Fährten - Alauda Roth - E-Book

Fährten E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

Caro Winter ist für einige Wochen in England engagiert, um für einen Sammler einen Nachlass alter Bücher zu restaurieren. In einer alten Ausgabe von Beowulf findet sie einen Notizzettel mit einer Skizze. Datiert mit 1982 und beschriftet mit kyrillischen Buchstaben. Hat im kalten Krieg jemand eine Bibliothek als toten Briefkasten benützt? Neugierig geworden will sie den Inhalt entschlüsseln, doch dann ist die Zeichnung verschwunden und Caro fühlt sich seltsam erschöpft. Eine ärztliche Untersuchung bringt eine unerwartete Diagnose und Caro wird mit grundsätzlichen Fragen konfrontiert. Sie muss eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes weiteres Leben bestimmt.

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Zum Buch

Caro Winter ist für einige Wochen in England engagiert, um für einen Sammler einen Nachlass alter Bücher zu restaurieren. In einer antiquarischen Ausgabe von Beowulf findet sie einen Notizzettel mit einer Skizze. Datiert mit 1982 und beschriftet mit kyrillischen Buchstaben. Wurde die Bibliothek im kalten Krieg als toter Briefkasten benützt?

Neugierig geworden will sie den Inhalt entschlüsseln, doch kurz darauf ist die Zeichnung verschwunden und Caro fühlt sich seltsam erschöpft. Eine ärztliche Untersuchung bringt eine unerwartete Diagnose und Caro wird mit grundsätzlichen Fragen konfrontiert. Sie muss eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes weiteres Leben bestimmt …

Folgeband zu „Hüllen“

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

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Schläfst du, Mirjam?

Mirjam, mein Kind

Ufer nur sind wir

und tief in uns rinnt

Blut von Gewesnen

zu Kommenden rollt‘s

Blut unsrer Väter

voll Unruh und Stolz

In uns sind Alle

Wer fühlt sich allein?

Du bist ihr Leben

ihr Leben ist dein

Mirjam, mein Leben

mein Kind, schlaf ein!

aus: Schlaflied für Mirjam

Richard Beer-Hofmann

Hindukusch – 1982

Das Zündholz zischte. Eine Flamme schoss hoch. Er hielt sie gegen die Zigarette, sog daran und stieg über den leblosen Körper.

Er vermied es, in die Blutlache zu treten, schulterte sein Maschinengewehr und drückte sich durch die Maueröffnung. Kalte Luft biss in seine Haut und er zog die Mütze tiefer. Wieder im Tageslicht durchsuchte er die Jackentaschen seiner Uniform, fand aber nur den gefalteten Lieferschein. Die Rückseite war leer.

Mit den Zähnen zog er die Kappe vom Kugelschreiber und zeichnete. Sorgfältig prüfte er die Skizze, nickte zufrieden und steckte den Zettel ein. Er würde Werkzeug brauchen, tragfähige Seile, einen Hubstapler, vielleicht auch Sprengstoff. Und er würde sich umhören müssen. So ein Fund ließ sich nicht an einer Straßenecke verkaufen. Aber er wusste schon, wen er fragen konnte: den Pastor, der hatte gute Kontakte.

Ein paar Krähen kreisten über dem Turm des Schweigens. Ein unheimlicher Ort. Er warf den Zigarettenstummel fort, schlug den Jackenkragen hoch und marschierte zum UAZ-469. Es begann zu schneien.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

1

»Ich habe eine Schatzkarte gefunden«, sagte Caro.

Wie sie erwartet hatte, verzog Gabriel keine Miene. Sie lächelte. Er schwieg.

»Hallo, hallo – Verbindung unterbrochen?« Sie klopfte mit der Fingerspitze gegen den Bildschirm.

Er seufzte. »Meinst du das ernst oder metaphorisch?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich kann sie nicht entziffern.«

Er verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Wo hast du sie gefunden?«

»In einem Buch aus dem Nachlass, den ich gerade bearbeite.« Sie zeigte ihm den roten Einband mit dem sich windenden Drachen darauf. »Professor Lambert hat es mir geschenkt.«

»Beowulf?« Er zog die Augenbrauen ein kleines Stück hoch.

»Ja. Die Übersetzung von Kennedy. Aus dem Jahr 1940. Der Professor hat es bereits. Der Zettel war gefaltet zwischen den Seiten gesteckt.« Ein kühler Luftzug ließ sie frösteln. Caro sprang auf und schloss das Fenster der Bibliothek. Die Sonne stand bereits tief.

»Wie kommst du darauf, dass es eine Schatzkarte ist?« Gabriel spielte mit einem Füllfederhalter.

»Zumindest etwas Wichtiges. Eine Skizze mit Häusern, Bergen, Straßen. Ein markiertes Gebäude und ein dilettantisch abgemaltes Relief. Alles beschriftet mit kyrillischen Buchstaben. Auf der Rückseite eine Art Auflistung. Und ein sowjetischer Militärstempel. Ich konnte nur das Datum entziffern: 14. November 1982.« Sie holte den Zettel aus einer Mappe und wendete ihn vor dem Bildschirm.

»Hm.« Gabriel runzelte die Stirn.

Caro zog eine Schnute. »Na komm. Etwas mehr Begeisterung. Wir können heute Abend gemeinsam daran herumrätseln. Wann geht dein Flug?«

»Ich kann dieses Wochenende nicht zu dir kommen«, sagte Gabriel leise.

»So plötzlich?« Caro versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Ich musste Baris Pflegeurlaub genehmigen und übernehme den letzten Tag des Force-to-Force Trainings.«

»Was ist mit Matthäus?«

»Er ist bei seinem Vater in Ramstein. Runder Geburtstag. Das nächste Wochenende bleibe ich bis Montag in Pangbourne, okay?« Er beugte sich vor und musterte sie.

»Ja, ja – natürlich. Ich nütze die Zeit zum Arbeiten. Und am Sonntag mache ich eine Bootstour auf der Themse.« Eine bittere Welle drängte ihre Speiseröhre hoch. Sie hielt sich die Hand vor den Mund.

»Bist du krank?«

Caro schüttelte den Kopf, sprang auf und rannte ins Gästebadezimmer. Sie beugte sich über das Waschbecken, spuckte aus. Ein paar Atemzüge stand sie da, stützte sich am Rand ab. Die Übelkeit verklang. Caro trank direkt von der Leitung einen Schluck warmes Wasser und kehrte zu ihrem Laptop zurück.

Geduldig hatte Gabriel gewartet. »Schmerzt die Narbe?« Er klang besorgt. »Schmierst du noch das Heparin?«

»Damit ist alles in Ordnung. Ich habe gestern Sushi gegessen. Indisch wäre besser gewesen.« Sie lächelte. »Geht schon wieder. Ich mache gleich Schluss und koche mir Zuhause einen Pfefferminztee.«

»Zuhause?« Er zog die Brauen zusammen.

Ärgerlich erwiderte sie: »In der Pension. Fang nicht schon wieder an.«

Um 05:11 wachte sie auf und konnte nicht mehr einschlafen. Noch immer war ihr flau. Und das Gespräch mit Gabriel beschwerte ihr Fühlen zusätzlich. Dabei hatte sie sich noch am Mittwoch ein Wochenende allein gewünscht. Um eine Tolkien-Tour in Oxford zu machen, die Gabriel sicher nicht gefallen hätte. Phantastik war absolut nicht sein Thema. Dass er jetzt tatsächlich nicht kam, wurmte Caro. Den letzten Tag des Trainings hätte auch Britta übernehmen können, meistens gab es da nur eine Nachbesprechung der simulierten Kampfeinsätze.

Caro wälzte sich auf die andere Seite, umarmte die Decke, starrte auf das Display des Radioweckers. Schließlich stand sie auf und stellte sich unter die Dusche.

Mit einem frisch gebrühten Tee setzte sie sich zur geöffneten Terrassentür, schaute in den morgenblauen Garten der Pension hinaus. Ein winziger Flecken Grünland umgeben von einer Mauer, die über und über mit Clematis bewachsen war. Das Cherry Hall Bed & Breakfast beherbergte ein gutes Dutzend Gäste, die sich länger eingemietet hatten als für Touristen üblich. Manche hatten wie Caro einen zeitlich begrenzten Job, andere lebten aus familiären Gründen auswärts.

Im Apartment schräg gegenüber sprang Licht an. Seit gestern wohnte dort eine elegant gekleidete Iranerin, die sich bei jedem Gast persönlich vorgestellt hatte.

Caro schloss die Terassentür und holte das Buch, das ihr der Professor geschenkt hatte, vom Schreibtisch. Die Ballade war langatmig und mühsam zu lesen, mehr als der Inhalt interessierten Caro die altertümlichen Ausdrücke im Beowulf. Schon der Titel: Bienenwolf, eine Umschreibung für den Bären. In einem Heft notierte sie besonders poetische Begriffe: yðlida Wogengänger für Schiff, gleo-beam Freudenbaum für Harfe, windgeard Windgarten für das Meer.

Ein Poltern gegen die Eingangstür schreckte Caro auf. Vorsichtig drückte sie die Schnalle nieder und lugte auf den Gang hinaus: Zwei Männer schleppten einen zusammengerollten Teppich.

Leise schloss sie die Tür wieder und schlurfte ins Bad, band sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Verschwollene graue Augen blickten ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie seufzte, putzte sich die Zähne und verzichtete auf Make-Up, obwohl sie blass aussah und ihre Sommersprossen wie ein Ausschlag wirkten.

Als sie sich vorbeugte, um in die Strumpfhose zu schlüpfen, schoss ein saurer Schwall ihre Speiseröhre hoch und sie schaffte es gerade noch zur Kloschüssel. Caro übergab sich bis das Würgen nichts mehr hochbrachte.

Minutenlang hockte sie am Boden und keuchte. Die Narbe über ihrer rechten Hüfte pochte. Caro drückte den Daumennagel gegen die Kuppe des Mittelfingers bis es schmerzte, endlich schob sie sich hoch. Schwankend hielt sie sich am Waschbecken fest. Tränen schossen ihr in die Augen. So elend hatte sie sich das letzte Mal nach dem Tod ihrer Mutter gefühlt. Caro schluchzte, drehte den Wasserhahn auf und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Plötzlich knurrte ihr Magen. Rasch zog sie sich fertig an, packte ihre Handtasche und eilte in den Frühstücksraum. Alle Tische waren bereits besetzt.

Wie jeden Morgen nahm Caro lauwarmen Porridge und Birnenkompott vom Büfett. Der Geruch von gebratenem Speck reizte ihre Nase. Ihr Magen knurrte wieder. Sie stellte einen Teller auf die Schüssel mit dem Haferbrei, schlichtete kleine Würstchen, Räucherlachs und Rührei darauf. Dann schaute sie sich um: Die Iranerin saß allein an einem Tisch.

Caro nahm noch eine Kanne Kamillentee und balancierte alles zu ihr. »Guten Morgen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Samaneh lächelt und deutete auf den gegenüberliegenden Stuhl. Sonnenlicht ließ die Vorhänge hinter ihr aufblühen. Unzählige gewebte Gänseblümchen.

Mit hochgezogenen Brauen musterte Samaneh die Auswahl, die Caro getroffen hatte, nippte an ihrem Espresso und fragte: »Sie wohnen auch allein hier?«

»Ja. Ich bin beruflich in England.« Caro aß ein großes Stück Räucherlachs mit Birne.

»Oxford? Meine beiden Söhne studieren dort.«

»Nein. Ich bin Restauratorin. Ein privater Sammler hat mich engagiert, um einen Nachlass zu bearbeiten.«

»Kunstwerke?« Samaneh aß ihr Croissant mit Messer und Gabel.

»Bücher. Ich bin auf Inkunabeln und Handschriften spezialisiert.«

»Wie interessant. Sind sie verheiratet?«

Caro runzelte die Stirn. Sie vermied es tunlichst über Privates zu sprechen.

»Entschuldigen Sie«, sagte Samaneh. »Im Westen schätzen die Menschen es nicht, wenn Fremde sie nach der Familie ausfragen, nicht wahr? In meiner Kultur ist das höflich. Jeder will alles über die Familie des Gegenübers wissen. Die Verwandtschaften sind weitläufig.« Die Iranerin lächelte. Sie hatte schön geschwungene Lippen und regelmäßige blütenweiße Zähne. Kleine Fältchen umrahmten ihre dunklen Augen.

Caro erwiderte das Lächeln und antwortete: »Ja. Ich bin verheiratet. Mein Mann kommt normalerweise am Wochenende zu mir, aber diese Woche kann er nicht aus seiner Firma fort.«

»Anspruchsvoller Chef?«

»Er ist selber der Firmenchef und meint, er muss immer alles unter Kontrolle haben. Seine Angestellten nennen ihn heimlich einen großen, bösen Wolf.«

»Das kenne ich.« Samaneh kicherte. »Was für eine Fima betreibt er?«

»Eine Sicherheitsfirma. Sec4B. Hauptsächlich Veranstaltungssicherung. Bei Kongressen und Messen.«

»Ah ja. Wir besitzen im Iran eine Textilfabrik. Mein Mann reist sehr viel. Ich weiß nicht, wann er nachkommen kann. Mein älterer Sohn heiratet in zwei Monaten. Aber hier in England! Sie können sich nicht vorstellen, was es da alles zu organisieren gibt. Iranische Hochzeiten sind ein mehrtägiges Event. Schon allein die Hotelzimmer, die wir benötigen …« Sie seufzte freudig und nahm ihre Handtasche, klappte die Lasche mit dem CC-Logo hoch. Aus einem Seitenfach zog sie ein foliertes Foto und hielt es Caro hin: zwei junge Männer in Jeans, Hemd und Sakko, die Haare akkurat geschnitten; daneben zwei halbwüchsige Mädchen in bunten Kleidern, die dunklen Haare zu einem Zopf geflochten; in der Mitte Samaneh in einem traditionellen Kaftan; am Rand, zur Hälfte abgeschnitten, ein fülliger Mann im Dreiteiler mit Halbglatze und einem mächtigen grauen Schnauzbart. Samaneh nannte Caro die Namen ihrer Kinder, erzählte von ihren Eigenheiten. Caro hörte nur halbherzig zu, nickte gelegentlich höflich.

»Haben Sie Kinder?«, fragte Samaneh unvermittelt.

Caro schüttelte den Kopf. »Ich bin erst seit März verheiratet.«

»Ihre erste Ehe?«

»Ja.«

»Sie haben aber lange gewartet. Sie sind doch schon über Dreißig.« Samaneh hielt sich die Hand vor den Mund und murmelte. »Entschuldigen Sie, bitte. Das war schon wieder unpassend.«

Caro trank von ihrem Kamillentee und sagte: »Ich werde nächste Woche zweiundvierzig.«

»Oh.« Samaneh tupfte mit einer Serviette ihren Mund ab. »Was ist das Besondere an Ihrem Mann?«

»Ich kann mit ihm streiten, ohne dass ich mich vor ihm fürchten muss.« Caro lächelte und ergänzte spontan: »Und er ist sehr aufmerksam.«

»Zwei gute Argumente«, meinte Samaneh. »Sie haben Glück.«

»Ihr Englisch ist exzellent«, wechselte Caro das Thema. Sie wollte nicht weiter über Familie reden.

»Ich habe in London Ökonomie studiert«, sagte Samaneh.

»Sind Sie berufstätig?«, fragte Caro verwundert.

»Natürlich. Wie alle meine Geschwister. Auch wenn uns das neuerliche US-Embargo zu schaffen macht. Eine einzige Katastrophe ist das.« Sie rührte in ihrem Kaffee. »Mit Präsident Trump hat Saudi-Arabien wieder einen Verbündeten im Wirtschaftskrieg gegen uns. Entgegen dem Völkerrecht werden wir vom Welthandel abgeschnitten. Europa sollte sich von diesem Embargo distanzieren. Wie kann man nur die Saudis unterstützen! Die leben den Islam in seiner schlimmsten Form. Konservativ und rückständig. Sie unterstützen Dschihadisten, begehen Gräueltaten und werden trotzdem hofiert. So eine Schande.« Samanehs Gesicht hatte sich gerötet.

Caro schwieg. Politische Gespräche vermied sie noch mehr wie Äußerungen zum Privatleben.

»Leider gibt es auch in meinem Land noch immer Kriegstreiber. Als hätten wir nicht schon genug davon erlebt. Diese Männer wollen ein Wir fühlen können. Schulter an Schulter stehen. Damit sie in ihrem Tun einen Sinn sehen.« Sie machte eine abfällige Handbewegung. »Als wären sie alle Araber.«

»Heute früh, die Teppichlieferung … «, begann Caro.

Samaneh fiel ihr ins Wort. »Haben die Arbeiter Sie geweckt? Das tut mir wirklich leid. Der Spediteur hatte keinen anderen Termin frei.«

»Nein, nein. Kein Problem. Ich war schon wach.«

»Ein bisschen Heimat, wissen Sie? Ich bin das einfach so gewohnt. Nicht, dass die Inneneinrichtung hier geschmacklos wäre. Ich mag diese … äh … Millefleurs. Aber mit einem heimatlichen Stück ist es gleich wohnlicher. Ich habe den Teppich extra in Isfahan bestellt.«

»Sie kommen aus Isfahan?«

»Ja. Eine wunderschöne Stadt. Sie sollten einmal dorthin reisen. Zu Frühlingsbeginn, wenn der Zayandeh noch Wasser hat.« Wieder seufzte sie und rückte ihr Seidenkopftuch zurecht. »Er war einmal der schönste Fluss im Iran und hat ganzjährig Wasser geführt. Man hat ihn den ewigen Fluss genannt. Aber der Zayandeh wurde ausgebeutet. Seit ein paar Jahren ist sein Flussbett fast das ganze Jahr über trocken. Trotzdem sind die Parkanlagen an seinem Ufer auch noch im Sommer grün. Ich freue mich jeden Abend darauf mit meiner jüngsten Tochter durch die Stadt zu flanieren.«

Als Caro schwieg, sagte Samaneh eilig: »Man muss keine Angst haben in den Iran zu reisen. Fast überall ist es sicher und wir sind sehr gastfreundliche Menschen. Wirklich. Fahren Sie doch mit Ihrem Mann nach Shiraz. Das ist die Stadt der Rosen, der Nachtigallen und der Dichter. Passend für eine zweite Hochzeitsreise. Hafis Mausoleum steht in Shiraz. Er hat viel über die Liebe geschrieben.« Samaneh senkte die Lider und betrachtete ihre rotlackierten Nägel. »Ich sollte auch einmal wieder dorthin fahren. Aber mein Mann hat nie Zeit.«

Wir hatten nicht einmal eine erste Hochzeitsreise, dachte Caro, aber unsere Hochzeit war auch nur eine Notlösung. Vielleicht wurde es Zeit dafür. Gabriel würde eine Reise in den Iran sicher gefallen. Das großzügige Atrium ihrer Sicherheitsfirma, in der sie auch wohnten, durchzog ein langes Wasserbecken, in dessen weiße Bodenfliesen er einen Vers des persischen Dichters Rumi hatte einarbeiten lassen. Noch immer bewunderte sie jeden Morgen den strengen und doch lieblichen Garten. Caro hatte extra den Essplatz in ihrer gemeinsamen Wohnung umgestellt, um beim Frühstücken einen freien Blick durch die Glastüren in den Innenhof zu haben.

»Danke für den Tipp«, sagte Caro. »Vielleicht können Sie sich nächste Woche mit meinem Mann dazu unterhalten. Er schätzt die persische Kultur.«

Samaneh wirkte mit einem Mal erstarrt und Caro fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. »Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet«, ergänzte sie rasch. Samaneh entspannte sich und nickte leicht. Caro spießte das letzte Stück Würstchen auf. Kaum hatte sie die Gabel in den Mund geschoben, kam ihr der kalte Fettgeschmack ekelhaft vor. Sie würgte, ließ die Gabel fallen und drückte sich die Serviette vor den Mund.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Angestrengt unterdrückte Caro den Ekel, schob mit der Zunge den Wurstbrocken in die Serviette und knüllte das Papier unter dem Tisch zusammen. »Es geht schon wieder«, ächzte sie, spürte Schweiß auf ihrer Stirn. »Wahrscheinlich komme ich verfrüht in den Wechsel.« Sie trank den restlichen Kamillentee und ihr Magen beruhigte sich.

Samaneh fixierte sie, neigte den Kopf und sagte: »Leiden sie unter Migräne? Sie sind ganz blass. Besser Sie gehen zum Arzt.«

Sie klingelte und bog bei der Kunstgalerie in Whitcurchon-Thames ab, radelte auf der Hardwick Road aus dem Dorf hinaus. Über viele Kilometer war die Whitchurch Bridge die einzige Möglichkeit die Themse zu überqueren. Caro hatte sich kurz nach ihrer Ankunft in einem Laden in Reading ein gebrauchtes Rad besorgt, um die rund drei Kilometer nach Mapledurham zurücklegen zu können, ohne auf Fahrpläne achten zu müssen.

Der Himmel leuchtete in einem warmen Blau. Elstern zankten in den Kronen der Buchenallee. Die Baumschatten streiften die Straße, die an Feldkanten entlangführte, gesäumt von Hecken aus Weißdorn und Haselnuss. Eine aufgeräumte südenglische Landschaft wie aus einem Roman von Agatha Christie.

Die Straße endete bei der St. Magret Church, einer Kirche, die Caro an die Wehrkirchen im südlichen Niederösterreich erinnerte. Sie stieg vom Rad und schob es in Richtung Mapledurham Chazey, dem Nebengebäude von Mapledurham House. John Joseph Blount-Eyston und Lady Anne, die Besitzer des Anwesens, hatten einen Teil des einstöckigen Backsteinbaus an Caros Auftraggeber Professor Lambert vermietet.

Ein Helikopter knatterte über das Herrenhaus. Mapledurham war touristisches Kriegsgebiet. Mehrmals am Tag war das Anwesen Ziel von Rundflügen. Caro hatte sich an den Lärm gewöhnt.

Ein Team von Fotografen, Models und diversen Assistenten hatte sein Arbeitslager auf dem Rasen neben dem Pool aufgeschlagen. Ein Pärchen posierte in englischer Landhausmode vor einem dunkelgrünen Oldtimer.

Caro schüttelte den Kopf und hatte gleichzeitig Verständnis für die Vermarktungsstrategie der Familie. Ein Gebäude aus dem 16. Jahrhundert war eine Schatztruhe ohne Boden. Wenigstens stürmten derzeit keine Horden von Tagesgästen das Anwesen, da das Herrenhaus grundsaniert wurde. Caro stoppte vor dem Eingang von Mapledurham Chazey, stellte das Rad auf den Ständer.

Jemand lief ihr nach und rief: »Sie kommen zu spät.«

Caro drehte sich um. »Wie bitte?«

Ein junger Mann mit Wuschelfrisur und Hornbrille sagte atemlos: »Die Aufnahmen laufen schon. Gehen Sie gleich zur Maskenbildnerin. Ich richte inzwischen die Walking Skirts.« Er musterte sie von oben bis unten. »Blau und Grün passt Ihnen am besten. Vielleicht auch Senf.«

»Ich bin keines ihrer Model«, sagte Caro und nahm ihre Arbeitstasche vom Gepäckträger.

»So … ach … « Er fummelte sein Smartphone aus der Hemdtasche und tippte.

Caro wandte sich ab und betrat den Backsteinbau. Eine dunkel gebeizte Holztreppe führte von der Vorhalle zur Bibliothek hinauf. Der Professor hatte ihr neben der Tür, die zum Gästebadezimmer führte, einen Arbeitsplatz einrichten lassen. Caro musste mit viel einfacheren Mitteln zurechtkommen, als sie es von ihrem Atelier zu Hause gewohnt war, aber das gediegene englische Flair des hohen Raumes, die Buntglasfenster und der Ausblick in den Park entschädigten die Umstände.

Nur noch die Kiste war übrig, aus der sie den Beowulf geschenkt bekommen hatte. Die meisten Bücher aus dem ersteigerten Lot waren in gutem Zustand gewesen, bedurften nur einer vorsichtigen Reinigung. Die letzte Charge war keine Ausnahme. Caro stapelte die Bücher in Stöße, sortierte nach Beschädigungsgrad. Sie zog die Baumwollhandschuhe aus und griff nach den blauen Latexhandschuhen, legte sie aber wieder weg, setzte sich an den Schreibtisch neben der Werkbank und fuhr den Computer hoch. Der Professor hatte ihr seine Zugangsberechtigung zu den Servern der Oxford University überlassen.

Am gestrigen Sonntag hatten Müdigkeit, Schwindel und Kopfschmerzen sie ins Bett gezwungen. Erst am frühen Abend war sie aufgestanden und hatte im Intranet der Universität gestöbert. In den Verzeichnissen der Linguistik war sie auf eine professionelle Übersetzungssoftware gestoßen.

Caro holte eine Kopie des vergilbten Zettels aus ihrer Umhängetasche. Die Skizze war mit einem schwarzen Stift gezeichnet worden, später schien jemand mit einem grünen Kugelschreiber die Zeichnungen kommentiert zu haben. In Bulgarien hatte Caro leidlich Russisch sprechen gelernt, die Lingua franca der Oststaaten. Auch wenn viele junge Leute dort inzwischen lieber Englisch lernten. Oder Chinesisch, wenn sie Pessimisten waren. Mit dem Lesen üben hatte sie sich damals aber keine Mühe gegeben. Zwar konnte sie kyrillische Buchstaben entziffern, sie verstand die Bedeutung aber nur, wenn es Lehnwörter oder Eigennamen waren.

Nach und nach tippte sie die Wörter auf dem Zettel ein und notierte alle Ergebnisse, die ihr die lexikalische Software anbot. Nachdem sie mit der Skizze fertig war, drehte sie den Zettel um und versuchte ihr Glück mit den Kürzeln des Lieferscheins: СТИ-010, BAPB-105, ЫOПХ-92. Das Oxford-Programm gab keine sinnvollen Bedeutungen dafür wieder, also surfte Caro in den Weiten des Internets.

Am Ende hatte sie unzusammenhängend notiert: Feueranbeter, Widderjagd, Petroglyphe, Fund, Luftturm, hadiqarba (könnte ein Name sein), Weberei, Edwards fragen, tagkasra (ein Ort?), Kosroeows Hort (ist Kosroeow der Verfasser der Skizze?).

Für die Kürzel hatte auch die globale Suchmaschine keine Lösung angeboten. Caro schüttelte den Kopf. War das Ganze ein Code? Die Mitteilung eines Spions?

Nur ein zusammenhängender Satz stand auf dem Zettel, den der unbekannte Schreiber unter die Liste mit den Kürzeln gekritzelt hatte: Ich sollte wachsam sein, bei dem was ich mir wünsche.

Eine Parole? Caro belächelte sich selber. Das Erlebnis mit den Kunstdieben hat mir nicht gutgetan, dachte sie, ich sehe schon überall Geheimnisse. Sie steckte den Zettel weg. Das hier war nur eine überholte Nachricht aus dem Gestern.

Ein Zaunkönig schwirrte von Busch zu Busch. So schnell, dass ihre Augen nicht folgen konnten und es aussah, als würde er von Zauberhand versetzt. Der Kunststoff raschelte und der Vogel verschwand. Caro riss die Hülle des Sandwiches auf, schnupperte daran: Mayonnaise-Ei. Ein schnelles Mittagessen. Sie biss hungrig hinein, kaute langsam. Eine Mischung aus Rauschen und Reiben brauste über ihren Kopf. Die Zweige der Bäume bogen sich im Wind, doch die Mauer hinter der Gartenbank schützte sie vor dem Luftzug.

Die anderen Apartments im Cherry Hall schienen leer zu sein, zumindest waren überall die Vorhänge zugezogen. Bündel von Lichtflecken sprenkelten den Rasen. Caro schlüpfte aus den Sneakers, streifte die Socken ab und fuhr mit den Fußsohlen durch das sonnenwarme Gras. Nach dem letzten Bissen leckte sie über ihre Finger, wischte sich die Hände in einer Serviette ab und betrachtete das Tagebuch.

Monatelang hatte die braune Kladde in einem Karton gelegen. Dem letzten Überbleibsel aus dem Nachlass ihrer Mutter Andrea, die vor knapp einem Jahr verstorben war. Als Caro das Tagebuch ihres Vaters entdeckt hatte, war ihr erster Impuls gewesen, es zu verbrennen. Dann hatte sie es in den Karton zurückfallen lassen und in die Abstellkammer geschoben. Warum hatte ihre Mutter das bloß aufgehoben? Und wer hatte ihr es gebracht? Ihre Eltern waren bereits geschieden gewesen, als Caros Vater sich den goldenen Schuss gesetzt hatte.

Caro hatte das Heft mitgenommen, um sich ein letztes Mal mit ihrem Erzeuger auseinanderzusetzen. Ungestört von Gabriels fragenden Blicken. Und um es in England zurückzulassen. Weit weg. Aber bisher hatte sie immer eine Ausrede gefunden, um das Tagebuch nicht aufzuschlagen.

Nach einem tiefen Atemzug griff sie das Buch von der Bank, ließ die Seiten durch ihre Finger gleiten: eine quadratische Schrift, fast wie Druckbuchstaben, ab und zu flüchtige Zeichnungen. Bei der Skizze eines Lebensbaumes hielt sie inne und las:

29. Juni 1982. Der Baum hinter der Scheune ist mein Freund. Ich mag die wulstigen Narben in seiner Borke. E+H. Ein sinnloser Versuch die närrische Zuneigung des Anfangs zu verewigen. Aufgequollen als das Holz die Ritzung heilte. Auch ich kratze an Narben. Seelennarben. Relikte aus einem anderen, einem fremden Leben. Das Kind, von dem die Frau sagt es sei meines, dieses Kind – es tanzt ganz in sich versunken unter dem Baum. Eingesponnen in seine eigene Welt. War ich auch einmal so unschuldig?

Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Caro schluckte und schluckte. Plötzlich wurde ihr übel. Sie sprang auf, lief bloßfüßig los. Presste die Hand auf den Mund. Sie schaffte es nicht mehr ins Bad.

Abrupt stoppte der Zug. Caro klammerte sich an den Haltegriff. Die roten Türen glitten zur Seite, eine Menschenflut schwemmte sie auf den Bahnsteig der Station Reading. Unzählige Pendler überholten sie mit eiligen Schritten. In Gedanken schlenderte Caro zum Ausgang des Bahnhofes. Auf dem Weg zum Abbey Medical Centre achtete sie kaum auf die Umgebung.

Bei der Online-Anmeldung hatte sie eine Anamnese ausfüllen müssen. Und sich dabei genauer mit ihrem Befinden auseinandergesetzt. Mit den Gedanken, die seit ein paar Tagen in ihrem Hinterkopf lauerten: War ihre Leber schuld? Ihr Bauchfell? Eine Spätfolge der Operation? Man hatte sie geheilt entlassen, aber auch Ärzte irrten.

Von der Anmeldung aus schickte eine junge dunkelhäutige Frau Caro gleich weiter zu einem EKG und einer Blutabnahme. Nachdem die Krankenschwester einige Röhrchen abgezapft hatte, drückte sie Caro einen Harnbecher in die Hand und sagte: »Am Schalter abgeben. Bleiben Sie zur Befundbesprechung gleich hier?«

»Wie lange wird die Analyse dauern?«

»Rund zwei Stunden.«

Caro bejahte und wanderte in den schlichten Warteraum zurück. Von einem Automaten holte sie sich Kaffee und Wasser, schließlich zog sie den Beowulf aus ihrer Umhängetasche und las weiter die Stabreime: Ýrse wœs Onelas cwén, Heaðo-Scilfingas healsgebedda. Yrse, die war Onelas Königin, des kampferprobten Schweden sanfte Bettgenossin.

»Ihr EKG, die Harnwerte und ihr großes Blutbild sind in Ordnung. Auch die Leberwerte. Kein Grund sich Sorgen zu machen«, sagte Doktor Laurence und drehte sich vom Bildschirm zu ihr hin. Caro schnaufte erleichtert und hatte das Gefühl zu sabbern. Sie verfluchte den unseligen Speichelfluss und dachte: Ich werde einfach alt. Sie zog die Umhängetasche heran, kramte, fand im Durcheinander aus Kleinzeug ein loses Papiertaschentuch und tupfte sich ihre Mundwinkel ab.

Der Arzt verschränkte die Hände. »Sie haben das Gefühl krank zu sein? Warum?«

»Ich hatte im Frühjahr eine Verletzung im Oberbauch. Wenn es das nicht ist – komme ich vielleicht in einen verfrühten Wechsel?«

Doktor Laurence lächelte und fragte: »Womit verhüten Sie denn? Pille? Hormonspirale?«

»Wie bitte?« Sie knüllte das Taschentuch zusammen.

»Sie sind verheiratet, also gehe ich davon aus, dass Sie zumindest gelegentlich Sex haben.«

»Ich … ich … nein, wir verhüten nicht.«

»Warum nicht? Wollen Sie noch Kinder?«

»Ich … äh … « Caro schaute hilflos auf ihre Finger, fasste sich dann und antwortete: »Ich bin unfruchtbar.«

Interessiert musterte er sie. »Wie kommen Sie darauf?«

Caro seufzte. »Ich habe einige Jahre mit einem Mann zusammengelebt, mit dem ich eine Familie gründen wollte, aber es hat nicht geklappt. Er hat gemeint, es würde an mir liegen, weil er bereits einen ungewollten Volltreffer hatte. Sein Sohn ist zehn Jahre alt und mein Ex hat sich jeden Monat über die Alimentationszahlung beschwert.«

Der Arzt grinste. »Er zahlt wahrscheinlich für ein Kuckuckskind.«

Verdutzt starrte Caro ihn an.

»Mit Ihnen ist gesundheitlich wirklich alles bestens, Frau Winter«, der Arzt hielt ihr den Ausdruck des Befundes hin. »Gratulation. Sie sind schwanger. Sie sollten möglichst bald einen Gynäkologen aufsuchen.«

Caro ließ ihre Tasche fallen und begann zu weinen.

Wortfetzen wirbelten in ihrem Kopf. Kein Gedanke ließ sich daraus formen. Wie ferngesteuert betrat Caro eine Apotheke, hielt dem Pharmazeuten die Verordnung hin: ein Ingwerpräparat, das ihr Doktor Laurence gegen die Übelkeit verschrieben hatte. Wortlos verließ sie den Laden, schlich zum Bahnhof. Sie stierte die Gleise an, während sie auf den Zug wartete. Silberne Linien, die sich erst in der Unendlichkeit trafen.

Erstarrt rüttelte sie im GWR-Wagon von Reading nach Pangbourne. Erst kurz vor der Pension verfestigten sich die Fragen: Soll ich das Kind bekommen? Was wird Gabriel sagen?

Auf der Schwelle vom Cherry Hall blieb sie stehen. Ihr graute vor dem leeren Apartment. Spontan ging sie weiter, querte den Kreisverkehr der Reading Street und betrat das Garden Café. Ohne ihren Dufflecoat auszuziehen, ließ sie sich auf einen der blau bezogenen Stühle plumpsen, starrte durch die Auslagenscheibe auf die Straße hinaus. Aus dem grauen Himmel begann es zu regnen.

Die Kellnerin legte ihr eine Speisekarte hin. Caro bestellte Pancake und Afternoon-Tea. Ein Holzschild über der Tee-Theke gab ihr den Rat: When Life gives you lemons make lemonade. Nachdem das Omelett mit der Beerenmischung vor ihr stand, goss Caro reichlich Ahornsirup darüber.

Nachdenklich stocherte sie im Fladenkuchen. Wie hatte Gabriel einmal gesagt: »Es muss von mir nichts bleiben, ich will im Jetzt etwas bewirken.« Zwar hatten sie damals nicht über Kinder gesprochen, aber im weitesten Sinne gehörte dieses Thema auch dazu.

Für ihren Geburtstag hatte er einen Tisch in einem schicken Restaurant reserviert. Eigentlich sollte sie morgen nachmittags mit dem Zug nach London fahren und er würde sie in Paddington abholen. Im Moment verspürte Caro absolut keine Lust auf einen romantischen Abend zu zweit. Wie sollte sie bloß ihre Schwangerschaft ansprechen? Den Cocktail ablehnen und einfach damit herausplatzen?

Auf der Straße eilte eine klatschnasse Frau mit Kinderwagen vorbei, die Öffnung der Babykarre mit einer durchsichtigen Plane abgedeckt. Gegenüber verfrachtete eine zierliche Person ein strampelndes Kind in den Kindersitz eines Kleinwagens. Caro wandte sich ab. Am Ende der Theke des Kaffeehauses war ein Laufstall aufgebaut, ein hohes weißes Gitter hielt zwei Jungen beim Spielzeug. Die Mütter tratschten an einem Tisch daneben.

Genervt senkte Caro den Blick, starrte auf ihren Teller mit dem zerwühlten Pancake. Was wäre, wenn sie gar nichts sagen würde? Wenn sie einfach in einer Klinik einchecken würde? Zwei Tage müssten reichen. Ein Kind – das war so endgültig. Damit wäre ihre Zukunft entschieden. Sie hätte keine andere Option mehr als das Leben zu führen, das Gabriel ihr bot: die Firma mit der Wohnung und dem Atelier; die genauen Zeitabläufe, auf die Gabriel Wert legte; die provinzielle Enge von Wiener Neustadt; die Pflichten, die unweigerlich mit einer Familie verbunden waren.

Ihre Ehe war ein fragiles Fragment. Eine empfindliche Pflanze, getrieben aus dem kargen Boden der Vergeltung. Ein Konglomerat aus Gefühlen, das sie nicht wirklich verstand. Ihre Ehe war ihr zugestoßen.

Liebte sie Gabriel oder schätzte sie nur seine Fürsorge? Seine zuverlässige und entschlossene Art? Aber wenn daraus Besitzanspruch wurde?

Die Gabel fiel ihr aus den Fingern. Sie schob den Teller weg und rief nach der Kellnerin, um zu zahlen. Noch nie hatte sie ihre Mutter so sehr vermisst wie in diesem Moment. Gleichzeitig verfluchte sie ihren armseligen Vater – er hatte Andreas ganzes Leben verdorben.

Der graue Mann rempelte sie an und entschuldigte sich nicht. Er eilte weiter. Sie hatte ihn noch nie im Cherry Hall gesehen. Caro warf ihm einen Blick nach. Er verschwand im Frühstücksraum. Wo war er hergekommen?

Um die Ecke lag nur noch ein kurzer Gang. Die einzige Tür führte in ihr Apartment. War der Mann von dort gekommen? Sie lief zur Wohnungstür. Nichts lag davor. Rasch sperrte Caro auf und schaute sich um. Alles schien unverändert.

2

Freitag, der zwölfte. Der Wecker schrillte. Caro schlug auf die Stumm-Taste und zog sich die Decke über den Kopf. Döste und döste. Gegen Mittag schickte sie eine SMS an Gabriel und sagte das Rendezvous in London ab. Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern schaltete das Smartphone aus. Nach einer kurzen Dusche und einem Thunfischsalat, den sie sich in der Kochnische zubereitet hatte, kroch sie wieder ins Bett, vertrieb sich die Zeit mit Channel-Jumping, blieb bei einer Dokumentation über Chinas neue Seidenstraße hängen: brutale Bauprojekte, mit denen das Land der Mitte nach dem Westen griff. In Ländern, die sich auf Gedeih und Verderb beim Himmelsdrachen verschuldeten. Irgendwann schlief sie wieder ein und schreckte auf, als sich ein Schatten über sie beugte. Sie quietschte erschrocken.

»Bist du krank?«, fragte Gabriel. Er hatte noch seinen Trenchcoat an.

Erleichtert atmete Caro aus. »Nein. Nur schrecklich schlafbedürftig.« Sie streckte die Arme aus. Er setzte sich auf die Bettkante, beugte sich vor und küsste sie.

»Ich habe Abendessen mitgebracht«, sagte er, als sie ihn losließ. Gabriel stand auf und zog seinen Mantel aus.

Caro stützte sich am Ellbogen auf. »Bist du enttäuscht?«

»Enttäuscht?«

»Wegen des Abends in London.«

»Nein. Es ist dein Geburtstag.« Er deckte den Tisch, holte Kartonboxen aus einer Tragetasche. »Ein Glas Champagner?«

Caro schüttelte den Kopf und schlug die Decke zurück. »Nur Wasser – bitte.« Sie setzte sich an den Esstisch. Er zuckte mit den Achseln und legte die Flasche in den Kühlschrank, holte dafür Mineralwasser. In den dunklen Fenstern zum Garten spiegelten sich ihre Konturen: Gabriel im dunklen Anzug, glattrasiert, mit sauber geschnittener Kurzhaarfrisur; sie im Schlabberlook, bloßfüßig und mit zerrauften Haaren.

Caro lief ins Badezimmer, frisierte sich und flocht die rotblonden Strähnen zu einem Zopf. Danach schlüpfte sie in ein Leinenkleid, das zum Lüften am Handtuchständer baumelte. Als sie zurückkam, hatte Gabriel Hors-d’œuvre auf eine Platte geschlichtet und eine rechteckige Schachtel mit blauer Masche neben ihren Teller gestellt.

Sie nahm den Deckel ab. »Ein Smartphone? Ich habe doch eines.«

»Schönen Gruß von Britta. Dieses hat ein paar Sonderfunktionen. Wenn du nach Hause kommst, wird sie es dir erklären.«

Die Betonung ließ sie aufschauen: Gabriel aß eine Lachspastete und wirkte entspannt. Caro schob das Smartphone zur Seite und nahm ein paar Häppchen von der Anrichteplatte. Sie steckte ein Blätterteiggebäck in den Mund. Gabriel wählte das Gleiche, er aß die Teigtasche sorgfältig mit Messer und Gabel. Noch nie hatte Caro gesehen, dass er Essen mit den Fingern anfasste. Selbst einen Apfel verzehrte er mit Besteck.

Gabriel wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab, griff in die Außentasche seines Sakkos und holte eine satinierte Schachtel heraus. »Alles Gute zum Geburtstag.«

»Schmuck?«

Er nickte. »Du hast alles, was du hattest, für die Bronzestatue hergegeben.«

»Hat Peter getratscht?«

Gabriel schmunzelte. »Dein alter Freund ist ein liebenswürdiger Mensch.«

»Er redet zu viel.« Caro klappte die Schachtel auf. Mittig am Samtkissen lag eine Brosche: ein goldener Paradiesvogel mit blau emailliertem Gefieder und rubinroten Augen. Goldschmiedekunst aus dem Art Déco.

»Vielen Dank. Sie ist wunderschön.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und steckte die Brosche an ihr Kleid. »Gabriel?«

»Ja?«

»Ich … ich …« Sie fand die richtigen Worte einfach nicht. »Besuchst du manchmal deine Schwägerin?«

»Mercedes? Wie kommst du denn jetzt auf sie?«

»Deine beiden Nichten. Sie sind vier und fünf Jahre alt, nicht wahr? Kennst du sie?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Erstens sind es kleine Kinder. Zweitens müsste ich mich mit meinem Bruder auseinandersetzen.«

»Hm.«

»Warum fragst du?« Gabriel betrachtete sie gespannt.

»Wegen Weihnachten«, murmelte Caro.

»Sie sind immer bei meinen Eltern eingeladen und ein Weihnachtsfest dort würde ich dir nicht zumuten.«

»Mir nicht oder dir nicht?«

»Ich habe dich nicht für jemanden gehalten, der zu Familienfesten will.«

»Will ich auch nicht. Es ist nur wegen deiner Mutter.«

»Sie hat es sich so ausgesucht«, sagte er kühl.

»Bist du gerade fatalistisch?«

»Nur realistisch.«

»Was würde deine Meinung ändern?«

»Wenn meine Mutter einmal eine Entscheidung treffen würde, ohne vorher ihren Mann zu fragen.« Er nahm seine Serviette und begann einen Vogel zu falten.

Sie beobachtete die geschickten Bewegungen seiner Finger. »Nun – das eint uns. Die Verachtung für unsere Erzeuger.«

Gabriel wirkte plötzlich äußerst angespannt. Er presste hervor: »Manchmal denke ich, er ist nicht mein leiblicher Vater und er weiß das. Deshalb bestraft er uns. Und meine Mutter erträgt die Umstände, weil sie sich schuldig fühlt.«

Sein Smartphone schrillte. Caro verstummte. Der richtige Moment war verflogen. Vielleicht ergab sich morgen eine bessere Gelegenheit.

Gabriel betrachtete das Display. »Da muss ich ran«, murmelte er, griff das Gerät und marschierte auf die Terrasse.

Caro räumte das Geschirr fort, wischte den Tisch ab. Sie gähnte und schaute zu Gabriel hinaus. Im Licht der Außenlampe marschierte er auf und ab. Insekten umschwirrten die Glühbirne. Ein tödlicher Tanz bis zur Erschöpfung. Das Telefonat zog sich hin. Einzelne seiner Worte drangen durch den Türspalt herein, wenn er daran vorbeiging: » … Lastwagen … Pass … Bericht … unklar … Alain, gut … schon klar … Kopien … «

Caro schlurfte ins Bad, wechselte das Kleid gegen Schlafshirt und Socken, putzte sich die Zähne. Als sie sich niederlegte, kam er wieder herein, legte sein Smartphone auf den Nachttisch, sagte aber nichts zu dem Gespräch. Er verschwand im Badezimmer.

Fast war sie eingeschlafen, als das Bett federte. Gabriel rutschte an ihre Seite und liebkoste ihre Schulter, küsste ihren Nacken.

»Ich bin müde«, murmelte sie.

»Schade«, sagte Gabriel, strich ihr über die Wange. »Schlaf gut.« Kurz darauf wurden seine Atemzüge tief und gleichmäßig. Sie beneidete ihn darum, sofort einschlafen zu können. Eine Fähigkeit aus seiner Soldatenzeit. So sehr seine Körperwärme sie sonst beruhigte, so sehr empfand sie jetzt schlechtes Gewissen.

Ein See schwebt im Himmel. Alles ist gleißend, flirrend. Ihre Kehle ist trocken. Steine knistern unter der gnadenlosen Sonne. Eine verzerrte Gestalt materialisiert im See über der Wüste. Oder sind es zwei? Sie ist grenzenlos durstig, doch sie muss ausharren.

Caro schreckte hoch, hustete, wälzte sich aus dem Bett. Im Dunkeln tappte sie ins Badezimmer, trank direkt vom Wasserhahn. Schließlich lehnte sie den Kopf gegen die Fliesen und weinte.

Nur noch zwei Tische waren frei. Der WochenendBrunch im Cherry Hall war beliebt. Als Caro den Frühstücksraum betrat, stand Samaneh bereits bei der Anrichte mit den warmen Getränken und füllte eine Teekanne. Caro nahm eine Kräuterteemischung und stellte ihr Gabriel vor. Er begrüßte Samaneh in ihrer Sprache und erntete zur höflichen Antwort einen verwunderten Blick der Iranerin. Gabriel schob die Ärmel seines Sweaters hoch und stellte eine Tasse in die Espressomaschine. Samaneh starrte auf die Tätowierung an seinem Unterarm und ließ eine Serviette fallen. Er beugte sich vor und hob sie auf. Samaneh wurde blass und wich zurück. Sie nahm eine neue Serviette, balancierte ihren Tee zu dem Tisch neben der Tür, den normalerweise alle Gäste wegen der Zugluft mieden.

»Trägst du den Taurus?«, flüsterte Caro.

Gabriel drückte eine Taste der Espressomaschine. »Du weißt, dass ich das immer mache.«

»Ich denke, die Waffe hat sie irritiert.«

»Das kann ich nicht ändern«, antwortete er ungerührt, stapelte Speck und Rührei auf einen Teller, trug alles zum freien Tisch neben dem Kamin. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand.

Im Nebenraum lief ein Fernseher. In den Nachrichten wurde über den Hurrican Michael berichtet, der gerade die Küste von Florida traf. Ein Reporter stemmte sich in den Sturm.

Caro biss in ein Vollkornbrot mit Käse. Kauend fragte sie: »Du sprichst Farsi?«

»Ja. Ich wollte zur ISAF wechseln. Der Marschbefehl war bereits ausgestellt und der Flug nach Kandahar terminisiert.«

»Und dann passierte Albanien?«

Er nickte. »Danach war nur noch Innendienst im Oberkommando in Wiener Neustadt möglich.«

»Bereust du deinen Abschied manchmal?«