SEAL Team 12 - Geheime Lügen - Marliss Melton - E-Book

SEAL Team 12 - Geheime Lügen E-Book

Marliss Melton

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Beschreibung

Er will sie retten, aber die Gefahr wird immer größer ...

Sara Garret und ihr Sohn leben in ständiger Angst vor Saras gewalttätigem Ehemann. In ihrer Verzweiflung bittet sie den SEAL-Scharfschützen Chase McCaffrey um Hilfe, der den beiden die Flucht ermöglicht. Chase bringt sie zur Ranch seines verstorbenen Großvaters in Oklahoma, wo er und Sara sich schon bald näherkommen. Sie ahnen jedoch nicht, dass Saras Ehemann nicht die einzige Gefahr für sie ist. Denn eine militante Gruppe nutzt die Ranch als geheimes Waffenlager ...

"Ich kann diese talentierte Autorin nur wärmstens empfehlen. Fesselnd und ereignisreich!" New-York-Times-Bestsellerautorin Heather Graham

Starke Helden und ganz viel Gefühl - die packende und wunderbar romantische Navy-SEALs-Reihe von Marliss Melton:

SEAL Team 12 - Aus dem Dunkel
SEAL Team 12 - Gebrochene Versprechen
SEAL Team 12 - Geheime Lügen
SEAL Team 12 - Bittere Vergangenheit
SEAL Team 12 - Gefährliche Suche
SEAL Team 12 - Im letzten Augenblick

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.




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Inhalt

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Epilog

Danksagung

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

SEAL Team 12 – Aus dem Dunkel

SEAL Team 12 – Gebrochene Versprechen

SEAL Team 12 – Geheime Lügen

SEAL Team 12 – Bittere Vergangenheit

SEAL Team 12 – Gefährliche Suche

SEAL Team 12 – Im letzten Augenblick

Über dieses Buch

Er will sie retten, aber die Gefahr wird immer größer …

Sara Garret und ihr Sohn leben in ständiger Angst vor Saras gewalttätigem Ehemann. In ihrer Verzweiflung bittet sie den SEAL-Scharfschützen Chase McCaffrey um Hilfe, der den beiden die Flucht ermöglicht. Chase bringt sie zur Ranch seines verstorbenen Großvaters in Oklahoma, wo er und Sara sich schon bald näherkommen. Sie ahnen jedoch nicht, dass Saras Ehemann nicht die einzige Gefahr für sie ist. Denn eine militante Gruppe nutzt die Ranch als geheimes Waffenlager …

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Marliss Melton hat fast überall in der Welt gelebt, da ihr Vater Diplomat war. Ihr Mann ist aus der Marine ausgeschieden. Sie nutzt ihre Weltkenntnis und ihre Militärkontakte, um realistische und aufrichtige Romane zu schreiben.

MARLISS MELTON

SEAL Team 12

GEHEIME LÜGEN

Aus dem amerikanischen Englisch von Ralf Schmitz

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Marliss Arruda

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Time to Run«

Originalverlag: Forever

Forever is an imprint of Grand Central Publishing/Hachette Book Group, USA.

This edition published by arrangement with Grand Central Publishing, New York, NY, USA. All rights reserved.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30 161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2012/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Die Medienakteure, Hamburg

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © AdobeStock|pawelsierakowski; © GettyImages|triocean

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7517-2049-6

be-ebooks.de

lesejury.de

Ich widme dieses Buch dir, Sunshine.

Danke für die Inspiration.

Für meine Cousins in Broken Arrow,

die nettesten Menschen, die man sich wünschen kann.

Prolog

Gewissenhaft, wie ihr Mann es von ihr erwartete, verstaute Sara die Einkäufe für die Gefriertruhe zuerst. Dann kamen die Lebensmittel, die gekühlt gelagert werden mussten. Sie sortierte sie fein säuberlich in die passenden Fächer in dem makellos sauberen Kühlschrank aus Edelstahl ein. Dann machte sie sich daran, Pakete und Schachteln in den dafür vorgesehenen Schränken unterzubringen, während die Arbeitsplatte aus Granit noch voller Dosen stand. Als Sara Garret aus dem Arbeitszimmer kommen hörte, beeilte sie sich, auch noch die Konserven fortzuräumen.

Garret konnte jeden Moment den Kopf zur Tür hereinstecken, um zu fragen, wann es Abendessen geben würde, doch zu ihrem Unglück hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, was heute auf den Tisch kommen sollte.

Sie beeilte sich und stellte eine Büchse nach der anderen in alphabetischer Reihenfolge in den Schrank. Gemischter Bohnensalat, gebackene Bohnen, grüne Bohnen, Hühnerbrühe, dann Pilze, pürierte Tomaten, Ravioli.

Wenn sie es sich recht überlegte, zählte die Brühe vielleicht eher zu den Suppen. Oder würde ihn diese Zuordnung verärgern?

Sie stellte die Hühnerbrühe ins Fach mit den Suppen und trat zurück, um sich noch einmal von der korrekten Ordnung der Einkäufe zu überzeugen: Brokkoli, Chili, Gazpacho, Hühnerbrühe, Linsen, Sellerie und schließlich Tomaten.

Wo immer sie auf zwei gleichartige Büchsen stieß, schob sie eine hinter die andere, wobei die vordere Dose das frühere Mindesthaltbarkeitsdatum aufweisen musste.

Mit einem ärgerlichen Schnauben schloss sie die Schranktür. Sie hatte jetzt keine Zeit, sich die Stempelaufdrucke anzusehen, die allesamt ohnehin noch eine jahrelange Haltbarkeit versprachen. Wenn sie nicht überlegte, was sie heute Abend kochen sollte, würde Garret gewiss noch etwas finden, das er ihr wegnehmen konnte.

Sie öffnete den Kühlschrank und betrachtete stirnrunzelnd den Inhalt. Was stimmte nicht mit ihr, dass sie immer vergaß, das Fleisch morgens herauszunehmen? Ständig musste Garret sie belehren: Du musst dazu nur ein bisschen vorausschauend denken, Sara. Oder bist du zu einfach gestrickt, um mal ein paar Stunden in die Zukunft zu blicken?

Einfach gestrickt. Wohl kaum. Bevor sie sich begegnet waren, hatte sie an der University of Virginia ihren Master gemacht. Wenn er wüsste, wie klug sie in Wahrheit war, mit welcher Raffinesse sie ihre Geheimnisse vor ihm verbarg, würde er sie vermutlich auf dem Dachboden einsperren.

Sie schnappte sich eine Packung tiefgefrorene Hamburger und schob sie in die Mikrowelle.

Das dumpfe Dröhnen einer Basstrommel setzte ein, woraufhin Sara bestürzt zur Decke sah. Was dachte Kendal sich dabei, seine Musik dermaßen laut aufzudrehen? Er wusste doch ganz genau, dass sein Vater mittwochs zu Hause arbeitete.

Sie holte erschrocken Luft. Wenn er nicht leiser machte, würde sie beide eine Maßregelung erwarten.

Schnell verließ sie die Küche und lief durch den marmornen Eingangsbereich zur Treppe, um den Jungen zu warnen. Doch da bemerkte sie, dass die Tür zu Garrets Büro offenstand. Richtig, sie hatte ja gehört, wie er das Zimmer verlassen hatte. Er musste bereits oben sein, ging ihr auf, um sich Kendal vorzunehmen. Du liebe Güte.

Die plötzliche Stille verriet ihr, dass Garret den Stecker der Stereoanlage gezogen hatte. Jetzt hörte sie auch seine Stimme. Er ließ eine schroffe, abgehackte Schimpftirade vom Stapel, von der sie kein Wort verstand.

Sie blieb mit einem Fuß auf der untersten Stufe der Treppe stehen und lauschte. Garret konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich einmischte.

Dann folgte ein grässliches Schweigen.

»Nein!«

Kendals Aufschrei elektrisierte sie. Sara lief hinauf, nahm drei der breiten, gewundenen Stufen auf einmal. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich vorstellte, was Garret getan haben mochte, das ein derartiges Protestgeschrei auslöste. Soweit sie wusste, hatte er Kendal wenigstens noch nie angerührt.

Sie erreichte den ersten Stock im selben Moment, in dem Garret aus Kendals Zimmer stolziert kam. An einer Hand baumelte Mr Whiskers. »Wirf das weg!«, befahl er und drückte ihr, während sie an ihm vorbeistürmte, das Langohrkaninchen in die Hand. »Das wird deinen Sohn lehren, mich nicht bei der Arbeit zu stören.«

Sara hielt das erschlaffte Geschöpf in den Armen und erkannte sofort, dass es tot war.

Fassungslos blickte sie darauf hinab. Es gab keine sichtbaren Verletzungen – weder klaffende Wunden noch irgendwo Blut, aber das Tier war eindeutig tot. Kendals Keuchen ließ sie weitereilen. »Liebling!«

Sie fand ihn mit vor dem Bauch verschränkten Armen vor, er hockte auf der Bettkante und starrte mit großen Augen in den leeren Kaninchenkäfig.

»Schatz?« Sara ließ sich vorsichtig neben dem Jungen auf dem Bett nieder und wiegte das tote Kaninchen in den Armen. »Was ist denn passiert?« So hatte sie ihn noch nie erlebt, er schnappte nach Luft wie nach einem Schlag in die Magengrube. »Was hat dein Vater mit ihm gemacht?«, fragte sie und zupfte Kendal am Ärmel, als sie keine Antwort bekam.

»Erwürgt«, flüsterte er mit blutleeren Lippen.

»Was?« Vor Entsetzen zog sich ihr das Herz zusammen. Garret würde doch niemals Kendals Kaninchen erwürgen – oder?

Der Junge japste weiter, als bekäme er keine Luft, also sprang sie auf, um irgendetwas zu finden, in das er hineinatmen konnte. Sie entdeckte eine Frühstückstüte aus der Schulmensa, kippte den Inhalt aus und brachte ihm die Tüte. »Atme da hinein, Schatz, du musst dich beruhigen.«

Beruhigen? Was für ein lächerlicher Ratschlag! Wie könnte jemand in dieser nervenaufreibenden Umgebung ruhig bleiben?

Sie kniete auf dem Plüschteppich und sah zu, wie die Tüte sich aufblähte und wieder erschlaffte. Das Keuchen ließ nach, doch Kendal stand das Entsetzen noch immer ins Gesicht geschrieben. Wie oft hatte sie schon in den Spiegel geschaut und an sich genau denselben Gesichtsausdruck gesehen?

Mütterlicher Zorn kochte in ihr hoch, und sie drohte zu explodieren. Es war eine Sache, sich selbst von Garret einschüchtern zu lassen, aber etwas ganz anderes, wenn er ihren Sohn schikanierte. Wie konnte er es wagen, ihr Kind anzugreifen, den einzigen Grund, warum sie nicht aus dieser Ehe ausbrach?

Jetzt reichte es. An diesem Punkt zog sie die Grenze, sie würde ihren noch nicht ganz ausgereiften Plan, in die Freiheit zu fliehen, vollenden und in die Tat umsetzen. »Hör zu«, hauchte sie und legte das tote Kaninchen auf den Boden, um Kendals Knie zu umfassen. »Wir werden ihn verlassen. Wir müssen nicht so leben.«

Er sah sie an. Endlich hörte er ihr zu.

»Ich habe einen Plan«, gestand sie. Sie sprach so leise, dass Garret sie selbst dann nicht hätte belauschen können, wenn Kendals Zimmer komplett verwanzt wäre. »Ich kann dir nicht sagen, was genau ich vorhabe, aber es wird bestimmt funktionieren. Wir gehen weg«, wiederholte sie. »Und kommen nie mehr zurück«, fügte sie entschlossen hinzu.

Das Entsetzen in Kendals Blick wich Hoffnung. »Aber er wird uns finden«, flüsterte er ängstlich.

»Nein, das wird er nicht. Ich habe etwas vor ihm geheim gehalten. Etwas, wovon er nichts weiß.«

Der Junge sah auf das leblose Bündel vor ihren Füßen. »Ich habe Angst«, gab er zu.

»Ich weiß, Liebling.« Ich doch auch. »Deshalb kann ich dir auch nicht mehr sagen. Du musst mir einfach vertrauen.«

Er nickte zaghaft, Sara nahm es als Zeichen, dass er einverstanden war – und hoffentlich auch mit ihr an einem Strang ziehen würde, wenn es so weit war.

Allerdings brauchte sie mehr als das.

Wenn die Flucht gelingen sollte, brauchten sie ein Wunder.

1

Am nächsten Tag

Der Chief Petty Officer Chase McCaffrey marschierte schlecht gelaunt in das Gerichtsgebäude der Oceana Naval Base. Ohne überhaupt einmal einen Blick in den Papierkram geworfen zu haben, der sich auf seinem Schreibtisch im Gebäude der Special Operations stapelte, musste er auch schon wieder seine Sachen packen und aufbrechen – diesmal jedoch nicht zu einem Einsatz, sondern um seinen Anspruch auf das Land geltend zu machen, das ihm von seinem Stiefvater hinterlassen worden war und das er niemals wieder hatte betreten wollen.

Der junge afroamerikanische Wachmann begrüßte ihn herzlich. »Wie geht’s denn so, Chief? Hab Sie hier seit Monaten nicht gesehen!«

»Seit zwölf Monaten, um genau zu sein«, erklärte der Chief und klopfte leicht auf den Umschlag, den er auf das Förderband des Röntgengeräts gelegt hatte. Dann zog er seine Pistole, eine SIG Sauer P226, aus dem Holster am Gürtel seines Kampfanzugs und übergab sie dem Wachposten zusammen mit seinem Handy, da sowohl Waffen als auch Mobiltelefone im Gebäude verboten waren.

»Wo haben Sie gesteckt?«, wollte Marineunteroffizier Marcelino Hewitt wissen. »Oh, halt, wahrscheinlich dürfen Sie mir das gar nicht sagen, weil’s der Geheimhaltung unterliegt.«

»Da, wo’s heiß ist«, antwortete Chase knapp. Was angesichts seiner Urwaldbräune und der sonnengebleichten Augenbrauen allerdings glasklar war. Mit einem Gefühl der Verwundbarkeit trat er durch den Metalldetektor. Aber er befand sich nicht mehr in Malaysia. In diesem Gebäude war er außer vor langen Leitungen beim Personal und vor Bürokratie vor allem sicher. Und für beides hatte er keine Zeit.

»Was ist los, Chief? Sie wirken heute nicht besonders munter«, bohrte Hewitt und nahm damit das unter ihnen übliche Wortgefecht auf.

»Ich bin nie munter«, gab Chase mit halb echtem, halb aufgesetztem Missmut zurück.

»Dann eben fit«, meinte Hewitt ruhig.

»Fuck you«, lautete Chase’ nüchterne Antwort. »Es reicht ja, wenn Sie fit sind.« Dann fiel sein Blick auf den stattlichen Bauch des Marineunteroffiziers. »Hatte ich Ihnen nicht geraten, ein paar Kilo abzuspecken? Stattdessen haben Sie mindestens zehn Pfund zugelegt.«

Hewitt gluckste. »Sie meinten, ich solle die Donuts weglassen, von Sahneschnitten war nie die Rede«, gab der Mann gut gelaunt zurück.

Sobald sie wieder auftauchte, griff sich Chase die Mappe vom Band. »Schlicht überhaupt nichts Gebackenes, Hewitt«, schlug er vor. »Und auch keine Softdrinks.« Dabei deutete er auf die Coladose am Arbeitsplatz des Wachpostens.

»Nee, Chief«, protestierte Hewitt übertrieben getroffen.

Doch Chase hatte die Vorhalle bereits halb durchquert. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass Commander Spenser, ein Judge Advocate General, kurz JAG, jenes Dokument unterzeichnete, das Chase dabeihatte. Damit erklärte der Anwalt sich dazu bereit, einen PO3 aus Chase’ Zug zu vertreten, der im Hafen ein paar Köpfe eingeschlagen hatte.

Während er vor sich hin grummelte, dass er im Heimathafen offenbar auch noch den Babysitter spielen musste, betrat Chase den Aufenthaltsraum vor dem Beratungszimmer. Wie er erleichtert feststellte, wartete außer ihm nur eine Frau dort. Allerdings hielt sich niemand in den Büroräumen der Rechtsvertreter auf. Durch das Milchglasfenster in der Tür auf der anderen Seite des Korridors war zu erkennen, dass sie sich offenbar zu einer Besprechung versammelt hatten.

»Scheiße«, grollte Chase und ließ sich in einen der harten Plastiksessel plumpsen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die Frau abrupt das Kinn reckte. »Verzeihung«, sagte er mit Blick in ihre Richtung.

Überrascht stellten sie fest, dass sie einander kannten.

Bei der Frau handelte es sich um Sara Garret, Gattin jenes berüchtigten Mannes, der in Lieutenant Renaults Militärgerichtsprozess im vergangenen Jahr die Anklage vertreten hatte.

Damals hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt. Als sie ihn nun von seinem teilweise sonnengebleichten Ziegenbart, über seinen Tarnanzug bis hinunter zu seinen schwarzen Schnürstiefeln musterte, hatte ihr Blick aus diesen graugrünen Augen genau dieselbe Wirkung auf ihn.

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange die da drin bleiben werden?«, erkundigte er sich, da ihn ihr prüfender Blick verunsicherte.

»Äh, nein, keine Ahnung«, gestand sie und kaute auf ihrer Unterlippe. »Noch eine halbe Stunde vielleicht.«

Er konnte nicht anders, als sie die ganze Zeit über anzustarren, genau wie während der Militärgerichtsverhandlung im letzten Jahr. Danach hatte er sie ansprechen wollen, sie war jedoch schnell auf der Toilette verschwunden und hatte sein Vorhaben damit vereitelt. Nun hatte er die Gelegenheit, seine Neugier zu befriedigen. »Sind wir uns nicht schon mal begegnet?«, fragte er, obwohl er sich da ganz sicher war. »Ich meine, vor dem Prozess.«

Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht. »Ja, tatsächlich, Sie waren etwa vor vier Jahren in San Diego, nicht wahr?«

Woher wusste Sie das?

»Sie haben mir auf dem Parkplatz der Bibliothek Starthilfe gegeben«, erklärte sie. »Weil ich die Scheinwerfer angelassen hatte, war die Autobatterie leer.«

Daran konnte er sich nicht erinnern.

»Ein paar Jahre später bin ich dann hier im Militärsupermarkt mit Ihrem Einkaufswagen zusammengestoßen.«

Allmählich regte sich die Erinnerung. Mit ihrem Einkaufswagen hatte sie den Sechserpack Limonadendosen demoliert, der über den Rand seines Einkaufswagens geragt hatte. Zwei Dosen waren auf den Boden gefallen und aufgeplatzt, wobei seine Hosenbeine das kohlensäurehaltige Getränk abbekommen hatten. Die Frau war so durcheinander gewesen, dass er sich einen Schrubber hatte bringen lassen müssen, um selbst den Fußboden zu wischen. »Das waren Sie?«, fragte er.

»Ja.« Sie errötete vor Verlegenheit und konzentrierte sich auf den Notizblock auf ihrem Schoß, mit dem sie sich bereits beschäftigt hatte, als er hereingekommen war.

Er erlaubte sich, sie gründlich in Augenschein zu nehmen. Von dem mausbraunen Haar bis zu ihrem formlosen beigefarbenen Kleid machte sie nicht besonders viel her, wirkte außerdem nervös und angespannt. Offenbar verstand sie sich perfekt darauf, nicht aufzufallen – eine Fähigkeit, die jemandem, der sich von Berufs wegen unsichtbar machte, einem Scharfschützen wie ihm, sofort auffiel. Er hatte sich schon letztes Jahr gefragt, wovor sie sich wohl versteckte. Nun stellte er sich dieselbe Frage wieder.

»Ich heiße Chase«, wagte er sich aus der Deckung. »Chase McCaffrey. Manche Leute nennen mich Westy.«

»Sara«, sagte sie mit einem schüchternen Nicken, wobei sie ihren Bleistift fest umklammerte. Händeschütteln nicht erlaubt.

»Was haben Sie da?« Er stellte die Frage, damit sie etwas lockerer wurde und er das Rätsel lösen konnte, das sie für ihn darstellte.

»Stundenpläne«, antwortete sie und zog die Schultern nach vorn, als könnte sie sich auf diese Weise in Luft auflösen.

Er musste an ein menschenscheues Tier denken. Als junger Mann hatte er zahlreiche Wildtiere gezähmt. Alles, was es dazu brauchte, war Zeit, Sanftmut und Geduld. »Dann sind Sie Lehrerin?«, hakte er nach. Abgesehen von dem strengen Haarknoten sah sie nicht wie eine Lehrerin aus.

»Englischnachhilfe«, stellte sie richtig. Dann sah sie auf ihre Uhr und zwischen ihren schmalen Augenbrauen erschien eine steile Falte.

»Stimmt was nicht?« Neugier war eigentlich nicht seine Art, doch er spürte ihre wachsende Anspannung und hoffte, dass er nicht der Grund dafür war.

»Oh, nein, es ist nur … in einer Stunde muss ich im Flüchtlingszentrum Nachhilfe geben, aber …« Sie sah auf die geschlossene Tür, Enttäuschung lag in ihrem Blick.

»Sie haben kein Auto«, riet er.

Kurz flackerte Zorn in ihren Augen auf. »Zurzeit nicht«, antwortete sie und schaute wieder auf ihren Notizblock.

So kam er nicht weiter. Bei manchen Wildtieren dauerte es Monate, sie zu zähmen.

»Wie wär’s mit einer Mitfahrgelegenheit?«, hörte er sich fragen. Als hätte er in Anbetracht des Papierkrams, der ihn erwartete, Zeit, sie durch die Gegend zu kutschieren.

Nun horchte sie auf. »Wie?«, piepste sie.

»Ich habe Ihnen eine Mitfahrgelegenheit angeboten«, erklärte er und nahm an, zu weit gegangen zu sein.

»Zum Flüchtlingszentrum?«, hakte sie nach.

»Natürlich.« Oh Gott, dachte sie etwa, er wolle sie aufreißen? Er war nicht besonders scharf darauf, der Frau eines JAG nachzustellen, und schon gar nicht einer, die wie eine Betschwester angezogen war.

»Nein danke«, murmelte sie. Die geröteten Wangen standen ihr allerdings gut.

Er sah zu, wie sie der Liste, die sie sich gemacht hatte, ein weiteres krakeliges Wort hinzufügte. Je länger er sie ansah, desto fester umklammerte sie ihren Bleistift.

»Ma’am«, sagte er, woraufhin sie erschrocken den Kopf hob. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?« Er konnte nicht länger hier herumsitzen und ihre Anspannung ertragen. »Würden Sie Commander Spenser diesen Umschlag geben, wenn er aus der Besprechung kommt?«

»Selbstverständlich.« Sie nickte und brachte sogar ein schüchternes Lächeln zustande.

»Danke. Sagen Sie ihm bitte, dass er das Dokument an den Absender zurückschicken soll, sobald er es unterschrieben hat.«

»Mach ich.«

Als er aufstand, um ihr den Umschlang zu überlassen, fühlte sich Chase, als würde er in einen der graugrünen Tümpel unterhalb eines malaysischen Wasserfalls springen. Sie hatte spektakuläre Augen. »Alles Gute«, sagte er. Es beunruhigte ihn, welche Anziehungskraft ihr Blick für ihn besaß.

»Ihnen auch«, gab sie mit einem neuerlichen Strahlen zurück.

Chase marschierte Richtung Ausgang und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was er vor seiner Abreise noch erledigen musste. Doch als er an der Sicherheitsschranke stehen blieb, um seine SIG Sauer und das Handy in Empfang zu nehmen, konnte er sich eine Frage an Marineunteroffizier Hewitt nicht verkneifen. »Was ist eigentlich mit Captain Garrets Frau los?«

»Miss Sara?«, antwortete Hewitt und schüttelte mitleidig den Kopf. »Sie sitzt manchmal den ganzen Tag da drin und wartet darauf, dass er Feierabend macht.«

»Wieso?«, wollte Chase wissen.

Hewitt zuckte mit den Schultern. »Captain Garret lässt sie nie aus den Augen. Ist ja auch ’ne ganz Hübsche. Eine Schande, dass er sie so schlecht behandelt.«

Chase wandte sich ab. Davon hätte er lieber nichts gewusst. »Nächstes Mal seh ich weniger von Ihnen, Hewitt.«

»Keine Chance«, gluckste der.

Als er hinaus auf die Straße in den milden Septembernachmittag trat, tat Chase die im Gebäude gefangene Frau aufrichtig leid. Man hätte ihr längst die Freiheit zurückgeben müssen. Er schüttelte den Kopf und hatte ihren Mann vor Augen, dessen Verhalten von einem reichlich aufgeblasenen Ego zeugte.

Männer, die Frauen unterdrückten, gehörten zu derselben Kategorie wie die Terroristen, die Chase ausschaltete. Ein Jammer, dass er niemals den Befehl erhalten würde, diesen Scheißkerl zu erledigen.

Vierundzwanzig Stunden später packte Chase alles, was er während seiner dreiwöchigen Abwesenheit brauchen würde, in seinen Seesack. Er stand zwischen Kommode und Bett und leerte die Schubladen, die er erst vor wenigen Tagen eingeräumt hatte.

Sein schwarzer Labrador Retriever Jesse lag mit dem Kopf auf den Pfoten auf dem Boden, hatte die Ohren angelegt und schaute zerknirscht drein.

Chase hielt es nicht länger aus. »Willst du mitkommen, Junge?« Während der letzten zwölf Monate hatte sich ein Kumpel um den Hund gekümmert. Es war nicht fair, das Tier schon wieder allein zu lassen.

Jesse hob abrupt den Kopf.

»Hast du Lust auf Oklahoma? Ist aber ’ne weite Fahrt.«

Der Labrador reagierte darauf mit einem Ausdruck, den Chase als Lächeln interpretierte.

»Mann, womöglich gefällt es dir dort so gut, dass du gar nicht mehr zurückwillst«, überlegte Chase, denn er musste an den Wald denken und an den Bach, an dessen Ufer er aufgewachsen war, ein wahres Paradies für einen Jagdhund. Als könnte er die Bilder in Chase’ Kopf sehen, wedelte Jesse prompt mit dem Schwanz.

Es waren Erinnerungen, die im Nu überschattet wurden. Ihm fiel ein, wie seine Mutter mit dem schreienden Säugling im Arm auf der Veranda gestanden hatte. »Linc, hör auf damit!

Linc hatte Chase am Hemdkragen gepackt und ihn hart gegen die Tür des zweifarbigen 1976er Chevy Silverado geschleudert, ohne seiner Frau die geringste Beachtung zu schenken. Der Aufprall war betäubend gewesen. Chase hatte gespürt, wie sein Nasenbein brach, wie heißes Blut herausgeströmt und über seine Lippen gelaufen war.

Mit einem ärgerlichen Knurren schob er die Erinnerung beiseite. Er konnte nicht glauben, dass der Alte nun tot war und ihm den Hof vermacht hatte. Wahrscheinlich war das Ganze bis unters Dach mit Schulden belastet, ein letztes Aufgebot, um den Stiefsohn selbst aus dem Grab noch zu peinigen.

Wäre sein Vater nicht ursprünglich einmal der Käufer gewesen, hätte Chase das Grundstück, das ihm rein gar nichts bedeutete, einfach durch einen Makler verkaufen lassen.

Doch das Land gehörte den McCaffreys, nicht den Sawyers. Sein Vater hatte es vor seiner Geburt für seine Mutter erworben. »Also, Augen zu und durch«, brummte Chase.

Er stopfte gerade seine Socken in den Seesack, als sein Handy klingelte. »Ja, Sir«, meldete er sich, da ihm die Nummer des XOs angezeigt wurde.

»Ich weiß, Sie sind auf dem Sprung, Chief, aber haben Sie dafür gesorgt, dass der Rechtsverdreher den Papierkram für Dewey abzeichnet?«, fragte Lieutenant Renault, der von seinen Freunden Jaguar genannt wurde.

Er sprach von dem Dokument, dass Chase Sara Garret überlassen hatte. »Das müsste heute oder morgen mit der Post kommen, Sir, aber ich erkundige mich noch mal.«

»Rufen Sie mich zurück, falls es Probleme geben sollte.«

»Verstanden, Sir.«

»Hören Sie, fahren Sie vorsichtig und lassen Sie sich Zeit. Vinny kümmert sich um Ihren Papierkram und Luther hält die Stellung. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie länger brauchen.«

»Mach ich. Danke, Sir.«

»Keine Ursache, Chief.«

Chase beendete das Gespräch, um dann eine Telefonnummer aus dem Adressbuch zu wählen. Doch statt Commander Spenser erreichte er nur die Mailbox. Wenn er am Freitagnachmittag eine Nachricht hinterließ, würde ihn der Rechtsanwalt nie im Leben zurückrufen.

Mit einem duldsamen Seufzen ging er die Stufen zu seiner Küche hinunter und schlug im Telefonbuch nach. Wenn er Glück hatte, stand Sara Garrets Nummer darin, und wenn er noch etwas mehr Glück hatte, war sie sogar zu Hause und würde ans Telefon gehen.

Sie selbst war nicht im Telefonbuch verzeichnet, dafür aber ihr Mann, der anhand seiner Rangbezeichnung, Captain Garret, leicht zu identifizieren war. Chase wählte zunächst *67, damit seine Rufnummer nicht angezeigt wurde. Als er das Freizeichen hörte, stellte er sich ihre spektakulären Augen vor und unerklärlicherweise schlug sein Herz daraufhin schneller.

Als es klingelte, zuckte Sara auf dem Badezimmerfußboden zusammen, wo sie gerade hockte und ihr Geld zählte. Rasch stopfte sie die Scheine zurück in die Tamponschachtel und verstaute diese wieder unter dem Waschbecken, bevor sie im angrenzenden Schlafzimmer zu dem Kirschholzsekretär lief, auf dem das Telefon stand. »Hallo?«, meldete sie sich.

»Mrs Garret?«. Bei der vertrauten Männerstimme stockte ihr der Atem.

»Ja.«

»Chief McCaffrey hier. Ich hatte Ihnen gestern im Gerichtsgebäude einen Umschlag übergeben.«

»Ja.« Dass er sie anrief, machte sie fast sprachlos. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Chief McCaffrey. Vor vier Jahren war er auf sie zugekommen und hatte ihr seine Hilfe angeboten, als ihr Wagen liegen gebliebenen war. Sie hatte ihn zwar etwas raubeinig gefunden, gleichzeitig jedoch so aufmerksam, kompetent und gut aussehend, dass sie nach der Begegnung ganz benommen gewesen war. Kaum zu Hause, hatte Garret sie wegen ihrer Nachlässigkeit gescholten.

Dann war sie hier in Virginia Beach, im Supermarkt des Stützpunkts, erneut mit dem Chief zusammengestoßen, was sie für einen wunderbaren Zufall gehalten hatte. An dem Tag war er ebenso freundlich und aufmerksam zu ihr gewesen wie schon beim ersten Mal. Und das obwohl sie die Schuld daran hatte, dass seine Limonadendosen explodiert waren. Beim Verlassen des Supermarkts hatte sie gestaunt, dass es solche Männer überhaupt gab, wohingegen ihr von Garret prompt das Scheckheft abgenommen worden war, weil sie angeblich Geld für Strawberry Shortcakes aus dem Fenster geworfen hatte.

Und nun rief Chase McCaffrey sie an!

»Verzeihen Sie die Störung, Ma’am, aber ich muss wissen, ob Sie Commander Spenser den Umschlag aushändigen konnten.«

»Oh, ja«, gab sie zurück, enttäuscht, dass er nicht aus persönlichen Gründen angerufen hatte. Warum auch? »Ich habe ihn sofort weitergegeben, genauso wie Ihre Nachricht.«

»Danke«, sagte er. »Ich fahre heute Nachmittag nach Oklahoma und wollte vorher bloß alles Wichtige abhaken.«

Oklahoma? Hatte er gerade Oklahoma gesagt? Das Wort traf sie wie ein Elektroschock. Sara geriet ins Stocken und überlegte, wie sie ihn um eine Mitfahrgelegenheit für Kendal und sich bitten konnte.

»Warum … Warum fahren Sie nach Oklahoma?«, stammelte sie, in ihrem Kopf drehte sich alles, sodass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Ein Todesfall in der Familie«, antwortete er knapp. »Hab da ein Stück Land geerbt.«

In dem verzweifelten Bedürfnis, ihr Anliegen loszuwerden, leckte Sara sich über die trockenen Lippen. Sie konnte ja schlecht beiläufig während eines Telefongesprächs danach fragen. Außerdem hörte sie Kendals Bus die Straße heraufkommen. Die Hydraulikbremsen quietschten, als das Fahrzeug an der Bushaltestelle anhielt. »Können wir … Können wir uns bitte treffen, bevor sie abreisen?«, sagte sie schnell, ehe sie der Mut verließ. »Ich möchte Sie um etwas bitten.«

Er schwieg auffällig lange, mit Sicherheit glaubte er, sie hätte den Verstand verloren.

»Hier in der Nachbarschaft gibt es einen Park«, drängte sie und setzte für Kendal ihre Würde aufs Spiel. »Ich bringe heute um vier meinen Sohn dorthin. Können wir uns dort treffen?«

»Na ja, ich hab ziemlich viel um die Ohren, packen und so«, antwortete der Mann, klang dabei aber, als würde er ernsthaft darüber nachdenken.

»Zehn Minuten genügen.« Sie wäre am liebsten vor Scham in ihrem Berberteppich versunken, weil sie einen Wildfremden derart um einen Gefallen anbettelte, doch andererseits konnte sie sich diese Gelegenheit unmöglich entgehen lassen. Vielleicht wäre das die Chance, anders als mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Westen zu reisen.

»Der Park am Sherwood Drive?«, erkundigte er sich.

»Ja«, bestätigte Sara und schöpfte Hoffnung, »hinter dem Teich.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte sie das Telefon in ihrer Hand an. Der Gedanke, dass ihr das Wunder, für dessen Eintreffen sie gebetet hatte, womöglich soeben widerfahren war, verschlug ihr den Atem. Wer könnte ein besserer Fluchthelfer für sie und Kendal sein als ein Navy-SEAL? Er hatte sich bereits in der Vergangenheit hilfsbereit gezeigt, da war es denkbar, dass er ihr auch dieses eine Mal wieder half.

Ihr Blick schweifte zum Fenster hinaus. Dort stieg der zehnjährige Kendal gerade aus dem Bus, seine Schultern unter dem Gewicht des Schulranzens gebeugt. Da er um sein Kaninchen trauerte, war er heute ganz in Schwarz gekleidet.

Gestern Abend, einen Tag nach Mr Whiskers Tod, hatte Kendals Lehrerin angerufen, weil sie das Verhalten ihres Schülers alarmierend fand.

Auch Sara war zutiefst beunruhigt. Doch sie wollte nicht noch mehr Zeit mit der Frage vergeuden, wo die Abwärtsspirale enden mochte. Stattdessen würde sie alles Erdenkliche unternehmen, um Kendal und sich selbst aus diesem Albtraum herauszuholen, bevor das nächste Unglück passierte.

2

Chase lenkte seinen schon etwas älteren Sportwagen zwischen eine BMW-Limousine und einen Range Rover. Der Park in Saras Nachbarschaft wirkte wie Disneyland, samt kostspieligen Plastikspielgeräten, Swimmingpool und Klubhaus; das Ganze umgeben von Villen im Wert von Millionen.

Was zum Teufel mache ich hier?, fragte er sich.

Doch da, am Rande des Spielplatzes, stand Sara Garret, eine Hand in die Taille gestützt, während sie mit der anderen Hand die Augen vor der untergehenden Sonne abschirmte. Sogar aus einer Entfernung von fünfzig Metern spürte er ihre Anziehungskraft, ihren stummen Hilfeschrei.

Im Park wimmelte es von privilegierten Kindern und ihren beruflich erfolgreichen Eltern, die alle die Abkühlung an diesem zweiten Herbsttag genossen. Es war ein völlig anderer Kosmos als die Welt des Terrors und der Verschwörung, in der Chase lebte.

So, wie es sich gehört, dachte er.

Nun kam es darauf an, keine Aufmerksamkeit zu erregen – was in Anbetracht seiner Ohrringe, des Ziegenbarts und des Pferdeschwanzes kein ganz so leichtes Unterfangen war. Um seine Augen abzuschirmen, zog er sich seine Baseballkappe tief in die Stirn und stieg aus.

Er schlenderte zu einer Parkbank im Schatten, setzte sich und wartete darauf, dass Sara ihn bemerken würde. Für einen kurzen Augenblick musterte er die Kinder auf den Klettergerüsten und fragte sich, welches von ihnen wohl ihr Junge war.

Als Sara ihn entdeckte, nahm er dies sofort wahr. Sie erstarrte wie ein Wildkaninchen, das von einem Raubtier beobachtet wurde, und fixierte ihn mit hochgezogenen Schultern. Doch anders als ein Beutetier flitzte sie nicht davon, sondern setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie vor seiner Bank stand. Dann setzte sie sich stocksteif hin und blickte starr geradeaus.

Mit Belustigung registrierte er ihr Outfit. Heute trug sie einen dunkelbraunen Pullover über einer weißen, zugeknöpften Bluse. Gab es tatsächlich Frauen, die so wenig von Mode verstanden?

»Schöner Abend«, tat er für sie den ersten Schritt.

»In der Tat«, pflichtete sie ihm bei und benetzte dann blitzschnell ihre Lippen.

»Ist das Ihrer?«, fragte er, als er ihrem Blick zu einem dunkelhaarigen, etwa zehn Jahre alten Jungen folgte, der auf einer Schaukel saß und mit den Fußspitzen im Mulch scharrte.

Chase hatte die Ähnlichkeit gleich bemerkt, das Kind besaß auch diese tief liegenden Augen und das gleiche runde Kinn wie seine Mutter. Sein Gesicht verbarg der Junge halb hinter Ponyfransen, die ihm bis über die Augen reichten. »Wie heißt er denn?«

»Kendal. Er ist der Grund, warum ich hier wegmuss«, sagte sie leise.

Weg? Chase sah sie überrascht an, ihre Blicke trafen sich. Sofort verspürte er wieder dieses komische Gefühl in der Magengrube, diese unwiderstehliche Anziehungskraft. Ihre graugrünen Augen waren einfach hinreißend.

Dass sie es ernst meinte, konnte er aus ihrem blassen Gesicht schließen. Aber wieso erzählte sie ihm davon?

»Wir brauchen eine Mitfahrgelegenheit nach Westen«, fügte sie hinzu. »Geld habe ich. Ich kann Sie bezahlen, wenn Sie das wollen. Bitte … nehmen Sie uns mit, wenn Sie nach Oklahoma fahren.«

Darauf konnte er sie nur anstarren. »Mrs Garret –«, setzte er an.

»Sara«, korrigierte sie ihn und ein Funkeln lag in ihren fantastischen Augen.

Offenbar konnte sie es nicht aushalten, mit ihrem Ehenamen angesprochen zu werden. »Sara«, begann er erneut, »ich kann Ihnen da nicht behilflich sein.«

»Ich habe es mir genau überlegt«, unterbrach sie ihn und griff in die ausgebeulte Tasche an der Vorderseite ihres Pullovers. »Kendals Pfadfindergruppe wandert morgen im Seashore State Park.« Sie beförderte ein zusammengefaltetes Blatt zutage. »In einer total abgelegenen Gegend. Wir können uns davonstehlen und uns mit Ihnen auf dem Dammparkplatz treffen.« Damit drückte sie ihm den Flyer in die Hand.

Chase faltete das Papier auseinander, prägte sich neben Ort und Zeit alles Wesentliche ein und gab es ihr dann zurück.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, wiederholte er und konnte genau sehen, wann der Groschen bei ihr fiel. Sie blinzelte und wandte ihr Gesicht ab.

Chase kam sich vor, als hätte er sie geschlagen. Verdammt.

Er warf einen Blick auf ihren Sohn, dessen Converse-Turnschuhe inzwischen komplett im Mulch verschwunden waren.

Mist. Warum sollte sie ihr Leben im Wohlstand hinter sich lassen wollen, es sei denn, Captain Garret misshandelte die beiden?

»Es gibt sicher eine Selbsthilfeorganisation, an die Sie sich wenden können«, sagte er leise und bestimmt. Er wollte sich überwinden, aufzustehen und zu gehen.

Sara sah ihn immer noch nicht an. Ihr Gesicht glich einer Maske, doch in ihren jadefarbenen Augen glänzten Tränen. Vermutlich wusste sie nicht mehr, was sie noch tun sollte. Sie machte auf ihn nicht den Eindruck, als würde sie ohne Weiteres einen Wildfremden um Hilfe bitten.

»Viel Glück«, sagte er, denn etwas anderes fiel ihm nicht ein. Dann stützte er die Hände auf die Knie und stemmte sich in die Höhe.

Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte zu ihm aufgesehen oder wenigstens seine Abfuhr akzeptiert, doch das tat sie nicht.

Und so fühlte er sich fast unmerklich zurechtgewiesen, als hätte er kein Recht, ihr seine Hilfe zu verweigern.

Missmutig stapfte Chase davon, entschlossen, sich keinesfalls schuldig zu fühlen. Er stieg ins Auto und knallte die Tür zu. Was zum Teufel erwartete sie denn von ihm? Er würde seine Laufbahn beim Militär vergessen können, wenn man ihn dabei ertappte, wie er die Gattin und den Sohn eines JAG-Offiziers entführte. Und außer seiner Karriere hatte er nichts.

Sorry, aber das war echt nicht drin, so anziehend er Sara auch fand. Er hatte noch nie eine Frau nah an sich herangelassen. Und er wollte jetzt nicht damit anfangen.

Sara ließ sich Zeit. Nachdem Chief McCaffrey klargemacht hatte, dass er nicht kommen würde, war es sinnlos geworden, am Rand eines Marschgebiets zu wandern. Wenn Kendal nicht gewesen wäre, der die Natur seit frühster Kindheit liebte, hätte sie auch gut zu Hause bleiben können. Und sollte Kendal nicht ein bisschen mehr Begeisterung aufbringen, wäre dieser Ausflug reine Zeitverschwendung.

Keines der drei Autos, die auf dem Dammparkplatz standen, gehörte Chase. Sie hatte seinen Wagen am Tag zuvor gesehen – er fuhr einen blauen Sportwagen älterer Bauart, der jetzt vermutlich bereits auf halbem Weg nach Oklahoma war.

Sie konnte dem Mann nicht vorwerfen, dass er sich nicht einmischen wollte. Wer würde das schon? Schließlich stand Garret in dem Ruf, einige der strengsten Urteile in der Geschichte der Marine erwirkt zu haben.

Dennoch … von Chase hätte sie etwas anderes erwartet. Immerhin war er ihr in der Vergangenheit bereits zweimal zu Hilfe gekommen. Warum nicht diesmal?

Für den Fall, dass er doch noch auftauchen sollte, hatte sie in einem Anfall verrückter Zuversicht alles, was sie benötigten, in ihren Rucksack gepackt: Zahnbürsten, die sie nach einem Zahnarztbesuch beiseitegeschafft hatte, achthundertunddrei Dollar sowie Kleidung zum Wechseln für sich und Kendal.

Nun bereute sie ihre Tatkraft. Was, wenn der ewig misstrauische Garret auf die Idee käme, ihr Gepäck zu durchsuchen? Er würde ihren Fluchtplan auf der Stelle durchschauen – und sie dann nie wieder aus den Augen lassen.

Sie erschauerte, klammerte sich an ihr Geheimnis, versuchte verzweifelt, die Anspannung abzuschütteln, die sich in ihr aufbaute. Sie hatte sich geschworen, dass sie und Kendal keine von Garrets Maßregelungen mehr erdulden müssen würden. Aber wenn sie nicht bald einen Ausweg fand, wäre genau das unvermeidlich.

Nun trottete sie einen von Bäumen beschatteten Trampelpfad entlang. Gab es wirklich keine Möglichkeit, ihre Spuren auf dem Weg nach Texas zu verwischen? Öffentliche Verkehrsmittel kamen nicht infrage, nicht nach dem 11. September, seit dem jede Bushaltestelle mit Überwachungskameras ausgestattet war.

Wenn Chief McCaffrey sie doch nur aus Garrets Welt in eine andere verpflanzt hätte! Dass er genau zu dem Zeitpunkt in ihr Leben geschneit war, als sie ihn am nötigsten gebraucht hatte, war ihr wie ein Wink des Schicksals vorgekommen. Nie wieder würde sich ihr eine so aussichtsreiche Gelegenheit bieten.

Blind für die Flora und Fauna folgte Sara den sieben Pfadfindern samt Anführer eine steile Klamm hinunter. Auf der anderen Seite ging es auf aus Wurzelwerk gebildeten Stufen wieder hinauf. Oben angekommen, legten Kendal und sie eine Rast ein, während die anderen ungehalten zu dem Streifen Marschland hinunterstürmten, weil sie es kaum abwarten konnten, einen Blick auf die Wildtiere zu erhaschen, die sie so vermutlich eher verscheuchten.

Der Schwefeldunst des Schlicks vermischte sich mit dem auffrischenden Wind. Schwermütig folgten sie dem Rest der Truppe in gemächlicherem Tempo.

Als sie an einer Brücke über ein gewundenes Flüsschen angelangten, waren ihnen die anderen bereits weit voraus. Plötzlich legte sich der Wind und der Schrei eines Fischadlers ließ Sara aufblicken.

Was hätte sie darum gegeben, frei wie ein Vogel zu sein, losgelöst von Garrets unerbittlicher Erwartungshaltung.

Doch die Sonne brannte, während die Träger des Rucksacks in ihre Schultern schnitten, womit sie daran erinnert wurde, dass sie erdgebunden war.

Da blieb Kendal urplötzlich stehen und Sara prallte gegen ihn. »Schatz, was –?«

»Schau mal, Mom.«

Er deutete auf den glitzernden Wasserlauf. Erstaunt sah sie, wie Chief McCaffrey in einem getarnten Kanu auf sie zupaddelte.

»Der Mann war gestern Abend im Park«, sagte Kendal und bewies damit, dass er aufmerksamer war, als er es sich anmerken ließ.

Da bemerkte die überraschte Sara Chase’ wachsamen Blick aus seinen blauen Augen und erwiderte ihn. Er war doch gekommen! Herr im Himmel, er war tatsächlich gekommen, um ihnen zu helfen! Sie wurde von Fassungslosigkeit, Erleichterung und schließlich von einem Gefühl der Dringlichkeit überrollt.

»Mom, was ist los?«

Sie standen immer noch allein auf der Brücke, die anderen waren ihnen weit voraus. Mit einem Paddelschlag manövrierte der SEAL das Kanu längsseits. »Springt rein!«, rief er.

»Mom?«

Sie beeilte sich, es zu erklären. »Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, ich hätte einen Plan, Kendal? Dass wir zusammen fortgehen würden?«

Der Junge warf Chase einen konsternierten Blick zu.

»Es ist so weit«, fügte sie hinzu. »Wir gehen jetzt fort. Steig in das Boot, Schatz. Schnell!«

Sara schwang ein Bein über das Geländer.

Kendal rührte sich jedoch nicht. Stattdessen schaute er zwischen ihr und dem Fremden hin und her. »Wer ist das?«, wollte er wissen.

»Ein Navy-SEAL«, antwortete sie. »Er kann uns beschützen. Steig jetzt bitte ins Boot, Kendal!«

Chase’ grimmiger Gesichtsausdruck hätte selbst den Mutigsten verschreckt. »Wir können uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, Liebling!«, flehte Sara mit klopfendem Herzen. »Schnell, bevor die anderen zurückkommen!«

Bei ihren nachdrücklichen Worten bewegte er sich endlich. Noch ehe sie selbst das zweite Bein übers Geländer geschwungen hatte, war Kendal dabei, ins Boot zu klettern.

»Setz dich auf den Boden!«, befahl Chase ihm.

Sara schloss daraus, dass sie sich auf den vorderen Sitz hocken sollte.

Kaum saßen sie, da stieß Chase das Kanu auch schon in die Strömung ab. Er tauchte das Paddel ins Wasser und lenkte sie um die Biegung, hinter der sie rasch aus dem Blickfeld der Brücke verschwanden. Das Wasser stand nicht hoch und der Schlick gab ihnen Deckung.

Durch den frischen Wind trocknete der Schweiß auf Saras Oberlippe. Sie sah sich nach Kendal um, der sich an beiden Seiten des Boots festklammerte und vor Verwunderung große Augen machte. Hinter ihm paddelte ihr unverhoffter Retter, der eine Baseballkappe und ein T-Shirt mit abgetrennten Ärmeln trug, mit gleichmäßigen Schlägen.

Sie hätte ihm liebend gern gedankt, doch die tiefen Furchen auf seiner Stirn sagten ihr, dass sie besser schwieg.

Vor Hoffnung und Furcht klopfte ihr Herz schneller. Sie blickte auf den Ring an ihrem Finger. Wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, ihn eines Tages versetzen zu müssen, hätte sie ihn sofort abgelegt.

Sie hielten sich dicht am Ufer des Moors und kamen so lautlos voran, dass sie die Winkerkrabben im Schilfgras rascheln hören konnte. Ein Blaureiher blieb wie erstarrt auf einem Bein stehen, als sie vorüberglitten.

Saras Atem hatte sich gerade beruhigt, da passierten sie einen Anlegesteg, auf dem ein einsamer Angler saß. Der Mann sah von seiner Krabbenbüchse auf und winkte ihnen zu.

Chase zog den Schirm seiner Baseballkappe weit in die Stirn und nickte. Dann stieß er das Paddel tiefer ins Wasser und beförderte sie aus dem Blickfeld des Fremden.

Die Zeit schien sich endlos hinzuziehen, bis sie endlich an ein bewaldetes Ufer kamen. Der SEAL navigierte den Bug des Kanus an Land und stieß das Paddel tief in den Schlamm. »Springt raus!«, forderte er sie auf.

Sara kletterte über den Rand und hielt dann das Boot fest, damit es nicht so wackelte, während zuerst Kendal und danach Chase ausstiegen. Hundegebell lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen schwarzen Labrador in dem unter den Bäumen abgestellten, ihr bereits bekannten Sportwagen.

Chase zog das Kanu ans Ufer und drehte es um. »Zurückbleiben!« Nach der knappen Warnung verpasste er der Unterseite des Boots mit einem raschen Fußtritt ein klaffendes Loch, um das Gefährt anschließend mit einer kraftvollen Bewegung in die kleine Bucht zurückzuschieben, wo es sofort unterging.

»Los jetzt«, sagte er und lief zum Wagen. Dort öffnete er die Beifahrertür und klappte den Sitz nach vorn. »Du musst bei dem Hund sitzen«, wandte er sich an Kendal. »Sitz, Jesse!«

Kendal schlüpfte auf die schmale Rückbank. »Hey, braver Hund.«

Während Sara sich auf dem Beifahrersitz niederließ, lief Chase um das Auto herum und setzte sich hinters Steuer. »Anschnallen.«

Fachmännisch und in einem Tempo, bei dem Sara den Atem anhielt, setzte er in den tiefen Fahrspuren zurück, bis sie eine Lichtung erreichten, auf der er den Wagen wendete. Und schon ging es weiter.

Der Waldweg ging in eine Schotterpiste über, dann kamen sie auf dem Dammparkplatz heraus. »Früher habe ich da unten geangelt«, erklärte Chase, als er ihren fragenden Blick sah.

Daher kannte er also die Bucht, die er als abgelegen genug erachtet hatte, um sie unbeobachtet in sein Auto zu bekommen. Sara duckte sich in ihren Sitz, denn sie wollte nicht von einem der wenigen Ausflügler gesehen werden, die gerade auf dem Parkplatz ankamen oder abfuhren.

Bald verließen sie den State Park und reihten sich in den Verkehr auf dem Shore Drive ein.

Sara richtete sich etwas auf und rieb mit den Handflächen über ihre Shorts.

»Hoffentlich haben Sie alles, was Sie brauchen, da drin«, bemerkte Chase mit einem Blick auf ihren Rucksack.

»Ja«, gab sie zurück. Sie war froh, sich auf alle Eventualitäten vorbereitet zu haben.

Er legte einen anderen Gang ein. »Und woher wussten Sie, dass ich tatsächlich dort auftauchen würde?«, wollte er wissen. Nach der Frage zu schließen, war er wohl ein bisschen sauer auf sich selbst.

»Keine Ahnung. Ich nehme an, ich wollte mir die Alternativen einfach nicht vorstellen.«

Diese Antwort brachte ihr einen skeptischen Blick ein.

Sie sah sich nach Kendal um. »Oh, Schatz, du bist ja gar nicht angeschnallt.«

»Der Hund sitzt auf dem Gurt.«

»Jesse, Platz!«, befahl Chase und der Hund gehorchte sofort.

Mutter und Sohn wechselten Blicke. Der SEAL hatte seinen Hund offenbar gut abgerichtet. Mit einem Klicken ließ Kendal den Sicherheitsgurt einrasten.

In dem Moment wurde Sara die volle Tragweite ihres Handelns klar. Mr Hale, der Anführer der Pfadfindergruppe, war sicher schon ganz außer sich und zerbrach sich den Kopf, was ihnen beiden zugestoßen sein mochte. In Kürze würde man die Behörden verständigen. Und Garret. Nun gab es kein Zurück mehr.

»Wir halten aber nirgendwo an, oder?«, fragte sie, wobei ihr die Angst anzuhören war.

»Nein«, antwortete Chase. Er gab Gas und sie rasten die Auffahrt zum Highway hinauf, der nach Nordwesten, zu den Blue Ridge Mountains und darüber hinaus führte. In etwa drei Stunden wären sie im westlichen Teil Virginias und damit weit weg vom Seashore State Park, in dem eine Suchaktion nach ihnen laufen würde. Dann dürfte ihr leichter ums Herz sein.

»Glauben Sie, der Angler könnte uns Schwierigkeiten machen?«, fragte sie leise.

Zu ihrer wachsenden Besorgnis antwortete Chase nicht sofort. »Er war nicht dort, als ich zum Treffpunkt aufgebrochen bin, sonst wäre ich umgekehrt.«

Dann hätte sie niemals erfahren, dass er tatsächlich vorgehabt hatte, ihr zu helfen.

»Danke«, murmelte sie und fand das Wörtchen jämmerlich ungenügend. »Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht … bereuen«, quetschte sie aus zugeschnürter Kehle hervor.

Sie war sich sicher, dass er sie verstanden hatte, doch er antwortete ihr nicht. Wahrscheinlich war es zu spät, und er bereute seine Entscheidung schon jetzt.

3

In den folgenden Stunden wechselten sie kaum ein Wort. Das Radio sorgte für eine ununterbrochene Geräuschkulisse aus Musik und Werbung. Dazu zog sich der Highway vor ihnen dahin wie ein endloses Band aus Asphalt.

So folgten sie der Sonne gen Westen und gelangten schließlich zu den Ausläufern der Blue Ridge Mountains, wo die Bäume aufgrund der kühleren Witterung bereits rot und golden gefärbte Blätter trugen. Die untergehende Sonne tauchte die Gipfel in ein Meer aus Farben.

»Sie werden die Berge lieben«, brach Chase das Schweigen.

»Ja.« Sara nickte und atmete auf, weil er endlich wieder etwas sagte. Die Furcht, Garret würde sie erwischen, hatte mit jeder Stunde, die vergangen war, nachgelassen, entspannen konnte sie sich angesichts von Chase’ brütendem Schweigen jedoch nicht.