Eisenhut - Alauda Roth - E-Book

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Alauda Roth

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Beschreibung

Die Zaunreiterin Notburga ist verunglückt. Aber ihr Patenkind Regula will nicht an einen Unfall glauben, und Jemima Augusta, die wegen ihrer Großmutter in das Dorf Brunnegg in der Buckligen Welt zurückgekehrt ist, sieht sich genötigt, dem Mädchen zu helfen. Zuletzt hat Notburga als Zugehfrau im nahegelegenen Jagdschloss bei der Familie von Suthen gearbeitet, und eine seltsame Notiz in Notburgas Tagebuch lässt Jemima einen Zusammenhang vermuten. Kurz darauf taucht ein Mann auf, der vorgibt ein Tourist zu sein und mietet sich ein Zimmer in Jemimas geerbtem Bauernhof. Etwas scheint den neuen Gast mit den Suthens zu verbinden, und Jemima wird mit der verdrängten Vergangenheit von Brunnegg konfrontiert.

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zum Buch

Die Zaunreiterin Notburga ist verunglückt. Aber ihr Patenkind Regula will nicht an einen Unfall glauben und Jemima Augusta, die wegen ihrer Großmutter in das Dorf Brunnegg in der Buckligen Welt zurückgekehrt ist, sieht sich genötigt dem Mädchen zu helfen.

Zuletzt hat Notburga als Zugehfrau im nahegelegenen Jagdschloss bei der Familie von Suthen gearbeitet und eine seltsame Notiz in Notburgas Tagebuch lässt Jemima einen Zusammenhang vermuten.

Kurz darauf taucht ein Mann auf, der vorgibt ein Tourist zu sein, und mietet sich ein Zimmer in Jemimas geerbtem Bauernhof. Etwas scheint den neuen Gast mit den Suthens zu verbinden und Jemima wird mit der verdrängten Vergangenheit von Brunnegg konfrontiert.

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

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Die Nacht ist von der Farbe

eines Frauenarms:

Nacht, die weibliche,

unerklärlich,

duftend und geschmeidig,

verbirgt sich selbst.

Ein Teich schimmert,

wie ein Armband

geschüttelt in einem Tanz.

The night is of the color

Of a woman’s arm:

Night, the female,

Obscure,

Fragrant and supple,

Conceals herself.

A pool shines,

Like a bracelet

Shaken in a dance.

Wallace Stevens, Six Significant Landscapes

Inhaltsverzeichnis

Naturpark Seebenstein, 2017

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Wien Rudolfsheim-Fünfhaus, 2010

Kapitel 5

Wien Innenstadt, 2005

Kapitel 6

Kapitel 7

Berlin Zehlendorf, 1945

Kaptiel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Brunnegg, 1978

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

NATURPARK SEEBENSTEIN, 2017

Was für eine Weite! Notburga breitet die Arme aus. Der Wind streicht über ihre faltige Haut. Die Landschaft gleicht einer bunten Palette. Sie fröstelt und schwitzt. Ihr Blut pulst wie Eiswasser. Mit nackten Sohlen geht sie über Brombeerranken. Die Weite vertreibt das Rauschen in ihren Ohren. Die Weite erfüllt ihren Atem mit Vorfreude. Dies war der Ort, zu dem du letzte Nacht geflogen bist, nah herangeflogen ohne dich fortzuheben. Wo hat sie das gelesen? Bei wem? Egal. Dies war der Ort …

Der Mauerbogen umrahmt die Weite. Ein Bildnis. Vergangenheit. Da war noch etwas. Etwas Unerledigtes. Der Gedanke verschwindet so rasch, wie er gekommen ist. Nur ein Mauersegler.

Ein Krampf erstarrt sie. Nicht jetzt, doch nicht jetzt. Nicht so nah am Ziel! Notburga müht sich weiter. Dort vorn ist die Antwort. Sie hat die Frage vergessen. Trotzdem will sie zuhören. Sieh dich um, brauner Vogel, brauner Mond, der du zum Flug ansetzt. Immer wieder murmelt sie den Vers. Und dann ist es soweit. Sie fliegt. Die Felsen glühen in der Abendsonne. Notburga starrt in die Weite. In das Hügelwunderland.

Die Burgruine verschwindet über ihr. Sie schlägt auf.

1

Metallisches Knacken biss in ihre Ohren. Das Eisentor der Justizvollzugsanstalt öffnete sich. Jemima hielt ihr Gesicht in die Sonne, atmete einmal tief durch, nickte dem Vollzugsbeamten in der Portierloge zu.

Sie schlenderte durch das geöffnete Tor, in der Hand eine Reisetasche mit Lufthansa-Logo. Auf dem Parkplatz vor dem Frauengefängnis Schwarzau standen einige Fahrzeuge und ein Mann. Er betrachtete den Beiwagen der Moto Guzzi Mille GT, schrieb auf einen Notizblock. Jemima stoppte, steckte ihre Sonnenbrille in die Locken, fummelte eine Selbstgedrehte aus ihrer abgewetzten Capri-Jeans. Nachdem sie sich den Umhängriemen über die Schulter gezogen hatte, zündete sie sich die Zigarette an. Ging langsam Richtung Beiwagenmaschine. Der Mann war groß und kräftig, wirkte wie ein Arbeiter. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehen. Er wendete den Kopf, steckte den Notizblock weg, strich sich durch die braunen Haare. Musterte sie und grinste: »Keiner da, der dich Hübsche abholt? Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?« Er deutete auf einen rostigen Golf GTI.

Sie blies den Zigarettenrauch in seine Richtung. »Bist du eine männliche Knastelse?«

Er zog die Brauen hoch. »Eine was?«

»Bist du ein Häfengroupie?«

Er kniff die Augen zusammen, zuckte mit den Schultern, verstand anscheinend nicht.

»So ein Typ, der auf Häftlinge steht«, sagte Jemima.

»Ah. Nein. Nur ein Höflichkeitsbesuch in der JVA.

Die Nichte einer Bekannten.« Er log schlecht.

»Wie anständig.« Sie sog an der Zigarette.

»Also – brauchst du ein Taxi?«

»Habe ich etwa eines gerufen?«

»Vergiss es«, murmelte er und begann von einem Bein auf das andere zu steigen.

Sie warf die Zigarette zu Boden, dämpfte sie aus, schob die Sonnenbrille über die Augen. Dann langte sie in den Beiwagen, holte eine Lederjacke und einen Halbschalenhelm heraus. Stopfte die Reisetasche stattdessen hinein. Sie zog Helm und Jacke über, schwang sich auf das Motorrad.

»Das war übrigens die banalste Anmache, die ich seit langem gehört habe.« Sie startete die Moto Guzzi. Das Aufheulen des Motors verschluckte seine Antwort. Ohne ihn weiter zu beachten, drehte Jemima am Gasgriff, fuhr die Mauer des Schlossparks entlang bis zur Bundestraße 54 und steuerte die Beiwagenmaschine in Richtung Seebenstein. Ein Aufriss vor dem Gefängnis, das fehlte ihr noch. Als hätte sie nicht schon genug am Hals.

Jemima bog in die Hofeinfahrt, prallte fast gegen eine blaue Tonne. Sie bremste scharf. Die Moto Guzzi gehorchte und stoppte abrupt. »Was zum Teufel hat …« Afra kam aus der Gaststube gelaufen und wedelte mit den Armen. »Ach du meine Güte. Tut mir leid. Die Kleine hat mich mit dem Ding stehen lassen. Ich finde keine Sackrodel.« Ihre lange, graue Stirnsträhne wehte wie eine Fahne vom Kopf.

Jemima seufzte. Was war jetzt wieder in Regula gefahren? Sie steuerte die Beiwagenmaschine um das Metallfass und fuhr die Moto Guzzi in die Scheune. Stellte den Motor ab. Afra folgte ihr, strich die Strähne zur Seite, fuhr sich über die ansonsten millimeterkurzen Haare. Eine blaue Arbeitsschürze spannte sich um ihre breiten Hüften. Nur selten sah man sie ohne dem Teil und Jemima fragte sich manchmal, wie viele Afra davon besaß. Aus der Tasche der Arbeitsschürze ragten die Finger von fleckigen Lederhandschuhen. »Wo kommt das Fass hin?«

»Wieso hat der Fahrer das nicht gleich ins Lager gestellt?«

»Frag deine herzige Schutzbefohlene. Regula hat den Lieferschein unterschrieben.«

Jemima seufzte wieder. Das Mädchen hatte bisher in der Stadt gelebt und frische Luft nur inhaliert, wenn sie von einer Location zur nächsten gependelt war. Aber sie hatte immerhin drei Jahre die HTL Rennweg besucht und gute Noten geschrieben. Jemima hatte gehofft, dass Regula bei der Arbeit am Hof ein wenig mitdenken würde.

Afra stupfte sie in die Seite. »Bereust du es schon die Kleine am Hof zu haben?«

»Das darf ich nicht. Ich habe es Notburga posthum versprochen.«

»Wird schon werden. Regula ist ja erst ein paar Tage hier. Sie muss sich halt einleben.« Afra rieb ihre Gummistiefel aneinander und Gatsch bröselte aus dem Profil. Jemima zog die Sackrodel hinter dem Traktor hervor und gemeinsam schafften sie das Fass in den ehemaligen Stall, den Jemima umbauen hatte lassen. Zu einem Chemielabor.

Sie achtete strikt auf ihre Privatsphäre. Anders war den Feriengästen nicht beizukommen, die oft meinten, mit der Zimmergebühr auch gleich sie gemietet zu haben.

Der Mühlgrabenhof, den Jemima vor einem Jahr von ihrer Großmutter Emschi geerbt hatte, war einer dieser typischen Einzellagen, wie sie in der Buckligen Welt häufig vorkamen. Ein Hofverband aus mehreren Häusern, entstanden in einer Zeit, als die Bauern alle Gerätschaften selber herstellten und die Bauerngärten, die Obstbäume und der Stall die Großfamilie versorgten. Einer Zeit, als die Menschen vor den Hollerstauden den Hut zogen und den heilenden Strauch nur sorgsam beschnitten.

Das einstöckige Haus an der Straße war einmal ein Gasthof gewesen, aber ihre Großeltern hatten vor Jahren die Gastwirtschaft aufgegeben und nur den Pensionsbetrieb weitergeführt. Die Gaststube diente seitdem als Versammlungsraum für verschiedene Vereine. Derzeit gehörte das Lokal der Zaunreiterin, einem Verein zur Pflege der traditionellen Heilkunde und des lokalen Kunsthandwerks, dessen Vorsitzende Notburga gewesen war. Jemima hatte die Zimmer der Pension im ersten Stock in kleine Wohnungen umgewandelt, vermietete diese wochenweise an Feriengäste, die auch den Hofbereich mit dem Grillplatz, den Naturgarten und das Schwimmbiotop nutzen durften. Das hintere Wohnhaus, die Wirtschaftsgebäude und der ummauerte Garten waren den Gästen verschlossen. Eine Reihe bepflanzte Betontröge und zwei Sitzbänke in der Mitte des Hofes markierten die Grenze.

Nur Afra, die bei Jemima putzte, durfte unangekündigt in ihr Reich. Sie war ihre nächste Nachbarin und inzwischen wie eine beste Freundin, obwohl sie über zwanzig Jahre älter war als Jemima. Afras Tochter und Schwiegersohn führten mit ihren halbwüchsigen Kindern einen Bio-Bauernhof mit Ziegenhaltung und boten Lama-Wanderungen an. Trotzdem konnte die Familie jeden Zuverdienst brauchen.

Seit ihrer Entlassung aus der JVA Schwarzau lebte jetzt auch Regula auf dem Mühlgrabenhof. Bis zu ihrer Volljährigkeit hatte Jemima die Obsorge über das Mädchen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass deren Tante, bei der Regula seit dem Tod ihrer Eltern gelebt hatte, nicht mehr dazu in der Lage war. Ein weiteres Methadon-Schicksal. Auf der Suche nach einer nächsten Verwandten hatte das Familiengericht Jemima als Cousine zweiten Grades von Regulas Mutter ausfindig gemacht und ihr die Vormundschaft für das sechzehnjährige Mädchen angetragen. Zuerst hatte sich Jemima gefreut nicht mehr allein in dem großen Wohnhaus zu leben, allerdings hatte Regula andere Vorstellungen von Privatsphäre als Jemima. Ein vorprogrammierter Konflikt.

»Hexan. Was ist das?«, fragte Afra, als sie das Fass endlich zwischen die anderen Chemikaliengebinde geschoben hatten.

»Ein Lösungsmittel«, antwortete Jemima.

»Für die Destillation?«

»Nur manchmal. Vorwiegend für die Chromatographie und die Reinigung.«

»Kann ich das auch verwenden?«

»Eher nicht. Es ist brandgefährlich. Besser du bleibst beim Putzspiritus.« Jemima schloss die Tür hinter sich und Afra sperrte zu, gab ihr den Schlüssel.

»Regula wollte gestern die Nase in deine Wunderkammer stecken«, sagte Afra.

»Halt sie bloß fern. Ich habe noch keine ausreichende Löschanlage.«

»Wie lange bleibst du im Probebetrieb?«

»Bis ich die Rezepte durchgearbeitet habe. Ich stelle gerade von allem, wofür ich Zutaten habe, eine Auswahl her. An den Verkäufen sehen wir was ankommt und daraus stellen wir ein Sortiment für eine größere Produktion zusammen. Und dann muss ich zu kalkulieren beginnen.«

»Brauchst du noch Nachtkerze? Ich habe noch ein Sackerl getrocknete Wurzeln.«

»Nein. Mit diesen Mischungen bin ich schon fertig.«

»Hast du schon den Badezusatz probiert?«, fragte Afra eifrig.

»Ja. Ein wirklich berückendes Erlebnis.«

Mehrtöniges Klingeln ließ sie herumfahren. Die Familie, die sich gestern in der vordersten Ferienwohnung eingemietet hatte, bog mit ihren Mountain-Bikes in den Hof. Sie winkten Jemima zu, lehnten die Räder gegen die Wand und verschwanden im Haus. Nach der Bettwäsche nahm Jemima die Shirts von der Wäscheleine, legte sie locker gefaltet in den Korb und stutzte: Zwischen den Khaki-Shorts und dem Lone-Star-Sweater klaffte eine Lücke. Sie schaute sich um, fand das fehlende Wäschestück aber nicht. Was war dort gehangen? Ein schwarzes Spitzentop. Regula, schoss es Jemima durch den Kopf. Schon einmal hatte sich das Mädchen an ihrem Kasten bedient. Aber Spitze entsprach nicht Regulas Stil. Noch einmal kontrollierte Jemima den Boden, ging auch den vorderen Teil des Hofes ab. Nichts.

Sie trug den Wäschekorb ins Haus, stellte ihn neben das Bügelbrett in der Stube, öffnete den Bauernkasten, hinter dessen Türen sich die Mediengeräte verbargen. Während sie das DVD-Regal nach einem möglichst lauten Film durchsuchte, kam Regula herein. Heute trug sie ein kurzes Ed-Hardy-Shirt zu engen Jeans und Minirock, auf dem Kopf ein schwarzes Strickkäppi. Jemima legte R.E.D. in den Player, schaltete den Fernseher ein, steckte das Bügeleisen an. Regula fingerte ein Notizbuch mit dunkelgrünem Einband aus ihrem Rucksack und wedelte damit vor Jemimas Nase herum.

»Hier – hier hast du es. Etwas stimmt nicht. Ganz und gar nicht.« Regula schlug das Notizbuch auf und las laut vor: »Ich habe etwas entdeckt. Ich glaubte das alles vergessen zu haben. Aber die Erinnerung hat wohl nur geschlummert. Ein Geruch in diesem Zimmer, mit all den toten Tieren – und alles war wieder da. Lebendig und klar und beschämend. Und wieder empfinde ich die Enttäuschung über die vergebene Chance. Wie kann man nur wegen so etwas Banalem ein vielversprechendes Leben wegwerfen?« Sie schaute auf, sagte mit schwerer Stimme: »Ein Zimmer mit toten Tieren – das gibt es nur im Jagdschloss. Notburga hat dort etwas gefunden. Sie wollte etwas aufdecken, da bin ich mir ganz sicher. Und du findet es nicht seltsam, dass kurz darauf der Unfall passiert ist?«

Jemima zuckte mit den Schultern und legte eine Bluse auf das Bügelbrett. Regula hielt ihr das Notizbuch aufgeschlagen hin. »Und danach fehlen alle beschriebenen Blätter. Jemand hat die herausgerissen. Warum hätte jemand das machen sollen, wenn es nicht etwas zu verbergen gibt?«

Nach einem Blick auf die grüngefärbten Seiten sagte Jemima: »Was immer Notburga im Jagdschloss gesehen hat – es geht uns nichts an.«

»Wie kannst du nur so ignorant sein? Sie war die Cousine deiner Mama und sie hat dir bei der Pflege von deiner Oma geholfen. Sie war Familie!«

»Ich vermisse sie mindestens genauso wie du. Aber anderen die Schuld zu geben, macht es nicht besser«, antwortete Jemima.

»Aber was ist, wenn andere daran Schuld haben? Wenn es kein Unglück war? Und keiner macht was?«, rief Regula.

»Die Polizei hat nichts Verdächtiges festgestellt. Willst du schlauer sein als die Beamten?«

Das Mädchen schlug mit der Handfläche gegen die Türzarge. »Genau, unsere Justiz. Die ist ja so engagiert …«

Anstelle einer Antwort ließ Jemima den Film anlaufen und drehte die Lautstärke hoch. Regula klappte Notburgas Notizbuch zu, packte ihren Rucksack, lief die Treppe hoch. Minuten später hörte Jemima trotz des Lärms der Autoverfolgungsjagd am Bildschirm einen Volksmusikschlager. Noch dazu die Schürzenjäger!

Bis zum Ende des Films hatte sie einen guten Teil der Wäsche erledigt, Afra erlöste sie vom Rest. Während die Altbäuerin bügelte, holte Jemima den Karton mit ihrer bisherigen Produktion. Sie schlichtete die Gläser, Ampullen und Päckchen auf den großen Holztisch in der Stube, ordnete sie nach den drei Duftlinien. Nach mehreren Versuchen hatte sie sich für Wildkräuter, Sommerwiese und Bauerngarten entschieden. In jeder dieser Varianten hatte sie Badezusatz, Seife, Handpflege und Lotion auf Basis Ziegenmilch zubereitet und Lippenpflege aus Bienenwachs. Afra steckte das Bügeleisen ab und setzte sich zu ihr. Sie probierte eine der Handcremen, rieb eine kleine Menge ein. Schnupperte an ihrer Handfläche. »Gut ist das geworden. Richtig professionell.«

Jemima lachte. »Ich bin ja auch ein Profi. Das alles kommt morgen in den Laden. Wir müssen es nur noch etikettieren.« Sie holte ein paar Bögen aus dem Karton.

»War Regula schon mit dem Notizbuch bei dir?«, fragte Afra.

»Ja. Sie hat mir was daraus vorgelesen.«

»Was meinst du dazu?«

»Da steht alles und nichts. Was sollen wir damit anfangen? Zu den Suthens gehen und sagen, wir wollen das Trophäenzimmer inspizieren? Nachschauen, ob der alte Marius dort etwas versteckt hat?« Jemima schüttelte den Kopf. »Regula soll sich auf den Laden konzentrieren und sich eine Ausbildung suchen. Sie braucht einen Abschluss.«

»Komisch ist es aber schon …«

Jemima verdrehte die Augen. »Nicht du jetzt auch!«

»Ich hätte gern gewusst, was auf den fehlenden Seiten gestanden ist. Aber du hast schon recht – die jungen Suthens haben ihre Geschäfte in Wien und Marius ist Asche zu Asche.«

Jemima beugte sich vor und legte Afra die Hand auf den Unterarm. »Ich vermisse sie jeden Tag. Sie hätte mir noch so viel zeigen können. Zuerst Emschi und jetzt Notburga. Meine Familie wird immer kleiner.«

Eine Weile etikettierten sie schweigend die Gebinde. Noch immer grölten oben die Schürzenjäger. Jemima hasste Musikantenstadl. Und Regula wusste das.

»Weißt du, was ich nicht verstehe?«, sagte Afra. »Sie hat dir ihr Rezeptbuch vererbt. Und ein Kisterl mit persönlichen Sachen hat Regula bekommen. Warum hat Notburga aber alles andere an den Schorsch vererbt? Gerade an den Schorsch?«

»Warum nicht? Es war sowieso nicht viel.«

»Das Stöckl nennst du nicht viel?«

»Was fangt er denn damit an? Das Ausgedinge steht auf dem Pachtgrund vom Wirtshaus. Das Stöckl kann man nicht verkaufen. Und nützen kann er es allein auch nicht richtig. Er müsste alles für seinen Rollstuhl umbauen lassen.«

»Die Rössler werden sich eine Ablöse schon was kosten lassen. Sie könnten ein Gästehaus daraus machen.«

»Die kämpfen selber mit den Finanzen. Die Renovierung vom Wirtshaus war teuer«, erwiderte Jemima.

»Aber sie müssen ihm schon was gezahlt haben. Er hat sich ein Elektroauto bestellt.«

»Ein Elektroauto?«

»Ja. So ein Mini-Auto bei dem hinten die Klappe aufgeht, man fährt mit dem Rollstuhl rein, der wird arretiert und schon geht es los. Hat mir mein Neffe erzählt. Der arbeitet im Mobilitätscenter.«

»Dann wird er jetzt ein richtiger Turbo-Schorsch.«

»Und geht uns noch mehr auf die Nerven«, maulte Afra. »Bis jetzt war er wenigstens in seinem Bewegungsradius eingeschränkt.«

»Jetzt sei nicht so, Afra. Etwas Mitgefühl mit einem Behinderten.«

»Bei Gott nicht! Ich hab’s nicht nötig falsch zu tun. Er ist ein Holzschädel. Das war er früher und er ist um nix gescheiter geworden.« Afra klatschte ein Etikett auf die Seife, das Papier riss.

»Notburga hat eben Mitleid mit dem Schorsch gehabt.« Jemima packte die Blütenseife neu ein. »Er musste in einer aufgelassenen Garage leben. Hat oft nicht einmal genug Geld fürs Heizen gehabt. Sie hat ihn aufgenommen …«

»Wie einen Straßenköter«, warf Afra ein.

»… und wird sich gedacht haben, dass er das Stöckl dem Wirtshaus übergibt, wenn mit ihr was ist. Dass er sich mit der Ablöse eine behindertengerechte Seniorenwohnung mietet.«

»Und was macht er? Bestellt sich ein Auto. Mannsbild eben. Es ist trotzdem komisch.«

»Warum?«

»Wie er sich das Auto bestellt hat, da hat er noch gar nicht von Notburgas Unfall erfahren gehabt. Er muss gewusst haben, dass er Geld bekommt. Aber von wem?«

Jemima runzelte die Stirn: Auch wenn sie viel Zeit mit innigen Gesprächen verbracht hatten, vielleicht hatte Notburga ihr doch einiges verheimlicht.

2

Mit einem Knall verabschiedete sich der Toaster. Gleichzeitig ging das Licht aus. Jemima fluchte. Bei der Einrichtung von Labor und Technikum hatte der Elektriker ihr versprochen auch den Wohntrakt durchzumessen, hatte dann aber einen lukrativeren Auftrag vorgezogen. Das war der dritte Kurzschluss in zwei Monaten. Immer wieder einmal vergaß sie nicht zu viele Geräte gleichzeitig zu betreiben. Sie kramte die Nummer des Elektrikers aus der Schreibtischlade, erreichte aber nur die Mailbox. Noch einmal fluchte sie. Zog die Stecker der Küchengeräte, öffnete im Vorzimmer den Sicherungskasten und drückte den Hauptschalter hoch. Das Licht ging an.

Mittwoch hatte Jemima den Vormittagsdienst im Dorfladen. Täglich von 9 bis 12 und von 13 bis 17 Uhr bot Die Zaunreiterin regionale Lebensmittel, Naturkosmetik und Kunsthandwerk an; die Mitglieder servierten an Bistrotischen selbstgemachtes Gebäck und Tee; in der Galerie stellten mehr oder weniger begabte Künstler ihre Werke aus.

Sie musste sich beeilen. Anna, Afras Tochter, hatte Jemima gebeten ein paar der Hofprodukte mitzunehmen. Rasch stopfte sie das halb getoastete Brot in den Mund, trank einen Schluck Milch direkt aus der Flasche und zwängte sich in die Raulederhose. Die Caterpillars wirkten ein wenig grob zum Trachten-Outfit, waren aber zweckmäßig. Jemima öffnete das Scheunentor, arretierte den Flügel und kletterte in die Fahrerkabine des Steyr. Der Traktor sprang sofort an. Jemima tätschelte das abgenützte Lenkrad.

In zehn Minuten hatte sie den Stockleitenhof erreicht und lud einen Sack Erdäpfel, mehrere Kanister Apfelsaft und Kartons mit in Gläsern abgefüllten Frischkäse in die Mulde. Umringt von weißen Ziegen winkte Anna ihr aus dem Stall heraus zu, als Jemima vom Hof rollte.

Die Fahrt zum Dorf hoch dauerte wegen der zerbrechlichen Fracht etwas länger als sonst; Jemima parkte den Traktor hinter dem Wirtshaus, brachte mit einer Sackrodel die Kartoffel und den Kanister zum Kücheneingang und schaffte die Kartons in den Dorfladen. Nachdem sie ein Klappschild mit den Tagesangeboten aufgestellt hatte, schaltete sie die Teemaschine ein.

Als erster Gast kam Matthias. Wie jeden Mittwoch, seit Jemima einen Yoga-Kurs bei ihm absolviert hatte. Nur eines der vielen Angebote vom Zentrum für alternative Lebensweise, von Afra lakonisch Körndlfresser genannt. Matthias hatte ein asketisches Gesicht mit einer verwegenen Hakennase, eine Gestalt wie ein Marathonläufer, schmale Handgelenke und lange, gebräunte Finger. Die schwarzen Haare, die von ersten silbernen Fäden durchzogen wurden, trug er zu einem Zopf gebunden. Ungefragt stellt Jemima ihm einen Kräutertee und zwei Haferkekse hin. Mit kleinen Bissen knabberte er an einem Getreidetaler, nippte an seiner Tasse. Jetzt überlegt er wieder, welche Nichtigkeit er mir heute erzählen soll, dachte Jemima und schämte sich zugleich über den Gedanken.

Matthias war immer äußerst galant zu ihr. Noch nie hatte sie einen ordinäreren Witz oder eine Anzüglichkeit von ihm gehört. Alle Teilnehmerinnen seiner Kurse lobten ihn in höchsten Tönen. Und trotzdem – etwas an ihm war unecht. Einmal hatte sie ihn ertappt. Beim Sautanz im Wirtshaus. Im Halbschatten hatte er gesessen, ganz allein in der Ecke neben dem Hinterausgang. Er hatte sich eine gebratene Blutwurst in den Mund gestopft. Sein Blick war lüstern gewesen, wie ein Satyr, der sich in unzüchtige Fantasien frisst.

Die Türglocke bimmelte. Bille kam herein. Matthias Schatten, sagten die scharfen Zungen. Sie war im ZAL als Energetikerin und Ernährungsberaterin angestellt. Eine Veganerin, die hartnäckig versuchte ihr Umfeld zu bekehren. Jemima stellte ihr den gleichen Imbiss hin wie zuvor Matthias. Aus ihrer Aktentasche holte Bille eine Papierrolle. »Kannst du das aufhängen. Bissel Werbung?«

Jemima rollte das Plakat auf. Es bewarb einen Workshop für Orientalischen Tanz. Mit einer atemberaubend schönen Araberin als Aufmacher. Sex sells, dachte Jemima und pinnte es an die Wand neben der Teemaschine. Mit der burschikosen Bille am Cover wäre der Kurs ein Ladenhüter, dachte sie und fragte sich gleichzeitig, warum sie heute so bitter gestimmt war.

»Das würde ich auch gern hierlassen.« Bille hielt ihr ein paar Broschüren hin. Montessori Lernraum stand in gelben Lettern auf der Vorderseite.

»Wenn du uns nicht auch noch ein Programm für den Schnidahahn-Kirtag auf die Glastür klatscht, dann ist es okay.« Jemima legte die Folder zum Flohmarkttisch.

Bille zupfte an ihrem hennaroten Pixie und lachte: »Nein. Mit dem Programm gehen die Rösslers hausieren. Aber das ZAL macht einen Verkaufsstand mit veganen Schaumrollen, Kuchen aus Dinkelmehl und glutenfreien Pignolikipferl. Kommst du zum Kirtag?«

»Nur um im Laden zu helfen«, antwortete Jemima. »Beim Kirtag ist immer einiges los.«

»Samstag gibt es einen Dämmershoppen. Die Ennskreis Buam und später die Grafen.« Matthias hatte anscheinend endlich Worte gefunden. »Gehst du mit uns hin?«

Jemima bemerkte wie Billes Mundwinkel zuckten, konnte an ihrem Gesichtsausdruck aber nicht deuten, ob die junge Frau belustigt oder verärgert war.

»Sehr anmaßend«, sagte Jemima.

»Meine Einladung?« Matthias war irritiert.

»Nein. Der Bandname. Die Grafen.«

»Sei nicht sarkastisch, die sind ganz gut«, erwiderte Bille. »Komm mit, das wird lustig.«

»Wenn du das sagst …« Jemima grinste und Bille errötete. Matthias zahlte für beide Mahlzeiten und verabschiedete sich, nicht ohne Jemima noch einmal an den Samstag zu erinnern. Bille folgte ihm eine Minute später. Beim Weg zum Ausgang zupfte sie an den Schnüren von Jemimas Oberteil. »Sexy Mieder, passt gut zur Lederhose, weniger zu deiner Frisur.« Ihre Stimme klang kalt. Touché, dachte Jemima und sagte süßlich: »Alles nur für den Laden. Hast du schon die Mitgliedschaft gezahlt?«

Bille nickte und verschwand.

Wieder die Türklingel. Nadine. Die jüngere der Rössler-Zwillinge. Eine mollige Dreißigjährige mit wachen grauen Augen, einer sonoren Stimme und einer besonderen Begabung fürs Kochen. Sie hatte dem abgetakelten Wirtshaus zu frischem Schwung verholfen. »Danke für die Erdäpfel. Kommst zum Mittagessen?«

»Heute nicht. Wann trifft denn der Reisebus ein?«

»Ich glaub, die Senioren sind schon im Anrollen. Neustädter Dom, Maria Schnee, dann Heilquelle. Pilgern gibt es jetzt schon im Pauschalreisen-Katalog.«

»Erinnere mich bloß nicht. Im November gibt sich so ein Autor aus Oberösterreich in Hollenthon die Ehre. Der ist dem Trend der Zeit folgend den Jakobsweg gegangen und hat ein Buch dazu geschrieben. Jetzt will er mit uns seine Erfahrungen teilen. Der Verein soll die Veranstaltung finanziell unterstützen, aber ich hoffe, wir lehnen das ab.«

»Und sowas von«, bestätigte Nadine und lächelte. »Männer auf Selbstfindungstrip – das entspricht nicht unserem Vereinsmotto.« Sie kostete eines der Haferkekse, verzog den Mund und hustete.

»Von Ingrid«, sagte Jemima genauso trocken.

Nadine grinste. »Nicht jeder sollte alles bringen dürfen. Das müssen wir bei der nächsten Sitzung neu ordnen. Apropos: Regula war gestern bei mir und hat mich nach dem Verein ausgefratschelt. Ich habe ihr gesagt, sie sei noch zu jung. Sie hat das gar nicht verstanden. Und sie hat mich zu Notburgas Notizbuch gelöchert. Was ist denn da dran?«

Jemima winkte ab. »Vergiss es. Das ist ihre Art der Trauerbewältigung. Sie wird schon damit aufhören Gespenster zwischen den Zeilen zu sehen.«

»Du kannst sie ja einmal als Gast zu einem Vereinstreffen mitnehmen. Das wäre ein Kompromiss, dann fühlt sie sich nicht von uns ausgeschlossen.«

»Danke, Nadine, das ist eine gute Idee«, sagte Jemima und meinte es auch so. Nadine sorgte für zwei pubertierende Kinder und kämpfte selber mit deren Flausen; sie hatte Jemima schon ein paar hilfreiche Tipps gegeben, wie Teenager zu bändigen sind. Nadine schlenderte in die Galerie hinüber, betrachtete das neue Bild einer Malerin aus der Nachbargemeinde. Jemima folgte ihr.

»Gefällt dir das?«, fragte Nadine.

Auf lindgrüner Fläche entfaltete sich eine nackte Baumfrau, die Füße in Wurzeln auslaufend, an deren Ende Herzen baumelten, Arme und Haare zu einer Krone ausgebreitet, deren Enden sich gleichfalls mit Herzen und mit Blättern schmückten. Vor der Scham ein großes Ahornblatt. Absolut nicht Jemimas Geschmack. Sie schüttelte den Kopf. »Naive Glücksmalerei.«

»Uh, heute bist du aber streng. Ich werde meine Aquarelle noch eine Weile vor dir verbergen.«

»Mir muss es nicht gefallen. Nur der Kundschaft.«

Nadine lachte gutmütig. »Ich habe übrigens eine deiner Lotionen probiert. Ein Traum.«

»Danke für das Kompliment. Ich stelle gerade ein Produktprogramm zusammen.«

»Nimm die Wildkräuter-Linie auf alle Fälle dazu. Die riecht wirklich fein. Ich habe …«

Die Türklingel bimmelte mehrmals. Der Bus war eingetroffen. Nadine winkte Jemima zu, drängte sich bei den Leuten durch und eilte zum Dorfplatz hinaus.

Ein Dutzend Ausflügler in Knickerbocker und karierten Hemden drängte herein. Alle bewaffnet mit Rucksäcken und Nordic Walking Stecken. Jemima mühte sich, den Suchenden zu beschützen, eine große Keramikfigur, die ihnen ein befreundeter Künstler als Leihgabe überlassen hatte. Die beiden Männer der Gruppe standen verloren herum, die Frauen nahmen alles in die Finger, kauften nur zwei Lavendelkissen und verschwanden.

Ein Nachzügler aus dem Bus hatte sich in den Laden verirrt. »Das ist aber ein pittoreskes Dorf. Wirtshaus, Kapelle, Dorfladen und die Feuerwehr rund um den Dorfplatz, unten der Bach mit der überdachten Brücke. Alles an einem Südhang. Und der Blick in das Tal. Dieser dichte Wald. Wie ein Postkartenmotiv. Hat das immer so ausgesehen? Oder ist das extra so arrangiert worden?« Er beugte sich vertraulich zu ihr hin. Jemima rümpfte verstohlen die Nase.

Der hätte im Bus auch die Jacke ausziehen können, dachte sie und sagte: »Es gibt ein Foto von meiner Urgroßmutter mit einem Pferdegespann. Von 1930. Da haben die Häuser schon so hier gestanden. Nicht hübsch verputzt und ohne befestigten Dorfplatz dazwischen. Aber genau in dieser Anordnung. Also – nein, das wurde nicht für Touristen so hergestellt.«

Der korpulente Mann interessierte sich weder für die Dorfgeschichte oder die angebotenen Produkte, noch für einen Tee. Er lehnte sich gegen die Vitrine und sagte: »Früher sind wir immer in die Berge gefahren, müssen Sie wissen.«

Muss ich?, dachte Jemima, lächelte verdrossen weiter. Er deutete Richtung Lichtenegg. »Gestern waren wir dort oben wandern. Diese Hügel. Der Blick zum Schneeberg. Ein Traum. Das ist doch was ganz anderes als die Alpen. Die sind schroff, die wollen erobert, bewältigt werden. Und bleiben doch abweisend. Aber hier …« Seine Hände malten imaginäre Kuppel. »Hier ist alles rund, sanft und … und einladend.« Er starrte ihr in den Ausschnitt und Jemima verfluchte das Trachtenmieder. Warum hatte sie sich letztens von Nadine dazu überreden lassen? Sie räusperte sich.

Der Tourist schaute hoch und wurde rot. »Äh … ja … und hier soll es einen besonderen Kraftplatz geben … gell… so eine Frauenquelle …oder?«

»Der Matronen-Brunnen. Sehenswert. Mit einem uralten Sockel. Sie sollten aber bald losgehen. Für Fotos ist das Licht am Vormittag am besten. Der Wanderweg fängt gleich über der Brücke an. Ich glaube, Ihre Gruppe ist schon am Weg. Folgen Sie einfach den gelben Schildern.« Jemima deutete zum Bach. Der Mann zögerte, schnäuzte sich. Jemima schwieg und verschränkte die Arme. Er packte seine Stöcke, nickte ihr zu und machte sich auf den Weg.

Gut, geh nur, dachte Jemima, wenn du schon im Laden nichts gekauft hast, dann bekomme ich wenigstens etwas in den Brunnen. Fast kein Tourist ging fort, ohne eine Münze ins Wasser zu werfen. Und der Brunnen gehörte zum Mühlgraben. Als die Rotte sich entschloss den Tourismus zu fördern, hatte Emschi mit dem Dorfvorsteher ausgehandelt, dass das Dorf den Brunnen in Prospekten vermarkten durfte, die Einnahmen daraus aber dem Mühlgrabenhof zustanden. Dazu gehörten eine Wegepacht und die Spenden. Zuerst wollte der Diakon Einspruch erheben, das Geld wegen der barocken Marienstatue für die Kirche beanspruchen, aber Emschi war hart geblieben. Umsonst hatte der Diakon bei Jemimas Großvater interveniert. Ihr Opa hatte nur gesagt: »Da oben magst ja mitreden können, aber im Graben gilt noch das alte Recht. Mir sind keine Pachtbauern und waren es nie.«

Jemima schnupperte: Ein Geruch von Knoblauch, Chili und Ingwer begrüßte sie in ihrer Küche. Afra kochte Kürbis-Chutney. Heute hatte sie ihre Stirnsträhne geflochten und mit einem rosa Spangerl zu einem Kringel gezwickt. Jemima setzte sich an die Küchentheke. Nachdem Afra das Kürbis-Gewürz-Gemisch mit Weißwein und Essig abgelöscht und Zucker eingerührt hatte, ließ sie das Chutney noch eine Weile köcheln, richtete inzwischen die Einweckgläser her. Dann füllte sie die sonnige Masse ab, verschloss die heißen Gläser und breitete ein Geschirrtuch darüber. Ein paar Löffel hatte sie beiseitegestellt. Während sie Koteletts briet, deckte Jemima den Holztisch in der Stube, stellte einen Krug Apfelsaft zu den Tellern und rief nach Regula. Erst nach mehrmaliger Aufforderung trollte sich das Mädchen die Treppe herunter, aß schweigend, während Jemima vom Programm für den Kirtag erzählte und von Billes Bauchtanzkurs.

Als sie die Teller abräumte, sagte Regula: »Die haben mir mein Smartphone nicht zurückgegeben.«

»Das ist bei deiner Verhaftung kaputtgegangen«, erklärte Jemima und wusste bereits Regulas nächste Frage.

»Wann bekomme ich ein Gehalt? Ich muss mir ein neues kaufen.«

»Es gibt kein Gehalt, Regula. Du bekommst vom Verein hundert Euro Taschengeld für deine Mithilfe im Laden. Wenn du eine Ausbildung fertig hast, dann suchst du dir einen Job, bekommst Gehalt und kannst mit dem Geld machen, was du willst.« Jemima stand auf, ging zur Kommode und holte ein altes Wertkartentelefon aus der obersten Lade. Legte es vor Regula auf den Tisch. »Du brauchst natürlich ein Mobiltelefon, auch wenn hier im Tal kein Empfang ist. Aber im Dorf oben geht es.«

Regula starrte auf das schwarze Teil als wäre es eine haarige Spinne. »Echt jetzt?« Sie tippte es mit dem Zeigefinger an.

»Der Pin ist 9876«, sagte Jemima.

»Und was kommt als nächstes? Muss ich ein Blasmusikinstrument lernen?«

Jemima lag ein ätzender Kommentar zur gestrigen Volksmusikeinlage auf den Lippen, verkniff ihn sich aber. »In eineinhalb Jahren bist du volljährig. Bis dahin gelten meine Regeln. Gewöhn dich daran.«

»Du bist eine …eine… Gouvernante.«

»Ein Kompliment, danke. Erinnert mich an Mary Poppins.«

»Du kannst mich doch nicht von allem abschneiden«, motzte Regula.

»Wieso abschneiden? Du kannst dich frei bewegen. Du hast ein Fahrrad und im Frühjahr bekommst du ein gebrauchtes Moped, wenn es im Laden gut läuft. In Brunnegg wohnen hundert Menschen, da wirst du sicher ein paar finden, die dir taugen.«

»Jemima, bitte. Du weißt, was ich meine.«

»Du kannst im Laden online gehen. Solange die Kundschaft ordentlich betreut wird, kannst du nebenbei am Computer machen was du willst.«

»Auf dem uralten Ding? Bei der Download-Rate? Ist das dein Ernst?«

»Natürlich. Komm raus aus deiner Filterblase. Es gibt auch eine analoge Welt, die es wert ist von dir beachtet zu werden.«

»Du bist so… so … «

»Findest du ohne Suchmaschine das Wort nicht?«

Regula stampfte auf und lief die Treppe hoch. Afra räumte die Teller ab. »Gut gebrüllt, Löwin.«

Jemima holte Etiketten mit Blumenrand. »Ich habe nicht gebrüllt. Die Flausen aus den digitalen Weiten haben Regula die Haftstrafe eingebracht. Hat einer ihrer Like-Freunde ihr aber dann geholfen? Sie auch nur einmal in Schwarzau besucht? Plötzlich war sie eine Aussätzige. Nur Notburga hat sich gekümmert.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr in den sozialen Medien wahrgenommen zu werden findet Regula schlimmer als vorbestraft zu sein. Was ist denn das für eine Weltsicht?« Jemima beschriftete die Etiketten.

»Mir sind beide Dinosaurier.« Afra holte die Einweckgläser aus der Küche und klebte die Etiketten auf.

»Ich habe nichts gegen Computer«, sagte Jemima. »Ich musste viel mit Mails, Datenbanken und Analysealgorithmen arbeiten. Aber das war eben Arbeit. Zuhause wollte ich immer Ruhe davon haben.«

»Bist du deshalb hiergeblieben? Wegen der Ruhe? Wir hatten gewettet, weißt du. Ob du nach dem Begräbnis der Emschi bleibst oder den Hof verkaufst.«

»Wer hat gewonnen?«

»Die Notburga. Ich hätt nie geglaubt, dass du das Dorfleben magst.«

Jemima zog die Brauen hoch. »Warum nicht?«

»Ach, Dirndl. Du bist gescheit, hast viel von der Welt gesehen. Was willst du denn bei uns?«

»Meine Erfahrung nützt mir nichts. In meinem Beruf bin ich Persona non grata. Seit dem Prozess stehe ich bei allen Chemiekonzernen auf der Schwarzen Liste.«

»Da sind die aber ganz schön deppert. Deren Verlust, Gewinn für die Hiafler.«

Lachend beschriftete Jemima den Karton, klebte ihn zu. »Jetzt machst du die Dörfler aber unberechtigt schlecht. Die Rössler-Zwillinge haben beide einen Abschluss in Betriebswirtschaft. Matthias hört Bach und spielt Geige. Der Diakon steht auf Shakespeare.«

Afra winkte ab. »Alles Zuagraaste.«

»Aber das färbt ab. Deine Enkelin war beim Sommertheater als Ophelia gar nicht schlecht. Und der Text ist anspruchsvoll.«

»Hast schon recht. Die Jungen sind eh anders. Mit der Bio-Welle bleiben die jetzt auch. Vor zwanzig Jahren war der Pensionistenverein noch der am besten besuchte, aber jetzt ist …« Afra stockte und starrte zur Tür, begann dann zu kichern. Jemima drehte den Kopf. Im Türrahmen stand Regula, aber Jemima hätte sie ohne Schminke fast nicht erkannt: Mit blassem Gesicht, die hellbraunen Haare streng zurückgekämmt und zu einem Dutt gebunden, statt der üblichen Jeans-Leggins ein wadenlanger karierter Rock, dazu eine hellblaue Bluse und eine Strickjacke mit Zopfmuster. Nur die lila Haarsträhnen zerstörten den Altjungfernstil ein wenig.

Jemima befürchtete, dass dafür der Kasten mit den alten Sachen ihrer Großmutter geplündert worden war. Zusätzlich hatte Regula blickdichte braune Strumpfhosen und abgewetzte Stiefletten angezogen. Das Mädchen kam zum Tisch, warf ihr eine Fotografie hin. »Wenn ich schon so leben muss, kann ich auch so aussehen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte sie hinaus. Jemima schaute ihr durchs Fenster nach: Regula radelte vom Hof.