruf erfolgreich. Als Iva durch einen tragischen Autounfall stirbt, ändert sich für Ricardo alles. Nichts ist mehr so, wie es war. Alles hat seinen Sinn verloren. Sein nicht enden wollender Schmerz führt ihn durch ungeahnte Abgründe seiner Seele und bis ins Drogenmilieu. Eine Überdosis scheint das vorprogrammierte Ende zu sein Auch Arvid, Jonathan und Marco, die Protagonisten der weiteren Erzählungen, befinden sich in schwierigen Lebenssituationen. Einer kämpft gegen seine Drogensucht, ein anderer ist alt, verbittert und lebt in der Vergangenheit; der dritte muss die Schranken zwischen Kulturen überwinden, um mit seiner Liebsten vereint zu sein. Sie alle brauchen einen festen Willen und eine gehörige Portion Mut, um ihr Leben wieder zurechtzurücken.

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Marc Schuhmacher

Ricardos Weg

Impressum:

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, Herausgebers und Autors unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© KarinaVerlag, Wien

www.karinaverlag.at

Text: Marc Schuhmacher

Covergestaltung: Karina Moebius

Coverbild: Pixabay, Manfred Zimmer, Waldryano

Lektorat und Layout: Bruno Moebius

© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria

ISBN:978-3-96724-380-2

Ricardos Weg

Kapitel 1 · Das letzte Bankett

»Du hast dem Teufel deine Seele verkauft. Du bist nicht länger mein Sohn«, schrie Ricardos Vater Joaquim in den Hörer. Dann legte er auf.

Ricardo beugte sich nach vorne und hielt seine Hand vors Gesicht. Einige Sekunden vergingen. Dann wischte er plötzlich mit einer ebenso wuchtigen wie schnellen Armbewegung Tastatur, Maus, Lautsprecher, Handy und die halb volle Getränkedose vom Tisch. Die Sachen verteilten sich über das ganze Schlafzimmer. Ricardo stand auf und trat den Stuhl quer durch den Raum.

»Gottverdammte Scheiße!«, rief er laut. Mit zittrigen Händen nahm er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.

»So ein Spinner«, sprach er leise vor sich hin. »Hoffentlich überredet Mutter ihn, wieder zum Psychologen zu gehen«, fügte er nach einigen stillen Sekunden seinem Monolog hinzu.

Ricardo hatte heute vorgehabt, von zu Hause aus zu arbeiten. Am Abend stand ein Firmenbankett an, und Ricardo wollte sich Fahrtwege ersparen. Nach dem Streitgespräch mit seinem Vater entschied er sich jedoch spontan, in die Firma zu fahren. Nachdem er aufgeraucht hatte, zog er ein schwarzes Hemd und eine dunkelblaue 501-Jeans an. Sein Haar richtete er flüchtig vor dem großen Spiegel. Anschließend holte er das Etui aus der Schublade, in dem er sein Speed aufbewahrte. Er legte sich eine Linie hin, rollte einen Geldschein zusammen und zog das Amphetamin in die Nase. Nun hob er die hintere Schale sowie den Akku seines Smartphones auf und steckte die Teile zusammen. Anschließend wollte er den Autoschlüssel zur Hand nehmen, bis ihm einfiel, dass er das Auto seiner Partnerin Jenny ausgeliehen hatte. Auf der Kommode im Flur lagen einige Stempelkarten, die Jenny normalerweise nutzte, um zu ihrer Arbeit als Kinderkrankenschwester zu fahren. Er nahm eine der Karten, steckte sie in die Tasche und verließ die Wohnung. Nach nur wenigen Minuten kam er an der S-Bahn-Haltestelle an. Auf der Anzeigetafel, die die nächsten zehn Züge anzeigte, wurde seine Bahn mit zwanzig Minuten Verspätung angezeigt. Ricardo verdrehte die Augen und murmelte:

»Die Bahn ist so ein Scheißverein«, vor sich hin. Er ging ans Ende des Bahnsteiges und setzte sich auf die leere Wartebank. Während Ricardo nach etwa fünfzehn Minuten immer noch auf den Zug wartete, bewegte sich ein verarmt und vernachlässigt wirkender Mann mit Vollbart und Hut auf ihn zu. Ricardo ahnte, dass er nach Geld oder einer Zigarette gefragt werden würde. Der Mann blieb etwa einen Meter vor Ricardo stehen und sprach in freundlichem Ton:

»Guten Tag, junger Mann. Haben Sie vielleicht ein wenig Kleingeld für mich?«

Ricardo schaute dem Mann ins Gesicht und wartete kurz.

»Weil du nett gefragt hast«, sagte er dann und holte seine Brieftasche hervor. Er hatte keine Eineuromünze mehr, deshalb gab er ihm zwei Euro.

»Hier, bitteschön. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen«, sagte Ricardo und legte die Münze in die Hand des alten Mannes.

Dem war die Freude deutlich anzusehen.

»Ich bedanke mich sehr und wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen Tag«, sagte er, zog seinen Hut, setzte ihn wieder auf und ging davon.

Die restliche Wartezeit nutzte Ricardo, um sich sein Frühstück am Gebäckstand zu kaufen. Kurz darauf traf sein Zug ein, der Ricardo nach nur wenigen Minuten Fahrtzeit in die Nähe seines Unternehmens brachte.

Ricardo Prado war in Deutschland geboren worden, als Sohn portugiesischer Einwanderer. Seine Eltern, Catarina und Joaquim Prado, waren 1970, zur Zeit der Salazar-Diktatur, aus Portugal geflohen und nach Deutschland emigriert. Ricardo wuchs gemeinsam mit seiner Schwester Patricia in einfachen, aber geordneten Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitete bei einem großen Kölner Automobilhersteller am Fließband, die Mutter kümmerte sich um Kinder und Haushalt und ging überdies als Putzfrau arbeiten. Ricardos Eltern waren sehr liebevoll, Gewalt oder überzogene Disziplin gab es nie. Catarina und Joaquim waren gläubige Christen und sie ließen in ihre Erziehung auch die Weitergabe ihres Glaubens einfließen. Ricardo störte das in jungen Jahren ganz und gar nicht, im Gegenteil: Er mochte die Gemeinde, die aufregenden Jugend-Zeltlager im Sommer, die Fußballspiele in der Kirchenliga, und je älter er wurde, desto mehr befasste er sich mit theistischen Themen. In der Oberstufe spielte er sogar einige Zeit mit dem Gedanken an ein Theologie-Studium, entschied sich jedoch, sein naturwissenschaftliches Talent für ein Studium der Informatik in Bonn zu nutzen.

Während seine Schwester immer wieder unter psychischen Problemen litt, war Ricardo stets glücklich. Doch eines Tages brachte ein tragischer Schicksalsschlag alle seine Dämme zum Brechen. Seine Partnerin Iva, mit der er bereits verlobt war und die er so sehr liebte, dass man von einer Obsession sprechen konnte, kam bei einem Autounfall tragisch ums Leben. In den sieben Jahren der Beziehung hatten Iva und Ricardo stets frisch verliebt gewirkt, sie galten als Traumpaar. Nach Ivas Tod war Ricardo ein Schatten seiner selbst, er weinte permanent, aß wenig und sprach kaum. Manchmal lag er stundenlang apathisch auf seinem Bett und blickte die Wand an. Er beschäftigte sich sehr häufig mit dem Thema Suizid, offenbarte dies aber zunächst niemandem. Und er versuchte nicht einen einzigen Moment, Kraft aus seinem Glauben zu schöpfen, denn mit Iva starb auch sein Glaube an Gott. Das Thema verbannte er sofort, und wenn jemand aus seinem Umfeld einen Satz wie »Ich bete für dich« oder »Gott stehe dir bei« sagte, reagierte Ricardo wütend und beendete das Gespräch umgehend. Sein Umfeld akzeptierte dies jedoch, man verstand ihn. Seine Mitmenschen stellten sich darauf ein und wählten ihre Worte fortan mit Bedacht. Man tat alles, um Ricardo zu helfen.

Er lehnte einen Klinikaufenthalt stets ab, ließ sich jedoch auf eine ambulante Therapie ein. Nach etwa einem halben Jahr begann er, sich mit langsamen Schritten der Normalität anzunähern. Sein Essverhalten wurde normal, er begann, seinen Tag zu strukturieren, wieder Bücher zu lesen, ab und an fernzusehen und sich in seltenen Abständen sogar mit Freunden zum Billardspielen oder Fußballgucken zu treffen. Einige Monate später sah man ihn zum ersten Mal wieder lachen. Etwa ein Jahr nach der Tragödie nahm Ricardo sogar sein Studium wieder auf. Er war dabei, sich wiederzufinden.

Doch dann nahm sein Umfeld mit Besorgnis Veränderungen bei ihm wahr. Nach seiner Religion schien er zunehmend auch seine Werte und seine moralischen Prinzipien abzulegen. Er entwickelte nihilistische Verhaltensmuster, darüber hinaus empfanden seine Freunde und Verwandten ihn als zunehmend ignoranter und egoistischer. Er begann, viel mehr Zeit alleine zu verbringen, Geld wurde ihm immer wichtiger und sein Studium nahezu heilig. Er wandte sich von zunehmend mehr Personen ab und die Zeit, die er mit seiner Familie verbrachte, wurde ebenfalls weniger. Die Sorgen derer, denen Ricardo am Herzen lag, vergrößerten sich immens, als sie feststellten, dass sich diese Entwicklung immer weiter fortsetzte.

Sie hatten alles in ihrer Macht Stehende versucht, doch sie waren nicht an Ricardo herangekommen. Er war ein anderer geworden.

Nach etwa sechs Stunden verließ Ricardo das Firmengebäude. Es hatte in der Zwischenzeit lange geregnet, nun schien die gleißende Sonne über seiner Stadt. Ein Regenbogen war am Himmel zu sehen, zahlreiche Pfützen bedeckten den Gehweg. Ricardo war zufrieden mit dem heutigen Arbeitstag. Nun stand das wichtige Bankett seiner Firma, einer renommierten Kölner Softwareschmiede, für die er seit vier Jahren tätig war, auf dem Plan.

Ricardo musste sich sputen, denn er wollte zuvor noch nach Hause fahren, um zu duschen und sich frisch zu machen. Jenny hatte ihm geschrieben, dass sie sich nach der Arbeit mit einer Freundin träfe. Ricardo hatte ihr viel Spaß gewünscht. Er hoffte, dass Jenny ihn nicht betrog.

Zu Hause angekommen räumte er zunächst das Chaos im Schlafzimmer auf. Anschließend betrat er die Küche, nahm ein Kräuterbutter-Baguette aus dem Gefrierfach und machte es in seinem Ofen warm. Während er es aß, dachte er über den Tag nach. Ricardo hatte heute ein wichtiges Projekt abgegeben. Er hatte eine Kundenschnittstelle für den Auftraggeber, ein großes, lokales Unternehmen, geschrieben und dabei viel Mühe und Leidenschaft investiert. Stets sein Bestes zu geben und sich erst mit Perfektion zufriedenzugeben, war für Ricardo Ehrensache und selbstverständlich.

Er betrat die Dusche und drehte lauwarmes Wasser auf. In ihm herrschte immenser Enthusiasmus. Beim heutigen Bankett wollte Ricardo den bestmöglichen Eindruck bei den Kollegen aus der Partnerfirma erwecken. Er freute sich auf einen informativen und unterhaltsamen Abend mit den Geschäftspartnern.

Fertig mit der Dusche stieg Ricardo aus der Kabine und trocknete sich ab. Anschließend trug er sein Aftershave großzügig im Brustbereich auf. Er überlegte kurz, sich im Gesicht zu rasieren, doch er ließ seinen Dreitagebart stehen. Dann betrat er sein Schlafzimmer, um seinen vor kurzem gekauften Maßanzug anzuziehen. Er stand vor dem Ganzkörperspiegel, als er sich sein Sakko über das Hemd anzog. Sein Haar wurde mit etwas Haargel versehen und geformt. Daraufhin ging Ricardo noch einmal in sein Badezimmer, um mit einer Nagelschere seine Augenbrauen zurechtzuschneiden. Der junge Programmierer warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass er noch etwa dreißig Minuten Zeit hatte, bis er losfahren musste. Er schaltete den Fernseher an und schaute eine Nachrichtensendung. Es wurde über den Krieg im Nahen Osten berichtet, anschließend wurden einige Szenen über protestierende Bürger gegen Einwanderer gezeigt. Ricardo ließen die Bilder im Fernsehen kalt, die Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem bevorstehenden Abend. Seine Firma traf auf eine befreundete Softwareschmiede, um die erfolgreiche Kooperation zu feiern. Ricardos Arbeit bereitete ihm keinen besonderen Spaß, doch er genoss das Prestige und den überdurchschnittlichen Lohn. Darüber hinaus schätzte er die gute Atmosphäre im Betrieb. Ricardo war stets bemüht, sich den fehlenden Enthusiasmus für das Programmieren nicht anmerken zu lassen. Manchmal fragte er sich, ob es seinen Kollegen ähnlich wie ihm ginge.

Ricardo war einunddreißig Jahre alt und knapp einsneunzig groß. Er trug meistens einen Dreitagebart, sein Haar war mittellang und schwarz, seine Augen dunkelbraun. Er hatte einen drahtigen, sportlichen Körper. Seine Arme waren muskulös, obwohl er sie nie trainierte. Während seiner Studienzeit hatte er Amateurfußball gespielt, in seiner Schulzeit war er einige Jahre in einer Boxgruppe aktiv gewesen. Mit dem Beginn des Arbeitslebens hatte er den Sport eingestellt, auch wenn er sich immer wieder vornahm, nochmals aktiv zu werden. In seiner brandneuen Garderobe fühlte Ricardo sich äußerst wohl. Er mochte dunkle, dezente Farben, sie standen ihm seines Erachtens sehr gut.

Nun begab sich Ricardo in die Küche. Auf der Diele streute er erneut eine Linie Speed, die er anschließend mit einem gerollten Geldschein in seine Nase zog. Heute wollte er wach und wohlauf sein für das bevorstehende Festessen. Ricardo spürte die gesteigerte Energie. Er ging zurück ins Badezimmer, um sein Gesicht zu betrachten. Sein Eindruck war, dass er wach und konzentriert wirkte. So konnte er beim Bankett erscheinen, dachte er. Anschließend betrat er sein Schlafzimmer, um sich ein Taxi zu bestellen. Der Mann am anderen Ende der Leitung kündigte an, dass der Wagen gegen 19:30 vor seiner Tür stehen würde.

Ricardo setzte sich auf sein Bett und versuchte, eine Weile innezuhalten. Doch das Amphetamin verursachte immensen Tatendrang, weshalb er die Zeit bis zur Abfahrt mit einer Konsolen-Online-Partie seines Lieblingsegoshooters totschlagen wollte. Doch kaum hatte er das Gerät eingeschaltet, klingelte sein Handy. Es war seine Schwester Patricia.

»Ich grüße dich, Schwesterherz«, sagte Ricardo.

»Hallo Ricardo. Wie geht es dir?«, antwortete Patricia mit zittriger Stimme.

Ricardo ahnte schon, dass Patricia wieder einmal seine Hilfe brauchte – finanzielle Hilfe, Seelsorge oder beides.

»Mir geht es gut, wie geht es dir?«, fragte Ricardo, obwohl er die Antwort erahnte.

»Nicht so gut«, antwortete Patricia.

»Wieder die Stimmen?«, fragte Ricardo knapp.

»Ja, unter anderem«, sprach Patricia leise.

Ricardo erhöhte seine Stimmlage ein wenig:

»Wann gehst du endlich in die Klinik? Das Thema hatten wir doch schon tausend Mal.«

»Ja, ich weiß«, murmelte Patricia verlegen.

Ricardo wollte sich nicht aufregen und er wollte ihr nicht zum wiederholten Mal erklären, dass man mit einer Psychose in Behandlung gehörte. Patricia schien sich nicht zu trauen, etwas zu sagen. Beide schwiegen einige Sekunden. Ricardo kannte seine Schwester außerordentlich gut und nun versuchte er, es ihr einfacher zu machen.

»Wie viel?«

»Woher weißt du, dass ich Geld brauche?«, fragte Patricia ihren älteren Bruder. Ricardo lachte kurz.

»Weil wir den Einundzwanzigsten haben; um die Zeit fragst du immer nach Geld. Ja, du kriegst welches. Wie viel brauchst du?«, wollte er wissen.

»Sind hundertfünfzig in Ordnung?«, entgegnete Patricia.

»Kein Problem, ich schicke dir hundertfünfzig Euro via Onlinebanking«, kündigte Ricardo an.

»Danke Ricardo, das ist superlieb, du bist der Beste«, sagte Patricia mit einer Stimme, die unter anderem darauf schließen ließ, dass sie vor Kurzem Alkohol zu sich genommen hatte.

»Klar doch, Patricia. Aber wenn du nicht bald in die Klinik gehst, bring ich dich gegen deinen Willen hin. Ich habe wenig Zeit, ich melde mich in den nächsten Tagen noch einmal bei dir, in Ordnung?«

Patricia entgegnete: »Okay, schade, ich hätte gerne noch mit dir geredet. Dennoch riesigen Dank.«

»Gerne«, sagte Ricardo und fügte hinzu: »Pass auf dich auf, Patricia.«

»Mache ich. Ciao, Ricardo. Te amo.« Mit diesen Worten beendete Patricia das Gespräch.

Die restliche Wartezeit nutzte Ricardo zunächst für eine Zigarettenpause, doch kaum hatte er zweimal gezogen, klingelte der Taxifahrer bereits an der Haustür. Es war nun so weit. Ricardo verließ das Haus, stieg ins Taxi und nannte dem Fahrer die Zieladresse, das Restaurant Il Nido in der Südstadt – ein gehobenes italienisches Restaurant mit ausgezeichnetem Ruf. Während der Fahrt versuchte Ricardo zu entspannen, denn er war in seinen Augen bestens vorbereitet. Er atmete tief durch, richtete den Blick aus dem Fenster und ließ den Tag Revue passieren. Ein anstrengender Tag war vorübergegangen und ein wichtiger Abend stand bevor. Die Tatsache, dass er das Projekt abgegeben hatte, erleichterte ihn. Ricardo war sich sicher, dass der Auftraggeber mit seiner Arbeit zufrieden sein würde. Er war bekannt als hochbegabter IT-Spezialist und galt als Ass in Programmierung. Nach einiger Zeit hielt der Wagen an.

»Wir sind am Ziel, junger Mann«, wandte sich der Taxifahrer an seinen Fahrgast. »Das macht dann zweiundzwanzig fünfzig.«

Ricardo zog seinen Geldbeutel aus der Tasche und entnahm diesem fünfundzwanzig Euro, die er dem Taxifahrer in die Hand gab.

»Stimmt so«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend«, fügte er hinzu.

»Danke, ebenso«, entgegnete der Taxifahrer.

Nun stand der junge Programmierer vor dem anvisierten Restaurant. Zwei seiner Arbeitskollegen, Egon und Jonas, standen vor dem Lokal und rauchten.

»Herr Prado ist da«, rief Jonas und lachte.

Ricardo ging auf die beiden zu und reichte ihnen nacheinander die Hand. Dann betrat er das Lokal und richtete seinen Blick auf den langen Tisch, der für das Bankett ausgerichtet war. Einige Gäste fehlten noch und Ricardo konnte unter einem der freien Plätze wählen. Es fehlten noch zwei Personen aus seiner eigenen Firma. Von der Partnerfirma, der Nextsource Developments & More GmbH, waren erst drei von zehn eingeplanten Personen anwesend. Die Leiter, die Ahmadi-Brüder, waren beide bereits da. Ricardo mochte die zwei. Er schätzte ihre humorvolle und aufgeschlossene Art. Er ging auf sie zu und begrüßte sie in freundlichem Ton:

»Hallo, ihr beiden. Lange nicht mehr gesehen. Wie geht es euch?«

»Es könnte kaum besser sein«, antwortete einer der Brüder, Rebwar Ahmadi, mit einem breiten Grinsen.

»Uns scheint die Sonne aus dem Arsch«, fügte sein Bruder Mahmoud Ahmadi hinzu.

Die beiden fingen an zu lachen, Ricardo tat es ihnen umgehend gleich. Für eine Weile herrschte schallendes Gelächter, dann wurde es wieder ruhig.

»Wie geht es dir, Ricardo?«, wollte Rebwar nun wissen.

Ricardo ging es gerade gut, er war auf Speed und freute sich auf einen munteren, geselligen Abend.

»Mir geht es super, es könnte ebenfalls gar nicht besser sein«, antwortete er und bemühte sich dabei, in einer Tonlage zu sprechen, die eine gute Stimmung suggerierte.

»Das freut mich sehr zu hören«, sagte Mahmoud.

»Trinken wir Rotwein?«, fragte er dann.

»Sehr gerne«, antwortete Ricardo.

Mahmoud winkte die Kellnerin zu sich und bestellte einen vier Jahre alten, trockenen Rotwein aus Spanien.

»Was macht deine Kundenschnittschnelle für Nextsource?«, fragte Rebwar nun.

»Die habe ich endlich fertiggestellt. Heute Vormittag habe ich noch einige Fehler ausgemerzt und dem Programm den Feinschliff verpasst, dann habe ich es abgeschickt. Habt ihr es noch nicht begutachtet? Ich hoffe, ihr seid zufrieden mit dem Ergebnis«, erklärte Ricardo.

»Ich kam heute nicht dazu, alle Mails abzurufen, denn ich hatte einen langen Außentermin. Das Programm ist bestimmt wie gewohnt einwandfrei, etwas anderes kennt man von dir nicht«, sagte Rebwar anerkennend.

Nun brachte die Kellnerin den Wein zum Tisch und schenkte den drei Softwareentwicklern je ein halb volles Glas ein.

»Zum Wohl«, sagte Ricardo, während er sein Glas hob.

Die drei prosteten einander zu, dann nahm jeder einen Schluck des trockenen Riojas. Ricardo bemerkte, dass gerade vier Gäste der Kooperationsfirma das Lokal betraten. Sie hingen ihre Mäntel an die Garderobe und begaben sich anschließend an das Ende des langen Tisches, an dem die Ahmadi-Brüder gemeinsam mit Ricardo saßen. Es folgte eine ausführliche Begrüßung jedes Einzelnen. Die meisten der Neuankömmlinge kannte Ricardo nur flüchtig. Dennoch fielen die Begrüßungen sehr herzlich aus, da die beiden Firmen ein sehr gutes Verhältnis zueinander pflegten. Als die neuen Gäste Platz genommen hatten, kam die Kellnerin erneut.

»Der Wein hier ist sehr gut, den kann ich nur wärmstens empfehlen«, sagte Ricardo zu den Männern.

Sie hörten auf ihn und bestellten den gleichen Wein, der nur kurze Zeit später von der Bedienung gebracht wurde. Ricardo lehnte sich zurück und hielt eine Weile inne. Dann schloss er die Augen. Das Speed, das er konsumiert hatte, machte ihn selbstbewusst, er fühlte sich stark. Während Ricardo trank und über das bevorstehende Wochenende nachdachte, füllte sich der Raum zunehmend mit Menschen. Die neuen Gäste begrüßten die Leute, die bereits am Tisch saßen, und so wurde auch Ricardo von mehreren Begrüßungen aus den Gedanken geholt. Ricardo mochte das Lokal, ihm gefiel die Musik, die gespielt wurde, und er sympathisierte mit den meisten der anwesenden Personen. Schließlich stand Rebwar auf und blickte in die Runde. Als er feststellte, dass alle Gäste bereits anwesend waren, bat er um Ruhe, indem er einen Teelöffel mehrmals gegen ein Glas schlug. Daraufhin wurde es immer ruhiger im Raum und alle guckten auf den stehenden Rebwar.

Dieser sprach: »Verehrte Gäste, ich bedanke mich für Ihr zahlreiches Erscheinen. Nextsource und Onebit feiern ihre Kooperation. Wir sind dankbar für die fruchtbare Zusammenarbeit, die wir am heutigen Abend zelebrieren möchten. Auf zahlreiche weitere Jahre, in denen Nextsource und Onebit gemeinsam an einem Strang ziehen. Das Buffet ist eröffnet. Lasst uns einen großartigen Abend haben.«

Es folgte ein intensiver Applaus, während Rebwar wieder seinen Platz einnahm. Aus den Lautsprechern des Restaurants ertönte muntere Jazz-Musik, bis nach einiger Zeit ein großer, drahtiger Mann mit Zylinder das Restaurant betrat, sich umguckte und dann auf Rebwar zuging.

»Hallo Rebwar. Verzeih mir die Verspätung, ich stand im Stau. Ich würde dann direkt anfangen.«

»Kein Problem, Leonard, wir freuen uns auf deine Musik«, antwortete Rebwar. Der großgewachsene Mann mittleren Alters ging zum Klavier. Er deutete der Kellnerin an, die Jazzmusik auszuschalten. Der Pianist saß äußerst gerade am Klavier, nun justierte er das Mikrofon.

»Test«, schallte es durch den Raum.

Nach einiger Zeit ertönte wieder die Stimme des Musikers.

»Test. So, diese Lautstärke gefällt mir. Meine Damen und Herren, ich bin Leonard Winkler, Ihr Musiker am heutigen Abend. Ich wünsche allen Gästen eine gelungene Feier. Manche meiner Lieder spiele ich rein instrumental, bei manchen singe ich mit. Sollten Sie bestimmte Wünsche haben, sprechen Sie mich gerne an«, sprach der große Mann mit den langen Fingern am Piano.

Es folgte erneuter Applaus. Dann begann der Pianist ein langsames Stück zu spielen, welches nach einem langen Intro jedoch zunehmend schneller und schwungvoller wurde. Ricardo gefiel die Musik, er empfand sie als Lebensfreude versprühend. Er hatte gerade ausgetrunken und bestellte nun zwei Gläser Whisky, eines für ihn, eines für seinen neuen Gesprächspartner Jakob, der sich zu ihm gesetzt hatte, nachdem Rebwar vorne geblieben war.

Jakob arbeitete in der Partnerfirma. Ricardo kannte ihn bereits seit einiger Zeit und sie pflegten ein gutes Verhältnis zueinander. Jakob erzählte von seiner Frau, dem geplanten Umzug in die eigenen vier Wände, Ereignissen und Komplikationen bezüglich des Hausbaus und vom geplanten Nachwuchs.

»Wie sieht es bei dir aus, mein Freund?«, fragte Jakob.

»Die Familienplanung liegt noch weit vor mir. Derzeit konzentriere ich mich auf die Karriere«, antwortete Ricardo.

Jakob war ein feinfühliger Mann, der sofort merkte, dass Ricardo dieses Gesprächsthema als unangenehm empfand. Er reagierte schnell und fragte Ricardo, wie er mit dem Schreiben vorankäme.

»Ich versuche, mich schrittweise zu verbessern«, antwortete Ricardo und nahm einen großen Schluck Whisky. »Ich bin natürlich noch ein Amateur, jedoch bin ich mit enormer Leidenschaft dabei. Ich möchte immer mehr lernen und meinen Stil konsequent verbessern. Ich will ein Goldschmied der Worte werden.«

Jakob lächelte und war froh, ein Thema gefunden zu haben, das bei Ricardo gute Stimmung hervorrief. Für einen Moment pausierte der Dialog, nun warf zuerst Jakob, dann auch Ricardo einen Blick auf das Smartphone. Ricardo bemerkte, dass Patricia ihm eine Nachricht geschickt hatte: ›Ich hätte gerne noch mit dir gesprochen, denn Geld ist gerade noch das kleinere Problem. Hoffe, dir geht es gut.‹

Ricardo wurde ein wenig ärgerlich. Er antwortete: ›Patricia, es ist doch im Grunde alles gesagt. Du bist krank und solltest dich schnellstmöglich in ärztliche Behandlung begeben. Du weißt, dass ich unglaublich viel arbeite. Wir reden schon noch, wenn ich mal Zeit habe.‹

Anschließend steckte er das Gerät wieder in seine Tasche.

Während er gerade Luft für einen neuen Satz sammelte, bemerkte Jakob, der sein Telefon ebenfalls weggesteckt hatte:

»Du blutest an der Nase, Ricardo.«

Dieser fasste sich unter die Nase und registrierte das Blut an seiner Hand.

»Scheiße«, sagte er. Dann nahm er eine Serviette und wischte sich die Nase erst einmal sauber. »Entschuldige mich einen Moment.«

Ricardo eilte in Richtung Toilette. Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte er. Er reinigte sich zunächst mit Wasser am Waschbecken, dann hielt er sich Papierhandtücher an die Nase. Nach einigen Minuten, in denen er wiederholt das Papier wechselte, kam er zur Einsicht, dass das Bluten nicht so bald aufhören würde. Jetzt brauchte er einen guten Plan. Nach einiger Zeit des Grübelns fiel ihm ein, dass er in seiner Jugend öfters Nasenbluten aufgrund seines Akne-Medikaments gehabt hatte. Er hatte seit kurzer Zeit wieder leichte Akne, auch wenn er sich eingestand, dass diese sehr wahrscheinlich aus dem Speed-Konsum resultierte. Immer noch in der Restauranttoilette stehend nahm er sein Smartphone zur Hand und schickte Jakob eine Nachricht: ›Hey Jakob, das Nasenbluten kommt wohl von meinem Akne-Medikament. Es hört leider nicht auf. Dazu bin ich ohnehin sehr müde. Ich werde gleich nach Hause gehen. Erzähl niemandem, dass meine Nase blutete. Wenn dich jemand fragt, sag, dass es mir leidtut, doch ich hätte die Nachricht erhalten, dass es meiner Mutter sehr schlecht gehe. Ich müsse sie ins Krankenhaus begleiten. Das wird auch meine Version sein, wenn die anderen mich fragen werden, was los war. Ich danke dir, hab noch viel Spaß heute Abend.‹

Dann verließ er die Toilette, ging in hohem Tempo zur Garderobe und nahm sein Sakko. Er hörte noch den Zuruf: »Ricardo, gehst du rauchen? Wenn ja, warte«, von jemandem, doch er ließ sich nicht aufhalten.

Er ging grußlos davon und entfernte sich schnellen Schrittes vom Restaurant. Sein Smartphone vibrierte mehrmals; es handelte sich bestimmt um Kurznachrichten seiner Kollegen, dachte er. Außer Sichtweite rief er ein Taxi.

»In zehn Minuten«, sagte die freundliche Frau mit der samtenen Stimme am Telefon.

»Vielen Dank«, erwiderte Ricardo und legte auf.

Während er im Dunkeln am Straßenrand wartete, fing es an zu regnen. Na wunderbar, dachte Ricardo, denn er hatte keinen Regenschirm dabei. Zu seinem Glück brauchte das Taxi nur etwa fünf Minuten, um ihn abzuholen.

Er nannte der Fahrerin seine Adresse und ließ sich nach Hause bringen. Er holte einige Papierhandtücher aus seiner Hosentasche, die er im Restaurant eingesteckt hatte, und hielt sie sich an seine blutende Nase. Er hoffte, dass die Taxifahrerin keine Fragen stellen und überhaupt auf Smalltalk verzichten würde. Die Hoffnung erfüllte sich. Da der Verkehr zu dieser Uhrzeit bereits deutlich abgenommen hatte, war Ricardo schnell vor seiner Haustür angekommen. Diesmal musste er nur zwanzig Euro bezahlen, gab aber erneut fünfundzwanzig, wünschte der Dame am Steuer einen schönen Abend und betrat das Haus und die Wohnung. Jenny war wieder daheim und saß vorm Fernseher.

»Hallo Schatz«, rief sie Ricardo zu.

Dieser zog Schuhe und Sakko aus und ging zuallererst ins Badezimmer, um das Blut an der Nase abzuwischen. Er überlegte gerade, ob er Jenny ebenfalls die Sache mit dem Akne-Medikament erzählen sollte, als er zu seiner Freude bemerkte, dass das Nasenbluten aufgehört hatte. Er ging ins Schlafzimmer, setzte sich zu Jenny und gab ihr einen Kuss.

»Hätte ich gewusst, dass du so früh kommst, hätte ich etwas anderes an«, sagte Jenny und zwinkerte.

Sie trug Jogginghose und ein altes T-Shirt ihres Freundes, das ihr viel zu groß war. Sie zog Ricardo zu sich und die beiden fingen an, sich intensiv zu küssen. Jenny begann Ricardos Hemd auszuziehen, doch dieser sagte: »Einen Moment, Maus«, und stand auf.

Er ging zur Musikanlage und schaltete reine InstrumentalMusik an. Dann dimmte er das Licht so weit, dass es gemütlicher wurde. Ricardo entkleidete sich nun, dann legte er sich zu Jenny. Schnell verschmolzen die beiden ineinander und tauschten Zärtlichkeiten aus. Nicht zuletzt aufgrund Ricardos Amphetamin-Konsum hatten die beiden beinahe zwei Stunden lang intensiven und leidenschaftlichen Sex, wobei sie viel variierten. Während Jenny hinterher bereits tief schlief, war Ricardo noch hellwach. Um schneller wieder runterzukommen, ging er in die Küche. Auf dem Küchenschrank lag eine Dose, die er vor Jenny geheim hielt. In dieser verwahrte er seinen Vorrat an Benzodiazepinen. Er brach sechs 10 mg-Tabletten Valium aus dem Blister und nahm sie mit einem Glas Mineralwasser ein. Während er auf die Wirkung wartete, holte er zunächst eine Havanna-Zigarre aus seiner Box, anschließend schenkte er sich ein Glas Single-Malt-Whiskey ein, denn Alkohol würde die Wirkung des Valiums verstärken. Er paffte die Havanna genussvoll, den Whiskey trank er hingegen recht schnell. Er dachte über den bevorstehenden Samstag nach. Morgen würde er extrem verbraucht und zu kaum etwas imstande sein, deshalb war er froh, dass Jenny morgen Frühdienst hatte und im Anschluss eine Shoppingtour mit ihrer besten Freundin Lisa unternehmen wollte. Damit der Einkaufsbummel auch ja lange dauerte, betrat Ricardo das Arbeitszimmer und holte aus der untersten Schreibtischschublade einen braunen DINA4-Umschlag hervor, auf dem Datenbank-Protokolle geschrieben stand. Zwischen den zahlreichen Blättern, auf denen beliebige Open-Source-Quelltexte abgedruckt waren, hatte er eine größere Menge Bargeld versteckt. Er entnahm fünf Fünfzigeuroscheine und legte sie auf den Wohnzimmertisch. Daneben legte er einen Zettel, auf den er schrieb: ›Kauf dir etwas Schönes, mein Schatz. Übrigens: Morgen gucke ich Bundesliga.‹ Dann ging er wieder in die Küche und genoss seine Zigarre. Nach kurzer Zeit merkte er, dass das Valium wirkte. Er legte die Zigarre in den Aschenbecher und legte sich zu Jenny. Schnell fiel er in einen bleiernen Schlaf.

Kapitel 2 · Der Egoist

Ricardo liebte Jenny nicht. Sie ihn hingegen sehr. Ricardo war ein ausgesprochen guter Schauspieler und vor Jenny spielte er die Rolle eines selbstbewussten, humorvollen Charmeurs mit extrem hohem Selbstvertrauen. Einen Mann, der die ganze Welt umarmen konnte. Im Inneren war Ricardo ein zutiefst verletzter Mensch auf der Suche nach sich selbst. Er war nie über Iva hinweggekommen und dachte jeden Tag mehrmals an sie. Während Jenny dachte, dass sie die große Liebe gefunden und einen großartigen Mann für die gemeinsame Zukunft an ihrer Seite hätte, war Ricardo egoistisch und pragmatisch: Er war nicht alleine zu Hause, jemand sorgte sich um ihn, er mochte den Sex. Jenny liebte Kinder sehr, weshalb sie Kinderkrankenschwester wurde. Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater kam aus Tahiti. Er war US-Soldat, und während einer Stationierung in Deutschland hatte er ihre Mutter kennengelernt. Es war eine schwierige Ehe ihrer Eltern gewesen, da sie sich nicht sehr häufig sehen konnten. Kurz nach der Jahrtausendwende folgte die Scheidung. Seit seinem Einsatz im Irak-Krieg litt ihr Vater an einer posttraumatischen Belastungsstörung und musste zwischenzeitlich einen Alkoholentzug in einer Reha-Klinik unternehmen. Mittlerweile hatte er sich wieder gefangen und arbeitete nun in einem Verwaltungsbüro der US-Armee. Sowohl Jennys Mutter Paula als auch ihr Vater Tony waren sehr liebevolle und fürsorgliche Eltern gewesen. Jenny und ihre Schwester Sarah schauten auf eine glückliche Kindheit zurück und auch heute pflegten sie sehr gute Beziehungen zur Familie. Jenny wohnte ebenso wie ihre Schwester im Haus der Eltern, jedoch verbrachte sie zuletzt die meiste Zeit in Ricardos Wohnung. Jenny war Mulattin, hatte dunkelbraune Augen und schwarzes Haar.

Sie war etwa einssiebzig groß und sehr kurvenreich. Trotz leichten Übergewichts war sie eine Frau, die die meisten Männer sehr attraktiv fanden. Ihr Aussehen wirkte exotisch und Menschen, die sie nicht kannten, vermuteten, sie hätte asiatische Wurzeln. Jenny hatte von ihrer Mutter den Idealismus sowie die politischen Ansichten übernommen, die man in den meisten Punkten als links ansehen würde. Während ihrer Besuche bei ihrem Vater hatte sie die Gospel-Kirche von Atlanta kennengelernt, von der sie von Beginn an sehr begeistert war. Seitdem war auch bei ihr Glaube an Gott vorhanden, sie las gelegentlich die Bibel, wobei sie bestrebt war, diese sehr zeitgemäß und gemäßigt zu interpretieren. Ebenso folgte sie keinen strengen Ritualen, sondern lebte das Leben einer selbstbewussten, toleranten, jungen Frau des 21. Jahrhunderts. Sie liebte Tiere und ging regelmäßig reiten, darüber hinaus hatte sie einige Patenschaften für Hunde im Tierheim übernommen. Jenny legte großen Wert auf Treue in der Beziehung und wollte eines Tages mindestens zwei Kinder haben. Oft träumte sie von einer gemeinsamen, harmonischen und glücklichen Zukunft mit Ricardo. Ihre Mutter Paula war ein wenig skeptisch, wenn es um Jennys Freund ging. Sie sagte des Öfteren, sie habe »aus irgendeinem Grund kein gutes Gefühl bei diesem Mann.«

Als Ricardo gegen 13 Uhr aufwachte, litt er an den erwarteten Nachwirkungen seines Konsums. Er fühlte sich extrem ausgebrannt, verschlissen, traurig und erschöpft. Sein Kopf tat weh, sein Körper zuckte und zitterte an vielen Stellen. Ricardo stieg aus dem Bett und begab sich umgehend ins Bad, wobei er unterwegs leicht wankte. Er betrachtete sein Gesicht und war erschrocken, wie verbraucht er aussah. »Heiliger Strohsack«, sagte er leise, dann begann er sein Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen.

Anschließend setzte er sich in die Küche und trank so viel Sprudelwasser, wie er nur konnte. Nun wählte er die Telefonnummer seines favorisierten Italieners, der auch einen Lieferservice anbot.

»Stefano, Guten Tag?«, grüßte der junge Mitarbeiter des Restaurants.

»Guten Tag, Prado am Apparat. Ich hätte gerne eine Insalata Capricciosa, eine kleine Pizza Margherita und eine große Cola light«, sagte Ricardo und fügte hinzu: »In die Brüsseler Straße 20.«

»Alles klar, dreißig Minuten«, antwortete der junge Mann am anderen Ende der Leitung, der einen gestressten Eindruck erweckte.

»Vielen Dank.« Mit diesen Worten beendete Ricardo das Telefonat und legte auf.

Ricardo zog seinen Bademantel an und ging auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Im Innenhof hörte man den Konflikt eines Paares, das auf Türkisch vor einem Fenster hitzig, laut und vermutlich wild gestikulierend stritt. Nach einigen Minuten schnippte der müde Ricardo seine Kippe in den Innenhof und ging zurück in die Wohnung. Er setzte sich auf die Couch im Wohnzimmer und starrte apathisch an die Wand. Er war regungslos bis auf das Zittern seiner Extremitäten. Die Klingel beendete seine Ruhe, er stand auf und drückte dem Lieferanten die Tür auf. Nachdem er sein Essen entgegengenommen und die Musikanlage angeschaltet hatte, nahm er die italienische Kost zu sich, in der Hoffnung, seinem angeschlagenen Körper damit zu ein wenig Kraft zu verhelfen. Ricardo war durchgehend versucht, Diazepam zu nehmen, doch er musste seinen Kopf wieder einigermaßen klar bekommen und dabei waren gerade jegliche psychoaktive Substanzen kontraproduktiv. Nach dem Essen legte er sich ins Schlafzimmer und schaute im Fernsehen die unterschiedlichsten Sendungen, bis die Spiele des Fußballspieltages begannen. Er verfolgte die Konferenzschaltung, ab und an fieberte er mit, manche Spiele ließen ihn kalt, andere weckten sein Interesse. Hin und wieder machte er sich auch vereinzelt über Spieler oder Trainer lustig, manchmal beleidigte er den Schiedsrichter. Als ein junger Spieler der Kölner mit einem absoluten Traumtor aus fünfundzwanzig Metern das Spiel gegen Außenseiter Darmstadt entschied, jubelte er laut und schaute sich die Wiederholung mehrmals an. Er bekam beim Zusehen Lust, mal wieder selber Fußball zu spielen, und überlegte, seinen guten Freund Anton anzusprechen, der in einem Bezirksliga-Verein im Kölner Zentrum aktiv war. Nachdem die Spiele beendet waren, machte Ricardo sich frisch, um vor Jenny nicht zu verbraucht auszusehen. Die kam kurze Zeit später mit zahlreichen Einkaufstüten und einem glücklichen Gesichtsausdruck nach Hause.

»Hey Schatz«, sagte Jenny strahlend.

Sie ging auf Ricardo zu und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Ihre Hochstimmung wurde ein wenig gebremst, als sie sah, wie zermürbt der Mann aussah, den sie so sehr liebte. »Alles in Ordnung bei dir, Schatz?«, fragte sie ihn.

Ricardo fühlte sich ertappt; er hatte gehofft, dass Jenny ihn nicht auf sein verbrauchtes Aussehen ansprechen würde.

»Ja, alles in Ordnung. Die Woche war sehr anstrengend und ich habe Kopfschmerzen.« Mit diesen Worten versuchte Ricardo, die Situation zu relativieren und seiner Partnerin die Sorgen zu nehmen.

Jenny wurde wieder euphorisch, als sie Ricardo all die Kleidungsstücke und Accessoires zeigte, die sie sich gemeinsam mit ihrer besten Freundin Lisa gekauft hatte. Ricardo versuchte den Eindruck zu erwecken, dass er sich sehr für Jenny freuen würde und ihm alle Sachen gefielen. Sie gefielen ihm nicht. Manche Sachen fand er zu freizügig, andere zu bunt, kitschig oder extravagant. Ricardos Frauengeschmack war von ambivalenter Natur. Die Frau, mit der er in einer Beziehung war, sollte ihre Schönheit nicht durch auffälligen und freizügigen Stil oder besonderes Make-up unterstreichen. Des Weiteren mochte er es nicht, wenn die Frau an seiner Seite Alkohol trank. Seine Partnerinnen mussten wie Iva sein: schön, natürlich, weltoffen und intelligent, treu und fürsorglich. Allerdings hatte er Iva so behandelt, wie sie es verdient hatte. Er war ihr absolut treu gewesen und stets auf ihre Bedürfnisse eingegangen. Ricardo hatte sie leidenschaftlich geliebt, enorm geschätzt und respektiert. Er hatte sie wundervoll behandelt. Er war besessen gewesen. Doch seit Ricardo eines Tages angefangen hatte, sich nicht nur von Religion, sondern anscheinend auch von seiner Moral und seinem Gewissen zu verabschieden, war alles anders geworden.

Er war ein Lügner, ein Blender und ein Egoist geworden. Während er streng über Jenny richtete, nahm er selber gelegentlich käufliche Damen in Anspruch. Sie sollte keine Partys oder Diskotheken aufsuchen, während er zunehmend den Drogen verfiel. Mittels seiner List und seines Schauspieltalents erweckte er zwar den Eindruck, ein treuer, liebender Mann zu sein, doch der Schein trog gewaltig.