SEAL Team 12 - Aus dem Dunkel - Marliss Melton - E-Book
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SEAL Team 12 - Aus dem Dunkel E-Book

Marliss Melton

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Beschreibung

Eine dunkle Verschwörung gefährdet ihre Liebe und ihr Leben ...

Helen Renault traut ihren Augen kaum, als ihr totgeglaubter Ehemann Gabe plötzlich vor ihrer Tür steht. Der Navy SEAL kann sich an die letzten drei Jahre nicht mehr erinnern und ist von der Gefangenschaft in Nordkorea schwer gezeichnet. Trotzdem kämpft Gabe mit allen Mitteln um Helens Liebe. Doch dann holt ihn die Vergangenheit wieder ein ...

"Eine spannende Geschichte, sympathische Figuren und große Gefühle machen dieses Buch zu einem wahren Lesevergnügen!" Publishers Weekly

Starke Helden und ganz viel Gefühl - die packende und wunderbar romantische Navy-SEALs-Reihe von Marliss Melton:

SEAL Team 12 - Aus dem Dunkel
SEAL Team 12 - Gebrochene Versprechen
SEAL Team 12 - Geheime Lügen
SEAL Team 12 - Bittere Vergangenheit
SEAL Team 12 - Gefährliche Suche
SEAL Team 12 - Im letzten Augenblick

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.




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Inhalt

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Epilog

Danksagung

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

SEAL Team 12 – Aus dem Dunkel

SEAL Team 12 – Gebrochene Versprechen

SEAL Team 12 – Geheime Lügen

SEAL Team 12 – Bittere Vergangenheit

SEAL Team 12 – Gefährliche Suche

SEAL Team 12 – Im letzten Augenblick

Über dieses Buch

Eine dunkle Verschwörung gefährdet ihre Liebe und ihr Leben …

Helen Renault traut ihren Augen kaum, als ihr totgeglaubter Ehemann Gabe plötzlich vor ihrer Tür steht. Der Navy SEAL kann sich an die letzten drei Jahre nicht mehr erinnern und ist von der Gefangenschaft in Nordkorea schwer gezeichnet. Trotzdem kämpft Gabe mit allen Mitteln um Helens Liebe. Doch dann holt ihn die Vergangenheit wieder ein …

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Marliss Melton hat fast überall in der Welt gelebt, da ihr Vater Diplomat war. Ihr Mann ist aus der Marine ausgeschieden. Sie nutzt ihre Weltkenntnis und ihre Militärkontakte, um realistische und aufrichtige Romane zu schreiben.

MARLISS MELTON

SEAL Team 12

AUS DEM DUNKEL

Aus dem amerikanischen Englisch von Isabell Bauer und Timothy Stahl

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2004 by Marliss Arruda

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Forget me not«

Originalverlag: Forever

Forever is an imprint of Grand Central Publishing/Hachette Book Group, USA.

This edition published by arrangement with Grand Central Publishing, New York, NY, USA. All rights reserved.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30 161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2011/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Die Medienakteure, Hamburg

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © AdobeStock|Michal Ludwiczak; © GettyImages|triocean

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7517-2047-2

be-ebooks.de

lesejury.de

In Dankbarkeit den Frauen und Männern der Streitkräfte der VereinigtenStaatenzugedacht,besondersjenender U. S.Special Forces – für ihre Tapferkeit und Opferbereitschaft.

Gewidmet ist dieses Buch Chris Nally »Ozzy«, einem früheren Allied Special Forces Ranger, dessen Engagement für die Freiheit ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung und ein Chronisches Erschöpfungssyndrom eingebracht hat. Dein Opfer war nicht umsonst. Wir alle, die wir in Freiheit leben dürfen, stehen in deiner Schuld.

Und für Alan Arruda, Pensionär der U. S. Navy.

Ich liebe dich über alles.

Prolog

Ein Kugelhagel prasselte auf den Trupp der vier SEALs nieder, und die Geschosse wurden zu Querschlägern, wenn sie den Betonboden oder die Metallwände des Lagerhauses in Pjöngjang, Nordkorea, trafen. Einige von ihnen schlugen Löcher in die Ölfässer, die zwischen großen Metallcontainern aufgestapelt waren, und der schmierige Inhalt ergoss sich über den ganzen Boden.

Lieutenant Gabriel Renault, Deckname Jaguar, duckte sich hinter ein Fass, als ein Geschoss neben ihm Splitter aus einer Holzpalette riss. Wer zum Teufel ist das?, fragte er sich, während sein Herz unter seinem Neoprenanzug hämmerte. Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass die Terroristen ihr eigenes Lagerhaus zusammenschossen, nur um irgendwelche Eindringlinge abzuwehren. Auch konnten sie die SEALs nicht entdeckt haben, die aufgrund ihrer Tarnung mit der Dunkelheit verschmolzen.

Trotzdem waren es mindestens vier Schützen, die auf Laufstegen postiert waren, die kreuz und quer unter der Decke des Lagerhauses verliefen. Um den SEAL-Trupp zu entdecken, hätten sie Nachtsichtgeräte haben müssen, ganz ähnlich dem von Gabe. Und falls das zutraf, waren sie entweder lausige Schützen, oder es lag gar nicht in ihrer Absicht, die SEALs zu töten, sondern sie sollten lediglich abgeschreckt werden, was auch wieder keinen besonderen Sinn ergab, wenn sie tatsächlich Terroristen waren.

Das aufgeregte Flüstern des Truppführers Miller drang durch Gabes Ohrhörer und klang genauso unsicher wie bei den anderen Missionen, an denen er als Jaguar teilgenommen hatte. »Rückzug!«, befahl der XO.

Angewidert verzog Gabe das Gesicht. »Wir müssen den Rest der Ladung sicherstellen, Sir«, erinnerte er seinen Vorgesetzten. Himmel, es waren doch nur vier Schützen. Man konnte also kaum davon sprechen, dass sie in der Überzahl waren. Sie hatten sich in der Vergangenheit schon in ungünstigeren Situationen befunden und trotzdem ihren Auftrag erfüllt.

»Negativ. Uns reicht, was wir haben. Ich wiederhole: Rückzug zum SDV! Westy und Bear, haben Sie verstanden?«

»Verstanden, Sir.« Es war Chief Westy McCaffrey, der genauso angepisst klang, wie Gabe sich fühlte.

»Verstanden, X-ray Oscar«, bestätigte Bear mit einem Knurren und benutzte dabei den Decknamen des XOs.

»Sie beide nehmen den südlichen Ausgang«, befahl Miller. »Jaguar und ich nehmen den westlichen.«

Der Funkspruch endete mit einem lauten statischen Knistern, das Gabe zusammenzucken ließ. Nicht schon wieder! Mit dem Finger tippte er auf seinen Ohrhörer, weil er fürchtete, dass sein Funk, der schon während der letzten zwanzig Minuten immer wieder gesponnen hatte, nun endgültig den Geist aufgab. »X-ray Oscar, hören Sie mich?«, flüsterte er, aber er vernahm nur ein Rauschen. »Scheiße!« Er klopfte dreimal auf das Mikrofon, bekam aber keine Antwort.

Zumindest seine Nachtsichtbrille funktionierte noch. Mit dem Infrarotgerät suchte er die Laufstege unter der Decke ab und entdeckte, wie plötzlich ein Arm hinter einem Stahlträger hervorgestreckt wurde, in der Hand eine Waffe, aus der wahllos in die Gegend gefeuert wurde. Weitere Ölfässer wurden durchsiebt, und ihr Inhalt ergoss sich ebenfalls in glitschigen Strömen auf den Boden.

Vorsichtig, um nicht auszurutschen, verließ Gabe im Rückwärtsgang sein Versteck. Die vierte Boden-Luft-Rakete zurückzulassen, passte ihm überhaupt nicht. Er war es gewohnt, einen Auftrag zu Ende zu führen, egal, welche Hürden es dabei zu überwinden galt – und die gab es schließlich immer. Sich jetzt zurückzuziehen, war ein Akt der Feigheit. Westy war als Scharfschütze gut genug, um ihre Feinde, die sogenannten Tangos, einen nach dem anderen auszuschalten. Sie hatten ja noch nicht einmal ein Ablenkungsmanöver probiert. Warum hatten sie Rauchgranaten dabei, wenn sie sie gar nicht einsetzten?

Gabe schob sich aus seiner Deckung und presste sich gegen die Kiste, in der sich die vierte Rakete befand. Die Tatsache, dass diese Boden-Luft-Rakete – kurz SAM genannt – morgen in den Nahen Osten verschickt werden sollte, bedeutete, dass sie irgendwann gegen die Vereinigten Staaten eingesetzt werden würde. Sie hier in dem nordkoreanischen Lagerhaus zurückzulassen, war seiner Meinung nach einfach keine Option.

Zögernd fuhr er mit der Hand über die Transportkiste und spürte das raue Holz unter seiner Handfläche. Vorsichtig umrundete er sie und stand plötzlich vor seinem XO. Überrascht fuhr er zurück. Miller hätte ihn eigentlich erst an ihrem Außenposten treffen sollen.

Selbst mit all der Tarnfarbe im Gesicht war Miller die Nervosität deutlich anzusehen. Das Weiß seiner Augen leuchtete in der Dunkelheit. »Verschwinden wir«, murmelte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang.

Gabe wollte ihm gerade sagen, dass sein Funk nicht funktionierte, aber Miller hatte sich bereits abgewandt. Gabe biss die Zähne zusammen und folgte ihm. Jeder Muskel in seinem Körper zitterte vor Wut.

Plötzlich fuhr Miller herum. Der Kolben seiner Heckler & Koch blitzte vor Gabes Augen auf und traf dann hart seinen rechten Wangenknochen. Schmerz durchschoss ihn. Er taumelte zurück und verlor auf dem öligen Boden das Gleichgewicht. Er fiel flach auf den Rücken, und die Luft wurde ihm mit einem Schlag aus den Lungen gepresst. Er schmeckte Blut.

Was zum Teufel …?

Miller beugte sich über ihn, packte ihn beim Koppel und drehte ihn mit Schwung auf den Bauch. Gabe rang nach Atem. Dann trat er auch schon nach hinten aus und traf das Knie des XOs. Der Mann fluchte und packte ihn nur noch fester.

Gabes Schädel schien vor Schmerz fast zu explodieren und alles Denken unmöglich zu machen. Was zum Teufel geht hier vor? Er fand keine Antwort auf diese Frage. Warum fiel Miller ihm in den Rücken? Schnarrend wurde eine Plastikfessel um sein linkes Handgelenk gezogen und dann um sein rechtes. Gabes Mund füllte sich mit Blut. Er spuckte einen Zahn aus und sog unter Schmerzen Luft in die Lungen. »Was zum Teufel tun Sie, Miller?«, knurrte er und trat um sich, als dieser in der Dunkelheit seine Füße zusammenband.

Miller antwortete nicht. Heftiger Schmerz durchflutete in Wellen seinen Kopf, sodass Gabe nur noch dunkel wahrnahm, dass Miller ihn gefesselt hatte. Die Schüsse, die sie zum Rückzug gezwungen hatten, waren verstummt. Das musste eine Bedeutung haben, aber Gabe konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Miller riss ihm den Kopf nach hinten. Gabe spürte, wie die Hände des Mannes zitterten, als er das Klebeband abriss. Ein Streifen verschloss Gabes Mund und machte ihm jede verständliche Äußerung unmöglich. Er hatte Mühe, nicht an dem Blut zu ersticken, das ihm nun in die Kehle rann.

Miller ließ ihn los und wandte sich ab. Voller Entsetzen beobachtete Gabe, wie er aus der Deckung trat und den Daumen in Richtung der Männer auf den Metallstegen hob. Trotz des Hämmerns in seinem Schädel hörte Gabe, wie sie näher kamen.

Er starrte auf Millers Rücken, während er mit der Erkenntnis rang, dass es sein eigener XO war, der weltweit Waffen stahl.

Seit Monaten hatten SEALs versucht, die verschiedensten Waffenlieferungen abzufangen, nur um jedes Mal herauszufinden, dass sie bereits weg waren. Und es war Miller, der sie stahl. Der so willensschwach wirkende, blassgesichtige Miller!

Er konnte es kaum glauben. Aber der XO stand direkt vor ihm und befahl den dunklen Gestalten um ihn herum, die SAM in der Transportkiste durch den Seiteneingang hinauszuschaffen, und zwar schnell.

Gabe kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, um die anderen Plünderer identifizieren zu können. Sein Gesichtsfeld wurde immer weiter eingeschränkt, was ihm zeigte, dass er dabei war, ohnmächtig zu werden. Miller drehte sich um und warf ihm noch einen letzten Blick zu, bevor er sich davonmachte, wohl um sich mit Gabes ahnungslosen Kameraden zu treffen.

Gabe lag mit der linken Wange in einer Öllache. Die Nachtsichtbrille war ihm vom Kopf gerissen worden und hing an seinem rechten Ohr. Seine Arme und Beine waren gefesselt. Sein Mund blutete immer noch. Er würde niemals die Chance haben, der Welt zu sagen, wer hinter all den Waffendiebstählen steckte.

Aus irgendeinem Grund hatte Miller ihn dort zum Sterben zurückgelassen. Aber warum? Durch sein angeschlagenes Hirn brauchte er einen Moment, um die Antwort zu finden. Es musste das Memo sein, das er auf Millers Schreibtisch gefunden hatte, in dem es um die Anforderung eines zusätzlichen U-Boots ging. Er hatte Miller darauf angesprochen, weil er der Meinung gewesen war, dieser sei einfach nur zu unfähig, zu wissen, dass ein U-Boot genug Transportkapazität für vier Raketen besaß. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, dass sein XO plante, eine der Raketen für seine eigenen Zwecke beiseitezuschaffen.

Während Öl zwischen seine Augenlider drang und in seinen Taucheranzug aus Kevlar sickerte, vernahm Gabe ein Geräusch, bei dem sich ihm sofort jedes einzelne Haar aufstellte.

Jemand zündete ein Streichholz an.

Wenn er jetzt keine Lösung fand, wie er aus diesem verdammten Lagerhaus herauskommen konnte, würde er wie mit Grillanzünder übergossene Kohle in Flammen aufgehen.

Er wusste nicht, was schlimmer war – bei lebendigem Leib zu verbrennen oder zu begreifen, dass er niemals eine Chance gehabt hatte, Helen zu sagen, dass er sie liebe.

1

Helen ließ sich so tief in das heiße Wasser sinken, dass nur noch ihre Augen und ihre Nase aus dem Schaum herausschauten. Am Fußende der Wanne stand Gabes Bild, umringt von brennenden Kerzen. Sie betrachtete es. Ein Chaos von Gefühlen wütete in ihrem Herzen, als sie ihm in die Augen sah. Selbst aus dieser Entfernung faszinierten sie seine Augen auf dem ungefähr DIN A4 großen Porträt, genau wie damals, als sie Gabe zum ersten Mal gesehen hatte. Hellgrün waren sie, mit einem golden strahlenden Kranz in der Mitte. Diesen Augen hatte er auch seinen Tarnnamen zu verdanken: Jaguar. Er hatte einen so unglaublich direkten Blick, und Helen war jedes Mal rot geworden, wenn er sie angesehen hatte, was am Anfang sehr oft der Fall gewesen war. Aber bevor er letztes Jahr fortgegangen war, nur zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, hatte er noch nicht einmal mehr Zeit gefunden, sich ordentlich von ihr zu verabschieden, so sehr war er darauf erpicht gewesen, Zugführer bei den SEALs zu sein und die Welt zu retten.

Helen blies in die Schaumberge, die sich vor ihrem Mund gesammelt hatten. Eine der Seifenblasen stieg in die Luft, hielt sich einen Moment dort und zerplatzte dann. Wie meine Liebe zu dir, dachte sie und meinte damit den Mann auf dem Bild.

Vor einem Jahr war er verschwunden. Die Navy wollte nicht preisgeben, wohin er geschickt worden war, und teilte auch nichts über die Umstände seines Verschwindens mit. Zwölf lange Monate hatte sie ihn als MIA – Missing In Action – geführt, aber nie für tot erklärt. Doch all das hatte sich letzte Woche geändert, als ein junger Offizier mit einer Fahne an Helens Tür erschienen war.

Da nun volle zwölf Monate vergangen waren, hatte die Navy sich dazu durchgerungen, Gabe für tot zu erklären. Die Fahne machte es offiziell. Es war schon seltsam, dass eine brandneue Flagge mit leuchtend roten Streifen und kräftigen Sternen Helen einen derartigen Schock versetzen konnte. Nicht, dass sie tatsächlich damit gerechnet hatte, dass Gabe zurückkehren würde, aber die Art, wie die Fahne in militärischer Weise zusammengelegt war, machte ihr mehr als alles andere klar, dass er tatsächlich tot war. Die so fest gefaltete Flagge erschien ihr wie ein Symbol für das Ende von Gabes Lebenskraft.

Und doch folgte dem Schock schnell ein geradezu euphorisches Gefühl der Erleichterung. Sie würde ihre neue Unabhängigkeit, die sie sich in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte, nicht aufgeben müssen. Sie würde den Job behalten können, der ihr so viel Befriedigung verschaffte. Sie würde ihre dreizehn Jahre alte Tochter allein großziehen, so, wie sie es eigentlich schon immer getan hatte.

Es war nicht leicht, es zuzugeben, aber Gabe zu heiraten, war ein Fehler gewesen, ein unnötiger Umweg. Sie hatte geglaubt, es ihren Eltern schuldig zu sein. Sie hatte gewollt, dass Mallory mit einem Vater aufwuchs. Aber Gabe, mit seinem Ehrgeiz, die Welt zu retten, hatte keine Zeit für eine Ehefrau gehabt, geschweige denn für eine Stieftochter.

Bereits ein Jahr nach ihrer Hochzeit hatte ihr Ritter auf dem weißen Ross sie praktisch vergessen. Und nun, drei Jahre später, war er tot.

Alles war vorbei.

Der mächtige, unbezwingbare Jaguar war tot, ausgelöscht von irgendeinem gesichtslosen Feind. Die Fahne war der Beweis. Nun galt es, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu blicken. Sie brauchte Gabe Renault nicht, um sich als vollständiger Mensch zu fühlen. Sie war im letzten Jahr sehr gut allein zurechtgekommen. Mehr noch als das. Und doch …

Selbst mit den Ohren unter Wasser konnte sie die Worte von der Natalie-Cole-CD deutlich hören: »Unforgettable, that’s what you are…«

Bedauern versetzte ihr einen Stich ins Herz. Von Zeit zu Zeit vermisste sie ihn. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie immer noch seine Hände spüren, seine heiße Zunge, mit der er zu allen Schandtaten bereit war. Er hatte jede erogene Zone ihres Körpers gekannt und dieses Wissen zu seinem Vorteil genutzt, sie immer wieder zu sich gerufen, wenn ihr Herz begann, sich auf Wanderschaft zu begeben.

»Unforgettable, in every way …«

Jetzt war er nicht mehr da, um sie zurückzurufen. Sie war frei. Frei, ihr eigenes Leben zu leben. Mit einem tiefen Seufzer der Erlösung ließ sie sich noch tiefer ins Wasser sinken. Kurz darauf tauchte sie wieder auf und griff nach dem Shampoo.

In einem anderen Teil des Hauses klingelte das Telefon. Sie wartete darauf, dass Mallory den Hörer abnahm. Am Vormittag hatte sie einen Step-Aerobic-Kurs gegeben und nachmittags Bildhauerei unterrichtet. Als sie abends nach Hause gekommen war, hatte sie ein großes Verlangen nach einem langen heißen Bad verspürt.

»Mom, es ist für dich.« Die Badezimmertür wurde aufgerissen, als Mallory, ohne anzuklopfen, hereinmarschiert kam. Im Licht der Kerzen wirkte ihr Gesicht wächsern. Vielleicht lag es auch an dem Kontrast zwischen ihrem hellen Teint und ihren Haaren, die sie sich gerade frisch gefärbt hatte.

Schwarz? »Oh, Mal!«, rief Helen. »Was hast du …?«

»Es ist dringend«, erklärte Mallory und hielt ihr das Telefon hin.

Die Art, wie Mallory ihre grünen Augen aufriss, ließ Helen zögern. Doch sie nahm das Telefon und beugte sich aus der Wanne. »Hier ist Helen«, sagte sie schnell.

»Mrs Renault, hier spricht Commander Shafer von der Traumatologie im Portsmouth Naval Medical Center.«

Helen sah in das bestürzte Gesicht ihrer Tochter. Es musste um Mallory gehen. Wahrscheinlich hatte sie wieder etwas angestellt, was sonst?

»Ma’am, ich rufe Sie an, um Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihren Mann hier haben. Es ist wirklich eine bemerkenswerte Geschichte. Er ist in Südkorea an Land gespült worden, direkt vor der entmilitarisierten Zone. Er war in einem ziemlich schlechten Zustand, wenn man bedenkt …«

Der Commander sprach weiter, aber Helen konnte ihn nicht mehr verstehen, so laut rauschte das Blut in ihren Ohren. »Es tut mir leid, aber das muss ein Irrtum sein«, unterbrach sie den Anrufer. »Mein Mann ist tot. Er wird seit über einem Jahr vermisst.«

»Er ist nicht tot, Ma’am. Der Mann, den wir hier haben, ist Lieutenant Gabriel Renault. Er ist die ganze Zeit in Nordkorea gewesen.«

Es konnte nicht Gabe sein. Das Bild des Offiziers, der ihr die Fahne überreicht hatte, schoss ihr durch den Kopf. Sie war so streng gefaltet gewesen, so endgültig. »Haben Sie ihn zweifelsfrei identifiziert? Wie können Sie so sicher sein?«

»Ich verstehe, dass es ein Schock für Sie sein muss«, beschwichtigte der Commander. »Aber Sie können absolut sicher sein, dass wir seine Identität gründlich überprüft haben. Sein Commander ist bereits hier gewesen, um ihn zu besuchen. Jetzt sollte ein Mitglied seiner Familie das noch einmal tun. Er lebt, Ma’am, und er befindet sich in einem ziemlich guten Zustand, wenn man bedenkt, was er durchgemacht haben muss.«

Helen schluckte heftig. Schock und Verblüffung rangen in ihrem Innern mit einem Gefühl völliger Ablehnung. Die Freiheit, die sie in der vergangenen Woche so sehr genossen hatte, war eine Illusion gewesen. Gabe war zurück. Er war die ganze Zeit am Leben gewesen!

»Ich bin mir sicher, Sie möchten gleich zu uns kommen«, bot der Commander an.

»Natürlich«, sagte sie mechanisch, obwohl sie sich dessen bei Weitem nicht so sicher war wie er. Vielleicht hatten sie sich doch geirrt. Denn wie sollte Gabe ausgerechnet in Nordkorea ein Jahr überlebt haben?

»Es gibt da noch eine Sache, die Sie wissen sollten, bevor Sie ihn sehen, Ma’am.«

Sie wappnete sich gegen weitere schlechte Nachrichten. Wahrscheinlich würde man ihr jetzt mitteilen, dass Gabe gefoltert oder verstümmelt worden sei.

»Er hat offenbar einen Teil seines Gedächtnisses verloren. Er erinnert sich nicht daran, eine Familie oder etwas Ähnliches gehabt zu haben. So etwas ist durchaus normal, ich möchte, dass Sie das wissen. Es ist ein Hinweis auf eine Posttraumatische Belastungsstörung, nichts, was man nicht behandeln könnte. Wir geben ihm im Moment Medikamente, um ihn ruhigzustellen. Kommen Sie doch heute Abend noch ins Krankenhaus, dann erkläre ich Ihnen alle weiteren Einzelheiten.«

Stumm vor Entsetzen starrte Helen in das blasse Gesicht ihrer Tochter. Er erinnert sich nicht an uns?

»Ma’am?«

»Ja.« Sie zwang sich zu einer Erwiderung. »Ich bin in ungefähr einer Stunde bei Ihnen.«

»Sehr schön. Sie finden uns im zweiten Stock. Fragen Sie einfach nach Commander Shafer. Ich begleite Sie dann zu Ihrem Mann. Und vielleicht sollten Sie nicht allein kommen«, schlug er vor.

»Ich bringe meine Tochter mit.«

Der Commander zögerte kurz, da er sich ohne Zweifel ein kleines Kind vorstellte. »Okay, dann bis nachher.«

In Helens Ohr klickte es, als aufgelegt wurde. Der Hörer rutschte ihr aus den tauben Fingern und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Badematte. Die Kerzenflammen schienen zu verschwimmen. Vielleicht war sie ja in der Wanne ertrunken und hatte eine Art Halluzination.

»Mom!« Es war Mallory, die sich über sie beugte, mit ihrem Haar, das jetzt mitternachtsschwarz war anstatt kastanienbraun. »Es geht um Dad, stimmt’s?«, wollte sie wissen. Ihr weißes Gesicht war nicht nur das Ergebnis ihrer Färbeaktion. »Er ist zurück, oder?«, fragte Mal angespannt. Helen wusste nicht, ob sie überglücklich oder einfach nur wütend war. Aber so simpel war es wahrscheinlich nicht.

Arme Mallory. Als Helen und Gabe geheiratet hatten, war sie völlig euphorisch gewesen, endlich einen Vater zu bekommen. Und es war schmerzhaft für sie gewesen, herausfinden zu müssen, dass dieser Vater keine Zeit für eine heranwachsende Tochter hatte.

»Er erinnert sich nicht an uns.« Helen berichtete, was der Arzt ihr gerade gesagt hatte. »Er leidet an einer Art Gedächtnisschwund, weil er … äh …« Sie brachte es einfach nicht über die Lippen.

»Gefoltert worden ist?«, bot Mallory an.

»Ich vermute ja. Wir müssen ins Krankenhaus fahren.« Helen stemmte sich aus der Wanne hoch.

»Mom, dein Haar ist noch voller Seife.«

Helen drehte den Hahn auf und streckte ihren Kopf unter das kalte Wasser. Dann zog sie sich in Rekordzeit an, bürstete ihr Haar durch und quetschte ihre Füße in Tennisschuhe, während Mallory auf dem Bett saß und wartete.

»Möchtest du, dass ich fahre?«, fragte Mal und wirkte verdächtig gelassen.

»Ja, klar.« Helen rang sich ein Lachen ab. Dafür, dass sie nicht einmal mit Gabe verwandt war, ähnelte Mallory ihm sehr. Sie schien jeden noch so heftigen Schlag wegzustecken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und ließ sich von der harten Realität des Lebens offenbar nicht beeindrucken. Aber irgendwann war der Stress dann doch aus ihr herausgebrochen, und sie hatte begonnen, sich selbst zu verletzen. Helen hatte sich daraufhin professionelle Hilfe geholt.

»So schwer ist es nun auch wieder nicht, zu fahren«, beharrte Mallory, während sie ihr durch den Flur und zur Eingangstür hinaus folgte.

Helen nahm den silbernen Jaguar, der Gabes persönliches Eigentum gewesen war. Es war bereits fast neun Uhr und ein wundervoller Augustabend. Sie jagten der Sonne nach, die schnell hinter den Bäumen versank. Helen fuhr hundertzwanzig, die Finger so fest um das Steuer geschlossen, dass sie eine Hand geradezu davon losreißen musste, um das Radio einzuschalten.

Tu einfach so, als wäre alles normal, redete sie sich zu. Ein Gefühl von Dankbarkeit verspürte sie nicht, auch wenn es nicht jeden Tag passierte, dass ein vermisster Soldat wieder auftauchte. Was war sie nur für eine Ehefrau, dass sie davon nicht völlig begeistert war?

Sie war skeptisch, das war alles. Sie wusste einfach nicht, was sie zu erwarten hatte. Gabe hatte sich ein Jahr lang in Gefangenschaft befunden. Nordkoreaner verhielten sich Ausländern gegenüber grundsätzlich eher unfreundlich. Zweifellos hatten sie ihn durch die Mangel gedreht, um Informationen aus ihm herauszupressen, die gegen die USA eingesetzt werden konnten. Wer konnte schon wissen, welche Auswirkungen das auf seine Persönlichkeit gehabt hatte.

Sie warf Mallory einen Blick von der Seite zu und fragte sich, ob ihre Tochter innerlich genauso aufgewühlt war wie sie selbst. Doch Mallory wirkte gelassen und blickte aus dem Fenster auf die Skylines von Norfolk und Portsmouth. Es war ihr absolut nicht anzusehen, was sie dachte.

»Es wird alles gut werden, Mal«, sagte Helen, wenn auch nur, um etwas zu sagen. Die Therapeuten hatten sie immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es war, dass man miteinander redete.

Mallory erwiderte nichts. Mit einem Blick auf den Schoß ihrer Tochter stellte Helen fest, dass Mallory beide Daumen drückte. Sie riss ihren Blick von diesem Anblick los und fragte sich, worauf Mallory hoffte. Dass Gabe gesund war? Dass er sich an sie erinnern würde? Sicherlich war sie nicht so naiv, auf irgendetwas zu hoffen, was darüber hinausging.

Wie schlimm musste er gelitten haben, dass er seine Erinnerungen verdrängt hatte! Sie schaffte es nicht, sich seine Qualen vorzustellen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, wenn sie daran dachte, in welchem Zustand er sich jetzt befinden musste – ein verängstigtes mentales Wrack.

Sie konnte geradezu sehen, wie sich ihre neu gewonnene Freiheit vor ihren Augen in Luft auflöste. Es war noch keine Stunde vergangen, seit sie sich eingestanden hatte, dass ihre Ehe mit Gabe durch Desinteresse zugrunde gegangen war. Was für eine Ironie des Schicksals, dass er in dem Moment, als sie die Erinnerung an ihn zu Grabe trug, zu ihr zurückgekehrt war, vielleicht um den letzten Tropfen Hingabe aus ihr herauszuwringen, bevor er sie wieder fallen ließ.

Sie würde sich nicht von ihm abwenden, nicht in einer für ihn so schweren Zeit. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit Gabe wieder gesund würde. Und wenn er irgendwann wieder normal funktionierte, würde sie ihn Onkel Sam zurückgeben, dem er sowieso gehörte. Dann würde sie ihm auch sagen, dass ihre Ehe vorbei war.

Von dieser Nachricht würde er ohnehin nicht am Boden zerstört sein. Gabe hatte sie genauso wenig gebraucht, wie sie ihn jetzt brauchte. Es würde eher seinen Stolz verletzen als seine Gefühle ihr gegenüber.

Helen seufzte erleichtert, als sie diese Entscheidung getroffen hatte. Die Wiedervereinigung würde nur vorübergehend sein.

Ein Klopfen an der Tür riss Gabe aus seiner durch die Medikamente ausgelösten Lethargie. Er hatte auf den dunklen Fernsehschirm gestarrt, sich ein Baseballspiel vorgestellt, dass er vor vier Jahren gesehen hatte, und sich dabei gefragt, wieso er sich daran erinnern konnte, aber nicht an die drei Jahre, die dazwischenlagen. »Ja!«, rief er und setzte sich im Bett auf.

Das Klopfen hatte entschlossen geklungen. Gabe hielt den Atem an, weil er vermutete, es könnten seine Frau und seine Tochter sein – an die er sich nicht mehr erinnerte. Dr. Shafer hatte ihm zwar angekündigt, dass die beiden auf dem Weg zu ihm waren. Und er hatte gebadet und sich sorgfältig rasiert, aber bereit fühlte er sich deswegen trotzdem nicht. Wie sollte ein Mann sich auch auf eine solche Begegnung vorbereiten?

Als Erstes wurde ein Blumenstrauß in der Tür sichtbar. Über den Lilien in strahlendem Orange erkannte er das Gesicht des Truppführers vom SEAL-Team 12, Commander Lovitt, und Gabe versuchte sich aus dem Bett zu kämpfen, um zu salutieren.

»Rühren, Lieutenant«, sagte Lovitt. Dann kam er herein und stellte die Blumen auf den Tisch neben Gabes Bett. »Vom ganzen Büro«, erklärte er und pflückte ein paar Blütenblätter von seiner weißen Ausgehuniform, die makellos war wie immer. Offensichtlich war Lovitt auf dem Weg zu irgendeiner offiziellen Veranstaltung. »Wie geht es dem Patienten heute?«

Dieselbe Frage hatte Lovitt auch gestern schon gestellt, aber Gabe hatte unter zu starken Beruhigungsmitteln gestanden, um sie beantworten zu können. »Besser, Sir«, erwiderte er. »Ich bitte um Verzeihung, dass ich gestern nicht geantwortet habe …«

Lovitt winkte ab. »Keine Erklärung notwendig, Lieutenant. Man hat gute und schlechte Tage. Zumindest haben Sie sich an mich erinnert.« Lovitts graue Augen schienen durchdringender zu werden. In seinen Worten hatte ein fragender Unterton gelegen.

»Ja, Sir. Ich erinnere mich daran, dass ich hier stationiert war und hauptsächlich im Echo Platoon gedient habe, aber das ist drei Jahre her.«

Lovitts langer, stummer Blick traf Gabe tief. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?«, erkundigte sich der Commander.

Gabes Magen zog sich zusammen. »Nein, Sir. Bitte tun Sie das.« Lovitts düstere Miene machte ihn nervös. Er hatte das Gefühl, sein befehlshabender Offizier würde ihn aus dem Team entfernen, ohne abzuwarten, ob er sein Gedächtnis wieder zurückerlangen würde.

Lovitt zog seine perfekt gebügelten Hosenbeine ein wenig hoch und setzte sich auf den Besucherstuhl, in militärisch perfekter Haltung. »Sagen Sie mir, woran Sie sich erinnern, mein Sohn«, bat er.

Gabe schluckte. »Was die Mission angeht, Sir?« Er hatte das gerade erst gestern durchgemacht, mit einem Analysten von der DIA, dem Geheimdienst des Verteidigungsministeriums, einem Mann, dessen Fragen ihn derart aufgewühlt hatten, dass er ruhiggestellt werden musste. Gabe wollte nicht noch einmal so in die Mangel genommen werden.

»Nein, nein«, beschwichtigte Lovitt. »Ich meine alles. Beginnen Sie ganz am Anfang. Wo wurden Sie geboren?«

Die Anspannung in Gabes Schultern ließ nach. Mit Erinnerungen, die lange zurücklagen, hatte er keine Probleme. Seine Kindheit – so gern er sie auch vergessen hätte – schien erst gestern gewesen zu sein. »Ich bin in New Bedford, Massachusetts, geboren, 1968.«

»Fahren Sie fort«, ermunterte ihn Lovitt und nickte geduldig.

»Meine Großmutter hat mich aufgezogen«, fuhr Gabe fort und fragte sich, wie sehr der CO an Details interessiert war. War es wichtig, zu wissen, dass seine Mutter sehr jung einen tödlichen Autounfall gehabt hatte? Dass er damals gerade sechs gewesen war und dass er seinen Vater nie kennengelernt hatte?

»Wir … äh … haben in einem Mietshaus in der Acushnet Street gewohnt.« Seine Großmutter war Alkoholikerin gewesen und hatte von der Pension ihres verstorbenen Mannes gelebt. Ihr erzieherischer Einfluss auf Gabe war ungefähr so groß gewesen wie der des Weihnachtsmanns. Gabe hatte sich durch die Schule gemogelt und war tief in die Kleinkriminalität abgerutscht, als er seine erste echte Vaterfigur getroffen hatte – Sergeant O’Mally von der Polizei in New Bedford.

Gabe war sich sicher, dass Commander Lovitt nicht unbedingt etwas über Sergeant O’Mally erfahren brauchte, aber es war hauptsächlich dessen Verdienst, dass Gabe zur Navy gegangen war. Wenn O’Mally den Richter nicht davon überzeugt hätte, eine Anklage wegen Autodiebstahls fallen zu lassen, wäre Gabe jetzt gerade erst wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Stattdessen hatte er die Möglichkeit bekommen, etwas aus seinem armseligen Leben zu machen, indem er zur U. S. Navy gegangen war.

»Ich habe mich verpflichtet, als ich achtzehn war.« Gabe beschloss, seinem CO die Einzelheiten zu ersparen. »Ich war fast acht Jahre EW«, fügte er hinzu und bezog sich damit auf seinen Dienstgrad als Spezialist für elektronische Kriegsführung.

Lovitt nickte, sein kurzes silbernes Haar glänzte im Licht der Halogendeckenlampen. Gabe vermutete, dass er seinen Lebenslauf bereits kannte – er testete nur das Erinnerungsvermögen des Patienten, genau wie es alle anderen getan hatten, seit er vor drei Tagen mit einer Ambulanzmaschine von der koreanischen Halbinsel ausgeflogen worden war.

Schnell fasste Gabe den Rest seines Lebens zusammen. »Dann bekam ich eine Empfehlung für BOOST«, fuhr er fort und meinte damit die Erweiterten Möglichkeiten zur Offizierslaufbahn, eine Gelegenheit für einfache Soldaten, Offizier zu werden. »Und nach vier Jahren an der Marine-Akademie bin ich direkt zum BUD/S-Training gekommen.« Die Grundausbildung für Unterwassersprengungen in Coronado war so tief in Gabes Gedächtnis eingegraben, dass auch die schwerste Posttraumatische Belastungsstörung sie nicht hätte auslöschen können. »Ich erinnere mich an meine gesamte Ausbildung, Sir«, betonte er. »Ich kann meinem Land immer noch mit ganzer Kraft dienen.«

Lovitt nickte grimmig und gleichzeitig bedauernd. »Drei Jahre, an die man sich nicht erinnern kann – ein langer Zeitraum«, bemerkte er.

Gabes Arzt zufolge war es tatsächlich die längste Zeitspanne, die ein Mensch in Folge einer Posttraumatischen Belastungsstörung jemals vergessen hatte.

Gabes Blutdruck stieg. Er saß jetzt aufrechter im Bett und hoffte, dass er nicht mehr wie ein halb verhungertes Skelett aussah, sondern mehr so wie früher. »Das Gedächtnis wird wieder zurückkommen, Sir«, schwor er.

»Ich bin nicht hier, um Sie zu entlassen, Renault«, beschwichtige der Commander. »Sie sind einer meiner Männer, und ich mache mir Sorgen um Sie. Laut Commander Shafer ist Ihr Stirnlappen verletzt worden, was zu Ihrem Gedächtnisverlust beigetragen haben kann. Also, ich glaube, dass ihr Gedächtnisverlust vorübergehend ist. Aber Sie dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es auch dabei bleiben kann.«

Gabe starrte in Lovitts unbewegtes Gesicht und fragte sich, was er tatsächlich dachte. Lovitt war ein guter CO – fähig und engagiert, aber unmöglich zu durchschauen. Zumindest schien er nicht das zu unterstellen, was der Analyst der DIA gestern angedeutet hatte: Dass Gabe im Verhör des Feindes zusammengeklappt war und Staatsgeheimnisse preisgegeben hatte, dass der Gedächtnisverlust ein praktischer Weg war, um diese Schmach zu verdrängen.

Aber hatte der CO auch nur die geringste Ahnung, welche Narben Gabe davongetragen hatte? Er ballte die Finger seiner linken Hand zur Faust, um seine Nägel zu verbergen, die gerade erst wieder nachwuchsen.

»Erinnern Sie sich in irgendeiner Weise an den Abend, an dem Sie verschwanden, Lieutenant?«

Gabe hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. Von allen Rätseln, die er den Leuten, die ihn befragten, aufgab, verwirrte sie dies am meisten. Wo zum Teufel war er das vergangene Jahr über gewesen? Die Navy hatte ihn gerade für tot erklärt.

Gabe stieß einen Seufzer aus und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, während er verzweifelt nach irgendeinem Erinnerungsfetzen an diese Mission suchte, irgendetwas, womit er das Vertrauen seines Commanders zurückgewinnen konnte. Für eine Sekunde war da ein Bild, wie ein aufblitzender Funke in der Dunkelheit, aber dann erlosch er auch schon wieder und verschwand in dem gähnenden Loch der vergangenen drei Jahre. Gabe schüttelte den Kopf und schämte sich, seinem Commander in die Augen zu sehen.

Lovitt beugte sich vor und drückte Gabes Hand. »Ich möchte nicht, dass Sie sich Sorgen um Ihre Karriere machen, Lieutenant. Ich möchte, dass Sie sich darauf konzentrieren, gesund zu werden und wieder auf die Beine kommen. Es ist ein gottverdammtes Wunder, dass Sie heute überhaupt hier bei uns sind.«

»Danke, Sir«, murmelte Gabe. Er wusste Lovitts Unterstützung zu schätzen, aber er hörte auch unterschwellig etwas Bedrohliches aus seinen Worten heraus: Lovitt rechnete nicht damit, dass Gabe sich wieder erholen würde. Er glaubte nicht daran, dass Gabe jemals wieder ein SEAL werden würde. Und diese Erkenntnis verursachte Gabe Magenschmerzen.

»Wie ich höre, werden Sie morgen entlassen«, sagte der CO und erhob sich.

»Ja, Sir.« Schon bei dem Gedanken daran zog sich ihm erneut der Magen zusammen. Er würde nach Hause fahren, obwohl er nicht wusste, was sein Zuhause war. Seine letzte Erinnerung bestand darin, dass er im BOQ, der Unterkunft für ledige Offiziere, gewohnt hatte. Jetzt hatte er offenbar Frau und Kind. Ohne Zweifel lebte er mit ihnen zusammen, obwohl er keine Ahnung hatte, wo das sein sollte.

Die einzige Familie, an die er sich erinnern konnte, waren seine Kameraden beim Echo Platoon. »Sind die Jungs hier, Sir? Westy, Bear und … der Neue, Luther?«

Lovitt warf ihm ein schiefes Lächeln zu. »Luther ist jetzt Lieutenant, Junior Grade«, erklärte er geduldig. »Die Männer sind auf Küstenpatrouille. Ich habe sie über Funk darüber informiert, dass Sie wieder aufgetaucht sind, und Master Chief León ist in diesen Minuten auf dem Weg hierher. Ich nehme an, er wird eintreffen, bevor man Sie entlässt.«

Gabe nickte, und ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn. »Danke, Sir.« Der Master Chief war genau der richtige Mann, den jemand in seiner Situation gern in seiner Nähe hatte. Im Gegensatz zum CO würde er Gabes Selbstvertrauen nicht untergraben. Er würde Gabe anstacheln, sich an die vergangenen drei Jahre zu erinnern, ihm vorschlagen, sich wieder an seine verdammte Arbeit zu machen. Gabe sehnte seinen Besuch geradezu verzweifelt herbei.

»Nun gut.« Lovitt schlug die Hacken seiner makellos weißen Schuhe zusammen. »Nehmen Sie es nicht so schwer, Renault. Ihre Frau wird sich gut um Sie kümmern. Sie kann sich glücklich schätzen, dass Sie zurück sind.«

Gabe brachte es einfach nicht über sich, darauf zu antworten. Er hatte gesehen, was die Feinde mit ihm gemacht hatten, er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau noch ein Interesse an ihm haben sollte.

»Ruhen Sie sich noch etwas aus.« Lovitt wandte sich der Tür zu.

»Einen schönen Abend, Sir. Vielen Dank für die Blumen«, rief Gabe, obwohl er nicht einmal einen kurzen Blick darauf werfen mochte. Lilien. Gott, waren die nicht eigentlich etwas für Beerdigungen?

Als die Tür hinter dem CO ins Schloss fiel, sank Gabe zurück in die Kissen und fluchte erst einmal ausgiebig. Sein Commander hatte ihn schon so ziemlich abgeschrieben. Wenn er sein Gedächtnis nicht sehr schnell wiedererlangte, war er seinen Job los. Und eigentlich auch seine Identität. Und was dann? Bedrückt dachte Gabe darüber nach, was er gewesen war, bevor er zu den SEALs gekommen war – kaum mehr als ein kleiner Ganove. Bei den SEALs hatte er zu Selbstbewusstsein gefunden und Disziplin gelernt. Sein Leben hatte einen Sinn bekommen und ein Ziel. Es waren die besten Jahre seines Lebens gewesen. Davor war er nur irgendein Junge gewesen, der sich auf der Suche nach Streit und Schlägereien herumgetrieben hatte, um die tief in ihm sitzende Wut loszuwerden.

Wenn er also kein SEAL mehr war, was war er dann? Ehemann und Vater? Wie war es dazu gekommen?

Er war der letzte Mann auf der Welt, den irgendeine Frau hätte heiraten sollen. Nicht, dass er keine Frauen mochte. Ganz bestimmt nicht, er liebte ihre Körper, liebte es, wie stark er sich bei ihnen fühlte. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung von Intimitäten. Er mochte es nicht, wenn zärtliche Gefühle sich seiner bemächtigten. Gefühle, die einen Mann um den Verstand brachten und ihm das Herz brachen, konnte er sich nicht leisten. Es hatte ihn zehn Jahre seines Lebens gekostet, um bei klarem Verstand zu bleiben. Er durfte nicht zulassen, dass eine Frau ihm diesen erneut raubte. Wieso war er dann eigentlich verheiratet und hatte ein Kind?

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

Gott, Allmächtiger. Gleich würde er es herausfinden.

2

»Herein.« Gabe setzte sich auf, und das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Die Tür wurde nach innen aufgestoßen. Gabe sah den weißen Ärmel des Arztes, während er sie aufhielt. Die typischen Geräusche eines Krankenhauses drangen herein – das Piepsen von Monitoren, ein Arzt, der ausgerufen wurde, Lifttüren, die sich öffneten. Aber mehrere Sekunden verstrichen, bevor sich jemand zeigte.

Dann kam eine Frau herein. Gabe schoss das Adrenalin mit einer derartigen Wucht durch den Körper, dass er sich unwillkürlich rechts und links an den Gittern des Bettes festklammerte. Fest sah er ihr in die Augen, und sie erwiderte seinen Blick. Gott im Himmel, kein Wunder, dass er verheiratet war. Ein Blick auf sie genügte, und er wünschte, es würde nie vorbei sein.

Honigfarbene Augen betrachteten ihn aus einem herzförmigen Gesicht. Ihre Wimpern und Augenbrauen waren fast unmerklich dunkler als ihr goldenes Haar, das ihr über den Rücken fiel. In der Mitte ihres Kinns befand sich ein winziges Grübchen. Sie trug ein enges weißes Oberteil, das sich um ihre schönen Brüste schmiegte, dazu Shorts, die ihre schlanken, muskulösen Beine betonten.

»Gabe?«, flüsterte sie, so als würde sie ihn ebenfalls nicht wiedererkennen. Er nickte und wollte den Namen aussprechen, den man ihm genannt hatte – Helen. Helen war der perfekte Name für sie. Aber dann betrat eine weitere Frau den Raum, und er dachte … Moment mal, vielleicht ist das Helen.

Aber die andere war noch ein Mädchen, dabei größer und etwas stämmiger als die Frau. Ihr Haar war schwarz gefärbt. Ihre Augen, die eine dunkelgrüne Variante derer der erwachsenen Frau waren, verrieten ihre Verwandtschaft.

Aber halt! Das Mädchen war vielleicht zwölf oder dreizehn. Wenn sie seine Tochter war, müsste er sich doch an sie erinnern können. Noch nie in seinem ganzen Leben war er so verwirrt gewesen.

Während er seinen Blick wieder auf die Frau richtete, spürte er, wie seine Panik nachließ. Ohne Frage war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Die Untersuchungen, die er in der vergangenen Woche hatte über sich ergehen lassen, verblassten angesichts dieser unerwarteten Belohnung. Vielleicht war er doch der Aufgabe gewachsen, ein guter Ehemann zu sein.

Helen hatte das dringende Bedürfnis, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu fliehen. Glücklicherweise stand Mallory direkt hinter ihr und versperrte so den einzigen Weg hinaus.

Gabe beherrschte den Raum. Sie hatte jedes Mal Tage gebraucht, um sich wieder an ihn zu gewöhnen, wenn er länger fort gewesen war. Nicht, dass er ein Riese war mit seinen eins zweiundachtzig, aber er besaß eine magnetische Anziehungskraft. Seine Lebendigkeit wirkte ungeheuer einnehmend, und das Krankenhausbett erschien plötzlich wie ein Kinderbettchen.

Langsam ging sie auf ihn zu. Gabe starrte sie an, als wäre er bis ins Mark getroffen. Sein Gesichtsausdruck war so offen, spiegelte eine solche Schutzlosigkeit, dass sie zögerte. War er es überhaupt, oder handelte es sich doch um eine Verwechslung?

Sie betrachtete ihn aufmerksam. In seinem Krankenhaushemd sah er ohnehin anders aus, aber seine breiten Schultern waren ihr vertraut, wie auch seine Arme. Abgesehen von den straffen Muskeln sah er dünner aus als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Seine eingefallenen Wangen unterstrichen nur seine ohnehin schon klaren Züge.

Es war ohne Frage Gabe. Sein Gesicht war dasselbe, und seine Augen zerstreuten auch die letzten Zweifel. Sie besaßen einen eigentümlichen gelbgrünen Schimmer, und sein Blick spiegelte die gleiche Intelligenz und Intensität, die sie vor drei Jahren so angezogen hatte. Sie musste sich wappnen, um ihm jetzt zu widerstehen.

»Na«, sagte sie mit seltsam heiserer Stimme, »wie geht es dir?«

Er warf ihr sein so vertrautes, schiefes Lächeln zu. »Man hat mir gesagt, ich müsste eigentlich tot sein, also geht es mir wahrscheinlich gar nicht so schlecht.«

Ja, immer noch derselbe skurrile Sinn für Humor. Es war eindeutig Gabe. Sein rauer Bariton bewirkte, dass sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten.

Er starrte sie mit so offener Faszination an, dass sie spürte, wie sie rot wurde. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als würde sich ihre Kopfhaut zusammenziehen, denn sie merkte, dass der Arzt nicht übertrieben hatte. »Du erinnerst dich wirklich nicht an mich, oder doch?«

»Nein.« Er starrte sie an und schüttelte den Kopf. Es schien ihn allerdings auch nicht allzu sehr zu stören. Während sie im Magen ein Gefühl hatte, als würde sie in einem Fahrstuhl zu schnell in die Tiefe sausen, streckte sie die Hand nach Mallory aus und zog sie näher zu sich. »Das ist Mallory«, erklärte sie. »Du bist ihr Dad seit ihrem zehnten Lebensjahr.«

Gabe wandte sich seiner Tochter zu, und Unsicherheit verdrängte seine Verblüffung. Helen hatte noch niemals den Ausdruck von Unsicherheit auf seinem Gesicht gesehen. »Hi«, sagte er und streckte etwas unbeholfen seine Hand aus.

Mallory übersah die Hand, beugte sich über das Seitengitter des Betts und umarmte ihn. »Hi Dad«, stieß sie hervor.

Überrascht warf Gabe Helen einen Hilfe suchenden Blick zu, aber sie war selbst viel zu perplex, um ihm beistehen zu können. Mallory hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, Gabe irgendwelche Zuneigung zu zeigen. Wozu auch? Sie hatte ohnehin nichts damit erreicht. Aber ihr Gefühlsausbruch schien aufrichtig zu sein. Sie drückte ihren Dad mit aller Kraft an sich und schien ihn überhaupt nicht wieder loslassen zu wollen. So sehr, wie er sie ignoriert hatte, so begeistert schien sie, ihn wiederzuhaben.

Dann richtete sie sich auf und wischte sich eine Träne von der Wange. Voller Anspannung bemerkte Helen, dass Gabes Panik einem Ausdruck der Erwartung gewichen war.

Er wollte auch sie umarmen. Sie wappnete sich dafür, obwohl sie wusste, dass ihr Körper sie verraten würde. Die alte Anziehungskraft war immer noch da. Vielleicht würde sie nie vergehen.

Sie trat vor und legte ihm die Arme locker um den Hals. Gabe dagegen zog sie an sich, und sie spürte seine Arme wie riesige Eisenklammern. Er grub seine Nase in ihr feuchtes Haar, atmete ihren Duft ein – sie konnte es direkt neben ihrem Ohr hören. Sein Körper loderte vor Hitze, wie er es immer getan hatte. Er roch nach Seife, Franzbranntwein und verströmte diesen sauberen vertrauten Geruch, von dem ihr ganz schwindelig wurde.

Bestürzt darüber, wie gut es sich anfühlte, wieder in den Armen gehalten zu werden, befreite Helen sich. »Willkommen zu Hause«, sagte sie, während sie sich zurückzog.

Auf einmal verstand er, man sah es in seinen Augen. Und plötzlich wirkte er wieder wie der alte Gabe, vorsichtig und verschlossen. »Tja, so ist das.« Mit den Fingern fuhr er sich durch sein muskatnussfarbenes Haar – es war länger, als er es normalerweise trug. »Es wäre sehr viel schöner, wenn ich mich erinnern könnte.«

»Der Arzt sagt, es sei nur vorübergehend.« Helen wandte sich zur Tür und war dankbar, dass Commander Shafer immer noch dort stand und die drei mit seinen blauen Augen musterte. »Wie lange wird es dauern, bis er sein Gedächtnis wieder zurückhat?«, fragte sie und lud ihn damit ein, an dem Gespräch teilzunehmen.

Der Commander trat an das Fußende von Gabes Bett. »Das kann niemand mit Bestimmtheit sagen«, erwiderte er und verstärkte damit nur noch ihr Unwohlsein. »Es gibt keinen vorhersehbaren Zeitraum. Wenn es sich tatsächlich nur um eine Posttraumatische Belastungsstörung handelt, an der er leidet, hat die Amnesie erst kürzlich eingesetzt, wahrscheinlich direkt nachdem die Gefahr vorbei war. Warum er auch die beiden Jahre vor seiner Gefangenschaft vergessen hat, ist uns noch ein Rätsel. Das könnte auf einen bleibenden Gedächtnisverlust hindeuten, der vielleicht durch einen Schlag eingetreten ist, den er gegen die Seite seines Kopfs bekommen hat. Er scheint einen Schaden am Stirnlappen erlitten zu haben. Aber je schneller er wieder in seine vertraute Umgebung kommt, desto wahrscheinlicher ist es, dass irgendetwas dort seine Erinnerungen zurückbringt. Sobald das geschieht, werden wir weitersehen. Wir würden ihn gern morgen entlassen.«

»Morgen schon?«, erwiderte sie. Nein, nein, sie brauchte mehr Zeit, um ihre Zukunft zu planen, um den besten Zeitpunkt zu finden, sich aus Gabes Leben zurückzuziehen.

»Es wird natürlich eine intensive begleitende Therapie geben«, fügte Shafer hinzu. »Dr. Terrien von der Psychiatrie wird von jetzt an die Behandlung Ihres Mannes übernehmen. Er hat ihn sich bereits einmal angesehen«, ergänzte er und nickte Gabe zu. »Ihr Mann kann zu ihm in die Oceana Clinic fahren, die, glaube ich, näher an Ihrem Haus ist. Seinen ersten Termin hat er …«, Shafer warf einen Blick auf das Klemmbrett am Fuß von Gabes Bett, »… am Mittwoch um vierzehn Uhr.«

Helen sah Gabe an, weil sie sicher war, dass er sich einer Therapie widersetzen würde. In der Vergangenheit hatte er psychologische Tests immer gemieden wie die Pest.

Gabe betrachtete sie aufmerksam. »Wärst du damit einverstanden?«, erkundigte er sich.

Sie wusste nicht, was sie damit zu tun haben sollte. »Sicher«, erwiderte sie und zuckte mit den Schultern.

»Sie werden ihn in die Klinik fahren müssen«, erklärte Dr. Shafer. »Zusätzlich zu den Posttraumatischen Belastungsstörungen leidet er unter einem Erschöpfungssyndrom – eine Folge von permanentem Schlafentzug. Und unter dem Einfluss der Medikamente, die er bekommt, um tagsüber wach zu bleiben, sollte er nicht Auto fahren. Was die Erinnerung angeht, wird diese wahrscheinlich bruchstückhaft zurückkommen, man nennt das Flashbacks. Sie können durch irgendeine Äußerlichkeit ausgelöst werden oder in seinen Träumen auftauchen. Nachts wird er wahrscheinlich Probleme haben, zu schlafen, deswegen hab ich ihm auch Schlaftabletten verschrieben.«

Helen stellte sich vor, wie Gabe nachts durchs Haus streifte, und sie erschauderte.

»Dr. Terrien wird Ihnen übermorgen noch weitere Ratschläge dazu geben können«, fügte der Arzt hinzu.

Sie holte tief Luft. »Okay«, sagte sie und rieb sich die Stirn. »Es tut mir leid, um welche Uhrzeit war der Termin?«

»Vierzehnhundert.«

Um zwei. Sie würde früh von der Arbeit nach Hause kommen müssen, um Gabe am Mittwoch zu seinem Termin fahren zu können.

Dr. Shafer war im Begriff, das Zimmer zu verlassen. »Es hat mich sehr gefreut, Sie und Ihre Tochter kennenzulernen, Mrs Renault. Ich lasse Sie jetzt allein, wir sehen uns morgen, wenn Sie kommen, um ihn abzuholen … Sagen wir neunhundert? Sie müssten dann noch ein paar Formulare unterschreiben.«

»Okay«, sagte Helen erneut, obwohl ihr auf schmerzhafte Weise immer mehr bewusst wurde, dass ihr eigenes Leben definitiv vorbei war, genauso, wie sie es befürchtet hatte.

Mit einem Klicken fiel die Tür hinter dem Arzt ins Schloss, und die drei waren allein.

Gabe warf Helen einen fragenden Blick zu. Sie wich ihm aus und sah sich stattdessen im Zimmer um.

»Jemand hat dir Blumen gebracht?«, fragte sie, als sie den großen Strauß Lilien auf dem Tisch entdeckte.

»Commander Lovitt«, entgegnete Gabe und verzog leicht den Mund. »Er war gerade hier, um mich zu besuchen.«

»Wie nett von ihm.«

»Der Master Chief kommt noch heute Abend mit dem Flugzeug. Ich werde bald mit ihm sprechen können.«

Gut, dachte Helen. Je mehr Unterstützung er von seinem Team bekam, desto besser. Das nahm ihr etwas von der Last, die auf ihren Schultern lag. »Sie hatten dich wohl an den Tropf angeschlossen«, sagte Helen, als sie den leeren Beutel neben dem Bett bemerkte.

»Ja, ich habe eine Woche lang Zuckerlösung und Antibiotika bekommen. Heute konnte ich mich steigern und habe einen Toast gekriegt.« Wieder warf er ihr sein schiefes Lächeln zu und betrachtete dann fast schüchtern seine Füße.

Überrascht bemerkte Helen, dass einer seiner Zähne fehlte. Das ruinierte die perfekte Symmetrie seines Lächelns und verlieh ihm stattdessen ein spitzbübisches Aussehen. »Du bist seit einer Woche im Krankenhaus?«, erkundigte sie sich und wiederholte einfach nur die Information, die er ihr gegeben hatte. »Wie kommt es dann, dass man mich erst heute angerufen hat?«

»Ich war noch in Übersee. Ich hatte Fieber und habe tagelang geschlafen. Sie mussten erst meine zahnmedizinischen Unterlagen miteinander vergleichen, und diese waren offensichtlich falsch einsortiert. Niemand hat mir geglaubt, als ich gesagt habe, wer ich bin.«

»Wir dachten, du wärst tot«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie sich beherrschen konnte.

Er warf ihr einen verletzten Blick zu – ein weiterer Ausdruck, den sie bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte. Und wenn sie ihn genauer betrachtete, bemerkte sie noch andere Veränderungen. Um den Mund herum hatte er einige dünne Narben, die früher nicht dort gewesen waren, und auch über seinen Augenbrauen. Er war offensichtlich ins Gesicht geschlagen worden, vermutlich sogar mehrfach.

Lieber Gott! »Fehlt dir …« Sie schluckte schwer. »Hast du sonst noch etwas außer den Gedächtnisstörungen?«, rang sie sich schließlich ab.

Er zuckte mit den Schultern und wirkte plötzlich sehr unsicher. »Ich bin dünner als jemals zuvor in meinem Leben. Ich habe ein paar Narben.« Er ballte die linke Faust, um seine verkrüppelten Fingernägel zu verbergen, die sie aber längst bemerkt hatte.

Ihr wurde ganz übel bei dem Gedanken, was er durchgemacht haben musste. Doch er war immer stolz auf seine Unabhängigkeit gewesen, deswegen verkniff sie es sich, ihn zu bedauern.

Damit schienen ihre Themen erschöpft.

Beide sahen sie zu Mallory hinüber, die Gabe anstarrte und deren Blick all ihre Gefühle verriet. Mallory, die ihren Dad seit Jahren zum ersten Mal in den Arm genommen hatte.

»Und in welcher Klasse bist du jetzt?«, erkundigte sich Gabe zu Helens Überraschung.

»Wir haben Sommerferien«, erklärte Mallory. »In einem Monat gehe ich auf die Highschool.« Sie sagte es in einem sehr erwachsenen Ton.

»Unglaublich«, meinte Gabe. Er musterte sie genau. »Also bist du schon wie alt? Vierzehn?«

»Fast. Ich bin spät im Jahr geboren. Am zweiten September.«

»Ich im Juli. Ich erinnere mich noch daran, dass ich dreiunddreißig geworden bin, aber nicht sechsunddreißig. Ziemlich seltsam, was?«

Helen konnte sich nicht daran erinnern, wann Gabe und Mallory sich das letzte Mal so entspannt unterhalten hatten. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle.

»Genauso lange kennen wir dich«, stellte Mallory fest. »Drei Jahre.«

Gabe warf Helen einen Blick zu. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er.

Helen spürte, wie sie sich unvermittelt wieder zu ihm hingezogen fühlte. Wäre sie noch einmal in der gleichen Situation, würde sie wieder genau die gleichen Schwierigkeiten haben, ihm zu widerstehen. Er war ein moderner Rattenfänger von Hameln. Selbst jetzt, halb verhungert und ohne Erinnerungsvermögen, zog er sie vollkommen in seinen Bann.

»Hör zu«, ergriff sie jetzt das Wort, »ich muss ein paar Telefonate führen. Ich muss mich darum kümmern, dass ich morgen freibekomme, damit ich dich abholen kann.«

Gabe nickte und senkte den Blick. »Natürlich«, erwiderte er. »Tut mir leid wegen all der Umstände.«

»Nein, das ist schon in Ordnung.« Sie spürte, wie sie schon wieder rot wurde. »Wir sehen uns dann morgen früh«, fügte sie hinzu. »Und … äh … versuch, dir nicht so viele Sorgen zu machen. Deine Erinnerungen werden zurückkommen.« Sie schob sich den Riemen ihrer Handtasche über eine Schulter. Und was jetzt? Sollte sie ihm einen Kuss geben, ihn umarmen oder einfach hinausgehen?

Sie entschied sich dafür, kurz zu lächeln und ihm zuzuwinken. »Wir sehen uns morgen. Komm, Mal.« Dann rannte sie praktisch zur Tür.

Mallory folgte ihr nur zögernd. »Es wird alles gut werden«, hörte Helen sie sagen.

Oh nein, das würde es nicht, das war Helen klar. In dieser Gleichung gab es viel zu viele Unbekannte. Es konnte kein gutes Ergebnis dabei herauskommen.

3

Gabe riss die Augen auf. Außer einem sanften Lichtschein, der unter der Tür durchdrang, war er von tiefer Dunkelheit umgeben. Wo bin ich? Sein träges Hirn ließ keine Antwort zu. Er wusste nur, dass er etwas gehört hatte. Gefahr war im Verzug, wie immer in tiefster Nacht.

Da war es wieder, das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Ein leises Knarzen, wie von Leder, das gedehnt wurde.

Gott, nein! Nicht noch eine Auspeitschung. Nicht wieder unendlich viele brennende Striemen auf seinem Rücken. Diese Folter würde er nicht noch einmal durchstehen können, ganz zu schweigen von den Stunden fiebriger Qualen danach.

Gabe tastete nach einer Waffe, nach irgendetwas, womit er sich seine Kidnapper vom Hals halten konnte. Er bekam etwas zu fassen, das sich wie ein Krug anfühlte, wie ein voller Krug. Er hatte keine Ahnung, wo das Ding herkam, aber da es der einzige Gegenstand in Reichweite war, packte er ihn.

Als eine dunkle Gestalt sich über ihn beugte, schleuderte Gabe ihr den Inhalt des Krugs entgegen. Mit einem überraschten Aufschrei fuhr der Angreifer zurück. Gabe schleuderte den leeren Krug gezielt hinterher und kroch aus der seltsamen Vorrichtung, in der er gelegen hatte, um Abstand zwischen sich und seinen fluchenden Angreifer zu bringen.

»Madre de dios«, rief der Mann und schaltete die Nachttischlampe ein. »Jaguar, ich bin es«, fügte er hinzu. »Was zum Teufel haben Sie vor? Wollen Sie mich ersäufen?«

Als Gabe seinen Master Chief erkannte, sog er scharf die Luft ein. Er tastete Halt suchend nach der Wand. Ein paar schnelle Blicke in die Runde machten ihm klar, wo er sich befand. Nicht in irgendeiner dunklen Zelle mit gesichtslosen Kidnappern, sondern im Naval Medical Center in Portsmouth. Und vor ihm stand sein von ihm sehr geschätzter Master Chief, der sich offensichtlich gerade aus dem Ledersessel neben Gabes Bett erhoben hatte. »Sebastian«, flüsterte Gabe bestürzt.

Sebastian León blickte ihn ebenso bestürzt an. Er war groß und schlank und betrachtete Gabe mit Augen, die nur etwas heller waren als sein pechschwarzes Haar. »Es ist alles in Ordnung«, sagte Sebastian schon wieder mit der gewohnten Gelassenheit. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigte er sich und musterte ihn aufmerksam.

Gabe fiel wieder einmal Sebastians kantiges Äußeres auf. In völligem Gegensatz zu Lovitt sah er aus, als habe er die letzten sechs Wochen ununterbrochen an Bord eines Schiffs der Küstenwache verbracht. Sein Haar war zu lang und lockte sich bereits, sein Kinn brauchte dringend eine Rasur. Er trug einen übel riechenden Kampfanzug, dessen Jacke fehlte. Das grüne T-Shirt, das Gabe gerade mit dem Wasser aus dem Krug getränkt hatte, war ausgeleiert und voller Schweißflecken.

Gabe war in seinem Leben noch nie ein Anblick so vertraut vorgekommen. Er hatte das überraschende Bedürfnis, sich in Sebastians Arme zu werfen. Und er wäre am liebsten vor Scham gestorben, weil er so deutlich gezeigt hatte, wie schwach seine Nerven waren.

»Sie schlafen ja noch halb«, meinte Sebastian, um ihm eine Brücke zu bauen. »Gehen Sie ins Badezimmer und spritzen Sie sich mal kaltes Wasser ins Gesicht.«

Als Offizier stand Gabe rangmäßig über seinem Master Chief, aber trotzdem gehorchte er, weil er dankbar war, einen Moment für sich allein zu haben.

Er hielt seinen ganzen Kopf unter den kalten Wasserstrahl, um die Nachwirkungen der Schlaftabletten loszuwerden. Dann rieb er sich das Gesicht mit einem Handtuch trocken und nahm es, nun wieder einigermaßen klar im Kopf, mit ins Zimmer.

Sebastian tupfte sich die Brust damit ab. Dann schlang er sich das Handtuch um den Nacken, legte Gabe die Hand auf die rechte Schulter und drehte ihn ins Licht des Badezimmers. Der sanfte Ausdruck auf seinem Gesicht schnürte Gabe die Kehle zu.

»Stehe ich einem Geist gegenüber?«, fragte Sebastian.

Gabe lachte. »Ja, vielleicht. Ich fühle mich jedenfalls wie wiederauferstanden.«

Zu seiner Überraschung zog Sebastian ihn in eine ziemlich nasse Umarmung. Das Zittern seiner Arme, die Härte seines Griffs ließen Gabes Herz beben. In Sebastians Augen funkelten Tränen, als er ihn wieder auf Armeslänge von sich hielt. »Ich hatte schon gedacht, ich würde Ihre hässliche Visage nie wiedersehen«, gestand er. »Wie kann es sein, dass Sie noch am Leben sind? Das Lagerhaus ist explodiert, während Sie noch drin waren.«

Gabe versuchte, sich zu erinnern, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht. An die Mission kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Ich erkenne nicht einmal meine Frau wieder«, fügte er hinzu, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine Bestürzung darüber zu verbergen.

Sebastian nahm das Handtuch und rieb erneut über sein Shirt. »Ihnen wird schon noch alles wieder einfallen«, versicherte er ihm.

»Vielleicht.« Von Zweifeln geplagt, trat Gabe einen Schritt zurück. »Mein Stirnlappen hat wohl etwas abbekommen«, fügte er hinzu, während er sich über die möglichen fürchterlichen Folgen den Kopf zermarterte. »Vielleicht kehrt mein Gedächtnis auch nie mehr ganz zurück.«

»Niemals?« Sebastian zog ein spöttisches Gesicht und warf das Handtuch auf den Boden. »Ich wusste gar nicht, dass Sie dieses Wort überhaupt kennen, Sir«, neckte er Gabe. »Erinnern Sie sich an Kirkuk, als mich die Iraker zwei Wochen lang festgehalten haben, bevor Sie mich befreit haben?«

Gabe wühlte in seinem Gedächtnis und war froh, als einige Bilder der damaligen Mission wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten. Er durchlebte sie bis hin zu dem Gefühl von knirschendem Sand zwischen den Zähnen. »Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

»Es hat mich ein Jahr gekostet, mich an diese beiden Wochen zu erinnern.«

»Sie wollen mich wohl hochnehmen?«

»Nein.« Sebastian schüttelte den Kopf in der typischen Art, wie es nur Latinos konnten.

»Aber Sie haben einfach Ihren Bericht abgeliefert und sind gleich wieder in den Einsatz geschickt worden.«

»Ich habe gelogen«, gestand der Master Chief. »Ich habe mich erst nach und nach erinnert, hauptsächlich in meinen Träumen. Eines Tages bin ich dann aufgewacht, und plötzlich war alles wieder da. Ihnen wird es genauso gehen.«

»Was die drei Jahre angeht, kann ich einfach nicht lügen«, erklärte Gabe und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Lovitt hätte mich beinahe aus dem Team geworfen.«

»Falsch«, entgegnete Sebastian. »Der CO möchte Sie genauso schnell zurückhaben wie ich. Er kennt Sie, das ist alles. Er weiß, dass Sie hervorragend auf Herausforderungen reagieren.«

»Ich muss ein SEAL sein, Sebastian«, krächzte Gabe, während ein Beben seinen Körper durchlief. »Ich muss mein Erinnerungsvermögen zurückbekommen.« Er packte die kalte Metallstange an seinem Bett und rüttelte daran.

Der Master Chief nickte düster. »Es wird funktionieren, Jaguar. Aber nehmen Sie sich Zeit. Sie brauchen Ruhe«, fügte er noch hinzu. »Gehen Sie wieder ins Bett. Ich kann genauso gut auch hier duschen«, meinte er und wandte sich dem Badezimmer zu.

»Warum sind Sie nicht zu Hause?«, erkundigte sich Gabe und schob ein nasses Kissen zur Seite.

Der Master Chief warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Ich muss noch ein paar Papiere unterschreiben, bevor man Sie entlässt«, erklärte er.

»Untauglichkeitsbescheinigungen«, vermutete Gabe.

»Die Erlaubnis für eine medizinisch begründete Freistellung«, stellte Sebastian klar. Er ging ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.

Fluchend stieg Gabe zurück ins Bett.

Im Badezimmer stützte sich Sebastian schwer auf das Waschbecken und versuchte, den Schock über Gabes Verfassung loszuwerden. Er starrte in den Spiegel und erinnerte sich an die leichten Entstellungen in Jaguars Gesicht, die von den Folterungen zurückgeblieben waren. Aber das Auffälligste war seine Überreaktion gewesen.

Gabe war schwer traumatisiert.

Während Sebastian sich das klatschnasse T-Shirt auszog, erinnerte er sich daran, wie er den Lieutenant das letzte Mal lebend gesehen hatte. Er hatte auf einer Raketenabschussrampe gestanden und zugesehen, wie die Männer vom Echo Platoon an Bord eines UH-60 Black Hawk gegangen waren, um zu dem Flugzeugträger im Pazifik zu fliegen. Während Jaguar in den Hubschrauber gestiegen war, gefolgt von Miller, dem befehlshabenden Offizier, hatte Sebastian eine seltsame Vorahnung gehabt. Und als er die Nachricht erhielt, dass der Lieutenant bei der Mission ums Leben gekommen war, war ihm diese Ahnung plötzlich wie eine übersinnliche Offenbarung erschienen.

Aber Jaguar lebte. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte Sebastian es für möglich gehalten, dass er diesem Inferno, wie es von den Männern beschrieben worden war, hatte entkommen können. Monatelang hatte er um den Lieutenant getrauert. Zum Teufel, er trauerte immer noch um ihn, obwohl Jaguar aus der Dunkelheit zurückgekehrt war – schwer angeschlagen zwar, aber immerhin am Leben.

Seltsamerweise hatte Sebastian dieses unbehagliche Gefühl, das ihn vor einem Jahr überkommen hatte, wieder eingeholt, und er fröstelte. Dass sein Vertrauter wieder aufgetaucht war, grenzte an ein Wunder – gracias a Dios. Aber es war auch ein Rätsel, ein Rätsel, das einige unangenehme Fragen aufwarf.

Wenn Jaguar die Explosion überlebt hatte, was war dann mit der Rakete passiert, die sie eigentlich hatten abfangen sollen?

Und es gab noch weitere Fragen, die beantwortet werden mussten: Warum war Jaguar zurückgeblieben, als die anderen SEALs das Gebäude verlassen hatten? Wer waren die mysteriösen Schützen, die die SEALs hinausgetrieben hatten? Der einzige Mann, der etwas dazu hätte sagen können, war Jaguar selbst, dessen Erinnerungen daran in ewiger Dunkelheit versunken waren, um ihn vor dem Entsetzlichen, das er durchlebt hatte, zu schützen.