Rosa Luxemburg. Im Lebensrausch, trotz alledem - Annelies Laschitza - E-Book
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Rosa Luxemburg. Im Lebensrausch, trotz alledem E-Book

Annelies Laschitza

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Beschreibung

Rosa Luxemburg - Die Biographie

Rosa Luxemburg, 1871 in dem ostpolnischen Städtchen Zamosc geboren, wollte bereits als Schülerin die Welt verändern. Nach ihrem Studium in Zürich widmete sie sich ganz der Politik und zählte schon bald zu den führenden Theoretikern der Sozialdemokratie. Sie nahm aktiv an zwei Revolutionen teil und fungierte als Gründungsmitglied der KPD. In ihrer Persönlichkeit vereinten sich Extreme: scharfer Intellekt und künstlerische Talente, Leidenschaft und Depression. Rosa Luxemburg lebte für eine. Mit ihrer massenwirksamen Rhetorik und originären Publizistik erregte sie Aufsehen, Widerspruch und Haß. Monatelang Kerkerhaft und ständige Bespitzelung waren der Preis für ihre unbequemen Ansichten. 1919 wurde sie von aufgehetzter Soldateska in Berlin ermordet.

Annelies Laschitzas Biographie eröffnet einen neuen Blick auf Rosa Luxemburgs Leben und Werk. Sie basiert auf unveröffentlichten Archivmaterialien und zahlreichen edierten Quellen. Rosa Luxemburgs Ansichten zu Reform und Revolution, Demokratie und Diktatur werden ebenso anschaulich dargestellt wie ihre alltäglichen Freuden und Sorgen und die konfliktreichen Beziehungen zu ihren Geliebten.

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Seitenzahl: 1074

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Annelies Laschitza

Im Lebensrausch, trotz alledem Rosa Luxemburg

Eine Biographie

Inhaltsübersicht

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Vorwort

Herkunft1871–1888

Ich möchte alle Leiden …den Satten auf ihr Gewissen laden

Aufbruch1889–1897

Ich bin wirklich schon ganz erwachsen

Beeile Dich, teures Gold, so schnell wie möglich

Wir haben Nachrichten aus unserem Lande erhalten – wieder sehr gute

Wenn man schweigt – meint der Freund, daß er recht hat

Auf Wiedersehen – hier in Paris!

Von Zeit zu Zeit ist so eine Dusche gesund

Übrigens können Sie mir zum Doktortitel gratulieren

Entscheidung1898/1899

Möchte mich, zum Teufel, ein wenig der Öffentlichkeit zeigen

Ich mußte mich aufs Eis wagen

Auf eigene Faust in der politischen Arena bewegen

Ich dagegen kann reden

Fürchte mich überhaupt vor nichts

Es ist schrecklich, wie die Arbeit in diesen Tagen über mich hereinbricht

Anscheinend sehe ich aus wie ein Mensch, der die Pflicht hat, ein großes Werk zu schreiben

Ich habe die Absicht und Lust, positiv zu schieben

Du weißt, daß ich auch ein Dickschädel bin

Endlich etwas Polnisches!

Herausforderung1900–1904

Was für eine abgeschmackte Idee, mich alle paar Wochen vor dem »Auf-den-Hund-Kommen« zu retten!

Da möchte ich, daß wir uns etwas mehr auf der Höhe zeigen

Also wird man auch ihm auf die Pfoten hauen müssen

Steck Deinen Finger nicht zwischen die Tür

Entzog ich mich doch bis jetzt keiner Gelegenheit, mir Prügel zu holen

Auf so etwas fall’ ich nicht herein!

Bin überhaupt nicht gewöhnt, ein Blatt vor den Mund zu nehmen

Nichts ist revolutionärer, als zu erkennen und auszusprechen, was ist

Bringe die »polnische Wirtschaft« meines Seelenlebens in etwas geordnete Zustände

Entfaltung1905–1909

Ich bin bei Gott jetzt ganz russische Revolution

Bin zehnmal frischer zurückgekehrt

Aus der Haut fahren möchte ich

Ich lebe am fröhlichsten im Sturm

Also seid guten Mutes und pfeift auf alles

Ich brenne vor Arbeits- resp. Schreiblust

Habe Lust, einfach loszugondeln

Das ist eine so ganz andere Welt

Vielleicht kannst Du mir ein weibliches Mandat verschaffen?

Man fühlt, daß man lebt und nicht vegetiert

Die Schule macht mir ziemlich viel Freude

Fühle mich wie ein abgerissenes Blatt, das vom Winde getrieben wird

Ich war toll vor Freude und fing sofort an zu malen

Brauchst nicht zu denken, die Energie sei bei mir fort

Ich habe solche Sehnsucht nach Sonne und Wärme!

Jeder handelt ja nach seinem eigenen »Ich«

Ich arbeite wie besessen … Es geht famos

Empörung1910–1913

Uns gebührt die Offensive!

Den ganzen April hindurch raste ich durch Deutschland

Jetzt balge ich mich in der Presse herum

Daß ich dabei Nerven, Herz und alle Depressionen vergesse

Wo ich ohnehin kaum Kräfte habe, mich hierher zu schleppen

Freue mich schon auf Magdeburg, wo ich … einheizen will

Für polemische Sachen muß man in Stimmung sein

Habe manches gelernt und erfahren

Aber Luft muß ich mir verschaffen

Geh Deinen Weg und laß die Leute reden

Nie politische Fragen in persönlich-sentimentale verwandeln

Etwas kühles Blut könnte nicht schaden

Antreiben ist bei mir nicht nötig

Ich lebte wirklich wie im Rausch

So muß ich immer etwas haben, was mich mit Haut und Haar verschlingt

Erst wägen, dann aber wagen!

Pfeifen Sie auf die Erbärmlichkeiten

Verteidigung1914

Sie wollen mich also niederhetzen

Ein Sozialdemokrat flieht nicht

Liebling, denk Dir, wie famos!

Die Kerle sind wohl von allen guten Geistern verlassen

Ich muß an das heiße, schwüle Berlin gekettet bleiben

Brauchen jetzt frischen Mut und kühlen Kopf

Bin tief erschüttert

Getan und versucht werden muß, was menschenmöglich

Bin jetzt einigermaßen zur Besinnung gekommen

Auflehnung1915 – 1918

Es gibt keinen Grund zur Unruhe

Im ganzen bin ich in sehr guter und zuversichtlicher Stimmung

Ich bin fleißig und gebrauche meine ganze »freie Zeit«

An die Zukunft und alle guten Geister glauben

So wären wir d’accord!

Zu Haus wohl angelangt

Kam direkt aus dem Loch in den Trubel

Werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben

Komme kaum zur Besinnung vor Lauferei und Sitzungen

Die Post zu mir geht länger als nach New York

Habe wieder viel »unfreiwillige Muße«

Ich bin in der Festung Wronke untergebracht

Ach, Ihr elenden Kleinkrämerseelen

Sie müssen mir oft schreiben

Die Dinge müssen dort ins Grandiose gehen

Plötzlich stürze ich immer wieder von meiner Sonnenhöhe in den Graben

Freust Du Dich über die Russen?

ErhebungNovember 1918 – Januar 1919

Lange kann es ja nicht mehr dauern

C’est la révolution

Mit den Zähnen möchte man knirschen

Wie im Hexenkessel

Revolutionen brauchen offene Visiere

Ich möchte Euch helfen

Anhang

Siglen

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

Vorwort

Rosa Luxemburg gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Klein, dunkelhaarig, eher unauffällig, faszinierte sie durch sprechende Augen, natürlichen Charme, mitreißendes Temperament und den Geist ihrer originären Publizistik und massenwirksamen Rhetorik. Sie sprühte vor Ideen, war außergewöhnlich gebildet, vielseitig talentiert und – ehrgeizig. Das ermöglichte es ihr, sich als emanzipierte Frau zu behaupten, ohne an Situationen der Ohnmacht und persönlichen Niederlagen zu zerbrechen. Ihr Wunsch nach einer Familie blieb unerfüllt.

Rosa Luxemburgs Leben war aufreibend und konfliktreich. Sie kämpfte für eine bessere Welt. Ihr Ideal war ein Sozialismus, der vom Volk mitgestaltet wird, auf uneingeschränkter Freiheit und Demokratie basiert und einen dauerhaften Frieden garantiert. Die selbstbewußte Marxistin beeindruckte durch umfassende Geschichtskenntnisse und gründliche Gesellschaftsanalysen. In den von ihr mitbegründeten oder beeinflußten Parteien der internationalen sozialistischen Bewegung trat sie entschieden gegen Dogmatismus und Formalismus auf. Der Oppositionskraft ihrer Anhänger vertrauend, attackierte sie den Kapitalismus unablässig als Quelle der sozialen Ungerechtigkeit und politischen Reaktion, der nationalen Zwietracht und des Krieges. Ihre scharfe Polemik forderte Widerspruch und Haß heraus. Doch außergewöhnlicher Realitätssinn und kreative Kritik verhalfen Rosa Luxemburg zu Prognosen, die sich bewahrheitet haben. Im Widerspruch dazu stehen einzelne grundsätzliche Irrtümer und manche von ihr vehement verteidigte Illusion.

Auf der Suche nach Glück und Erfolg gewann und verlor sie Freunde und Geliebte, erfuhr Zuneigung, Enttäuschung und Mißachtung – auch in den eigenen Reihen. Im privaten wie im politischen Leben stellte sie an sich und andere hohe Ansprüche. Obgleich sie Geselligkeit liebte, flüchtete Rosa Luxemburg doch oft in die Einsamkeit. Sie konnte freundlich und grob, verständnisvoll und jähzornig, heiter und trübsinnig, bescheiden und überheblich, einsichtig und streitbar, nüchtern und beseelt sein. Literatur, Malerei und Musik waren ihr ebenso unverzichtbar wie Reisen in ferne Länder. Sie vertiefte sich in fremde Kulturen wie in die heimische Pflanzen- und Tierwelt. In vielen ihrer zum Teil mit schonungsloser Offenheit geschriebenen poetischen Briefe suchte sie Zuflucht aus täglicher Bedrängnis und führte Zwiegespräche mit Freunden und Gegnern nach der Maxime: »Wer innerlich wirklich reich und frei ist, kann sich doch jederzeit natürlich geben und von seiner Leidenschaft mit fortreißen lassen, ohne sich untreu zu werden.«1

Persönlichkeit und Erbe Rosa Luxemburgs haben viele Biographen in ihren Bann gezogen.2 Die einen wollten wie Elz-. bieta Ettinger »einen weithin unbekannten Menschen, dreifach stigmatisiert: als Frau, als Jüdin und als Krüppel«3 porträtieren. Andere wie Peter Nettl, Gilbert Badia oder Georg W. Strobel fesselte zwar die ganze Rosa Luxemburg, dennoch setzten sie zeitgeschichtlich bedingte Schwerpunkte. Peter Nettl, der sich 1968 über den »Mischmasch aus Ideen von Lenin, Mao, Castro, Sartre, Marcuse und Rosa Luxemburg« in den oppositionellen Bewegungen Ost- und Westeuropas wunderte, orientierte sich z. B. auf die »Prophetin par excellence der uninstitutionalisierten Revolution«.4 Wieder andere, so Lelio Basso, Ossip K. Flechtheim, Iring Fetscher, Georges Haupt, Oskar Negt, Ernest Mandel und Christel Neusüß, konzentrierten sich auf Rosa Luxemburgs Theorien oder einzelne ihrer Axiome, die sie ins Verhältnis zu Marx und anderen Gelehrten setzten. Luise Kautsky und Henriette Roland Holst-van der Schalk formten ihre stimmigen Porträts aus persönlichen Erinnerungen an Rosa Luxemburg. Paul Frölich, Feliks Tych, Helmut Hirsch, Aleksander Kochański, Narihiko Ito, Frederik Hetmann vermittelten einem breiten Publikum Zugang zu ihr. Max Gallo huldigte der »Märtyrerin für eine Utopie«5. Selektiv verfuhren in der Regel jene, die Rosa Luxemburg ideologielastig in die kommunistische oder in die sozialdemokratische Parteitradition integrierten.6

Manche, die wie Günter Radczun und ich Rosa Luxemburg anläßlich ihres 100. Geburtstags dem Verdammungsurteil Stalins über den »Luxemburgismus« entrissen, verstrickten sich in Widersprüche, weil Rosa Luxemburgs Denken und Handeln vorwiegend an Lenin gemessen und formalem Heroenkult nicht genügend Paroli geboten wurde.

Das hier vorgelegte neue Lebensbild soll Einseitigkeiten in der Luxemburg-Biographik überwinden helfen. Mein Hauptanliegen ist es, auf der Grundlage umfangreicher Archivalien, edierter Quellen und neuer Forschungsresultate Rosa Luxemburgs Entwicklung authentisch und umfassend darzustellen. Die Biographie folgt den Stationen ihres Lebens. Sie will die Einheit von Persönlichkeit, theoretischen Arbeiten, politischen und pädagogischen Tätigkeiten nacherlebbar machen. Um Konflikte zu charakterisieren und Ursachen für Erfolg wie Niederlage zu erklären, wird auch das private und geistig-politische Milieu ihrer Freunde und Widersacher beleuchtet.

Rosa Luxemburg, die sich den Problemen ihrer Zeit mit einzigartigem Engagement stellte und anregende Antworten auf neue Fragen fand, hat ein vielseitiges Lebenswerk hinterlassen. Als besonders brisant erweisen sich ihre Ansichten zu Reform und Revolution, Demokratie und Diktatur, zu nationaler Selbstbestimmung und Internationalismus sowie zu Kapitalismus und Sozialismus. Zu entdecken sind in ihren Schriften nach wie vor aktuelle Gedanken über Nationalismus, den Kampf gegen politische Willkür und soziale Ungerechtigkeit, über Gewerkschaftsarbeit, kommunale Interessenvertretung und Parlamentarismus in der bürgerlichen Demokratie. Ihr unbedingtes, doch mehrfach enttäuschtes Vertrauen in die Politikfähigkeit der Massen, Parteien und Autoritäten ist ebenso bemerkenswert wie ihre prophetische Warnung vor der Entartung sozialer und nationaler Befreiungsbewegungen. Ihr konsequentes Auftreten gegen Militarismus, Chauvinismus und Krieg sowie für den Schutz der Menschenrechte ist uneingeschränkt zu bejahen. Sie hat sich zu allen wesentlichen Themen in Politik und Ökonomie geäußert, auch zu den »Vereinigten Staaten von Europa«, zur »Weltpolitik« der Großmächte, zu den Ressourcen und Grenzen kapitalistischen Wachstums und nicht zuletzt über den Mut der Aufrechten, trotz mancher Niederlage Sozialisten zu bleiben und für ihre Ideen einzustehen.

Zu dieser neuen Biographie wurde ich herausgefordert durch das nicht nachlassende Interesse an Rosa Luxemburg und ihrem Werk sowie durch Dispute der in der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft vereinten Wissenschaftler, an deren Tagungen in Paris (1983), Tokio (1991) und Beijing (1994) ich teilnahm. Recherchen meiner Kolleginnen und Kollegen im Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung in Berlin, das am 31. März 1992 geschlossen worden ist, waren mir ebenso hilfreich wie der Rosa-Luxemburg-Verein e. V. in Leipzig, der Brandenburger Verein für politische Bildung e. V. »Rosa Luxemburg« in Potsdam, meine Familie und Freunde. Als besonders anregend empfand ich die Resonanz auf Vorlesungen und Referate, die ich 1991/92 und 1994 über Rosa Luxemburg und das 20. Jahrhundert an den Universitäten in Bremen und Hannover gehalten habe.

Den Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken, die mir Zugang zu unveröffentlichten Briefen und Dokumenten sowie zu spezieller Literatur ermöglichten, danke ich ebenso wie den Kolleginnen, die mir Übersetzungen aus dem Polnischen zur Verfügung stellten. Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern des Aufbau-Verlages für mannigfache Unterstützung.

Dieses Buch widme ich Rosa Luxemburg zum 125. Geburtstag, einer beeindruckenden Frau, für die zu einer Persönlichkeit Talent, Charakter, Individualität und eine feste Weltanschauung gehörten. Sie wußte: »Ergreifen und erschüttern kann nur, wer selbst ergriffen und erschüttert ist.«7

Berlin, im November 1995

Annelies Laschitza

Herkunft1871–1888

Rosa Luxemburg verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Warschau und die Studentenzeit in Zürich, Genf und Paris. Sie lebte über zwanzig Jahre in Deutschland, die längste Zeit davon in Berlin. Ihre Wege führten sie nach Amsterdam, Basel, Brüssel, Kopenhagen, London; wiederholt war sie in Paris und Zürich; sie hielt sich illegal in Warschau, Petersburg und Kuokkala auf. Sie erholte sich in der Schweiz und in Italien. Sie interessierten Lebensräume von Eingeborenen in Afrika, und sie träumte von Reisen in den Kaukasus, nach Buchara und Samarkand. Über Ägypten und Indien, über den Vorderen Orient, Regionen in Amerika, Asien und Australien schrieb sie in ihren Büchern und Artikeln, als wäre sie dort gewesen. Rosa Luxemburg fühlte sich in der ganzen Welt zu Hause, und sie wollte die Welt verändern.

Geboren wurde die temperamentvolle Frau am 5. März 1871 in dem kleinen Städtchen Zamość im Gouvernement Lublin in Polen, das vom zaristischen Rußland besetzt war. Dieses Datum gab sie jedenfalls im Februar/März 1897 im Curriculum vitae, ihrem Lebenslauf für das Promotionsverfahren an der Universität Zürich, an.1 Sie erhob aber auch keine Einwände, wenn in anderen Dokumenten z. B. 1870 als Geburtsjahr oder der 25. Dezember als Geburtstag vermerkt wurde,2 denn ihr selbst war das nicht so wichtig. Daher lohnt sich kein Streit darüber, wenn die Biographen nach wie vor das Geburtsdatum unterschiedlich angeben. Ihren Geburtstag feierte Rosa Luxemburg immer am 5. März; auch der Vater gratulierte ihr 1900 zum 5. März, obwohl er drei Jahre zuvor den »25. Dezember 1870« als Geburtstag seiner Tochter bezeugt hatte.3

Rosa Luxemburg freute sich über jeden Glückwunsch und war für Überraschungen dankbar, vor allem für Blumen und Bücher. Wenn allerdings allzuviel Wesen darum gemacht wurde, bezeichnete sie solche »historischen Daten« gleich als Lappalien. In einem Brief an ihre holländische Freundin Henriette Roland Holst amüsierte sie sich 1907: »Ich danke Dir und Rik herzlich für die Geburtstagskarte, über die ich gelacht habe: mein ›offizielles‹ Geburtsdatum ist nämlich falsch (ganz so alt bin ich nicht!), ich habe doch, als anständiger Mensch, keinen echten Geburtsschein, sondern einen ›angeeigneten‹ und ›korrigierten‹. Aber der Glückwunsch war ja echt …«4

Rosa (Rosalie, Rosalia, Róża) Luxemburg kam auf die Welt, als in Europa der Feuerschein der Pariser Kommune leuchtete und zwischen Deutschland und Frankreich der vorläufig letzte Krieg ausgetragen wurde. Durch die Bismarcksche Reichsgründung begann neben dem Königreich Großbritannien, dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn unter Kaiser Franz Josef I. und dem russischen Zarenreich unter Alexander II. eine neue Großmacht zu entstehen. Sie sollte nicht nur durch den besonders reaktionären preußischen Militarismus und durch Rüstungswettlauf mit den europäischen Großmächten, sondern auch infolge wachsender Herrschaftsansprüche eines erstarkenden Industrie- und Finanzkapitals weit über Europa hinaus die Gefahr neuer kriegerischer Konflikte steigern. Als Gegenkraft entwickelten sich in vielen europäischen Ländern Organisationen der Arbeiterbewegung, die für die Durchsetzung antimilitaristischer Forderungen stritten, soziale und politische Rechte erkämpften und Bilder von einem Zukunftsstaat entwarfen, der freiheitlich, demokratisch, friedliebend und sozialistisch sein sollte.

Polen litt seit einem Jahrhundert unter der Teilung und unter der Fremdherrschaft Rußlands, Österreich-Ungarns und Preußens. Auch hier fanden tiefgreifende ökonomische und soziale Veränderungen statt. »Die ganze äußere Erscheinung des Landes hat sich in 25 Jahren von Grund aus verändert«, stellte Rosa Luxemburg 1897 in ihrer Dissertationsschrift fest. »In der Mitte wuchs das kleine Städtchen Łódź rasch zu einem großen Textilindustriezentrum, zum ›polnischen Manchester‹, auf mit dem typischen Aussehen einer modernen Fabrikstadt […]. Man findet hier eine Reihe Riesenetablissements, unter denen die Manufaktur Scheibler mit ihren 15 Mill. jährlicher Produktion und 7000 Arbeitern den ersten Platz behauptet. Im südwestlichen Winkel des Landes, an der preußischen Grenze, schoß, wie aus der Erde hervorgezaubert, ein ganzer neuer Industrierayon auf, wobei Fabriken inmitten von Wald und Flur auftauchten, der Bildung von Städten vorausgehend und von vornherein alles um sich gruppierend. In der alten Hauptstadt Warschau, dem Sammelpunkt aller Handwerke, hob sich das Handwerk mächtig empor. Zugleich fällt es aber vielfach unter die Herrschaft des Kaufmannskapitals. Kleine und mittlere selbständige Betriebe lösen sich in Hausindustrie auf, und in den Vordergrund treten als Sammelbecken für die Kleinproduktion große Magazine fertiger Handwerkswaren. Der Handel des ganzen Landes konzentriert sich auf der Börse und in zahlreichen Bank- und Kommissionsgeschäften. Die Vorstadt von Warschau, Praga, wurde zum Zentrum einer großen Metallindustrie, und die riesige Leinwandfabrik Zyrardów bei Warschau mit ihren 8000 Arbeitern verwandelte sich in ein eigenes Städtchen. […] Die Industrie ist jetzt derjenige Stamm geworden, aus dem alle übrigen Zweige des materiellen Lebens des Landes ihre Säfte ziehen. Oder richtiger gesagt, sie ist diejenige Triebfeder, die alle Gebiete des materiellen Lebens revolutioniert und sich unterordnet: die Landwirtschaft, das Handwerk, den Handel und die Verkehrsmittel.«5

Zamość, das Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 6000 Einwohner zählte, hatte seitdem wirtschaftlich immer mehr an Bedeutung verloren. »Zamość in der Mitte zwischen zwei großen Industriestandorten, Lublin und Lwów, wurde im sechzehnten Jahrhundert zum bedeutenden internationalen Handelszentrum am Transportweg und am Kreuzweg verschiedener Kulturen. Armenier, Türken, Griechen, Perser und Juden, Deutsche, Schotten und Engländer, alle genossen Vorzugsbehandlung und fanden die Stadt sehr angenehm. Die örtliche Aristokratie entwickelte Sinn für Bildung und Luxus. Die Zamoyski-Akademie, 1595 gegründet, bereicherte das kulturelle Leben der Stadt weiter.«6 Im Schwedenkrieg blieb Zamość unversehrt, doch wurde es von Seuchen, Feuersbrünsten und Flüchtlingsströmen heimgesucht.

An der Grenze von polnischem und ukrainischem Gebiet gelegen, ereilte die Stadt ein wechselvolles Schicksal. Bei der dritten Teilung Polens 1795 fiel Zamość an Österreich. 1809 wurde die Festung im Auftrage Napoleons von polnischen Truppen verteidigt, nach dem Friedensschluß ging sie an das Großherzogtum Warschau und 1820/21, als die Zamoyskis ihr Majorat über die Stadt aufgaben, an das 1815 geschaffene Königreich Polen. Es vereinte 82 Prozent des ehemaligen Staatsterritoriums und wurde auch Kongreß-Polen oder Russisch-Polen genannt, denn es war mit Rußland in Personalunion verbunden. Das Zentrum von Zamość bildeten ein majestätisches Rathaus und ein arkadengeschmückter Platz im Spätrenaissancestil, an dem die Luxemburgs gegenüber dem Rathaus wohnten. Wegen seiner einzigartigen, nach italienischem Vorbild von Bernardo Morando gestalteten Anlage und Architektur blieb Zamość weit über die Grenzen des Landes hinaus als »Padua des Nordens« bekannt. Der jiddische Schriftsteller Isaac Leib Peretz, mit dem die Familie Luxemburg befreundet war, nannte die Stadt in seinen Memoiren humorvoll »Klein-Paris«.7

Rosa Luxemburg entstammte einer jüdischen Familie, die sich der jüdischen Aufklärung verbunden fühlte. Väterlicherseits geht ihre Herkunft auf Landschaftsarchitekten zurück, die Graf Zamoyski in seine Stadt holte, und mütterlicherseits in 17 Generationen auf Rabbiner und hebräische Gelehrte. Ihr Vater, ein Kaufmann, hieß Eliasch Luksenburg, Rosa Luxemburg nannte ihn Eduard und schrieb den Familiennamen mit »m«, was ihre Schwester noch 1897 verwunderte.8 Der Vater lebte von 1830 bis 1900. Ihre Mutter Lina, geb. Löwenstein, wurde 1835 in Zamość geboren und starb 1897.

Rosa war die Jüngste von fünf Kindern. Ihre Schwester Anna (1857–1934) sorgte sich lange Zeit mit um den elterlichen Haushalt und soll auch im Geschäft ihres Bruders Maksymilian mitgearbeitet haben. Sie heiratete 1909 den Baumeister Nikodem Bresler. Der älteste Bruder, Natan/Mikolaj (1855 bis 192?), setzte als Kaufmann die Familientradition fort und ließ sich in London nieder. Der Bruder Maksymilian/Munio (1860–1943) wurde Mitinhaber eines polnisch-französischen pharmazeutischen Unternehmens in Warschau. Józef (1866 bis 1934), der jüngste Bruder, studierte Medizin.9 Der Internist und Neuropathologe praktizierte in Warschau und veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Arbeiten. Von der Familie kümmerte er sich am meisten um das Erbe von Rosa Luxemburg.

Über die Kindheit äußerte sich Rosa Luxemburg selten, es gibt auch darüber wenig authentische Quellen. So ist aus den Jahren vor 1897 kein familiärer Briefwechsel erhalten geblieben. Luise Kautsky hat in ihrem »Gedenkbuch« festgehalten, was die Geschwister erzählten: »Die Aufschlüsse über Rosas erste Kindheit, die ich den Mitteilungen von Rosas Bruder, Dr. Josef Luxemburg, verdanke, und die ich zum Teil in seinen eigenen Worten wiedergebe, waren mir daher sehr willkommen, denn sie ließen mir manche Charakterzüge Rosas in viel klarerem Lichte erscheinen. […] Ihr Vater, Eduard Luxemburg, besaß ein eigenes Haus und war ein in der Stadt angesehener Kaufmann, der ebenfalls einer wohlhabenden kaufmännischen Familie entstammte. Rosas Großvater hatte in ständigem Handelsverkehr mit Deutschland gestanden und war in Berlin gestorben. Allen seinen Kindern, sieben Söhnen und einer Tochter, hatte er eine gründliche Bildung angedeihen lassen, sie hatten die Schulen und Handelsakademien in Berlin und Bromberg besucht. Rosas Vater gehörte also der jüdischen Intelligenz der Stadt an, war aber zugleich polnisch gesinnt. Er war daher nicht nur ein eifriger Förderer aller Kulturbestrebungen seiner Glaubensgenossen, sondern kämpfte auch in deren Kreisen für das polnische Schulwesen, dessen damaliges tiefes Niveau er möglichst heben wollte. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran […]. Wo immer er Bildungsbestrebungen unterstützen konnte, tat er es mit Freuden, so z. B. hatten die polnischen Volksschullehrer wie auch die polnischen wandernden Theatertruppen an ihm einen großen Gönner.

Rosas Mutter, Lina, geborene Löwenstein, brachte allen diesen Betätigungen ebenfalls vollstes Verständnis entgegen, so daß der ganze Ton des Hauses in kultureller Beziehung auf sehr hoher Stufe stand. Auch sie stammte aus hochintellektuellen Kreisen […]. Sie schwärmte für schöne Literatur und war ebenso zu Hause in den Werken von Schiller wie in denen von Mickiewicz. Sie hatte einen ungewöhnlich sanften, milden Charakter, und aus dem Munde dieser geliebten Mutter vernahm die aufnahmefähige kleine Rosa die ersten Märchen und Fabeln. Aus Rosas spärlichen Erzählungen gewann man den Eindruck, als sei die Mutter eine von jenen selbstaufopfernden Frauen gewesen, wie sie gerade in jüdischen Familien so ungemein oft vorkommen, die ihr ganzes Sein auf Mann und Kinder einstellen.«10

Die Mutter war gütig, still und bescheiden; sie kannte keine anderen Freuden als die der Familie.11 Wie Rosa Luxemburg sich erinnerte, galt in ihrer Familie als »unverbrüchliches Naturgesetz […], daß die Mutter ausschließlich dazu auf der Welt sei, um unsere ewig aufgerissenen Schnäbel (den des Paterfamilias vor allem!) nach jeglicher Richtung und Dimension zu stopfen«12. Als sie im gleichen Jahr in Beobachtungen über die Vogelwelt versank, schweiften ihre Gedanken zurück: »Meine Mutter, die nebst Schiller die Bibel für der höchsten Weisheit Quell hielt, glaubte steif und fest, daß König Salomo die Sprache der Vögel verstand. Ich lächelte damals mit der ganzen Überlegenheit meiner fünfzehn Jahre und einer modernen naturwissenschaftlichen Bildung über diese mütterliche Naivität. Jetzt bin ich selbst wie König Salomo: Ich verstehe auch die Sprache der Vögel und aller Tiere.«13

Über die finanziellen bzw. materiellen Lebensbedingungen existieren keine Quellen. »Mein armer Vater ist leider kein Bankier, um nach Belieben Ferien zu machen«, erklärte Rosa Luxemburg Leo Jogiches 1899, »er ist völlig von seinen armseligen Groschengeschäften abhängig.«14 Als der Vater 1899/ 1900 ernstlich erkrankte, mußte er von Verwandten ein Darlehen annehmen. Da er nicht arbeiten könne, bleibe ihm nichts anderes übrig, stellte er verbittert fest.15 Ihn plagten Sorgen um Annas Mitgift, und er interessierte sich für die Vermögenslage der Familie Jogiches. Danach zu urteilen, mußte im elterlichen Haushalt mit den Mitteln sehr sparsam umgegangen werden. Später schrieb Rosa Luxemburg, sie habe in der Schule nie eigene Bücher, Karten etc. gehabt und sich immer erst in den Pausen schnell mit geliehenen Büchern vorbereiten müssen.16

»Die Familie hatte oft Mangel zu leiden«, berichtete Julian Marchlewski, mit dem Rosa Luxemburg seit ihrer Jugendzeit befreundet war, »und nicht selten wurde sogar das Bett zum Wucherer getragen, um es für einige Rubel zu verpfänden; doch das rief nicht, wie es oft geschieht, Bitterkeit und Niedergedrücktheit hervor. Ich erinnere mich, wie Rosa erzählte, sie hätte einst mit einem Papierfetzen die Lampe angezündet, später jedoch erwies sich, daß es das letzte Geld im Hause gewesen war, das der Vater mit Mühe erworben hatte; der Alte bestrafte seine Tochter nicht, sondern tröstete sie, nachdem er sich von dem ersten Eindruck erholt hatte, mit Scherzen über das teure Streichhölzchen.«17

Im Jahre 1873 zog Familie Luxemburg nach Warschau um. Die Gründe für die Übersiedelung sind nicht authentisch bezeugt. Vater Luxemburg mag sich von der Entwicklung Warschaus zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Landes eine bessere Geschäftstätigkeit und für seine Kinder eine gediegenere Ausbildung erhofft haben. Ein Neffe von Rosa will aus Erinnerungen seines Vaters Józef wissen, daß Verdächtigungen über illegalen Waffenhandel Eliasch Luxemburg, der am Aufstand 1863/64 teilgenommen hatte, Hals über Kopf zum Fortgang aus Zamość zwangen.18 Der Annahme von Elżbieta Ettinger, die Luxemburgs hätten unter den Juden von Zamość keine festen Freunde gefunden,19 widerspricht Jack Jacobs aufgrund seiner neuesten Forschungsergebnisse. Er hebt die Verbundenheit von Eliasch Luxemburg mit den polnischen Maskilim hervor.

Die Haskala, die Bewegung der jüdischen Aufklärung, besaß in Zamośść mit einem relativ kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil seit Ende des 2. Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts die zweitgrößte Konzentration von Maskilim in Polen. Die Luxemburgs gehörten dazu; Eduard war eine gewählte Persönlichkeit der jüdischen Gemeinde. Er teilte vermutlich die Auffassungen von Abraham Paprocki, Lehrer für jüdische Geschichte am Warschauer Rabbinerseminar, an dem Rosas Vater einige Zeit studiert hatte. Paprocki behauptete: »Nur in ihren Verpflichtungen gegenüber Gott bilden die Juden eine Einheit, aber im Hinblick auf die Gesellschaft sind sie weder eine Nation, noch eine besondere soziale Gruppe.«20 Doch Anfang der 70er Jahre gewannen durch Tod oder Weggang aller bekannten Maskilim in der jüdischen Gemeinde von Zamośćungeliebte Orthodoxe die Oberhand. Auch I. L. Peretz verließ etwa 1873 die Stadt. Jacobs sieht den Umzug nach Warschau, der durch die Choleraepidemie in der Provinz Lublin beschleunigt worden sein kann, auch als Versuch, aufs neue »eine maskilische Umgebung zu finden, die mit der vergleichbar war, die zu früherer Zeit in Zamość existiert hatte«21. Die Familie Luxemburg wollte in einer Umgebung leben, in der sie nicht ausschließlich jiddisch sprechen und sich den Bräuchen osteuropäischer Juden fügen mußte. Sie wollte sich weiter assimilieren können, ohne daß ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der polnischen Kultur, ihre Vorliebe für die polnische Sprache und ihre geistige Weltoffenheit von orthodoxen Widersachern in einer relativ kleinen Gemeinde mit Mißgunst bedacht wurden.

Nach dem Erlaß des Zaren von 1862, der die Aufenthaltsbeschränkung für Juden formal abschaffte, so daß diese nicht mehr gezwungen waren, in dem seit 1809 existierenden Ghetto zu leben, war Warschau für Maskilim bei weitem zugänglicher als das Zamość der 70er Jahre; damit war es eine Stufe auf dem Weg zur Assimilation.22 Wie Elżbieta Ettinger anschaulich schildert, wählten die Luxemburgs das Viertel, in das sie zogen, sorgfältig aus. »Es war kurz zuvor für Juden geöffnet worden und wurde von Polen halbwegs akzeptiert. Es beherbergte auch polnische Intellektuelle und lag nicht weit, aber weit genug ab von dem Bezirk, den die armen und orthodoxen Juden bewohnten. Dieser Judenbezirk – mit seiner exotischen Atmosphäre, den gestikulierenden Männern mit Schläfenlocken und Jarmulkas (Käppchen) in flatternden Kaftans wie große schwarze Vögel, den Frauen mit Perücke, den Bettlern und Straßenhändlern – glich mehr einer mittelalterlichen Szenerie als einer westlichen Kapitale. Er war eine ständige Peinlichkeit, ein Stein des Anstoßes für assimilierte Juden, die sich der Rückständigkeit ihres Volkes schämten und sich wünschten, nicht damit identifiziert zu werden. Sie reformierten ihren Glauben; sie sprachen ›vor den Kindern‹ nicht mehr Jiddisch; sie milderten ihr semitisches Äußeres ab, indem sie sich westlich kleideten. Und dennoch – nur wenige Straßen weiter war diese andere Welt, das Haupthindernis für sie, akzeptiert zu werden: lärmende Leute in bizarren Kostümen; Arbeiter, die sich weigerten, samstags zu arbeiten; Zaddikim, chassidische Sektenprediger, die Wunder vollbrachten; Rabbiner, die Gesetze erließen. Durch Zarenerlaß angewiesen, ihre Bärte und Gewänder abzulegen, fanden sie Mittel und Wege, beides zu behalten; aus einem Stadtteil vertrieben, tauchten sie in einem anderen wieder auf; zum Erlernen des Polnischen gezwungen, erhoben sie das Jiddische zur Literatursprache.«23

Die siebenköpfige Familie Luxemburg zog in ein Mietshaus in der Zlotastraße. Die nach vorn gelegene Wohnung mit drei Zimmern gehörte zu den besseren und teureren. In den zum Hof gehenden Quartieren und in den Hinterhäusern lebten die Leute ärmlicher und beengter. »Das Haus Zlotastraße 16 lag inmitten eines kurzen Blocks, der zwei Straßen verband, die Brackastraße und die große Durchgangsstraße Marszalkowska. Die Zlotastraße überquerte die Marszalkowska und wurde auf ihrer Fortsetzung nach Westen ärmlicher, aber der kurze Abschnitt, in dem die Luksenburgs wohnten, war eine gute Gegend. Über die Brackastraße hatte Jahrzehnte zuvor der tägliche Weg des russischen Großherzogs Konstantin geführt, des Oberkommandierenden der polnischen Armee. Hoch zu Roß hatte er sich von seiner Residenz im Schloß Belvedere zu den berüchtigten, demütigenden Inspektionen seiner polnischen Untergebenen auf den Saskiplatz begeben. Der eine unbestreitbare Vorteil der großherzoglichen Ausritte über die Brackastraße war, daß man die Straßenfläche mit solidem Stein gepflastert hatte. In der Marszalkowskastraße herrschte geschäftiges Treiben. Nach neuester Pariser Mode gekleidete Damen, Ladengeschäfte mit reichem Angebot an Importwaren, Cafés, Restaurants und Buchhandlungen gaben der Metropole einen Hauch von europäischem Schick. Sie war multinational, vielsprachig, lebendig und bunt. Schnittige Pferdekutschen brachten die eleganten Damen zu ihren karitativen Aufgaben und die Herren zu intimen Diners; glitzernde russische Uniformen mengten sich unter priesterliche Soutanen und die Schulschürzen kleiner Mädchen; Stutzer und Nonnen, Chassidim mit breitkrempigen Filzhüten und Laufburschen mit leuchtend roten Mützen, Gouvernanten in dunklen Capes und Straßenmusikanten, sie alle unter dem wachsamen Blick schnauzbärtiger russischer Polizisten, gaben der Straße eine Aura des Glanzes. Gleich außerhalb des Stadtzentrums bot sich ein drastisch verwandeltes Bild.«24

Die Eltern und Geschwister Rosa Luxemburgs standen der Assimilation wohlwollend gegenüber und hatten sich kulturell stärker angepaßt als die meisten osteuropäischen Juden.25 Sie verleugneten aber keineswegs ihre jüdische Identität. Der Vater war ein Pole mosaischen Glaubens, auf den nach Jack Jacobs die Beschreibung von Ezra Mendelsohn weitgehend zuträfe: »Die ›Polen mosaischen Glaubens‹ waren weniger geneigt, eine Ideologie ihrer Assimilation zu finden. Sie verkündeten nicht, daß die jüdische Geschichte am Ende sei, auch identifizierten sie sich nicht ständig mit Polens heiligem Kampf. Sie hatten die Grenzen des Ghettos hinter sich gelassen und betrachteten sich jetzt als Polen, genau wie sich ihre deutschen Glaubensgenossen als Deutsche betrachteten. Sie wehrten sich energisch gegen den jüdischen Nationalismus und verhielten sich feindselig gegenüber der jiddischen Sprache, sie hatten kein klares Programm für die Zukunft des jüdischen Volkes. Nichtsdestoweniger spielten die ›Polen mosaischen Glaubens‹ eine bedeutende Rolle im jüdischen Leben. Man konnte sie sowohl im Kongreß-Polen als auch in Galizien finden, in wichtigen Funktionen der offiziellen jüdischen Gemeinde, wo sie mit den Orthodoxen zusammenarbeiteten und die Juden gegenüber den nichtjüdischen Behörden vertraten. Sie unterstützten die jüdisch-polnische Presse, die seit den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts den Kampf für die jüdische Aufklärung und die Polonisierung der polnischen Juden führte.«26 Fast sicher sei, Eduard Luxemburg lehrte seine Kinder, »daß die Barrieren zwischen Polen und Juden aufgehoben werden sollten, daß die Kultur der Familie Luksenburg die polnische Kultur sei, daß die westeuropäischen Bräuche kultivierter seien als die des osteuropäischen Judentums […] und daß die Juden eine religiöse Gruppe seien und nicht eine Nation oder Nationalität. Er kann auch Skepsis gegenüber dem Wunsch nach polnischer Unabhängigkeit geäußert haben.«27

Die Mutter sympathisierte ebenfalls mit den Ideen der Maskilim. Ihr Bruder war seit 1862 Prediger einer nichtorthodoxen Gemeinde in Lemberg. Sie war allerdings streng religiös. Sie gestaltete die jüdischen Feiertage, achtete auf die Pflege jüdischer religiöser Traditionen und bereitete die speziellen Speisen. Zum Neujahrstag durften z. B. Blintzes nicht fehlen. Die siebentägige Totenwache einzuhalten war für die Familie ebenso selbstverständlich, wie am Ende der Trauerzeit Kaddisch zu singen.

An Rosa soll die Mutter jiddisch geschrieben haben; es konnte bis jetzt allerdings kein solcher Brief aufgefunden werden. Auch hat bisher noch kein Luxemburgforscher eine jiddische Handschrift Rosa Luxemburgs entdeckt.28 Rosa Luxemburg verstand Jiddisch, betrachtete jedoch diese Sprache als Jargon und gebrauchte sie relativ selten, und dann zumeist als Schimpfwort oder zur Selbstironie. Józef-Szloma Mil (John Mill), der Rosa gut kannte, behauptet sogar, sie hätte Jiddisch gehaßt.29 Zur polnischen Sprache, die sie liebte, hatte sie eine ungewöhnlich emotionale Beziehung.

Rosa Luxemburg wuchs in einem behaglichen Familienkreis auf, in dem vorwiegend polnisch gesprochen wurde und großes Interesse an anderen Sprachen, Religionen und Kulturen geweckt und gefördert wurde. Die Familie verstand Deutsch und las auch deutsche Literatur. Trotz strenger Zensur besorgte der freisinnige Vater, die Respektsperson der Familie, insgeheim ausländische Zeitungen, die gelesen und besprochen wurden.30 Jedes Kind konnte seinen Neigungen nachgehen und sich nach Herzenslust ausleben. »Ich erinnerte mich gestern«, schrieb Rosa Luxemburg 1907, »daß ich einmal zu Hause als Kind partout sehen wollte, wie eine Rosenknospe sich entfaltet, und stand einen ganzen Tag am Blumentopf, unverwandt die Knospe betrachtend. Natürlich rührte sie sich nicht, und ich mußte verdrossen schlafen gehen. Am anderen Morgen fand ich sie schon entfaltet. […] Noch eine Erinnerung kam plötzlich, ich weiß nicht, wie: von einem Schirm, den ich im Schnee zerbrach, und da mußte ich viel lachen.«31 Ein Kind wie jedes andere, begann Rosa Luxemburg ihr Leben froh und heiter.

In ihren Erinnerungen verklärten sich die Kindheitserlebnisse mitunter, in einem Brief an Luise Kautsky sind sie sogar zu Literatur geworden: »Damals zu Hause schlich ich mich in der frühesten Morgenstunde ans Fenster – es war ja streng verboten, vor dem Vater aufzustehen –, öffnete es leise und spähte hinaus in den großen Hof. Da war freilich nicht viel zu sehen. Alles schlief noch, eine Katze strich auf weichen Sohlen über den Hof, ein paar Spatzen balgten sich mit frechem Gezwitscher, und der lange Antoni in seinem kurzen Schafpelz, den er Sommer und Winter trug, stand an der Pumpe, beide Hände und Kinn auf den Stiel seines Besens gestützt, tiefes Nachdenken im verschlafenen, ungewaschenen Gesicht. Dieser Antoni war nämlich ein Mensch von höheren Neigungen. Jeden Abend nach Torschluß saß er im Hausflur auf seiner Schlafbank und buchstabierte laut im Zwielicht der Laterne die offiziellen ›Polizeinachrichten‹, daß es sich im ganzen Hause wie eine dumpfe Litanei anhörte. Und dabei leitete ihn nur das reine Interesse für Literatur, denn er verstand kein Wort und liebte nur die Buchstaben an und für sich. Trotzdem war er nicht leicht zu befriedigen. Und als ich ihm einmal auf seine Bitte um Lektüre Lubbocks ›Anfänge der Zivilisation‹ gab, die ich gerade als mein erstes ›ernstes‹ Buch mit heißer Mühe durchgenommen hatte, da retournierte er es mir nach zwei Tagen mit der Erklärung, das Buch sei ›nichts wert‹. Ich meinerseits bin erst mehrere Jahre später dahintergekommen, wie recht Antoni hatte. – Also Antoni stand immer erst einige Zeit in tiefes Grübeln versunken, aus dem er unvermittelt zu einem erschütternden, krachenden, weithallenden Gähnen ausholte, und dieses befreiende Gähnen bedeutete jedesmal: Nun geht’s an die Arbeit. Ich höre jetzt noch den schlürfenden, klatschenden Ton, womit Antoni seinen nassen, schiefgedrückten Besen über die Pflastersteine führte und dabei, immer ästhetisch, am Rande sorgfältig zierliche, ebenmäßige Bogen beschrieb, die sich wie eine Brüsseler Spitzenborte ausnehmen mochten. Sein Hofkehren, das war ein Dichten. Und das war auch der schönste Augenblick, bevor noch das öde, lärmende, klopfende, hämmernde Leben der großen Mietskaserne erwachte. Es lag eine weihevolle Stille der Morgenstunde über der Trivialität des Pflasters; oben in den Fensterscheiben glitzerte das Frühgold der jungen Sonne, und ganz oben schwammen rosig angehauchte duftige Wölklein, bevor sie im grauen Großstadthimmel zerflossen. Damals glaubte ich fest, daß das ›Leben‹, das ›richtige‹ Leben, irgendwo weit ist, dort über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelchen Dächern. Am Ende war alles ein frevelhaftes Spiel mit mir, und das wirkliche Leben ist gerade dort im Hofe geblieben, wo wir mit Antoni die ›Anfänge der Zivilisation‹ zum ersten Male lasen?«32

Ich möchte alle Leiden …den Satten auf ihr Gewissen laden

Als Nesthäkchen wurde Rosa von ihren Geschwistern verwöhnt, besonders als sie mit fünf Jahren von einem Hüftleiden befallen und in Gips gelegt wurde. Etwa ein Jahr mußte sie die meiste Zeit im Bett oder im Zimmer verbringen, und sie behielt zeitlebens einen schleppenden Gang zurück. Aus dieser für ein lebhaftes und aufgewecktes Kind fast unerträglichen Situation machte sie das Beste: Sie lernte mit fünf Jahren lesen und schreiben, unterstützt von ihrer Mutter, die wahrscheinlich bereits damals spürte, was sie später einmal gesagt haben soll: »Róża ist klüger als wir alle zusammen.«33 Bücherlesen und Briefeschreiben waren seither Leidenschaften, mit denen Rosa Luxemburg Freunde gewann, manche Menschen aber auch quälen konnte. Ihre Familie überhäufte sie mit Briefen und erwartete ungeduldig Antworten. »Kaum vermochte sie selbst zu lesen«, wird berichtet, »als sie auch schon begann, es die Hausmädchen zu lehren, die damals in Russisch-Polen fast alle Analphabeten waren. […] Ein rastloser Tätigkeitsdrang beseelte sie, und zu jeder Beschäftigung stellte sie sich sehr geschickt an, ob sie nun Puppenkleider nähte, Handarbeiten machte oder neben dem Schreiben und Lesen ihrer vor allem geliebten Zeichenkunst oblag. […] Mit sechs Jahren las und schrieb sie geläufig und war Leserin und fleißige Mitarbeiterin einer Kinderzeitung. Nicht viel später versuchte sie sich im Übersetzen von russischen Gedichten ins Polnische und dichtete selbst in dieser Sprache.«34 Den »Pan Tadeusz«, das polnische Nationalepos von Adam Mickiewicz, konnte Rosa Luxemburg bereits als Kind deklamieren.

Bis zum 9. Lebensjahr wurde Rosa Luxemburg zu Hause unterrichtet. Ab 1880 besuchte sie in Warschau das II. Mädchengymnasium. Das war eine gewisse Auszeichnung, da die höheren staatlichen Lehranstalten vorwiegend Kindern aus russischen Beamten- und Offiziersfamilien vorbehalten waren. Für Angehörige polnischer und jüdischer Familien bestand ein besonders enger numerus clausus. Das Bildungswesen beherrschten antisemitische und antipolnische Reglements zugunsten der Zöglinge der Teilungsmacht Rußland, die nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1863/64 durch weitere Russifizierungsmaßnahmen verschärft wurden. Die Unterrichts- und Behördensprache war Russisch. Auch untereinander durften die Schülerinnen nicht polnisch sprechen. Für den Religionsunterricht wurden sie nach Bekenntnissen in römisch-katholische, russisch-orthodoxe und jüdische Gruppen getrennt. Die wenigen jüdischen Schülerinnen erfuhren dadurch eine zusätzlich demütigende Isolierung.

Ein Gedicht, das Rosa Luxemburg in polnischer Sprache verfaßt hatte, ging dennoch unter ihren Mitschülerinnen und auch in anderen Lehranstalten von Hand zu Hand und rief heiße Dispute hervor. Es wurde von ihrer Mitschülerin Jadwiga Sikorska wie auch von deren Schwester Helena aufbewahrt.

Für diejenigen fordere ich Strafe,

die heute satt sind, die in Wollust leben,

die nicht wissen, nicht fühlen,

unter welchen Qualen Millionen ihr Brot verdienen.

Ich empfinde Schmerzen beim Anblick eines frohen Gesichtes,

eines frohen Lachens,

weil diejenigen, die der Armut und

der Unwissenheit preisgegeben, weder Lachen noch Frohsinn kennen.

Ich möchte alle Leiden, alle verborgenen, bitteren Tränen

den Satten auf ihr Gewissen laden,

ihnen alles mit schrecklicher Rache heimzahlen.35

Als 1884 ein Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm I. in Warschau bevorstand, schrieb sie in polnischer Sprache ein Spottgedicht:

Zu Kaiser Wilhelms Ankunft.

Endlich werden wir Dich sehen, Mächtiger des Westens,

Das heißt, solltest Du in des Sachsen Garten kommen,

Denn ich besuche Euere Höfe nicht.

Es liegt mir nämlich an Eueren Ehrenbezeigungen gar nichts.

Doch wissen möchte ich, was Ihr dort schwatzt.

Mit dem »Unserigen« sollst Du ja »per Du« sein.

In bezug auf Politik bin ich noch ein dummes Schaf,

Drum will ich überhaupt mit Dir nicht viel reden.

Nur eines möchte ich Dir, lieber Wilhelm, sagen:

Sage Deinem listigen Lumpen Bismarck,

Tue es für Europa, Kaiser des Westens,

Befiehl ihm, daß er die Friedenshose nicht zuschanden macht.36

Der vielseitig begabten Róża fiel das Lernen leicht. Während der gesamten Schulzeit war sie stets die beste Schülerin. »Doch wurde ihr trotzdem nach der Absolvierung die ihr dafür gebührende goldene Medaille nicht zuerkannt, weil ihr Oppositionsgeist die Direktion gegen sie aufgebracht hatte.«37 Über einen dieser »Skandale«, der sich zwischen Rosa Luxemburg und dem Lehrer für russische Literatur und Sprache, Afanasjew, ereignet hatte, berichtete Jadwiga Sikorska: Rosa »schrieb eine sehr gute Übung, wahrlich von einem ungewöhnlich geistigem Flug der Gedanken. Diese Übung bestand aus drei, wörtlich drei, Versen, während uns das diktierte Schema eine ganze Heftseite umfaßte! Man muß Afanasjew damals gesehen haben, als er diese Übung laut in der Klasse vorlas, um die kühne und aufsässige Schülerin zu rügen, die gewagt hatte, selbständig zu denken und damit ihren Mitschülerinnen ein sehr schlechtes Beispiel gab, und gleichzeitig ihren Lehrer mißachtete. Er brüllte vom Katheder, war wütend. Auf seiner Stirn zeigten sich wie gewöhnlich grimmige Falten. Er verlor einfach die Fassung! Und das um so mehr, als die Delinquentin sich nicht aus der Fassung bringen ließ. Sie verteidigte ihre Thesen ganz ruhig, sogar mit einem Lächeln, und antwortete mit treffenden Argumenten, die jedoch das Gehirn Afanasjews überhaupt nicht erreichten. Wir alle haben dagegen unsere Bewunderung für diese Übung nicht verhehlt.«38

Da Rosalie Luxenburg mit sehr guten Leistungen im Allgemeinen den vollständigen Kursus absolviert hat, so hat der pädagogische Rat bestimmt, ihr dieses, mit den nötigen Stempeln und Unterschriften versehene Attest zu gewähren.«39

Nach den Erinnerungen von Julian Marchlewski bekam Rosa Luxemburg die goldene Medaille nicht, weil die Vorsteherin des Warschauer Mädchengymnasiums ihre »politische Zuverlässigkeit« bezweifelte. Rosa Luxemburg gehörte einem Kreis von Gymnasiasten und Studenten an, in dem »man von der Partei ›Proletariat‹ herausgegebene Broschüren las und von der Tätigkeit unter den Arbeitern schwärmte«40. Die Sozialrevolutionäre Partei »Proletariat«, bekannt geworden als »I. Proletariat« oder »Großes Proletariat«, war im Herbst 1882 in Warschau unter Leitung Ludwik Waryńskis gegründet worden. Ihr Programm war marxistisch orientiert; es rief zum Kampf gegen die Bourgeoisie und den Zarismus auf und ging davon aus, daß dieser Kampf um die Befreiung in engem Bündnis mit der Arbeiterklasse anderer Länder, insbesondere Rußlands, geführt werden mußte. Die Partei gab in Polen illegal die Zeitschrift »Proletariat« heraus, in der Schweiz erschienen »Przedświt« (Morgenröte) und »Walka Klas« (Klassenkampf), die ins Land geschmuggelt und illegal vertrieben wurden. Die Partei wurde durch eine Verhaftungswelle in den Jahren 1883/84 geschwächt und 1886 von den zaristischen Behörden endgültig zerschlagen. Vier Funktionäre wurden im Januar 1886 auf den Festungswällen der Warschauer Zitadelle gehängt, viele Verhaftete zu langjähriger Zwangsarbeit oder Verbannung verurteilt, die mancher von ihnen nicht überlebte. Auch Ludwik Waryński wurde 1883 verhaftet und starb 1889 im Kerker.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten Jugendliche in fast allen größeren Lehranstalten Warschaus illegale Zirkel, die gegen die Russifizierung des Schulwesens und andere Repressalien gegen die polnische Bevölkerung opponierten. In diesen Zirkeln eignete man sich Wissen über die nationale Geschichte an, las verbotene Werke polnischer Dichter und auch sozialistische Schriften. »Man las zu viel […], und vor allem las man viel zu chaotisch, ohne System, so daß man nicht alles zu ›verdauen‹ imstande war«41, erinnerte sich Adolf Warski, der zusammen mit Julian Marchlewski einem solchen Zirkel angehörte und wie dieser einige Jahre später zu den politischen Weggefährten Rosa Luxemburgs zählte.

Wie Julian Marchlewski und Adolf Warski gewann auch Rosa Luxemburg durch das Studium verbotener Literatur erste Anregungen zum kritischen Nachdenken über die politisch und sozial unerträglichen Zustände in ihrer Heimat, in der in den achtziger Jahren erneut Judenpogrome furchtbare Angst und Schrecken verbreiteten. Mit zehn Jahren hatte sie Weihnachten 1881 das erste Mal einen Pogrom erlebt, der tagelang im Warschauer Ghetto wütete, viele Juden wurden verletzt und getötet, Tausende Familien erlitten Verluste und wurden gedemütigt. Auch die Zlotastraße, in der die Luxemburgs wohnten, wurde von einer großen schreienden und plündernden Horde heimgesucht.

Dieses schreckliche Kindheitserlebnis vergrub Rosa Luxemburg tief in sich; sie verdrängte es vermutlich, indem sie sich schon in jungen Jahren stolz und ehrgeizig vornahm, sich für ein Leben einzusetzen, in dem solche unmenschlichen Exzesse unmöglich sein sollten. Selbstbewußt schrieb sie in einer Widmung für eine Schulfreundin: »Mein Ideal ist eine solche Gesellschaftsordnung, in der es mir vergönnt sein wird, alle zu lieben. Im Streben danach und im Namen dieses Ideals werde ich vielleicht einmal imstande sein zu hassen. Du wirst das nie können und bist ganz umsonst so früh zur Welt gekommen.«42

Ob sich Rosa Luxemburg schon während ihrer Gymnasialzeit oder erst nach Abschluß der Schule einem illegalen Zirkel anschloß, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Verbürgt ist, daß sie zu einem Kreis von Gymnasiasten, Studenten und Arbeitern gehörte, der der Gruppe Kazimierz Szczepańskis und Ludwik Kulczyckis an der Handelsschule von Kronenberg nahestand.43 Diese wiederum besaß Kontakte zu einigen nach Genf emigrierten Mitgliedern der Partei »Proletariat I« und besorgte sich von dort sozialistische Schriften.

Um die Jahreswende 1887/88 versuchten junge polnische Sozialisten wie Szczepański und Kulczycki, die Partei »Proletariat« wieder aufzubauen. Nach der Rückkehr von Ludwik Kulczycki aus Genf im Januar 1888 vereinte sich der »Kronenberger« Intelligenzzirkel mit einem von Adam Dabrowski, einem Mitstreiter Ludwik Waryńskis, geleiteten Arbeiterzirkel, dem Julian Marchlewski angehörte. Damit entstand der Grundstein für eine neue sozialistische Organisation, die sich wie ihre Vorgängerin »Proletariat« nannte und als »II. Proletariat« in die Geschichte eingegangen ist. Zum Entstehen dieser neuen Partei trug auch eine weitere Gruppe Warschauer Arbeiter bei, die als Arbeiterkomitee vom Dachdecker Marcin Kasprzak geleitet wurde, der aus dem Posener Gefängnis geflohen und konspirativ nach Warschau gekommen war.

Über die Orientierung der neuen Partei gab es natürlich Auseinandersetzungen. Kulczycki strebte eine illegale terroristische Kampforganisation ähnlich der »Narodnaja Wolja« an, während Kasprzak den individuellen Terror ablehnte und eine Massenorganisation etwa nach dem Vorbild der deutschen Sozialdemokratie schaffen wollte, von der er in Posen beeinflußt worden war. Zudem standen sich extremer Nationalismus und proletarischer Internationalismus, wie ihn Kasprzak verfocht, gegenüber.

Rosa Luxemburg fühlte sich wie Adolf Warski und Julian Marchlewski zur Gruppe um Marcin Kasprzak hingezogen. Die Partei wuchs und gewann dank reger Agitation an Einfluß. 1888 organisierte sie einige Streiks in Warschau. Die zaristische Geheimpolizei kam ihr jedoch bald auf die Spur. Im Herbst 1888 setzten Verhaftungen ein, denen bis zum Dezember ca. 40 Mitglieder der Partei »II. Proletariat«, darunter Ludwik Kulczycki und Kazimierz Szczepański, zum Opfer fielen. Die Verhaftungs- und Verfolgungswelle bedrohte auch Rosa Luxemburg. Sie mußte sich eine gewisse Zeit in der Provinz verstecken. »Von dort ging sie nach einer schweren Lungenentzündung im Frühjahr 1889 mit Hilfe Kasprzaks […] illegal über die Grenze.«44

Der Weg in die politische Emigration fiel ihr gewiß nicht leicht, war jedoch ein entscheidender Schritt zu ihrer Emanzipation als Frau. Wie ihre älteren Brüder, die höhere Schulen absolvierten, vor allem wie Józef, der Medizin studierte, wollte auch sie einen akademischen Beruf ausüben und ein selbstbestimmtes Leben führen. Während an den Universitäten ihres Landes keine Frauen zugelassen waren, bot sich in Westeuropa die Chance, ein Studium aufzunehmen. Um diese wahrnehmen zu können, hatte sie sich bereits am 15. März 1888 einen polnischen Paß ausstellen lassen.

Aufbruch1889–1897

Ich bin wirklich schon ganz erwachsen

Rosa Luxemburg wählte als Emigrationsland die Schweiz, eine föderative demokratische Republik mit voller Glaubens- und Kultusfreiheit. Wie sie dorthin gelangte, ist nicht belegt. Am häufigsten taucht in der Literatur die Version aus Paul Frölichs Biographie auf. Danach organisierte Marcin Kasprzak die Flucht. Ein katholischer Pfarrer soll Rosa Luxemburg in einem Bauernwagen, im Stroh versteckt, über die russischdeutsche Grenze geschmuggelt haben, nachdem Kasprzak ihm versicherte, das jüdische Mädchen wolle ohne Wissen ihrer Angehörigen im Ausland Christin werden.1

Am 18. Februar 1889 meldete sich Rosa Luxemburg in Oberstrass, das 1893 von Zürich eingemeindet wurde, an und bezog ein Zimmer in der Nelkenstraße 5. In den folgenden Jahren wechselte sie öfter das Quartier, von 1892 bis 1896 wohnte sie in der Gemeinde Hottingen, u. a. in der Plattenstraße, 1896 zog sie wieder zurück nach Oberstrass, dieses Mal in die Universitätsstraße 77.2

Zürich, an der Limmat und an dem sich weit ins Land erstreckenden See gelegen, umgeben von bewaldeten Höhen und imposanten Bergketten, hatte Ende des 19. Jahrhunderts 115000 Einwohner. Neben den etwa 30000 Ausländern, darunter 22000 Deutsche, gaben mehr als 500 Professoren und Studenten und zahlreiche Künstler aus verschiedenen Ländern der bürgerlichen Idylle ein besonderes Flair. Poeten und Literaten wie Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller, Ricarda Huch oder der weithin bekannte Historiker Jacob Burckhardt belebten die Kulturszene, die sich sowohl eidgenössisch eng als auch kosmopolitisch weit präsentierte. Theater, Museen, Bibliotheken, Lesehallen und Klubs boten vielfältige Möglichkeiten für erbaulichen und kritischen Kunstgenuß. Vom »heiteren, gottbegnadeten Zürich« schrieb Rosa Luxemburg später in bester Erinnerung an dort lebende Freunde.3

Die »Neue Zürcher Zeitung« mit Gustav Vogt als Chefredakteur galt als »vornehmstes Organ der deutschen Schweiz«4. Ihr Pendant war die »Arbeiterstimme« der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Viele emigrierte deutsche Sozialdemokraten fanden bei den Züricher Genossen solidarische Unterstützung. Das Vereins- und Kosthaus »Eintracht« am Neumarkt5 war das Zentrum der gesellschaftlichen, kulturellen und karitativen Aktivitäten des gleichnamigen Arbeiter-Bildungsvereins.

In diesem Sozialistenklub gab es eine gut ausgestattete Bibliothek, einen Lese- und einen Hörsaal. Hier begegnete Rosa Luxemburg deutschen Sozialdemokraten. Robert Seidel und Frau Mathilde, Carl und Olympia Lübeck mit Sohn Gustav oder Jakob Heusser, der Geschäftsführer der Buchhandlung des Schweizerischen Grütlivereins, zählten bald zu ihren nahen Bekannten und Freunden. Robert Seidel war bereits 1870 aus Sachsen in die Schweiz übergesiedelt und wurde 1890 Redakteur der »Arbeiterstimme«.

Zürich war ein Sammelpunkt für politische Emigranten. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten hier zahlreiche russische Revolutionäre. Sie waren in Rußland schon des öfteren eingekerkert oder verbannt gewesen und wollten nun von der Schweiz aus den Sturz des Zarenregimes gründlich vorbereiten. Die Zentralfigur der russischen Kolonie in Zürich war Pawel Axelrod. 1850 geboren, hatte er in den 70er Jahren an der Volkstümlerbewegung teilgenommen, zählte 1883 zu den Mitbegründern der marxistischen Gruppe »Befreiung der Arbeit«, an deren Spitze Georgi Plechanow stand. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich Axelrod u. a. mit der Herstellung von Kefir, der später vom Eidgenossenschaftlichen Amt für geistiges Eigentum als »Axelrods Joghurt« patentiert wurde. Zu Pawel Axelrod und der russischen Kolonie fand Rosa Luxemburg rasch Kontakt.

In der Bibliothek des Polenmuseums im Schloß Rapperswil bei Zürich, die eine umfangreiche Sammlung polnischen Schriftguts besaß, traf Rosa Luxemburg gewiß auf Landsleute. Bereits vor ihr hatten z. B. Zofia Daszyńska und Mieczyslaw Hartmann in Zürich Zuflucht gesucht. Seit 1887 existierte ein polnischer Studentenverein.

Zürich zerfiel damals »in zwei ganz scharf geschiedene Teile: die alte Stadt liegt am See, und die Universität mit Studenten- und Professorenviertel oben am Berge. Und beide haben sehr wenig Gemeinsames. Unten am See wohnt der Züricher Groß- und Kleinhandel, hält sich der Schweizer Patrizier reich und ablehnend in schönen, alten Häusern; oben am Berg wohnt ein buntes internationales Völkchen in Mietshäusern, und selbst der Verkehr der Universitätsprofessoren – sofern sie nicht eingesessene Schweizer sind – geht selten in das untere Zürich hinab, […] in Zürich-Oberstrass wohnt ja in fast jedem Haus ein studierendes Männlein oder Fräulein, wo nicht gar eine ganze Colonie, und viele der Zimmervermieter hier wie anderswo lassen – solange die Einwohner nur zahlen und nicht alles auf den Kopf stellen – fünf und sieben und sogar neun gerade sein.«5

Die Universität und das Polytechnikum waren besondere Anziehungspunkte, weil sie Männern und Frauen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrem Heimatland oder ihrer politischen Bindung günstige Ausbildungsmöglichkeiten boten. Hier lehrten international ausgewiesene Professoren der Natur-, Staats- und Sozialwissenschaften, gediehen in einem liberalen Klima Innovationen für Kultur, Wirtschaft und Technik.

Am 19. Oktober 1889 schrieb sich Rosa Luxemburg an der Universität zum Studium der Naturwissenschaften ein. Im Wintersemester 1889/90 belegte sie Vorlesungen in Allgemeiner Zoologie und einen zoologisch-mikroskopischen Übungskurs. Sie besaß von klein auf eine Vorliebe für Pflanzen und Tiere.

Die gerade achtzehnjährige war vielseitig begabt und interessiert und stillte mit Feuereifer ihren ungestümen Bildungsdrang. Neben einem umfangreichen Allgemeinwissen im Gymnasium hatte sie in der Familie und in illegalen Zirkeln Kenntnisse über die Geschichte und die Literatur des polnischen Volkes erworben. Besonders liebte sie die Dichtung von Adam Mieckiewcz und die Musik von Fryderyk Chopin. Sie beherrschte mehrere Sprachen und war mit der Geschichte und Kultur jener Länder vertraut, in denen russisch, deutsch, französisch und englisch gesprochen wurde. Den erhalten gebliebenen Quellen zufolge schrieb sie perfekt polnisch, russisch und französisch, ihr Deutsch war fast fehlerfrei. Auch der englischen Sprache war sie mächtig.

Rosa Luxemburg zählte sich mit Witz und Humor zu den kleinen Leuten, wenngleich ihr die etwas unproportionierte Gestalt manchen Kummer bereitete. Auch engste Freundinnen schilderten sie als klein. Fürs erste falle sie höchstens durch ihre etwas hinkende Gangart auf, die sie in der Öffentlichkeit krampfhaft zu vermeiden suchte, schrieb Henriette Roland Holst.6 Sie wäre unscheinbar gewesen, meint Luise Kautsky, »hätten nicht ihre schönen, leuchtenden Augen, das feine Oval des Gesichts, der schöne Teint und das reiche dunkle Haar sowie hauptsächlich der Ausdruck von Intelligenz sie verschönt«7. Sie hatte einen unverhältnismäßig großen Kopf und ein »typisch jüdisches Gesicht mit einer dicken Nase«, bemerkte der jüdische Sozialistenführer John Mill; »auf den ersten Blick machte sie keinen günstigen Eindruck, aber man brauchte nur kurze Zeit bei ihr zu sein, da sah man schon, wieviel Leben und Energie in der Frau steckte, wie klug und scharfsinnig sie war, auf welch hohem geistigen Niveau sie sich bewegte«8. Dank ihres Intellekts, ihres Charmes und ihres Temperaments nahm sie fast alle ihre Mitmenschen schlagartig für sich ein.

Rosa Luxemburg dürfte es nicht schwergefallen sein, sich im Kreis der Studenten und Emigranten in Zürich einzuleben. Im Oktober 1889 zog sie in der Nelkenstraße von der Nr. 5 in die Nr. 12, zur Familie Lübeck, wo sie sich schnell heimisch fühlte. Carl Lübeck war als Redakteur u. a. an Dr. Johann Jacobys »Zukunft« tätig gewesen und dann in die Sozialdemokratie eingetreten. Er hatte Deutschland 1872 während des Leipziger Hochverratsprozesses gegen die Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei August Bebel und Wilhelm Liebknecht sowie den Redakteur des »Volksstaats« Adolf Hepner verlassen müssen, da er bei seinem angegriffenen Gesundheitszustand eine Inhaftierung nicht überstanden hätte. In der Schweiz war er als freier Schriftsteller und Journalist für verschiedene Zeitungen tätig. Durch eine Lähmung an den Rollstuhl gefesselt, fiel es ihm immer schwerer, den Unterhalt für seine Familie aufzubringen. Der gute Geist des Hauses war Frau Olympia. »Ebenso fleißig und gewissenhaft als er, war sie dabei energisch, lebhaft und witzig«, erinnerte sich Karl Kautsky. »Eine leidenschaftliche, revolutionäre Polin, verstand es Frau Olympia, ihr Haus zu einem geselligen Zentrum der polnischen und darüber hinaus der slawischen Emigration in der Schweiz zu machen. Diese Gesellschaft interessierte mich und zog mich an. Es war ein sehr lebhaftes, oft lautes Treiben, das sich da im Lübeckschen Hause entwickelte, neben dem stillen Hausvater, der in eine Ecke geschoben schweigend zusah, aber durchaus nicht verdrossen, sondern stets mit einem befriedigten, gütigen Lächeln. Denn er liebte den Frohsinn in seinem Hause, und je weniger er selbst dazu beitragen konnte, um so mehr freute er sich, wenn andere durch ihre zuversichtliche Heiterkeit es erfüllten.«9 Diese Atmosphäre half Rosa Luxemburg, in der Fremde zurechtzukommen. Sie plauderte gern mit dem Hausherrn, der ihr zudem Kenntnisse über die deutsche Arbeiterbewegung vermittelte, und sie schrieb nach seinem Diktat Artikel, mit denen der Kranke Geld verdienen konnte.

Ihre Studien betrieb Rosa Luxemburg in der Universitätsbibliothek und in der Bibliothek im Vereinshaus »Eintracht«, in der Polen-Bibliothek in Rapperswil, bald auch in Genf und anderen Orten der Schweiz. Im Frühjahr 1892 weilte sie auch bereits einmal in Berlin, weil sie in der Preußischen Staatsbibliothek recherchieren wollte.

In Warschau hatte Rosa Luxemburg durch illegale Agitation und Zirkeltätigkeit erste Anhaltspunkte über die Ziele der sozialistischen Partei »II. Proletariat« erhalten. Schriften und Diskussionen regten sie an, sich intensiver für sozialistische Theoretiker und für die Organisationspraxis in der Arbeiterbewegung zu interessieren. Welche Werke von Marx und Engels sie in den ersten Studienjahren kannte und wieviel sie über die Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung wissen konnte, wird nicht selten überschätzt. Für ihren weiteren Lebensweg war entscheidend, daß sie sich gegenüber Neuem aufgeschlossen zeigte, ein Gespür für Widersprüche in der Gesellschaft besaß und willens war, sich für ihre Ideale zu engagieren.

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Im Jahre 1890 trat mit Leo Jogiches ein Mann in ihr Leben, der ihr mit dem durchdringenden Blick seiner blauen Augen, dem schmalen, markant profilierten Gesicht unter rotblondem Lockenschopf, mit seiner Selbstsicherheit und dem sinnlichen Reiz seines männlichen Charmes von der ersten Begegnung an gefiel. Leo Jogiches nahm ab Dezember 1890 seinen festen Wohnsitz in Zürich und schrieb sich im Wintersemester an der Universität für Allgemeine Botanik und Allgemeine Zoologie ein. Neugierig beobachtete Rosa Luxemburg den vier Jahre älteren interessanten Mann, der Russisch sprach, darauf bedacht war, sich sehr präzis auszudrücken, in Gesprächen aber lieber zuhörte, seine Partner musterte und seltener durch besondere Lebhaftigkeit fesselte. Dennoch schien er voller Tatendrang und bereits durch besondere Erfahrungen geprägt.

Leo Jogiches lebte in der Schweiz unter dem Pseudonym Grosowski (Grozowski, Grosovski). Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie und hatte sich bereits seit einigen Jahren darum bemüht, jüdische Arbeiter und Intellektuelle für den Kampf gegen den Zarismus zu gewinnen und zu organisieren. Aus seiner Heimatstadt Wilna mußte er fliehen, da ihm die zaristische Gendarmerie auf den Fersen war. Im Rundschreiben des Petersburger Polizeidepartements vom 11. (23.) Juni 1890 hieß es: »Der Wilnaer Bürger Lew Samuilow Jogiches, der als Angeklagter zur Untersuchung eines Staatsverbrechens herangezogen und auf höchsten Befehl am 26. April (8. Mai) 1889 mit vier Monaten Gefängnis bestraft wurde und anschließend für ein Jahr in seinem Heimatort unter öffentliche Polizeiaufsicht gestellt war, wurde zum Militärdienst einberufen und sollte zu den Truppen des Turkestaner Militärbezirks beordert werden. Am 27. Mai (8. Juni) dieses Jahres flüchtete er jedoch von dem Sammelpunkt in Wilna und konnte durch die eingeleiteten Maßnahmen bis jetzt nicht aufgegriffen werden.

Von der genannten Person verfügt das Polizeidepartement über folgende Angaben, die für die Ergreifung dienlich sein können: Jogiches, Lew Samuilow, geboren 1867 in der Stadt Wilna, jüdischen Glaubens, Bürger von Wilna, besuchte das I. Wilnaer Gymnasium, das er ohne Abschluß aus der 6. Klasse verließ; danach befaßte er sich mit der Verwaltung des Hauses und einer Mühle in der Stadt Wilna, die unteilbar ihm und seiner Mutter sowie zwei Brüdern gehören; er ist unverheiratet, seine Mutter ist Witwe und heißt Sofia Pawlowa, seine Brüder sind: Pawel, der wegen Krankheit ohne Beschäftigung ist, und Ossip, der Apothekergehilfe ist, sowie die Schwester Emilia; sie leben alle zusammen in der Stadt Wilna auf der Poplawskaja-Straße im Hause von Gordon.«10

Daß sich an seiner Seite ständig eine junge, attraktive Frau befand, beunruhigte Rosa Luxemburg. Es war Anna Gordon, die als Mitglied der sozialistischen Bewegung ebenfalls aus Wilna nach Zürich geflüchtet war und zu studieren begann. Überhaupt umgab Leo etwas Geheimnisvolles, das Rosa zunächst rätseln ließ. In ihrem Wesen, ihren Veranlagungen und speziellen Neigungen unterschieden sich beide; im leidenschaftlichen Engagement für die Befreiung von sozialer und nationaler Unterdrückung, von rassischer, religiöser und geistiger Intoleranz wiederum ähnelten sie sich. Gegensätze wie Gemeinsamkeiten sorgten dafür, sich gegenseitig im Auge zu behalten. Es dauerte nicht lange, und Rosa Luxemburg war in den stattlichen, selbstbewußten und klugen Mann verliebt. Auch Leo Jogiches fing bald Feuer für sie. Durch seine weit günstigere finanzielle Situation erleichterte er ihr das studentische Leben, da sie von zu Hause kaum unterstützt werden konnte.

Er war der erste, der Rosa Luxemburg auf ganz natürliche Weise politische Erfahrungen vermittelte, ohne wie die älteren Emigranten Erlebtes legendär zu überhöhen oder belehrend zu verklären. Leo Jogiches gab ihr auch früh einen Begriff von der Kunst und den Gefahren der Konspiration, die er dank seines Organisationstalents schon in jungen Jahren meisterte. Es faszinierte sie, wenn er berichtete, wie man mit Geheimschrift und unsichtbarer Tinte umgeht, Pässe fälscht, Streiks organisiert, den Druck und Vertrieb von Agitationsmaterialien bewerkstelligt, Literatur und Leute über die Grenze schmuggelt, Menschen im Untergrund aufmuntert, wie es gelingen kann, aus der Armee oder aus Gefängnissen zu fliehen, und was es im Ernstfall heißt, schweigen zu können bzw. zu müssen. Von vornherein bestand er darauf, auch ihre Liebesbeziehungen geheimzuhalten. Rosa Luxemburg ging darauf ein und spielte mit; bis Ende der 90er Jahre betonte sie gegenüber ihren Angehörigen und Freunden stets, völlig allein und selbständig zu leben. Vielleicht war sie zunächst froh, Vater und Mutter nicht begreiflich machen zu müssen, wider alle Konventionen eine Lebensgemeinschaft ohne Trauschein zu führen. Aber die Verschwiegenheit beschwor mit den Jahren auch manche Unannehmlichkeit und manchen Konflikt herauf.

Das erste Mal verliebt zu sein und innig geliebt zu werden machte Rosa so glücklich, daß sie Nadina und Boris Kritschewski aus Genf übermütig mit »kleine Freunde« anschrieb. Sie konnte sich sofort deren boshaftes Lachen vorstellen, denn die beiden älteren Freunde waren größer als sie, und beteuerte, sie sei »wirklich schon ganz erwachsen« und »stolz darauf«.11 Dieser Jubel entsprang dem Lebensrausch der Liebe, der sie im Sommer 1891 beglückte, als sie sich mit Leo – fernab von allen Bekannten – in Genf aufhielt. Die Erinnerung an jene herrliche Zeit ließ sie auch später immer wieder besonders für den Genfer See und seine Gestade schwärmen. Wie Balsam gösse sich hier jedesmal die Luft und Ruhe und Heiterkeit in ihre Seele.12

»Über Genf im allgemeinen werde ich Ihnen nicht schreiben«, bemerkte Rosa Luxemburg in ihrem Brief an die Kritschewskis. »Sie kennen es selbst. Mir gefällt es 1. als eine schöne Stadt von europäischem Aussehen, 2. durch das Fehlen von etwas in der Art der Oberstrass