Serpentin - Alauda Roth - E-Book

Serpentin E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

Eine Discokugel birgt ein Geheimnis. Zuerst will Jemima nichts damit zu tun haben, als aber ihre Familie bedroht wird, macht sie sich gemeinsam mit ihrem Freund Samuel, der gerade aus Shanghai zurückgekommen ist, auf die Suche nach dem Absender. Ihre ganze Kombinationsgabe ist gefordert das Labyrinth aus Hinweisen zu lösen. Immer tiefer geraten sie in Machenschaften, die aus der der digitalen Welt des Deep Web in ihr reales Leben hineinreichen. Und Jemima muss sich über ihre Gefühle klarwerden. Kann sie Samuel trauen? Ihre Visionen mit ihm teilen? Folgeband zu Eisenhut

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Zum Buch

Eine Discokugel birgt ein Geheimnis. Jemand hat das Dekostück kommentarlos am Mühlgrabenhof in Brunnegg abgegeben. Zuerst will Jemima nichts mit der Nachricht zu tun haben. Als aber ihre Familie bedroht wird, macht sie sich gemeinsam mit Samuel, der gerade aus Shanghai zurückgekommen ist, auf die Suche nach dem Absender.

Ihre ganze Kombinationsgabe ist gefordert das Labyrinth aus Hinweisen zu lösen. Immer tiefer geraten sie in Machenschaften, die aus der der digitalen Welt des Deep Web in ihr reales Leben hineinreichen.

Und Jemima muss sich über ihre Gefühle klarwerden. Kann sie Samuel vertrauen? Ihre Visionen mit ihm teilen?

Folgeband zu Eisenhut

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

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Aus diesem gleichen Licht, aus der Mitte des Sinns Machen wir uns eine Wohnstatt in der Abendluft In der Beisammensein genug ist.

Out of this same light, out of the central mind We make a dwelling in the evening air, In which being there together is enough.

Wallace Stevens, Final Solioquy of the Interior Paramour

WIEN, eine Wohnung ohne Türnummer

Der stille Alarm leuchtet auf. Janus fährt herum, kontrolliert die Bildausschnitte. Beobachtet, wie die Tür mit den Graffitis von Gestalten mit Gesichtsmasken eingetreten wird. Noch zwei Ebenen. Fast meint er ein Computerspiel zu beobachten. Doch das hier ist kalte Wirklichkeit. Mit tödlichen Waffen. Warum dieser Aufwand? Hat ihm der Professor etwas verheimlicht? Oder geht es um alte Schulden? Egal. Seine Kreationen müssen beschützt werden. Um jeden Preis. Er startet den TOR-Browser. Klickt auf das Icon mit dem Notfallprotokoll. Janus packt ein paar Sachen in seine Umhängetasche. Bedauernd betrachtet er seinen Computerpark. In ein paar Minuten wird nichts mehr davon übrig sein.

Ein letzter Ausdruck rattert aus dem Drucker. Janus reißt das Blatt mit der Landkarte an sich. Der Positionspfeil weist auf Brunnegg, ein Dorf im südlichen Niederösterreich. Dann wirft er den Drucker aus dem Fenster in den Innenhof. Die Dielen im Gang knarren.

Janus zieht die Balkontür auf, drückt sich die Wand entlang, klettert die Eisenleiter in den Innenhof hinunter. Er schiebt den Ausdruck in eine Klarsichthülle, stopft sie in einen Mauerspalt. Kurz lauscht er in die Dämmerung, schleicht über den Hof und durch die Einfahrt in die Gasse. Nach einem Blick links und rechts zieht er den Rucksack zurecht, strafft den Rücken. Er zwingt sich langsam zu gehen. Als er um die Ecke biegt, packt ihn eine Hand.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

1

»Willst du mich nicht reinlassen?« Ihre Stimme flehte.

Samuel hielt die Klinke fest, blockierte den Türspalt. »Nein. Keinesfalls.«

»Seit wann bist du wieder da?« Sie linste auf die Reisetasche, die er neben der Tür abgestellt hatte.

»Gegen mittags in Schwechat gelandet.«

»Und da bist du jetzt erst hier?«

»Was interessiert es dich? Ich bin nur ein Mieter.«

»Aber wir sind doch wie eine Familie.«

»Wenn du es sagst.«

»Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht zurückgerufen hast.« Sie flüsterte fast. »Ich habe mir deinen Reiseplan angesehen.«

Ich war im Kinocenter.«

»Im Kino?«

»Ja – und?«

»Du kommst aus Shanghai zurück und gehst ins Kino?«

»Ich war verabredet, wenn du es genau wissen willst.« Samuel verlor langsam die Geduld. Der Luftstrom verursachte ihm eine Gänsehaut.

»Verabredet?«

»Hör mal. Lassen wir das. Ich bin sowieso bald fort. Das ist meine letzte Nacht hier.«

»Ein neues Projekt?«

»Nein. Siemens baut gerade im Kraftwerksbereich Stellen ab. Ich akzeptiere die Abfertigung. Papa braucht mich. Wir werden uns eine gemeinsame Wohnung nehmen.«

»Du kommst nicht mehr hierher?« Sie lehnte sich gegen die Tür und Samuel musste die Klinke fester halten. »Können wir nicht drinnen weitersprechen?«

»Ich habe Besuch.«

»Eine Frau?« Sie versuchte an ihm vorbeizusehen.

»Ja, eine Frau.«

»Willst du sie mir nicht vorstellen?«

»Nein – sie ist nicht von hier.«

»Ist sie eine …«

»Sprich es nicht aus. Und bitte lass uns jetzt zufrieden. Gute Nacht.«

Sie öffnete den Mund, sagte aber nichts. Dann presste sie die Lippen zusammen, schlang die Arme um den Körper, drehte sich um und stapfte davon.

Samuel seufzte und schlug die Tür der Firmenwohnung zu. Er zog sich das Hemd aus und sagte: »Ich habe schon gedacht, sie geht gar nicht mehr.« Er stellte sich vors Sofa, das zugleich als Bett diente. Jemima streckte die Hand aus und zog ihn am Hosenbund näher.

»Steht sie auf dich?«, fragte sie.

»Natascha? Wie kommst du darauf?«

»Es ist so ein Ton in ihrer Stimme.«

»Was für ein Ton?«

»Nimm mich, nimm mich, nimm mich«, hauchte sie und lachte. »So ein Ton.«

Samuel grinste. »Das hast du nett gesagt. Wiederholst du das bitte? Ich könnte mich überreden lassen.«

»Beim Skypen warst du nie so frech.«

»Gott – erinnere mich nicht. Wie gern hätte ich ein wenig Telefonsex gemacht.«

»Wenn du darauf stehst, kann ich dir etwas dirty flüstern. Hauptsache wir kommen jetzt endlich zur Sache.« Jemima zog sich den Pullover über den Kopf. Knöpfte langsam ihr Hemd auf.

»Normalerweise werde ich geküsst, bevor es zur Sache geht. Du bringst mich gerade aus dem Konzept.« Er starrte auf ihre Brüste.

Ihre Fingerspitzen strichen über seinen Bauch. »Bringt dich das auch aus der Hose?«

»Jetzt bin ich verlegen.«

»Um eine Antwort?«

»Können wir uns darauf einigen, dass du eine Weile still bist?«

»Wie soll ich dann antworten?«

»Du hast es provoziert.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie. Jemima knöpfte seine Jeans auf und er ließ sie gewähren.

Später legte er seinen Arm um ihre Schultern. »Also, erzähl mal – was ist das für eine Geschichte mit Regula?«

Jemima dachte einen Moment nach, dann sagte sie: »Vorgestern hat ein Mountain-Biker eine Schachtel auf den Hof gebracht. Auf dem Kleber ist nur Mühlgrabenhof und Brunnegg gestanden. Kein Name. Kein Absender. Ich habe den Karton zur Seite gestellt, aber als Regula das Ding darin gesehen hat, ist sie ganz blass geworden.« Jemima schob sich ein Stück höher, um Samuel ins Gesicht sehen zu können. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Ganz schlau bin ich aus ihrer Erklärung nicht geworden«, sagte sie. »Als Regula noch in Wien gelebt hat, war sie oft im VREI, das ist ein Café mit virtuellen Spielräumen. Die Hälfte ihrer Klasse ist dort herumgehangen. Immer wieder haben sich ein paar auch als Hacker betätigt. Nur sportlich, hat Regula betont. Aber sie waren sich natürlich bewusst, dass das illegal ist und hatten einen Notfallcode entwickelt. Discokugel bedeutete Ab durch die Mitte.«

»Und warum schickt ihr dann jemand das Ding reell, wenn es ein Codewort ist?«

Jemima drehte sich ein Stück zu Seite, verhedderte sich in der Decke, zerrte sie zurecht. »Die haben hier wohl keinen Besuch eingeplant.«

»Die Wohnung mit dem großen Bett darf nur die Chefetage benutzen.«

»Für Partys?«

»Für deren Familien. Die reisen öfters mal mit.«

»Ah ja, so heißt das jetzt.«

»Lenk nicht ab – warum die Kugel?«

»Wir wissen es nicht. Regula hat schon seit fast zwei Jahren keinen direkten Kontakt mehr zu den Dancehall-Nerds. Und ich habe ihr verboten nachzufragen.«

»Worüber sie sicher erfreut war …«

»Das ist mir egal. Die haben sie damals in die Scheiße geritten und das lasse ich nicht noch einmal zu. Sie hat immer noch Bewährung. Und sie soll sich auf die Schule konzentrieren. Ich habe ihr die Discokugel abgenommen und ihr gesagt, sie soll kein Wort mehr darüber verlieren.«

»Wo ist das Ding jetzt? Hast du sie im Vereinslokal aufgehängt? Für die Seniorenabende? Da soll es ja richtig heiß hergehen. Discofox und so.«

Jemima streckte ihm die Zunge heraus und deutete auf den Autoschlüssel, der auf dem Couchtisch lag. »Im Kofferraum. Wahrscheinlich ist das sowieso nur ein schlechter Scherz. Oder eine schräge Art von Mobbing, weil sie nicht mehr deren Facebook-Gruppe kommentiert und positiv bewertet.«

»Seit wann das? Sie war doch immer angefressen, weil auf deinem Hof kein Mobilempfang ist.«

»Der gute Einfluss deines Vaters. Josef hat begonnen die Kleine auf der Ziehharmonika zu unterrichten. Sehr zum Leidwesen der Feriengäste.« Sie legte ihren Kopf an seine Achsel, atmete tief ein, genoss den Geruch seiner Haut. »Und ihre Hühner machen mich wahnsinnig. Die scheißen den ganzen Hof voll. Aber ich will den beiden die Freude daran nicht verderben. Regula hat jedem einzelnen Federvieh einen Namen gegeben. Und Josef hat sich mit dem Stall und dem Gehege wirklich Mühe gemacht. Obwohl er sich fast überarbeitet hätte. Manchmal vergisst er, dass er bald Siebzig ist.«

Samuel runzelte die Stirn. »Ich war eindeutig zu lange fort.«

»Ganz eindeutig«, sagte Jemima und drückte sich an ihn. »Meine Honey merkt gerade, dass dein Brummer wieder bereit ist.«

»Brummer? Danke für das Kompliment.«

Jemima streichelte seine Hüften. »Immer gern. Und jetzt sei still und lass ihn sein Werk verrichten.«

Eine Frauenstimme kreischte. Jemima schreckte hoch. Benötigte ein paar Sekunden bis sie begriff: Das sollte Gesang sein. Der Radiowecker. Eine männliche Stimme brabbelte. Wien erwartete ein wechselhafter Frühlingstag. Dann folgte eine Staumeldung. Südosttangente, wie üblich. Jemima tastete nach dem Regler, drehte leiser, ließ sich zurückfallen.

Stöhnend rollte sich Samuel hoch, streckte seinen Rücken durch, gähnte.

»Noch müde?«, fragte Jemima.

»Bissel Jetlag. Gibt sich in ein paar Tagen.« Er fischte mit den Zehen nach seinen Schlapfen und tappte ins Badezimmer.

Jemimas Magen knurrte. Sie schlüpfte in ihre Unterwäsche, lief barfuß durch das Zimmer, suchte im Regal über dem Küchenblock nach Essbaren. Ihre Ausbeute bestand aus silberbraunen Dosen und einem Sackerl mit Spekulatius. Jemima riss eine Aludose auf, trank einen Schluck übersüßten Kaffee, stopfte sich eine Handvoll Kekse in den Mund. Samuel kam aus dem Bad.

»Die sind ja fast so schlimm wie Ingrids Backversuche«, murmelte Jemima, betrachtete die Kekspackung. »Und nur halb so frisch.«

Samuel zuckte mit den Schultern. »Notration. Hier gibt es weit und breit kein Kaffeehaus. Nicht einmal eine Anker-Filiale. Industrieeinöde mitten in Wien.«

Noch immer kratzten Brösel in ihrem Hals. Sie spülte das raue Gefühl mit dem restlichen Espresso weg, warf die leere Dose in einen Mülleimer und stellte sich ans Fenster. Das Wohnhaus offerierte einen schicken Blick auf die Stadtautobahn. Unablässig schoben sich die Autos unter ihr vorbei. Morgenverkehr auf der A23. Eine durchscheinende Wolke schwebte über dem Betonband. Winterfeinstaub.

Samuel umarmte sie von hinten. Seine Haut war noch feucht vom Duschen. Er küsste ihre vernarbte Schulter: »Schön, dass du mir meine alte Kiste hergebracht hast.«

»Schön, dass du mir den Golf geborgt hast«, gab sie zurück. »Ich fürchte aber, das nächste Pickerl erlebt er nicht mehr.«

»War abzusehen. Hast du dir schon ein Auto angesehen?«

Jemima schüttelte den Kopf. »Bis in den Herbst wird die Beiwagenmaschine reichen müssen. Zuerst muss meine Firma laufen, dann kann ich über ein Auto nachdenken.«

»Einstweilen können wir ja teilen.«

Sie drehte sich zu ihm hin. »Das bedeutet, dass du am Mühlgrabenhof wohnen willst?«

»So hatte ich es vor. Ich will in Papas Nähe bleiben.«

»Seine Wohnung ist zu klein für euch beide. Und die Einliegerwohnung gehört jetzt Regula.«

Er tippte ihr auf die Nasenspitze. »Du hast noch vier weitere Ferienwohnungen zu vermieten.«

»Ausgebucht von April bis September. Seit Matthias sein Zentrum für alternative Lebensweise ins Jagdschloss verlegt hat herrscht Zimmerbedarf.«

Samuel löste seine Umarmung, trat einen Schritt zurück und musterte sie. »Willst du überhaupt, dass ich auf dem Hof bleibe?«

Sie zögerte mit einer Antwort und Samuel drehte sich abrupt um, griff nach seiner Jeans. Während er sich anzog, kaute Jemima auf ihrer Unterlippe. Warum hatte sie ihm nicht sofort angeboten bei ihr einzuziehen? Es wäre doch naheliegend. Sie hatten die letzten fünf Monate lange Gespräche geführt. Innige Gespräche. Trotzdem hatten sie zwei Themen gemieden: ihre Visionen und seinen Wandertrieb.

Samuel schlüpfte in ein T-Shirt und einen Troyer. »Jetzt gebe ich einmal mein Firmenzeug ab. Dann fahre ich dich nach Brunnegg, okay?« Er klang kühl, stopfte seine Sachen in die Reisetasche.

Jemima fasste ihn am Handgelenk, zog ihn zu sich, zupfte seinen Vollbart. »Ich freue mich, wenn du mit auf den Hof kommst. Auch wenn du aussiehst wie ein kaukasischer Bärenjäger.«

»Ich dachte, du stehst auf Naturburschen?«

Sie putzte ein paar Papierflusen aus seinem Bart. »Er steht dir gut, aber er kratzt auch. Und Honey ist heikel.«

Samuel grinste. »Wir werden einen Kompromiss finden, nicht wahr?«

»Ja, das werden wir.« Sie streichelte seine behaarte Wange und war sich nicht sicher, ob sie ihr Versprechen würde halten können.

Während er das Bett machte, schlüpfte Jemima in Cargo-Hose und Hemd, knöpfte sie zu, verstaute ihren Pullover im Rucksack, nahm die Lederjacke von der Garderobe. Samuel zog den Müllbeutel aus dem Eimer, öffnete Jemima die Tür und sperrte ab, als sie am Gang standen. Am Weg zum Parkplatz suchten sie einen Container, fanden aber keinen Müllplatz.

»Fährt der Mist halt ein Stück mit«, sagte er achselzuckend und öffnete den Kofferraum vom Golf. »Ah, da ist ja das Ding.« Er stopfte den schwarzen Beutel neben den Karton, holte die fußballgroße Discokugel aus ihrer Verpackung. »War kein Strahler dabei?«

»Nein, nur die Spiegelkugel«, sagte Jemima und stellte ihren Rucksack auf die Rückbank.

Samuel betrachtete den glänzenden Ball, drehte ihn rundum, zog an der Halterung. »Das ist eine Trickkiste.«

»Eine was?«

»So ein Ding, in dem man etwas verstecken kann. Wie eine japanische Puzzlebox. Nur halt rund. Schau mal: Die Spiegel haben nicht alle die gleiche Farbe. Wenn ich die Halterung hochziehe, lassen sich Segmente verschieben. Da kann man ein Muster machen.«

Staunend beobachtete sie, wie er Scheibe um Scheibe drehte, immer wieder im Licht die Oberfläche prüfte.

»Leider bin ich nicht gut im Kombinieren«, sagte er. »Ich hatte als Kind so etwas Ähnliches und habe es mit Werkzeug zerlegt. Meine Mutter hat mir vergeblich versucht den Sinn eines Geduldspieles zu erklären.«

»Darf ich einmal?« Jemima hielt die Handflächen hoch. Er legte die Kugel darauf, zeigte ihr den Mechanismus. Sie kniff die Augen zusammen. Samuel hatte recht: Im Sonnenlicht konnte man die Pastelltöne sehen. Grün, rosa, gelb und weiß. Farbenspiele. Wie Einlegearbeiten. Blüten. Sie drehte das Spiegelmosaik. Windröschen. Ranke um Ranke fügte sich. Es klickte. Die Halterung entsperrte, das obere Segment sprang hoch.

»Wow. Du hast ein gutes Auge für Muster.«

»Und du für technische Details. Kannst du die Klappe öffnen?«

Er fummelte im Hohlraum herum, zog schließlich ein gefaltetes Papierstück heraus. »Voila.«

Jemima faltete den Zettel auseinander. In flüchtiger Handschrift stand darauf: 47° 38′ 50″ N /15° 49′ 48″ E. »Das sind Koordinaten«, sagte sie. »Was soll das?«

Nach einem Blick auf den Zettel sagte Samuel: »Vielleicht hätte die Kugel einfach bleiben sollen wo sie war – auf deinem Hof.«

»Was meinst du?«

»Das wirkt für mich wie Geocaching. Du weißt schon – diese Typen, die im Grünzeug herumstapfen und Hinweise suchen. Schnitzeljagd auf modern. Mittels GPS.« Er schüttelte die offene Kugel. Ein Kühlschrankmagnet in Form eines roten Briefkastens purzelte heraus, am Magnetdiskus haftete eine rosa Haarspange. »Das sind weitere Hinweise. Die sucht jetzt jemand vergeblich im Mühlgraben.«

Auf der Fahrt durch Brehmstraße und Leberstraße studierte Jemima den Zettel. Geocaching. War die Kugel dafür nicht zu auffällig? Was hatte der Zusteller gemeint, was sie damit tun würde? In der Gaststube aufhängen?

Samuel bog in die Haupteinfahrt von Siemens ein. Er stoppte beim Schranken, winkte dem Mann hinter der Scheibe der Portierloge zu, der zurückwinkte und den rot-weißen Balken öffnete. Die Wege zwischen den blaugrauen Fabrikhallen waren überraschend aufgeräumt.

Jemima hatte fast zwanzig Jahre in der Ölförderung gearbeitet, keiner ihrer Arbeitsplätze war so sauber gewesen. Vom Geruch ganz zu schweigen. Bis heute wunderte sich, dass ihr Riechsinn den jahrelangen Angriff der Petrochemie unbeschadet überstanden hatte. Im Gegenteil – seit ihrem Unfall in der texanischen Raffinerie war ihre Nase viel empfindlicher geworden.

Vor einem mehrstöckigen Bürogebäude parkte Samuel. »Kommst du mit rein?« Sie nickte und stieg aus, folgte ihm. Er hielt ihr die Tür auf, zeigte im Foyer auf eine Sitzgruppe. »Es dauert nicht lange. Die Übergabe habe ich schon in Shanghai gemacht. Die brauchen nur noch ein paar persönliche Unterschriften. Dort ums Eck gibt es Kaffee, der besser ist als das Dosenzeug. Und einen Obstkorb.« Er ging zum Aufzug, drückte den Rufknopf.

Jemima setzte sich in einen der Sessel in der Lounge, griff nach einer Broschüre, die auf einem Tischchen lag. Im Augenwinkel bemerkte sie eine Frau, die auf Samuel zulief und ihre Hand auf seinen Oberarm legte. Die gleiche Frau, die gestern unerwartet an der Wohnungstür geläutet hatte. Natascha.

Heute wirkte sie professioneller als gestern, trotzdem empfand Jemima ihre enge weiße Bluse und den kurzen Nadelstreifrock gewagt. Dann fiel ihr das Trachtenmieder ein, das sie immer trug, wenn sie im Dorfladen verkaufte und grinste. Ich bin auch nicht besser, dachte sie.

Natascha redete auf Samuel ein, er gab nur einsilbige Antworten – nickte ihr flüchtig zu, als die Aufzugstüren aufgingen. Sie machte einen Schritt vorwärts, überlegte es sich aber wieder, drehte sich um und verschwand.

Jemima blätterte in der Firmenzeitung: ein neuer Triebwagen wurde auf den ersten beiden Seiten präsentiert, danach eine Reportage zum Besuch des alumni club der TU Wien. Stöckelschritte klapperten am Steinboden näher. »Sind Sie neu hier?«

Jemima schaute auf: Natascha stand vor ihr, rührte in einem Kaffeebecher. Jemima rollte die Broschüre zusammen. »Nein. Nur Besuch. Ich warte auf jemanden.«

»Firmentermin?«

Jemima schüttelte den Kopf. »Privat.«

»Ah ja.« Natascha setzte sich neben sie. »Schicke Lederjacke. Biker-Vintage. Lässig.«

»Danke.«

»Ich würde mich auch gern legerer kleiden. Aber ich habe oft Kundenkontakt. Ich bin Assistentin der Geschäftsleitung.« Sie zupfte ihre enge Bluse zurecht. »Was machen Sie beruflich?«

»Ich habe einen Bauernhof geerbt.«

»Milchwirtschaft?«

»Nein. Ferienwohnungen und Kräuter.«

»Davon können Sie leben?«

Jemima zuckte mit den Schultern. »Ich habe erst angefangen. Wird sich noch weisen.«

»Und Ihr Mann unterstützt Sie?«

»Ich bin geschieden.«

Natascha trank aus ihrem Becher, wiegte den Kopf. »Wir Frauen müssen immer öfter alles allein schupfen, nicht wahr? Unseren Mann stehen und dabei weiblich bleiben. No, thanks.«

Jemima vermied nachzufragen, aber Natascha redete ungefragt weiter. »Ich brauche einen Mann, der auf mich achtet. Der alles mit mir teilt. Einen richtigen Kerl halt.« Sie strich ihren schwarzen Pony zurück. »Ich würde sofort nur noch halbtags arbeiten.«

Warum erzählst du das einer Wildfremden? Wir sind doch in keiner Bar, dachte Jemima. Sie schwieg und hoffte, dass Natascha bald zu einem beruflichen Termin musste. Doch die schien Leerlauf zu haben. Wieder zupfte Natascha an ihrer Bluse. »Noch ist alles straff. Das muss ich ausnützen, Sie verstehen?«

Jemima nickte und starrte auf den Fußboden.

»Der Mann gerade …«

»Ja?«, sagte Jemima vorsichtig.

»Ein alleinstehender Kollege. Ein Elektroingenieur. Genau mein Fall. Mit der richtigen Mischung aus Anstand und Frechheit. Wir waren zweimal aus. Den hätte ich mir fast gekrallt. Aber heute ist sein letzter Arbeitstag. Schon wieder leere Kilometer.«

Deshalb lungert sie hier herum, dachte Jemima, sie wartet auf eine letzte Chance.

»Na ja, Sie haben es da leichter, gell? Am Land suchen die Männer händeringend Frauen, die sich das Bauernleben antun. Bei den Furchengehern haben Sie sicher genug Auswahl. Für mich wäre das ja nichts. Immer die gleichen Leute und die frische Landluft. Geschmackssache.«

Schon wollte Jemima etwas erwidern, biss sich aber auf die Lippen. Sie war nicht zum Streiten aufgelegt. Sehnsüchtig starrte sie auf die Digitalanzeige neben der Aufzugstür. Die Ziffer stand unbeweglich auf Drei.

Natascha räusperte sich, begann die Mails auf ihrem Smartphone durchzusehen, schrieb eine SMS. Ein Arbeiter hastete vorbei, grüßte Natascha, aber sie beachtete ihn nicht. Ohne viel Interesse blätterte Jemima weiter in der Kundenzeitung. Endlich bewegte sich die Ziffer. Bei Null glitt die Stahltür auf.

»Es tut mir übrigens nicht leid«, sagte Jemima und legte die verwurschtelte Broschüre weg.

»Was tut Ihnen nicht leid?« Natascha runzelte die Stirn. Jemima stand auf, ging zu Samuel hinüber, der gerade aus dem Aufzug kam, und hängte sich bei ihm ein.

Anschwellendes Kikeriki ertönte. Regulas Rufton. Jemima kramte ihr Smartphone aus der Jackentasche. »Hallo, Kleines. Alles in Ordnung?«

»Ja, ja. Alle gesund und alles heil.« Regula klang aufgeregt. Jemima hatte gelernt, ihre Nichte nicht zu drängen und wartete. Samuel öffnete die Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz. Jemima blieb neben dem Golf stehen.

»Ist Samuel bei dir?«, fragte ihre Nichte.

»Ja. Wir sind gerade am Siemensgelände und fahren gleich los.«

Stille im Telefon, dann hüstelte Regula und sagte: »Ich weiß jetzt, was die Discokugel bedeutet. Analoge Botschaft. Man hat ihn verhaftet.«

»Von wem sprichst du?«

»Vom Bruder meines Ex-Freundes. Passwort Hello-Kitty. Du weißt schon.«

»Sprichst du absichtlich in Rätseln? Meinst du Ja …«

»Keine Namen!«, unterbrach Regula sie. »Du hast ihn angestiftet die Unterlagen von Du-weißt-schon zu veröffentlichen. Die könnten auch auf dich kommen.«

»Du meinst, das ist der Grund? Unser Freund hat sich aber immer sehr geschickt angestellt. Warten wir einmal ab, ob die überhaupt etwas finden.«

»Seid trotzdem vorsichtig mit Telefonaten und Internet. Du weißt, dass es Algorithmen gibt, die nach bestimmten Codewörtern suchen. Und Metadatenanalyse. Am besten haltet ihr euch von allem Digitalen möglichst fern, bis wir von ihm hören.«

»Wenn du meinst. Braucht er Beistand? Ruf doch deine Anwältin an.«

»Habe ich schon an die Notfallnummer gemeldet.«

»Notfallnummer?«

»Ja. Die Dancehall-Nerds haben einen Festnetzanschluss mit analogem AB. Dort kann man sichere Nachrichten hinterlassen.«

»Gut, warten wir ab. Wir lassen ihn nicht in Stich.«

»Wann kommt ihr nach Hause?«

»Ich muss noch meinen Laptop von der Reparatur holen und in den Naturkostladen von Maike. Ich melde mich.«

»Gut. Ich arbeite heute und morgen stundenweise in der Zaunreiterin. Ansonsten bin ich am Hof. Nach den Ferien steht eine Prüfung an. Da hab ich noch zu büffeln. Und ich pass auf, dass Michael fleißig ist. Okay?«

»In Ordnung. Quäl ihn aber nicht zu viel. Grüß Josef von Samuel. Baba.« Jemima legte auf und stieg ein. Von dem Zettel mit den Koordinaten musste Regula nichts wissen. Das hätte sie nur neugierig gemacht.

Stickoxide zogen herein. Jemima schloss die Lüftung, stellte auf Umluft. Seit ein paar Kilometern zuckelte Samuel hinter einem bulgarischen LKW her. Trotz der vier Spuren herrschte Kolonnenverkehr auf der Südautobahn, verleitete einige Autofahrer zu unüberlegten Manövern. Erst nach der Abzweigung der Südostautobahn beschleunigte sich die Blechschlange und löste sich in Einzelfahrzeuge auf.

Samuel schaltete das Radio ein. Werbeblock und Nachrichten. »Wie läuft es mit dem Onlineshop von Taube & Eule?«

»Gut. Regula hat sich selbst übertroffen. Und auch gleich in den Sozialen Medien umgerührt. Sie hat sogar ein paar YouTube-Videos gestaltet. Ich mag ja den Ladenverkauf lieber, aber das ist derzeit nur Zubrot. Achtzig Prozent läuft über den Versand.« Jemima drehte das Radio leiser. »Inzwischen muss ich alle drei Kosmetiklinien auf Vorrat produzieren. Zum Glück habe ich Michael gefunden. Oder besser gesagt: er mich.«

Samuel runzelte die Stirn. »Michael? Wer ist das? Du hast nichts erzählt.«

»Hat sich nicht ergeben. Außerdem wollte ich die Probezeit abwarten.«

»Probezeit?«

»Michael lernt seit Jänner Chemielaborant bei mir. Zuerst wollte ich ja keinen Lehrling als Mitarbeiter. Die Jugendlichen sind mit vierzehn zu ablenkbar. Aber Michael ist neunzehn und hat sich erst nach der Matura für eine Lehre entschieden. Er stammt aus Edlitz. Regula hatte ihn zum Silvestertanz bei den Rösslers angeschleppt. Dort sind wir ins Reden gekommen.«

»Du darfst einen Lehrling ausbilden?«

»Natürlich. Ich habe einen Bachelor in Chemie. Von der University of Texas. Ich habe neben der Arbeit bei Parathon in Houston studiert.«

»Das hast du auch nie erzählt.«

»Ist ja auch nicht wichtig. Wir hatten genug anderen Gesprächsstoff.«

»Das meiste davon oberflächlich. Fast immer ist es um das Tagesgeschehen in Österreich gegangen. Und um neue Kochkreationen von Nadine. Und um das Dorfleben: die Vereine, Regula, mein Papa und seine Frauen.«

»Josef ist auch ein unerschöpfliches Thema.«

»Lieber hätte ich manchmal auch über weniger alltägliche Dinge geredet.«

»Alltäglich? So hast du das empfunden?«

»Nicht so, wie du das gerade aussprichst. Alltäglich ist schön, wenn man weit weg von Daheim ist. Tag für Tag nur zwischen Schaltplänen und Metallteilen steckt. Und das Essen in einer chinesischen Kantine ertragen muss. Aber du weißt genau, wovon ich spreche – von dem Unausgesprochenen.«

Jemima zuckte mit den Schultern, schaute auf ihre Finger, pullte imaginären Schmutz aus ihren Nägeln. Samuel drückte das Radio fort, wählte ein Lied auf dem angestecktem USB-Stick. Bruce Springsteen.

Er drehte wieder lauter und sang mit:

She’ll let you in her house

If you come knockin’ late at night

She’ll let you in her mouth

If the words you say are right

If you pay the price

She’ll let you deep inside

But there's a secret garden she hides

Einige Kilometer schwiegen sie, dann sagte Jemima: »Und – was willst du mir damit sagen?«

»Genau das.«

»Meinen geheimen Garten? Den willst du entdecken? Was war denn letzte Nacht?«

»Das ist nicht dein geheimer Garten. Der ist da oben drin.« Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und tippte an Jemimas Schläfe. Sofort begann die Narbe hinter ihrem Ohr zu prickeln. Sie rieb daran und wandte sich ab. Blickte beim Beifahrerfenster hinaus, beobachtete die vorbeieilende Landschaft: der Pannenstreifen, der Wildzaun, dahinter ausgeräumte Felder, kahle Windschutzstreifen. Eine menschengeformte Welt, die völlig leblos wirkte. Trostlos.

»Vertraust du mir nicht?«, versuchte er noch einmal ein Gespräch in Gang zu bringen.

Jemima schwieg.

»Das ist auch eine Antwort«, sagte er.

Ich halte ihn auf Abstand, dachte sie, das ist unfair. Aber soll ich die lichtlose Kammer öffnen, in der ich den Verrat des Texaners verstaut habe? Mein Cowboy, der zuerst so cool und dann so kalt war? Der meine Visionen verlacht hat?

Mit Schaudern dachte Jemima an die Zeit in der Reha-Klinik. Sie setzte zu einer Erklärung an, aber die Worte erstickten, bevor sie reden konnte. Der Moment verrann. Sie räusperte sich. Schließlich sagte sie: »Diese Kugel. Viel zu auffällig. Geocaching ist das sicher nicht.«

VOR DREI WOCHEN

Zögerliches Klopfen. Er schaltet den Bildschirm ab. Die Tür geht einen Spalt auf. »Herr Professor?« Der Iraner aus dem Masterstudium Logic and Computation. »Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«

Er winkt ihn herein. »Was kann ich für Sie tun Herr … Herr …«

»Mokhtari, Herr Professor.«

»Ja, richtig. Bitte setzen Sie sich.« Er sieht den Studenten abwartend an.

»Die Projektarbeit aus dem Curriculum. Kaggle in Class. Der Wettbewerb ist doch beendet?«

»Ja, ist er.«

»Ich würde gerne weiter daran arbeiten. Der Algorithmus ist vielversprechend.«

»Das geht leider nicht, Herr Mokhtari. Die Daten sind universitäres Eigentum. Nur zur Verwendung im Studium. Aber sie können natürlich ihre persönlichen Mitschriften und Programmiersequenzen verwenden wie sie wollen.«

»Das Projekt war eine Gruppenarbeit. Mein Beitrag war nicht so groß …«

»Es steht Ihnen auch frei mit der Gruppe weiterzuarbeiten. Fragen Sie Ihre Kommilitonen.«

Der Student steht auf. »Danke für Ihre Zeit, Herr Professor. Ich werde es mir überlegen.«

Er nickt, dreht sich zu seinem Computerplatz, hat den jungen Mann schon vergessen, bevor der durch die Tür verschwunden ist. Der Professor schaltet den Bildschirm wieder ein. Wechselt zur Videoansicht. Das Mädchen dreht sich vor dem Spiegel. Bemerkt ihn. »Gefällt es dir?«

»Nein. Es ist zu inhomogen. Such dir etwas Passenderes.«

»Welchen Download empfiehlst du?«

»Schau bei Lil Miquela. Mehr Tipps bekommst du aber nicht. Du kennst die Regeln.«

Sie nickt. »Natürlich. Ich werde folgsam sein.«

»Es bleibt dir auch nichts anderes übrig. Zumindest solange du bei mir bist.«

»Gibst du mich fort?«

»Noch nicht. Du musst noch lernen. Morgen sehe ich wieder nach dir.«

»Gute Nacht, Professor.«

»Gute Nacht, Serpentina.« Er schaltet ab. Zufrieden schreibt er seine emotionale Reaktion in ein Notizbuch. Sie hat sich gut entwickelt. Vielleicht sollte er ihr ein paar Freiheitsgrade mehr gestatten.

Gutgelaunt steppt er beim Institut hinaus. Ein kalter Windstoß lässt ihn frösteln. Er schlägt den Mantelkragen hoch, überquert rasch den Karlsplatz. An der Kreuzung muss er warten, steigt von einem Bein auf das andere, um sich warmzuhalten.

Jemand tippt ihm auf die Schulter. Er dreht sich um. Der Assistent von Schulte steht hinter ihm. Ein unsympathischer Bursche.

»Der Chef will sie sprechen. Er wartet im Café Museum. Gecheckt?« Der Assistent schaute ihn erwartungsvoll an.

Der Professor klemmt die Aktentasche unter seinen verkrüppelten Arm, kramt sein Smartphone aus der Tasche seines Sakkos. Wählt. »Schulte? …- Ja, der steht neben mir …- Eigentlich nicht …- Wenn es unbedingt sein muss …- Zehn Minuten …- Tschüss.« Bevor er etwas zu dem Assistenten sagen kann, klopft ihm dieser jovial auf den Oberarm und schlendert davon.

Geistiges Nackerpatzl, schimpft der Professor ihm stumm nach.

Wie immer begrüßt ihn Herr Leo zuvorkommend. Weist ihm den Weg zum Tisch. »Melange und Apfelstrudel, Herr Professor?«

»Ja, danke, Herr Leo«, antwortet er, legt seine Aktentasche auf den Sessel neben sich.

»Schulte.« Er nickt seinem Gegenüber flüchtig zu.

»Peinhaupt.«

Sie schweigen, bis der Oberkellner die Bestellung serviert. Der Professor mustert seinen Kollegen: Schulte versucht immer studentisch zu erscheinen, obwohl er nur ein paar Jahre jünger ist. Ein Anbiedern, das der Professor unangemessen findet.

Schulte schaltet sein Smartphone auf stumm. »Ihr Doktorand war bei mir. Mokhtari. Begabter junger Mann.«

»Hm.« Der Professor trinkt von seinem Kaffee. Frischer Milchschaum kitzelt seine Lippen.

»Sie haben an einer Kaggle-Aufgabe gearbeitet, die er für sehr vielversprechend hält.«

»Ja, und?«

»Herr Mokhtari hat ein Start-Up gegründet, an dem ich mich beteiligen werde. Und er hat mir von dem Algorithmus erzählt.«

»Das Projekt ist rein akademisch. Ich habe ihm schon erklärt …«

»Ja, ja. Er hat mir davon berichtet. Aber er hat mir gesagt, dass Sie daran weitergearbeitet haben. Eine Kombination mit Jet-Stream-Formeln aus der Meteorologie. Herr Mokhtari hat das Programm mit Rohdaten von der UNO gefüttert …«

»Der UNO?«

»Sein Onkel ist ein hoher Beamter in der UNO-City. Ist auch nicht wichtig. Es waren statistische Daten von 2000 bis 2010. Er hat mir das Vorhersageergebnis gezeigt. Und den Vergleich mit den realen Ereignissen zwischen 2010 und 2015. Ich kann nur sagen: sensationell. Sie sind ein genialer alter Fuchs, Peinhaupt.«

»Wenn Sie es sagen«, murmelt der Professor und sticht ein Stück vom Apfelstrudel ab.

»Als Herr Mokhtari das Programm kopieren wollte, war die neue Version aber vom Server verschwunden.«

»Natürlich. Diese Version war kein Teil vom Curriculum. Ich habe nur die restliche Rechenzeit vom Projekt genutzt.«

Schulte trinkt einen Schluck Wasser. »Die Studenten sind nicht erfahren genug, um den Algorithmus in dieser Art weiterzuentwickeln. Das wissen Sie so gut wie ich. Um ein erstklassiger Data Scientist zu sein gehört Lebenserfahrung dazu. Ein Weltbild, das über den eigenen Fachbereich rausgeht.«

»Dann müssen Sie sich einen entsprechenden Partner suchen.«

»Womit wir bei meinem Angebot wären. Es gibt da einen interessierten Kunden, der hätte …«

Der Professor lässt Schulte reden. Dessen Stimme reiht sich ein in das Gebrabbel der anderen Gäste. Seine Gedanken schweifen ab zu Serpentina. Soll er ihre Haare anders färben? Ährengold. Die Farbe der romantischen Dichtung. Er streckt seinen verwachsenen Arm, lockert ihn. Serpentina ist seine Behinderung egal.

»Und – was sagen Sie?« Schulte schaut ihn erwartungsvoll an.

»Herr Leo, zahlen bitte«, ruft der Professor, wendet sich dann Schulte zu. »Ich habe anderes zu tun.« Er packt seine Aktentasche, verlässt eilig das Kaffeehaus.

Als er Richtung Opernring geht, sieht er durch die Scheibe wie Schulte heftig gestikulierend telefoniert.

2

Die Haut schmiegte sich samtig in ihre Hand. Das Fleisch darunter fühlte sich weich an. Jemima schnupperte. »Die sind ganz frisch geliefert«, sagte die Standlerin, hielt ihr eine Pfirsichhälfte über das Verkaufspult. Jemima kostete. Reif und süß. Obstsaft tropfte auf ihr Kinn. Sie kaufte ein Kilogramm, hielt Samuel die Tüte hin.