Schritte in der Nacht - Anny von Panhuys - E-Book

Schritte in der Nacht E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Die alte Komtesse Franziska von Wergenheim ist nun zweiundneunzig Jahre alt, aber noch immer sehr rüstig. Nur Schlafprobleme hat sie. Immer wieder hört sie nachts jene Schritte in der Nacht, die angeblich von einer Spukgestalt stammen: von Margarete Karsten nämlich, der unglücklichen Mörderin des Erbprinzen Otto, die durch Henkershand sterben musste und nun keine Ruhe findet. Außerdem belastet die greise Komtesse, dass das alte herzogliche Schloss Wernersruhe an einen Autofabrikanten verkauft worden ist und in unmittelbarer Nähe nun eine geschäftige Autofabrik entstehen soll – Sinnbild der neuen Zeit. Ihre Großnichte, die junge Gisela von Wergenheim, die mit der alten Komtesse Franziska zusammenlebt und sie pflegt, hat wieder ganz andere Sorgen: Das Vermögen der beiden Frauen ist stark geschrumpft, und sie würde gern eine Bürostelle annehmen, um etwas dazuzuverdienen, das aber will die adelsstolze alte Komtesse auf keinen Fall zulassen. Doch als Franziska von Wergenheim plötzlich stirbt und Gisela in der Zeitung auf eine Annonce stößt, die wie auf sie zugeschnitten scheint – "Gesucht als Sekretärin einer Autofabrik junge Schreibmaschinendame, die französisch und englisch korrespondieren kann und etwas von der Buchführung versteht" –, nimmt sie die Stelle an und arbeitet fortan für den Autofabrikanten im Schloss Wernersruhe, Herbert Willmann, und die beiden kommen sich auch menschlich näher. Aber auch Herberts Stiefbruder, der Arzt Heinz Grunhoff hat sich unsterblich in sie verliebt. Da stirbt Herbert Willmann unter geheimnisvollen Umständen und Gisela wird gar des Mordes verdächtigt ... Ein unterhaltsam-packender Panhuys aus der Welt des untergehenden Adels in einer neuen, bürgerlichen Zeit.-

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Anny von Panhuys

Schritte in der Nacht

Roman

Saga

Schritte in der Nacht

© 1952 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570272

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

Die alte Komtesse Franziska von Wergenheim pflegte sich früh zur Ruhe zu begeben. Um Mitternacht wachte sie meist schon aus dem ersten Schlafe auf. Die Klosterkirche schlug zwölfmal. Es klang wie ein heiseres misslauniges Belfern.

Nachdem der letzte Ton nörgelnd verklungen, war alles wieder totenstill. Die Häuschen in der Liliengasse brauchten sich nie über Unruhe zu beklagen, weder bei Tag noch bei Nacht, es herrschte in ihr immer Schweigen. Ein lauter Kinderruf am Tag fiel auf, und wenn ein Auto hindurchfuhr, wirkte es wie Anachronismus. Ein Auto mit seinen modernen Geräuschen passte nicht in die Liliengasse, die hinter dem alten Kloster lag, und in der es nur ein- und zweistöckige Villen gab, von denen keine jünger war als hundert Jahre.

Die kleine Stadt Wernersruhe im Odenwald war Anno dazumal Residenz gewesen, und in der Liliengasse hatten die Hofschranzen gewohnt. Es roch noch heute hier nach Vornehmheit.

Unweit der Liliengasse befand sich das alte herzogliche Schloss, das letzthin von der Stadt an einen Autofabrikanten verkauft worden war, und es hiess, er unterhandle weiter mit der Stadt, weil er auch das Kloster anzukaufen beabsichtige. Es sollte Autofabrik werden.

Ueber diese Neuigkeit war die ganze Liliengasse in Aufregung geraten. Alle die alten Beamten und Militärs, alle die alten Damen mit vornehmen Namen und Auftreten, alle, in deren Adern noch Blut von denen war, die hier einmal zum Hofe gehört hatten.

Am meisten hatte die Nachricht auf die alte Komtesse von Wergenheim gewirkt. Sie dachte tagsüber kaum noch an etwas anderes, und der Gedanke, in dem Kloster von Sankta Anna würde nun in kurzem vielleicht das Gelärme einer grossen Fabrik laut werden, schien ihr schrecklicher als der Weltuntergang. Wenn sie nachts aufwachte, war das ihr erster Gedanke.

Sie hob sich ein wenig in den Kissen und horchte. Draussen über das alte Katzenkopfpflaster ging es: klapp! klapp! Schnelle Frauenfüsse schienen durch die Liliengasse zu eilen.

Klapp! Klapp! klang es immer lauter, und die alte Komtesse flüsterte: Man meint, sie wäre es wirklich! Ein Schauer glitt über ihren kleinen schmalen Körper. Sie fror plötzlich und zog die Bettdecke bis über die Augen.

Sie wollte das Klapp! Klapp! nicht mehr hören, es hatte etwas Unheimliches, etwas Beängstigendes für sie.

Sie schlief mit Herzklopfen ein.

Punkt acht Uhr im Sommer und Winter wurde in der Villa Wergenheim gefrühstückt. Gisela von Wergenheim, im einfachen blau und weiss gestreiften Kattunkleid, stand am Frühstückstisch und legte die Löffelchen zurecht, schob die silberne Gebäckschale ein wenig anders und blickte nach der Tür. Es war eben acht, und mit dem letzten Glockenschlage trat Tante Franziska gewöhnlich ein. Heute aber verstrichen noch zehn Minuten, ehe die Erwartete kam.

Gisela, die ihre Bekannten Gisa nannten, wollte schon nach der Erwarteten sehen, als die Tür aufging und die alte Dame eintrat. Sie nahm Gisas allmorgendlichen Handkuss entgegen und setzte sich. Wie ein Gnomenweibchen sah die Komtesse aus, und das lange graue Kleid erhöhte noch die Aehnlichkeit. Sie hatte ein schmales, vornehmes Gesicht und lebhafte dunkle Augen; aber das sehr dünne Haar unter dem Häubchen hatte schon einen leicht grünlichen Schimmer. Die seltene Patina, die weisses Haar bei ganz alten Menschen manchmal annimmt.

Franziska Wergenheim war zweiundneunzig Jahre alt und die Urgrosstante von Gisa, die weiter keinen Menschen mehr auf der Welt besass. Aber das Gnomenweibchen hatte noch ein gutes Gehör, konnte gut sehen und besass ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

Gisa schenkte der alten Dame den Kaffee ein, fügte Milch hinzu und Zucker, legte ihr das weiche Gebäck zurecht und sagte zärtlich:

„Du hast dich heute ein wenig verspätet, Tantchen. Hoffentlich hast du gut geschlafen?“

Franziska Wergenheim zuckte die Achseln.

„Nicht so besonders, Kind, ich habe unserer Lina erst um ein Viertel vor acht geklingelt, dass sie mir beim Ankleiden helfen sollte.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Ach, Gisa, nachts sieht man alles anders an als am Tage, und ich habe mich heute nacht ein wenig gefürchtet. Ich wachte um Mitternacht auf, und bald darauf vernahm ich laute Schritte in unserer Gasse. Es war, als wenn hochhackige Schuhchen über das Pflaster liefen. Und da musste ich an die alte Geschichte denken, die an der Liliengasse hängt, und ich redete mir tatsächlich ein, die Schritte in der Nacht ständen im Zusammenhang mit der Mörderin des Erbprinzen Otto, die ihn erwürgte und dafür durch Henkershand sterben musste. Sie soll doch oft nächtlich hier geistern, und immer wieder wird von Zeit zu Zeit behauptet, sie liefe nach Mitternacht durch die Gasse; man höre ihre hohen Holzhacken aufklappern, und viele wollen die Unselige auch schon gesehen haben. Ich glaube natürlich am hellen lichten Tag nicht an dergleichen; aber nachts erscheint einem alles möglich.“ Sie lächelte ein wenig. „Sagen und Spuk und Geister gewinnen um die Mitternachtsstunde herum sehr an Glaubwürdigkeit.“

Gisas feines Gesicht war ernst.

„Es war ein Mädchen aus dem Volke, die Tochter eines Schlossdieners, mit der Erbprinz Otto eine Liebschaft unterhielt, und die er dann rücksichtslos beiseite schob, als er ihrer überdrüssig geworden und sich einer anderen zuwandte; nicht wahr, Tantchen?“

Die alte Dame nickte.

„Ja, Gisa, aber das Mädel hätte sich doch sagen müssen, dass der Erbprinz ihr nicht treu bleiben konnte, ganz abgesehen davon, dass es seiner Natur nicht lag. Meine Grossmutter hat ihn noch gekannt, und gerade vor unserem Hause ist das Grässliche passiert. Das Mädchen hiess Magdalene Karsten und soll sehr schön gewesen sein.“ Sie hüstelte. „Aber lassen wir das Thema. Viel mehr interessiert es mich, darüber zu reden, ob sich das Gerücht wirklich bewahrheitet, dass Sankta Anna eine Autofabrik werden soll.“

Gisa nickte: „Soviel ich hörte, ist es sicher, Tantchen.“

„Es wäre entsetzlich! Es wäre katastrophal!“ erregte sich die alte Dame.

Gisa erwiderte leise und beruhigend: „Wir werden uns daran gewöhnen, und dann, Tantchen, stört es vielleicht auch gar nicht so sehr, wie du fürchtest. Die sehr hohe Mauer des Klosterhofes verhütet ja, dass wir etwas von dem Fabrikbetrieb sehen werden.“

„Das ist auch der einzige Trost“, gab Franziska Wergenheim zurück.

Gisa nickte; aber sie dachte ganz anders als die alte Dame. Sie freute sich fast darauf, dass die verschlafene Liliengasse ein bisschen aufgerüttelt würde. Gisas zwanzig Jahre wehrten sich gegen die Totenstille der kleinen Strasse. Sie musste oft denken, es sei, als lebe man auf einem Friedhof. Sie sehnte sich nach dem Leben, das es fernab von diesem weltvergessenen Städtchen gab, und hätte ihr die alte Dame nicht leid getan, hätte sie sie längst gebeten: Lass mich ein Weilchen von hier fort. Ich bin jung und möchte wissen, wie es dort aussieht, wo es keine Liliengasse und kein altes Kloster gibt, wo der Odem des Lebens stärker ist und man sich das Leisesprechen wieder abgewöhnt!

Aber die Urgrosstante war zweiundneunzig Jahre und brauchte sie. Das durfte sie nicht vergessen. Und ihr Alter war keinem neuen Gedanken mehr zugänglich.

Gisa hätte so gern irgendeine Bürostelle angenommen; aber sie wagte sich mit der Bitte nicht heraus, obwohl man so nötig Geld hätte brauchen können. Das sehr zusammengeschrumpfte Vermögen der alten Dame trug nur wenige Zinsen, und letzthin hatte man schon das kleine Kapital angreifen müssen. Gisa hatte sich, um die Oede ihrer Tage auszufüllen, viel mit Sprachen beschäftigt, hatte ihre Schulbildung durch Unterricht noch vervollständigt und beherrschte das Französische, das Englische und das Italienische gründlich. Auch hatte sie heimlich Schreibmaschinenunterricht genommen und Buchführung gelernt. Ihr Vormund, Justizrat Völkert, hatte sie in ihren Wünschen hinter dem Rücken der Komtesse Franziska unterstützt. Er und Gisa waren der Meinung, es sei gut, man sorgte vor. Wenn die alte Dame einmal für immer fortgehen musste, dann könnte Gisa sich wenigstens helfen.

Nach dem Frühstück trippelte die alte Dame, wie jeden Tag, am Arm der letzten Wergenheim in den Salon, wo sie sich ans Fenster setzte und auf Vorübergehende wartete. Alle halben Stunden einmal ging jemand durch die Liliengasse; aber ihr genügte das zur Unterhaltung. Die Vorübergehenden vom Fenster aus zu sehen, schien ihr Sensation genug.

Lina, das alte Faktotum des Hauses, war in der Küche beschäftigt, und Gisa machte sich daran, das Zimmer zu säubern. Es war heute Freitag; da war das Wohnzimmer an der Reihe. Sie trug das Geschirr hinaus und rollte den Teppich zusammen. Ehe sie sich an das Klopfen des Persers machte, band sie ein altes braunes Tuch eng um den Kopf. Ein kleines goldblondes Löckchen aber liess sich nicht mit einfangen, es lag wie ein Stückchen gekräuselter Goldfranse über der reinen Stirn.

Es war fast elf Uhr geworden, ehe Gisa fertig war. Draussen klingelte es. Gisa, die gerade aus der Wohnstube trat, öffnete. Um diese Zeit brachte der Briefträger immer die Heidelberger Abendzeitung, aus der sie nun der alten Dame vorlesen musste.

Es war auch der Briefträger, der vor der Tür stand und ihr die Zeitung reichte; aber in dem Augenblick, als er es tat, ging ein Herr vorüber, den Gisa nicht kannte. Er sah sie an, und sie las Bewunderung in seinem Blick.

Im nächsten Moment flog dem Briefträger die Tür ein bisschen zu schroff vor der Nase zu.

Der leichte Knall erschreckte Gisa selbst, und sie dachte: Wie durfte ich mich nur so gehen lassen! Wenig damenhaft hatte sie sich benommen. Sie erblickte ihr Bild im Flurspiegel und musste lachen. Sie sah aus wie ein Stubenmädchen, das sich mit Reinmachen beschäftigt hatte; der Fremde hatte sie sicher für keine Komtesse gehalten.

Abermals klingelte es draussen. Lina war beschäftigt, und so blieb Gisa nichts übrig, als wieder zu öffnen. Sie riss aber erst das Tuch vom Haar und warf die grosse, verhüllende Schürze ab, ehe sie zur Tür ging.

Da stand der Herr von vorhin und rückte leicht an seinem Hut.

„Schönes Kind, melden Sie mich der Komtesse Wergenheim. Uebrigens einen Augenblick, ehe Sie mich anmelden!“ Er trat wie ganz selbstverständlich ein. „Sagen Sie, Mäuschen, was für eine Dame ist die Komtesse?“

Gisa fragte, heimlich belustigt:

„Welche Komtesse, die Tante oder die Nichte? Die Tante hat nämlich die Neunzig schon überschritten, und deshalb wird ihr von der Nichte alles, was sie auch nur ein bisschen aufregen könnte, ferngehalten.“

„Ich glaubte, es gäbe nur eine Komtesse Wergenheim“, meinte er. „Aber nach Ihrem Hinweis ist es besser, Sie melden mich, bitte, der Nichte. Die Dame ist vermutlich auch schon um die Siebzig herum?“

Gisa nickte ernsthaft. „So alt dürfte sie ungefähr sein.“

Er fragte vertraulich: „Kann man mit der jüngeren alten Dame vernünftig reden? Ich komme nämlich wegen der alten Bude. Ich möchte das Häuschen hier ankaufen.“

Gisa erwiderte ernst: „Damit dürften Sie kein Glück haben, Tante Wergenheim verkauft das Haus bestimmt nicht.“

„Geld lockt, mein schönes Kind. Melden Sie mich jedenfalls! Hier ist meine Karte.“

Gisa nahm diese und verschwand damit. Sie dachte nicht daran, den fremden Herrn zu melden. Wozu sollte sich die alte Dame darüber aufregen, dass jemand ihr Häuschen kaufen wollte, an dem sie so sehr hing? Mochte sich der Fremde, wenn die Liliengasse es ihm angetan hatte, anderswo in der Nachbarschaft umschauen.

Sie las drinnen im Wohnzimmer den Namen auf der Karte. „Herbert Willmann“ stand darauf, nichts weiter. Keine Strasse, kein Ortsnamen. Wer war Herbert Willmann, und was war er? Aeusserlich wirkte er vornehm. Er war gross, dunkelblond und schlank und hatte gutgeschnittene Züge. Vielleicht störte in seinem Gesicht ein leichter Spottzug um den Mund.

Nach einem Weilchen kehrte Gisa zu dem Besucher zurück.

„Die Komtesse Wergenheim bedauert, den Herrn nicht empfangen zu können. Ich erklärte ihr den Grund, weshalb Sie gekommen sind, mein Herr, und sie erwiderte, das Haus sei unverkäuflich.“ Sie lächelte. „Unter uns, mein Herr, es hat keinen Zweck, sich in der Sache weiter zu bemühen. Glauben Sie mir nur, für noch so viel Geld gibt die ältere Komtesse das Haus nicht her.“

Herbert Willmann schien die Auskunft wenig zu gefallen. Aber was sollte er anders tun als sich fügen?

„Na, wenn die alten Damen nicht wollen, kann man nichts machen“, lächelte er endlich. „Sie aber, Mädelchen, sind viel zu jung und zu schön, um in dem muffigen Spielzeughaus zu wohnen. Können wir uns nicht mal treffen, um darüber zu reden? Ich —“

Sie fiel ihm scharf ins Wort, während ihre Augen ihn hochmütig ansahen:

„Mir gefällt es in dem muffigen Spielzeughaus sehr gut, und nun halten Sie mich nicht länger auf, mein Herr.“

Sie öffnete die Haustür ziemlich weit, und der Abgeblitzte verbarg seinen Aerger hinter einem Lachen.

„Eine Art und Weise haben Sie, kleine Schönheit, als wenn Sie selbst ein Recht auf die neunzackige Krone hätten! Das haben Sie Ihren Herrinnen gut abgeguckt.“

Er ging; es blieb ihm nichts weiter übrig. Er dachte, auf das Haus könnte er verzichten, so praktisch es auch für ihn gewesen wäre, hier hinter der Klostermauer sein Privatkontor einzurichten. Dann wäre er der Fabrik nahe und sässe doch nicht direkt drin in dem Lärm.

Die Idee war ihm eigentlich erst vorhin im Vorbeigehen gekommen, als er das wunderschöne Hausmädchen gesehen. Er hatte dann jemand draussen gefragt, wem die Villa gehöre.

Das Mädel reizte ihn mehr als das Haus. Er musste sich einmal gründlich überlegen, auf welche Weise er an sie, die ein bisschen sehr spröde zu sein schien, herankam. Er reckte sich. Du lieber Himmel, vor ihm hatte schon so manche kapituliert! Das blonde Mädelchen würde wohl auch schwache Seiten haben.

Keine Silbe erwähnte Gisa der Grosstante gegenüber von dem Besucher. Wozu die alte Dame mit unnützen Dingen behelligen! Sie las ihr dann aus der Heidelberger Zeitung vor und stiess dabei auf die Annonce:

„Gesucht als Sekretärin einer Autofabrik junge Schreibmaschinendame, die französisch und englisch korrespondieren kann und etwas von der Buchführung versteht. Angebote an Schloss Wernersruhe.“

Gisa nahm die Zeitung mit in ihr Zimmer und las die Annonce immer wieder. Als hätte jemand sie eigens für sie aufgesetzt, so klang sie. Wenn Tante Franziska doch nur mit sich reden liesse, dann würde sie die vorteilhafte Gelegenheit ergreifen und sich bei dem Autofabrikanten im Schloss melden. Es wäre doch wunderschön, wenn sie die erworbenen Kenntnisse verwerten und Geld dafür eintauschen könnte.

Sie ging nachmittags zum Justizrat Völkert und fragte ihn um Rat.

Der Justizrat, den Gisa in seinem Büro aufgesucht hatte, schüttelte den Kopf.

„Ich war sehr dafür, dass Sie etwas lernten, um sich im Notfall Ihr Brot verdienen zu können; aber die alte Komtesse dürfen Sie nicht mit Ihrem Wunsch erschrecken. Sie verstände Sie nicht. Eine Wergenheim, die sich Geld verdienen möchte wie ein beliebiges bürgerliches Fräulein, das wäre geradezu ein Skandal in ihren Augen, und eine Zweiundneunzigjährige lernt nicht mehr um. Solange Ihre Urgrosstante lebt, ist es für Sie eine vollkommene Unmöglichkeit, sich ausserhalb des Hauses zu betätigen.“ Sein schmales Gelehrtengesicht lächelte ernst, als er wiederholte: „Eine vollkommene Unmöglichkeit! Uebrigens kenne ich den Herrn, der die Autofabrik hier gründen will; er hat meine Hilfe auch schon in Anspruch genommen. Er wohnte früher in Mannheim, ehe er Schloss Wernersruhe kaufte.“

Gisa sagte traurig: „Es ist schade, dass ich die Gelegenheit, etwas zum Haushalt beitragen zu können, nicht ergreifen darf.“

Dem Justizrat tat Gisa leid, die so völlig an allem, was ein bisschen Freude brachte, vorbeilebte. Er hätte ihr ab und zu gern ein harmloses Vergnügen gegönnt, aber die alte Urgrosstante und einzige Verwandte Gisas behauptete, es genüge vollkommen, wenn sie allabendlich mit ihr „Schwarzer Peter“ oder Domino spielte oder zum Geburtstag einer ehemaligen Schulfreundin ging.

„Ich kenne, wie gesagt, den jetzigen Herrn vom Schloss“, fuhr er fort. „Vor acht Tagen zog er ein. Er heisst Herbert Willmann.“

Gisa erschrak. Also der neue Schlossbesitzer war heute vormittag bei ihr gewesen und hatte sich so dreist gegen sie benommen.

Sie verschwieg, dass auch sie den Schlossherrn kannte, und verabschiedete sich ein bisschen überstürzt. Als sie nach Hause kam, öffnete ihr Lina.

„Ihre Tante hat Besuch, Komtesschen. Ein Herr ist bei ihr. Wie heisst er doch gleich? Ach so, ja! Herbert Willmann.“

Gisa erschrak abermals. Also hatte er ihre Worte in den Wind geschlagen und die alte Dame doch belästigt! Sie war sehr ärgerlich auf den Zudringlichen. Sie wusste ja nun, er war der Industrielle, der das Städtchen in Aufregung gebracht und sich heute vormittag den kecken Ton gegen sie erlaubt hatte.

Sie schob Lina den Hut in die Hand und eilte hastig in den Salon. Als sie eintrat, hörte sie ihre Tante sagen:

„Meine Nichte kommt. Das ist gut. Da können wir uns zu dritt weiter über das Thema unterhalten.“

Ein schlanker Herr war bei ihrem Eintreten von seinem Stuhl aufgesprungen und blickte sie nun gross und erstaunt an. Dann glitt ein verstehendes Lächeln über sein Gesicht — ein ganz mattes, kaum wahrnehmbares Lächeln.

Die alte Komtesse sagte:

„Das ist Herr Willmann, der Schloss Wernersruhe gekauft hat, Gisa, und, wie er mir erzählte, auch das Klostergrundstück Sankta Anna. Er ist gekommen, weil er sich für unser Haus interessiert; aber ich erklärte ihm ich hänge an dem Besitz und gäbe ihn nicht her. Und Sie, Herr Willmann, lernen meine Urgrossnichte kennen. Der sprachlichen Bequemlichkeit wegen nennen wir uns aber nur Tante und Nichte.“

Herbert Willmann verneigte sich tief vor Gisa.

„Ja, gnädigste Komtesse, ich erlaubte mir diesen Besuch, weil mich das Häuschen, in dem Sie wohnen, besonders reizt. Es liegt direkt in der Mitte hinter der Klostermauer. Ich machte schon Pläne, beabsichtigte, mir hier ein stilles Büro einzurichten. In der Mauer gerade gegenüber gibt es ein winziges Pförtchen, das hätte ich benützen können, wenn ich in die Fabrik wollte.“ Er seufzte. „Man macht Pläne; aber sie gelingen eben nicht immer.“

Gisa war zornig. Der Mensch tat, als sähe er sie eben zum ersten Male. Sie überlegte. Da sie der Tante nichts von seinem ersten Besuch gesagt hatte, war es auch wohl besser so.

Ihre Miene war sehr kühl, als sie den feinen Kopf neigte und sich dabei erinnerte, dass er am Vormittag zu ihr gesagt: Eine Art und Weise haben Sie, kleine Schönheit, als wenn Sie selbst ein Recht auf die neunzackige Krone hätten. Das haben Sie Ihren Herrinnen gut abgeguckt!

Die alte Dame lächelte mit hundert Falten und Fältchen: „Setze dich doch, Gisa, damit Herr Willmann auch wieder Platz nehmen kann; er erzählt nämlich sehr interessant von Dingen, von denen man hier hinter der Klostermauer nichts hört.“

Gisa liess sich auf einen Stuhl nieder und begriff nicht, wie es Herbert Willmann so rasch gelungen war, die Tante dazu zu bringen, so zu denken. Sie hatte doch immer streng abgelehnt, sich für das zu interessieren, was es jenseits der sehr hohen Klostermauer gab.

Herbert Willmann sass nun ebenfalls wieder, und Gisa fand, der sehr elegant — wohl nach der letzten Mode — Gekleidete wirkte, als gehöre er nicht in die Umgebung der Möbel aus Urgrosstantes Zeit, in das viele Drumherum von Deckchen und Vorhängen und Kleinkram der frühen Biedermeierzeit.

„Sie sehen mich so forschend an, Komtesse“, sagte er — und in seiner Stimme schien geheime Zärtlichkeit verfangen. „Darf ich wissen, was Sie denken?“

Seine Stimme irritierte sie. Der Ton, in dem er sprach, war ihr fremd. Er hatte für sie etwas Lockendes und Abstossendes zu gleicher Zeit.

Sie zuckte leicht die Achseln.

„Wenn Sie die Wahrheit interessiert, können Sie wissen, dass ich soeben dachte, Ihre moderne Erscheinung passt nicht in das trauliche Zimmer einer längst verklungenen Epoche, sie wirkt hier fast aufreizend störend. Sie haben ein Klubsesseläusseres.“

Herbert Willmann lachte laut und ungeniert.

„Sie haben sich vorzüglich ausgedrückt, Komtesse, aber ich hätte hier, in dem traulichen Zimmer einer längst verklungenen Epoche, wie Sie sich eben ausdrückten, keine so scharfe, modern klingende Kritik meiner bescheidenen Persönlichkeit erwartet.“

Die alte Dame sah von dem Besucher auf Gisa, sagte leise: „Vielleicht hat meine Nichte recht, Herr Willmann, Sie dürfen ihre Worte nicht falsch auffassen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich passen ja auch nur noch wenige Menschen in das Milieu des Zimmers hier, in das des ganzen Hauses. Fast hundert Jahre sind es her, seit ich hier in dem Häuschen geboren wurde. Meine Kindheit, meine Mädchenjahre habe ich hier verlebt; die alte Gasse, das alte Haus halten die Gestalten meiner Vergangenheit mit rührender Treue fest, weil alles so unverändert geblieben, hier drinnen und da draussen.“

Ihre kleine Hand, über der die Haut wie stark zerknitterte, gelblich gewordene Seide lag, wies nach der Liliengasse.

„Sie können sich denken, wie alarmierend die Nachricht hier einschlug, da drüben in Sankta Anna, in dem so wundervoll und malerisch leicht verfallenen Kloster, solle eine Automobilfabrik erstehen.“ Sie sah ihn freundlich an. „Sie haben mir aber vorhin so vernünftig klar gemacht, auch eine Automobilfabrik könne Poesie haben, dass mich der Gedanke daran gar nicht mehr stört.“

Gisa staunte wieder. Wie hatte es dieser Mensch nur fertig gebracht, in so unbegreiflich kurzer Zeit eine solche Gesinnungsänderung bei der alten Dame zu erreichen? Wenn sie der modernen Zeit auch nur die kleinsten Zugeständnisse zu machen wagte, war die alte Dame doch gleich mit den Worten da: Die moderne Zeit wäre ein Kreis, in dem sich nur halb Verrückte bewegten, aber Menschen mit Herz und Pietät, Menschen mit Verstand und Geschmack blieben möglichst ausserhalb dieses Kreises.

Herbert Willmann lächelte: „Sind Sie schon einmal in so einem ganz modernen Auto ausgefahren, gnädigste Gräfin?“

Er gab der alten Dame den Frauentitel, weil ihm schien, seit Gisa hier im Zimmer war, die drei Silben Komtesse passten nicht für das verhutzelte Gnomenweibchen, das so klein und zerbrechlich im altmodischen Lehnstuhl sass und, wenn man ihre Eltern mitrechnete, nun schon die fünfte Generation kannte.

Franziska Wergenheim hob abwehrend ein wenig die Rechte.

„Der Himmel bewahre mich davor. Ich habe noch nie in einem Auto gesessen.“ Ueber ihr Faltengesicht warf Erinnerung einen hellen Schein. „Als Kind bin ich oft im Kutschwagen der Eltern ausgefahren und später, als ich Hofdame wurde, in den herzoglichen Equipagen. Danach mag es ein recht zweifelhafter Genuss sein, in so einem Kasten ohne Pferde Platz zu nehmen.“

Das kleine, festeingeprägte Spottlächeln um Herbert Willmanns Mund vertiefte sich noch ein wenig.

„Ich wäre glücklich, Frau Gräfin, wenn ich Ihnen einmal mein Auto zur Verfügung stellen dürfte, damit Sie selbst ausproben, wie unrecht Sie dem braven Kasten ohne Pferde tun.“

Franziska Wergenheim stiess einen kleinen Schrei aus. Wie das Zirpen einer Grille klang es.

„In so ein lebensgefährliches Vehikel ginge ich nicht. Autounfälle sind an der Tagesordnung. Chauffeure fahren immer gegen Bäume und Mauern.“

Er wehrte ab.

„Das kommt, im Verhältnis zu der Unmenge von Autos, die es gibt, nur sehr selten vor. Früher gingen die Pferde mit dem Wagen durch; heute geht der unzuverlässige Chauffeur, der immer seltener wird, mit dem Auto durch. Mein Privatchauffeur ist vollständig zuverlässig. Ausserdem würde ich, wenn Sie mir die Ehre gäben, meinen Wagen zu benützen, diesen selbst steuern. Ich will mich nicht loben; aber ich verstehe mit den Autos umzugehen wie mit guten, willigen Tieren. Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag, Frau Gräfin. Ich werde mir erlauben, Ihnen morgen meinen Wagen zu zeigen. Vielleicht bekommen Sie dann Lust, ein Stündchen in den Wald zu fahren oder durch den Ort oder wohin Sie wünschen.“ Er erhob sich. „Ich bin als nüchterner Käufer gekommen und wählte eine beliebige Zeit. Wann darf ich meinen offiziellen Besuch machen?“

Die alte Dame lächelte: „Ich erlasse Ihnen den offiziellen Besuch, Herr Willmann; aber Ihren Wagen dürfen Sie mir zeigen. Ich habe mir so ein Auto noch niemals genau betrachtet.“

Gisa verwunderte sich immer mehr. Was für ein neuer Geist war nur in die Tante gefahren! Der Mann, der so aufreizend modern wirkte, und dessen kleines Spottlächeln sie störte, schien eine Art Hexenmeister zu sein. Unglaublich war es, dass sich die alte Dame, die das Wort „modern“ bisher schon fast als Beleidigung empfunden, ein Auto ansehen wollte.

Er lächelte: „Um welche Zeit darf ich morgen vorfahren? Ich bin immer zu Ihrer Verfügung. Vielleicht darf ich Sie dann morgen gleich fahren. Glauben Sie mir, Frau Gräfin, Sie werden entzückt sein. Ich darf wohl annehmen, Sie, Komtesse, sind schon öfter im Auto gefahren?“ wandte er sich an Gisa.

Sie sah ihn kühl an.

„Nein, ich bin genau so rückständig wie meine Tante, und ich verspüre so wenig Verlangen, wie sie, nach diesem zweifelhaften Vergnügen.“

Er lachte: „Wenn Sie erst einmal ein Stündchen gefahren sind, wollen Sie das Auto gar nicht mehr verlassen.“

Ihre Lippen zuckten, und er dachte: Kleine hochmütige Kanaille, Geld hat sie wahrscheinlich gar keins; aber der Hochmut steift ihr den Nacken!

Er neigte sich zu der alten Dame nieder.

„Darf ich Ihnen mein Auto morgen vormittag vorführen? Vielleicht um zehn Uhr oder um elf oder lieber am Nachmittag um drei oder vier?“

Franziska Wergenheim brummelte in sich hinein: „Aber mitfahren werde ich bestimmt nicht.“

„Nein, nein“, beruhigte er, „es steht Ihnen frei, nach Ihrem Willen zu handeln. Ich freue mich ja schon. Ihnen mein hübsches Auto vorführen zu dürfen. Es ist ein Meller-Wagen. Wundervoll komfortabel ist er; aber die Firma ist kaputt gegangen; sie hat ihre Autos zu teuer gebaut. Ich war Kompagnon von Meller und werde hier auch Luxuswagen bauen. Aber ich hoffe zuversichtlich, dabei ein gutes Geschäft zu machen.“

Die alte Dame hatte kaum zugehört.

Sie sagte jetzt: „Kommen Sie morgen um drei Uhr. Ich sehe mir Ihren Wagen hier vom Fenster aus an.“

Er ergriff die Rechte der alten Dame und küsste sie mit so viel Wichtigkeit und Zeremoniell, dass es Franziska Wergenheim war, als wären die schönen Tage ihrer Hofdamenzeit wieder erwacht. Damals hatte ihr Louis von Starke, des Herzogs erster Adjutant, so oft die Hand geküsst, so oft in süsser Heimlichkeit; aber ehe es so weit war, dass er ihr den Mund küssen konnte, starb er ganz plötzlich an einer ganz poesielosen Lungenentzündung. Sie hatte ihm ihre Liebe bewahrt, und Herbert Willmann hatte die freundliche Aufnahme bei ihr nur dem Umstande zu danken, dass er in Figur und Haltung ein wenig Aehnlichkeit mit jenem vor siebzig Jahren verstorbenen Offizier hatte. Wie ein heimlicher Gruss aus einem Grabe, das sie nicht kannte, mutete sie die Aehnlichkeit an. Louis von Starke war nach seinem Tode in die Gruft seiner Familie überführt worden, und sie war noch nicht seine offizielle Verlobte gewesen. Damals aber nahm man es mit solchen Dingen noch sehr genau, was die Form betraf.

Nachdem Herbert Willmann mit tiefen Verneigungen gegen beide Damen gegangen war, sagte das Gnomenweibchen:

„Schade, dass er bürgerlich ist. Ich glaube, das ist aber auch sein einziger Fehler! Ich finde diesen Autofabrikanten reizend. Ich habe mich lange nicht mehr so gut unterhalten wie heute.“

Gisa hätte am liebsten widersprochen; aber sie musste immer Rücksicht auf das Alter der Urgrosstante nehmen. Widerspruch konnte sie erregen, und der Hausarzt hatte ihr eingeschärft: Keinen Widerspruch, wenn es nicht dringend notwendig ist. In diesem Alter kann die kleinste seelische Erregung wie ein rauher Lufthauch wirken und gesundheitlichen Schaden bringen.

Die alte Dame sah Gisa an.

„Eigentlich sollte ich mich doch ruhig einmal in sein Auto setzen, nicht wahr? Was könnte denn gross geschehen? Meine Tage sind sowieso gezählt, und wenn er selbst fährt, wie er versprochen hat, brauche ich auch sicher keine Angst zu haben. Ich bin schon lange nicht mehr weiter gekommen als hinaus in unseren kleinen Garten, und es muss schön im Walde sein jetzt im Frühling.“ Ganz langsam sprach sie weiter: „Ich habe unseren Buchenwald so lieb, und ich habe schon manchmal gedacht: Wenn ich doch noch einmal ein Stückchen hindurchlaufen könnte!“

Gisa erwiderte rasch: „Wollen Kutscher Hahn mit seiner Droschke bestellen, Tantchen.“

Die alte Komtesse blickte sie förmlich entsetzt an.

„Um des Himmelswillen nicht! Nach der Fahrt in der alten Droschke ist man für lange Tage kaputt. Wie darfst du meinen alten Knochen das zumuten!“ Sie lächelte. „Ich bin neugierig aus das Auto morgen.“

Sie dachte an die Aehnlichkeit der Gestalt, die Herbert Willmann mit dem jungen herzoglichen Adjutanten hatte, der nun schon seit siebzig Jahren der Ewigkeit entgegenträumte, und Gisa sann: Was war es nur, das sie zu gleicher Zeit an Herbert Willmann abstiess und anlockte? Es war ein ganz eigenartiges Empfinden, aus dem sie nicht klug wurde.

2.

Am nächsten Tage klangen kurz vor drei Uhr laute Hupensignale durch die stille Liliengasse. Die alte Komtesse Wergenheim sass am Fenster und sah das Auto vorfahren. Das musste sie zugeben: hochelegant sah es aus, und sie dachte, so ein vornehmes, teures Auto ist noch niemals durch die Liliengasse gefahren. Gleich darauf klingelte es, und Gisa machte dem Erwarteten auf. Lina war beim Abwaschen und hatte das Klingeln wieder einmal überhört.

Herbert Willmann verneigte sich.

„Gnädigste Komtesse, mein Wagen wartet. Ich hoffe Ihre Tante doch noch zu überreden. Was meinen Sie?“

Gisa erwiderte kurz: „Ich halte es für möglich, obwohl es mir unfassbar ist.“

Er lächelte. „Mir gelingt alles, was ich will. Nehmen Sie sich in acht vor mir, schönste Komtesse, denn ich will Sie.“

Zorniges Rot bedeckte ihre Wangen.

„Ich glaube, Sie vergessen, mit wem Sie sprechen, Herr Willmann.“

Er lächelte ruhig weiter. „Bewahre, wie könnte ich das? Ich hoffe zuversichtlich, ich spreche mit einer jungen Dame, die nicht nein sagt, wenn ich sie bitte, meine Gattin zu werden, weil sie mir besser gefällt als alle jungen Mädchen, die ich bisher kannte. Und da ich zweiunddreissig bin, ist’s bald Zeit für mich, zu heiraten.“

„Sie sind unverschämt!“ warf sie ihm empört entgegen.

„Verzeihung, Komtesse, ich bin nur aufrichtig“, gab er zurück. Er blickte sie fast übermütig an. „Was wollen Sie, Komtesse, es gibt doch nun mal Männer und Frauen in der Welt, und die finden sich zu legitimen und illegitimen Pärchen zusammen. Wären Sie das Dienstmädchen der Komtesse Wergenheim gewesen, wie ich annahm, hätte ich versucht, Sie ohne Priestersegen zu küssen: da Sie aber selbst eine Komtesse Wergenheim sind, finde ich, Sie passen ausgezeichnet zur Herrin von Schloss Wernersruhe.“

Gisa war wie erstarrt. War das, was dieser Mann, den sie kaum kannte, zu ihr sagte, nun eigentlich der Gipfelpunkt der Dreistigkeit oder war es nur Selbstbewusstsein? Und war seine Art die der modernen Männer von heute, die draussen in der grossen Welt lebten, und die sie nicht kannte? Die Herren, die hier ins Haus kamen, waren ohne Ausnahme ältlich oder alt; ihre Liebenswürdigkeit gegen Damen hatte etwas Altfränkisches, Verstaubtes.

Sie gab darauf keine Antwort, sagte nur kühl: „Tante hat Sie vorfahren sehen und wird sich wundern, dass es so lange dauert, bis Sie bei ihr eintreten.“

Er lächelte nur; aber sein Blick hing bewundernd an ihrem feinen, rassigen Gesicht mit den übergrossen Braunaugen und dem leuchtenden seltenen Goldhaar, das in einem Knoten im Nacken aufgesteckt war.

Zu gern hätte sich Gisa längst das Haar kurz schneiden lassen; aber die Tante war ärgerlich geworden, als sie den Wunsch geäussert.

„Ueberlass so verrückte Moden den Neureichen und den Filmdamen oder den dummen Weibsleuten, die nicht wissen, dass der Frauen schönster Schmuck ihr Haar ist“, hatte sie gesagt.

Herbert Willmann folgte ihr über den Flur und flüsterte: „Weshalb tragen Sie keinen Pagenkopf? Die Frisur müsste Sie wundervoll kleiden, Komtesse.“

Sie antwortete ärgerlich: „Ich will ja niemandem gefallen, am allerwenigsten Ihnen.“

Er lachte wieder und zeigte zwei Reihen prachtvoller Zähne.

„Das schillernde Schlänglein hat einen Giftzahn. Soll ich versuchen, ihn auszuziehen?“

„Noch ein Wort“, empörte sie sich, „noch ein einziges Wort dieser Art, und ich erzähle meiner Tante, wie sehr Sie mich belästigen.“

Er biss sich auf die Lippen; dann blickte er sehr ernst.

„Verzeihung, Komtesse“, bat er, „ich habe mit diesem Ton bisher bei den Frauen am meisten Glück gehabt, und bei Ihnen möchte ich Glück haben.“ Seine Stimme hatte mit einem Male den wundervollen zärtlichen Klang, der Gisa gestern nachmittag schon aufgefallen war.

„Ich sagte vorhin, bei anderen Frauen habe ich mit dem Ton Glück gehabt“, betonte er, „aber Sie sind eben nicht wie andere Frauen. Sie sind eine Besondere, eine ganz Besondere!“

Gisa öffnete die Salontür, und er musste schweigen; denn am Fenster sass die alte Dame und blickte ihm freundlich entgegen.

„Ihr Wagen ist herrlich“, lobte sie mit ihrer matten, zerbrochenen Stimme. „Wenn ich so jung wäre wie meine Gisa, würde ich bestimmt einmal eine Probefahrt mit Ihnen machen, aber in meinen Jahren ist man ängstlich.“

Herbert Willmann küsste die Hand des Gnomenweibleins.

„Sie sollten es doch versuchen, Frau Gräfin. Sie werden in den Autokissen wie auf einem weichen Sofa sitzen, und das Fahren wird Ihnen vorkommen, als wenn Sie sanft vorwärtsglitten.“

Die alte Dame überlegte. Sie dachte an den Buchenwald, den sie schon so lange nicht mehr gesehen, weil ihre Füsse sie nicht mehr so weit trugen, und sie sich vor den groben Stössen in einer Droschke fürchtete. Sie erwiderte zögernd:

„Ich hätte so gern einmal wieder ein paar Schritte durch den Buchenwald gemacht. Seit beinahe zehn Jahren war ich nicht mehr da.“

Sie dachte dabei, wie seltsam es war, dass da einer vor ihr stand, dessen schlanke, vornehme Gestalt der ihres geliebten Toten glich. Das stimmte ihr ganzes Denken um.

Er wandte sich an Gisa.

„Bitte, Komtesse, sorgen Sie für die Ueberkleider Ihrer Frau Tante, und machen auch Sie sich fertig. Wir fahren in den Buchenwald.“

Gisa wollte scharf erwidern: Tante hat sich ja noch gar nicht entschieden, und ich fahre nicht mit! — Aber da traf ihr Blick den Blick der alten Dame, in dem es wie kindliche Erwartung leuchtete, und nun wagte sie keine Auflehnung und ging, um zu holen, was er angeordnet.

Als sie ihr Zimmer betrat, um den dünnen Staubmantel überzuwerfen, blieb sie flüchtig mitten im Raume stehen und drückte die Hand auf das laut pochende Herz. Was für ein eigentümliches Gefühl war das nur, das sie beherrschte und ihr das Atmen schwer machte? Sie dachte an Herbert Willmann, und der zärtliche Klang seiner Stimme lag ihr im Ohr. Aufreizend und betörend. Sie lachte sich im Spiegel an: Dumme Gisa, was geht dich der Automobilfabrikant Herbert Willmann an? Er wird, trotzdem er es wünscht, bei dir kein Glück haben!

Zehn Minuten später lehnte die alte Komtesse in den weichen Polstern des Autos und neben ihr Gisa. Vor ihnen auf dem Führersitz sass der elegante Herbert Willmann, und der Wagen fuhr sanft wie auf teppichbelegten Wegen durch die Liliengasse.

Das Auto war offen, und die warme Frühlingssonne tat dem Gnomenweibchen gut. Sie hielt sich an Gisa fest, lag halb in ihrem Arm, seufzte wohlig: „Weisst du, Kind, das ist wie eine Himmelfahrt, wie wenn man schwebt, nicht wahr? O, ich freue mich so sehr auf den Buchenwald!“

War es die Freude, den geliebten Buchenwald wiederzusehen, oder hatte das Neue sie so aufgeregt? Am nächsten Tage musste Franziska Wergenheim im Bett bleiben, und der Arzt sagte draussen auf dem Flur zu Gisa:

„Die alte Dame ist müde; das Herz mag nicht mehr mitmachen! Gehen Sie so vorsichtig mit ihr um wie mit einem kostbaren zerbrechlichen Gegenstand.“

Gisa sah ihn mit bang fragenden Augen an; zu sprechen vermochte sie nicht.

Der alte Hausarzt lächelte ernst: „Sie hat das biblische Alter weit überschritten, und der müde Körper sucht Ruhe.“

Er ging, liess Gisa in Verzweiflung zurück. Lina hatte dem Arzt die Worte von den Lippen abgelesen. Sie fuhr sich mit beiden Händen nach dem grauhaarigen Kopf.

„Wenn die alte Gnädige stirbt, ist nur der verdammte neumodische Wagen daran schuld! Was brauchte sich die alte Gnädige noch in so ’nen Deifelskarren zu setzen! Sowas rächt sich.“

Es klingelte. Herbert Willmann stand vor der Tür; er trug einen Strauss rosa Nelken.

„Sie sind an dem Unheil schuld mit Ihrem Deifelskarren“, fuhr Lina auf ihn los.

Er blickte sie verdutzt an; sein fragender Blick glitt zu Gisa, die erklärte:

„Meine Tante ist erkrankt. Der Arzt meint, ihr Herz mag nicht mehr mitmachen, und unsere treue Lina schiebt nun die Schuld auf die Autofahrt. Doch verzeihen Sie, ich muss sofort zur Tante.“

Er reichte ihr den Strauss.

„Bitte, nehmen Sie der Kranken die Blumen mit und meine aufrichtigsten Wünsche, sie möge sich recht bald erholen.“

Gisa nickte und eilte mit den Nelken in das Schlafzimmer der alten Dame. Als Komtesse Franziska die Nelken in Gisas Händen sah, glitt ein heller Schein über ihre verfallenen Züge.