Repulse - Alauda Roth - E-Book

Repulse E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

eXo11 ist ein Produkt. Das Resultat jahrzehntelanger genetischer Forschung. Ein Prototyp für eine Serviceeinheit. Eine dienstbare Kreatur für den Einsatz im Weltall. Geistig flexibler als ein Roboter und widerstandsfähiger als ein Mensch, soll Spezies eXo nach den Plänen von Ryszard Bey, dem Konzernchef von L3X-Raythrop, den Aufbau von Kolonien auf extrasolaren Standorten ermöglichen. Hochfliegende Pläne, die einer superreichen Klientel ein innovatives Investitionsfeld bieten sollen. Aber das Staatengefüge der Erde ist am Zerreißen und eine Gruppe von Öko-Aktivisten versucht die Struktur von L3X-Raythrop zu erschüttern. In einem Camp in der kasachischen Steppe bereiten sie einen verheerenden Anschlag vor, kapern eine Frachtmaschine, entführen einen Piloten und einen Kybernetiker. Als die vermeintlichen Opfer entkommen, bringen sie die Pläne aller Parteien durcheinander.

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Seitenzahl: 416

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Zum Buch

eXo11 ist ein Produkt. Das Resultat jahrzehntelanger genetischer Forschung. Ein Prototyp für eine Serviceeinheit; eine dienstbare Kreatur für den Einsatz im Weltall. Geistig flexibler als ein Roboter und widerstandsfähiger als ein Mensch, soll Spezies eXo nach der Zukunftsvision von Ryszard Bey, dem Konzernchef von L3X-Raythrop, an Bord von riesigen Raumschiffen den Aufbau von Kolonien auf extrasolaren Planeten ermöglichen. Hochfliegende Ziele, die einer superreichen Klientel ein neues und innovatives Investitionsfeld anbietet.

Aber das Staatengefüge der Erde ist am Zerreißen und eine Gruppe von Öko-Aktivisten versucht die Macht von L3X-Raythrop zu schwächen. In einem Camp in der kasachischen Steppe bereiten sie einen verheerenden Anschlag vor, kapern dafür eine Frachtmaschine, entführen einen Piloten und einen Kybernetiker. Als die vermeintlichen Opfer entkommen, bringen sie die Pläne aller Parteien durcheinander.

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: AHNEN

Planet Aurora, Tempel von Temenos

Erde, 2066 a.D.

Aurora, Zyklus 305

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Erde, 2066 a.D.

Suomi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Mond, 2066 a.D.

Sápmi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Mond, 2066 a.D.

Sápmi, Jahr der Graugans

Aurora, Zyklus 305

Mond, 2066 a.D.

Sápmi, Jahr der Graugans

Kapitel 2: NACHKOMMEN

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Lied aus dem Norden

Anmerkung

Andere lieferbare Bücher

Kapitel 1AHNEN

Es könnte sein, dass die Menschen irgendwann zu fernen Planeten reisen und wenn das passiert nehmen sie ihre tödliche Mischung aus Gier, Arroganz und Ignoranz mit sich und werden diese fernen Planeten genauso veröden lassen wie unsere Erde.

Alexander von Humboldt Tagebucheintrag, 1801

Planet Aurora, Tempel von Temenos

Schweres Schweigen erfüllte den ovalen Raum. Wie jeden Tag hatten sich die Jungfern in der Geburtskammer versammelt. Die Abbessa schlug das Buch auf und las vor: »Der Eine, der alles enthält, war unsichtbar, verhüllt in Dunkelheit und verschlungen von der Leere. Er kam aus dem Chaos und kreiste um die rote Sonne. Er wählte seinen Schrein. Dann zogen Nebel auf und Bäche flossen aus ihm. Wo die Sonne den Nebel berührte wuchsen Berge, teilten die Welt in das Wasser und das Land von Aurora. Schaum trieb ans Land und daraus stieg die Mutter. Sie war von großer Anmut und großer Stärke. Die Mutter vertrieb die Monster und schuf schwarze und weiße Wolken, die Sternenwesen gebaren. Diese knüpften Strickleitern aus Gras und zogen die ersten Menschen aus den Eingeweiden der Erde. Die Menschen fanden die Erde frisch bereitet und die Wohnstätten frisch belüftet vor. Die Sternenwesen lehrten die Menschen sich zu nähren und die Menschen bestellten den Acker und brachten die Ernte ein. Die Mutter schenkte den Sternenwesen zum Abschied den Spiegel der Vollkommenheit. Ehre sei der Mutter. Ehre sei der Mutter.«

Die Jungfern senkten den Kopf und murmelten die Formel. Deufika schwieg und schielte zum Ausgang. Gleichmütig las die Abbessa weiter. Die Zeit kroch dahin. Die Litanei dauerte an. Wie gerne wäre Deufika aufgesprungen und fortgelaufen, stattdessen biss sie sich auf die Zunge bis sie Blut schmeckte.

Erde, 2066 a.D.

Lange existierte nur namenloser Schmerz und Finsternis. Seine Erinnerung stand in Flammen. Nach unbestimmter Zeit legte sich ein Schleier über alles. Arme hoben ihn hoch, legten ihn hin, Hände verarzteten seine Wunden.

Das Erste, das Cort wahrnahm, war ein künstlicher Himmel. Das erinnerte ihn an den Unfall, den Absturz. Bewegungslos grübelte er über die Ursache nach.

Eine Hand stützte seinen Nacken und ein Saugrohr schob sich zwischen seine Lippen. Er stöhnte.

»Langsam machen. Ist noch warm«, sagte eine helle Stimme.

Cort folgte, schluckte langsam. Die Flüssigkeit schmeckte neutral, fühlte sich aber angenehm an. Gebannt starrte er in das schmale Gesicht des Mädchens. Helle Haut, zweifarbige Haare und Wolfsaugen.

»Wer bist du? Wo bin ich? Was ist passiert?«, krächzte Cort.

Das Mädchen tupfte ihm die Mundwinkel ab. »Bin niemand«, sagte sie, fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Haare. »Skull hat dich hergelegt.«

»Wer ist Skull?«

»Erster Arbeiter.«

Cort versuchte sich aufzurichten.

»Nee.« Das Mädchen drückte ihn sanft nieder. »Musst ruhig liegen. Bissel noch.«

»Auch gut«, murmelte Cort. Seine Kehle fühlte sich besser an. Sie verschwand kurz aus seinem Gesichtsfeld und kam mit einer Schüssel wieder. Nachdem sie ihm das Gesicht abgewischt hatte, deckte sie ihn ab, um ihn zu waschen.

Cort räusperte sich. »Fass das da unten zart an. Ich bin empfindlich.«

Ohne ihn anzusehen sagte sie: »Meinst deine Hoden?«

»Autsch.«

»Ist das heikel?«

»Es wäre mir peinlich eine Erektion zu bekommen.«

»Hm.« Sie starrte seinen Unterleib an.

Cort stieß einen schwachen Pfiff aus. »Schau mir ins Gesicht, Süße. Das ist weniger runzelig.«

Das Mädchen starrte weiter.

Eine heisere Stimme sagte: »Du scherzt. Gut. Jetzt hast du eine Zukunft.«

Mühsam drehte Cort den Kopf ein wenig nach links. Neben dem Bett saß ein schmächtiger Mann und studierte einen Bildschirm. Asiatische Gesichtszüge, ein hellgrauer Arbeitsanzug mit einer aufgenähten Nummer. »Und du – hast du auch keinen Namen?«

»Ich bin Nuri«, sagte der Mann.

Cort versuchte zu schätzen wie alt er war. Vierzig? Vielleicht jünger. Ein Han-Chinese? Eher nicht. Vielleicht ein Kasache oder ein Uigure. Obwohl er schon viele Jahre in Ostasien lebte, hatte Cort noch immer Schwierigkeiten die Physiognomien einzuordnen.

Kurz nach dem Start in Almaty musste er abgestürzt sein. Er wusste noch, wie er die Freigabe vom Tower bekommen hatte, danach klaffte eine Lücke bis zu dem Raum, in dem er sich gerade befand. Also war er irgendwo zwischen Almaty und Taipeh.

»Bin ich in einem Spital?«, fragte Cort.

Nuri stand mühsam auf, holte ein foliertes Paket, riss es auf und breitete den Inhalt auf eine Schwebeliege. »Wir wechseln jetzt deinen Verband. Wir müssen dich dafür umlagern. Bleib ganz entspannt.«

Verwirrt betrachtete Cort die beiden. Nuri war gehbehindert und kleiner als das Mädchen. Sie war höchsten fünfzehn. Er schaute sich nach einem Hebelift um und erstarrte: Das Mädchen schob die Arme unter sein Gesäß und seine Schultern, hob ihn hoch und trug ihn mühelos zur Schwebeliege.

»Oh«, entfuhr es Cort.

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Tut es weh?«

Cort schüttelte den Kopf und betrachtete sie eingehend. Sie war ausgesprochen gut gemacht. Ihre Mimik war fast perfekt und ihre Hände hatten genau Körpertemperatur. Kein Pflegeroboter war so konstruiert. Nur eine Branche machte so lebensechte Nachbildungen. War er in einem Bordell? Nicht der schlechteste Ort. Vorsichtig pullte Nuri den Verband von Corts Oberkörper, bevor das Mädchen ihn sanft auf die frischen Heilnetze legte. Cort schloss die Augen und versuchte die Puzzleteile zu ordnen, dabei döste er ein.

Jemand drückte seine Schulter. »Captain Cortesian. Schön zu sehen, dass Sie auf dem Weg der Besserung sind.« Eine tiefe angenehme Stimme.

Cort öffnete die Augen. Ein Riese stand neben dem Bett. Zumindest sah es aus seiner Position so aus. Nuri wirkte wie ein Zwerg neben dem Neuankömmling, der einen dunkelblauen Arbeitsanzug trug, gleichfalls mit einer Nummer auf der Brusttasche. Jetzt wusste Cort wo er war: Ein Arbeitslager, wahrscheinlich in China. Einmal hatte er einen Abteilungsleiter an so einen Ort fliegen müssen.

»Skull nehme ich an«, sagte Cort. »Sie haben mich hergebracht?«

»So in etwa«, sagte der große Mann und strich sich über die tätowierte Glatze. Er wandte den Kopf zu Seite und Cort konnte einen mit Blumen umrankten Totenkopf erkennen.

»Wann kann er aufstehen?«, fuhr Skull den kleinen Asiaten an.

Nuri zuckte zusammen und stotterte: »Der … der Tele-Doc … er … äh … meint in … äh … fünf … sechs Tagen.«

Skull verzog den Mund. »So lang noch? Na gut. Ihr bleibt die ganze Zeit unten. Verstanden? Hast du verstanden? Keine Aufmerksamkeit.«

Eifrig nickte Nuri. »Klar doch. Wir sind unsichtbar.«

»Und halt die Kreatur an der kurzen Leine. Sie soll nicht rumstromern.« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr Skull herum und Nuri duckte sich.

Er musste ewig geschlafen haben. Seine Gedanken schrien nach Essen, sein Magen zwickte und knurrte. Cort stemmte sich ein Stück hoch. Das Licht wurde automatisch heller. Aus dem Nebenraum drangen Geräusche, es klang nach einer Spiele-Show. Er rief in den leeren Raum: »Gibt es Frühstück? Mittagessen? Was auch immer!«

Durch die offene Tür zum Nebenzimmer bummelte das Robotermädchen heran, die Hände in den Taschen ihres orangen Overalls. »Hast Hunger?«

»Ja. Bitte. Bitte.« Cort fand es fair auch intelligenten Maschinen gegenüber höflich zu sein.

Sie nickte, ging zu einem Schrank und tippte, wartete bis ein Summen ertönte, schob eine Klappe auf. Dann fuhr sie das Kopfteil seines Bettes hoch und stellte ein Tablett auf seinen Schoss. Ein Suppenteller mit Gemüseeintopf, ein Getreidefladen und eine Schüssel mit rosa Creme standen darauf. Cort griff nach dem Löffel und aß mit Appetit. Das Mädchen beobachtete ihn, dann schoss ihr Finger vor, tunkte in den Nachtisch. Genussvoll leckte sie den Batzen ab.

Cort starrte sie an. »Du bist auf Essen programmiert?«

»Bin nicht programmiert«, sagte sie und stibitzte einen weiteren Bissen.

»Kein Roboter funktioniert ohne Programmierung«, widersprach Cort.

»Ich bin ganz Bios«, sagte sie munter.

Er biss vom Fladen ab, kaute, schaufelte Eintopf nach. »Glaub ich nicht. Für einen Menschen bist du zu stark.«

»Ich bin kein Robo«, sagte sie trotzig. »Doc hat mich gemacht. Aus lebendigen Sachen.«

Cort legte den Löffel weg. »Woraus gemacht?«

»Aus ’nem Haufen Zellzeugs.«

Nuri humpelte herein. »Sie ist ein genetischer Prototyp. Eine Chimäre«, sagte er.

Cort riss die Augen auf und musterte das Mädchen, versuchte das Nichtmenschliche zu identifizieren. »Ein Prototyp wovon?«

»Von einer weltraumtauglichen Lebensform. Einem Pionier für interstellare Kolonialisierung.«

»Du verarschst mich.«

»Ganz und gar nicht«, sagte Nuri. »Ich habe an dem Projekt mitgearbeitet. Zumindest nachdem Doktor Stew nach Gulja gekommen ist.«

Also bin ich tatsächlich in Xinjiang, dachte Cort, ich muss aufpassen und so rasch wie möglich auschecken. Laut fragte er: »Wer ist Doktor Stew? Für wen arbeitet er?«

»Er hat für die gleiche Firma gearbeitet wie du.« Nuri deutete auf den Identifikationschip, der sich schwach unter der Haut von Corts Unterarm abzeichnete.

»L3X?«

»Nein, für Raythorp. Nach der Fusion mit L3X ist irgendetwas passiert. Ich weiß nicht genau was. Stew hat nichts dazu gesagt. Ich weiß nur, dass er sich mit dem ganzen eXo-Projekt abgesetzt hat.«

»Nach Xinjiang?«

Nuri lächelte schief. »Er wollte an einen Ort, an dem Raythorp keinen Zugriff hat. Und es gibt kaum eine besser überwachte Region auf dieser Welt.«

Cort versuchte die Logik darin zu ergründen. Hatte der Wissenschaftler größeren ethischen Freiraum gebraucht? Aber heute gab es nur noch wenige Länder mit Restriktionen in der genetischen Forschung. Vielleicht hatten die Chinesen ihm einfach mehr Geld und Ressourcen angeboten.

»Du weißt also woraus sie gemacht ist?« Cort blickte zu dem Mädchen hinüber: Sie hatte das Mediencenter aktiviert und schaute konzentriert einen Animationsfilm mit sprechenden Bären.

Nuri schüttelte den Kopf. »Stew hat die genetischen Konstruktionspläne vernichtet. Samt dem Labor.«

»Alles?«

»Ja. Er hat die Auslöschung aktiviert. Die ist für einen biologischen Notfall gedacht, damit nichts entkommt. Und er ist dringeblieben – du verstehst?«

»Und du? Wenn du sein Assistent warst?«

Nuri stemmte sich hoch. »Ich war nur eine bessere Putzhilfe. Ich habe die Computer gewartet.«

»Gibt es mehrere davon?« Cort deutete auf das Mädchen.

»Nur sie hat es ins lebensfähige Stadium geschafft. Ich glaube selbst Stew hat nicht gewusst warum.«

»Hat er deshalb alles vernichtet? Samt sich selbst? Übergeschnappt?«

Nuri runzelte die Stirn. »Möglich. Glaub ich aber nicht. Da war noch was anderes. An dem Tag gab es Geschrei in seinem Büro. Ich habe aber nichts verstanden.«

Cort beobachtete sein Gesicht. Hatten die Behörden Nuri deshalb in ein Arbeitslager gesteckt? Weil er seinen Chef nicht gut genug überwacht hatte? Und warum hatten sie das Mädchen auch hergebracht? War sie überhaupt ein Mädchen? Die Firmenfusion, hatte Nuri gesagt, das war sechs Jahre her. Das Mädchen wirkte aber deutlich älter. Cort betrachtete sie genau. Gerade drückte sie ein abgewetztes Stofftier an sich.

»Wie heißt sie?«, fragte er.

»eXo11.«

»Da schau. Hab ich gekriegt.« Das Mädchen langte in den Ausschnitt seines Overalls und zeigte ihm eine Erkennungsmarke, die sie an einer Kugelkette um den Hals trug. eẊo war eingeprägt, wobei das X einer Gestalt nachempfunden war. Darunter zwei Einsen, ein Strichcode und das Raythorp-Logo. »Meine Brutkammer.«

»Hm.« Cort betrachtete die struppigen Haare und die bloßen Füße des Mädchens. »Hier gibt es schon genug Nummern. Ich werde dich Ellie nennen. Okay?«

Sie nickte, fischte die Cremeschüssel von seinem Tablett und leckte sie aus.

Vier Tage später stand Cort auf, wankte zu einem Schrank mit Glastür und betrachtete sich. »Hatte schon bessere Tage«, murmelte er. Sein Brustkorb stach bei jedem Atemzug, die Haut schien einiges abbekommen zu haben, den linken Arm konnte er kaum heben. Cort rieb sich das struppige Kinn, fuhr sich durch die dunklen Locken. Na wenigstens ist die Visage noch intakt, dachte er, wäre blöd gewesen, noch einmal durch die Registrierung zu müssen. Cort hantelte sich zum Versorgungsautomaten, wählte eine Cola und einen Burger. »Hätte mich auch gewundert, wenn die Bier gehabt hätten«, brummte er.

Während er den Burger hineinstopfte, überlegte er, ob es das Flugzeug noch gab. Seine Verletzungen erschienen ihm zu gering für einen Totalcrash. War er noch notgelandet? Oder war er abgesprungen? Das schwarze Loch in seinem Kopf nervte ihn. Warum hatte sein Boss nicht den Chip geortet? Cort tippte auf das Implantat. Normalerweise hielten die Dinger alles Mögliche aus. Die Chinesen hatten keinen Grund ihn festzuhalten, der Transportflug war angemeldet und genehmigt gewesen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Cort zerknüllte die leere Dose und warf sie mit Schwung in eine Kunststoffbox, die neben der Tür stand. Eilig schlurfte Nuri herein und schaute sich um.

»Alles gut, Kumpel«, sagte Cort. »Ich bin wieder mobil. Ellie braucht mich nicht mehr füttern.«

Nuri strahlte. »Gut. Das ist sehr gut. Jetzt kommen wir bald raus.«

»Wo raus? Jetzt klär mich endlich einmal auf.« Cort baute sich vor Nuri auf und hoffte nicht zu schwanken.

Ertappt senkte Nuri die Augen, ließ sich auf einen Sessel fallen. »Wir sind im Sayram-Camp …«

»Wie der See Sayram?«, unterbrach Cort ihn.

Nuri nickte. »Aber nicht am See, sondern im Gebirge. Hier wird nach Gold geschürft.«

»Und biologisch geforscht?« Cort fläzte sich wieder ins Bett.

»Nein, nein. Exo – äh, ich meine Ellie – und ich, wir sind hergebracht worden. Heimlich.«

Cort hob die Brauen. Nuri fuhr fort: »Das Arbeitslager von Gujang ist zum Teil vermietet. Die Chinesen bringen dort auch unerwünschte Personen aus anderen Ländern unter.«

»Du bist aber aus Xinjiang? Was hast du getan?«

»Ich bin Kasache«, sagte Nuri. »Und ich habe öffentlich gebetet.«

»Was?«

»In einem Hinterhof. In der Arbeitspause. Aber eine Drohne hat das erkannt. Man hat mich zu fünfzehn Jahren Lager verurteilt.«

Cort runzelte die Stirn. Der Aufstand in Xinjiang war Jahrzehnte her, aber die Zentralpartei hatte anscheinend ein Elefantengedächtnis. Und die muslimische Minderheit nach wie vor Widerstandskraft. »Gut. Das erklärt aber noch immer nicht alles.«

Nuri seufzte. »Skull – er heißt eigentlich Sonni Raud – will von hier ausbrechen. Er gehört irgendeiner radikalen Organisation an und will zurück zu seinen Leuten. Er hat ein paar Mitläufer angeworben, auch einen Oberaufseher. Und der hat sie zum Arbeitsdienst in den Bergen abkommandieren lassen. Hier ist die Überwachung nicht so lückenlos. Mehr weiß ich aber nicht, ehrlich.«

Gerettet von ein paar Fanatiker, na toll, dachte Cort, noch ein Grund hier möglichst bald abzuhauen.

Aurora, Zyklus 305

Der Gong erschreckte Adnan. Die Folie fiel ihm aus der Hand. Ein freundliches Gesicht lächelte ihm vom Boden entgegen, Adnan hob die Folie auf und lächelte vorsichtig zurück. An der Uniform erkannte er, dass der junge Mann am Bildschirm ein Mitarbeiter der Kommission war. Sofort hatte Adnan ein schlechtes Gewissen.

»Adnan von Albesch?«, fragte der Beamte.

Adnan nickte, riss sich zusammen und sagte so gelassen wie möglich: »Was kann ich für Sie tun, Revident?«

»Saeed von Warnow wünscht Sie zu sprechen.«

Adnans Magen verkrampfte sich, er schluckte. »Ich bin sehr beschäftigt …«

Der junge Mann lächelte unbeirrt weiter und sagte: »Um 1400. Sie können direkt in das Büro des Kommissars gehen. Der Hauptwart ist informiert. Ihre sonstigen Termine wurden bereits umgruppiert.«

Das Gesicht verschwand und die Folie zeigte wieder das Archivverzeichnis. Adnan rollte den Bildschirm zusammen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

Ein paar Studenten eilten vorbei, grüßten ihn, doch Adnan starrte nur gedankenverloren auf seine Hände. Saeed von Warnow. Was wollte der Keuschheits-Kommissar von einem unbedeutenden Historiker? Adnan runzelte die Stirn, durchsuchte seine Erinnerung. Hatte er etwas falsch gemacht? Etwas Verfängliches gesagt? Oder noch schlimmer: musste er einer Lebensgemeinschaft zustimmen?

Wie langsam die Zeit sein konnte. Deufika zählte in Gedanken rückwärts. Endlich klappte die Abbessa das Buch zu. Die beiden jüngsten Novizinnen tuschelten und die Abbessa wies die Mädchen zurecht. Gespräche waren nur beim Abendmahl gestattet. Und wenn Besucher kamen. Deren Fragen durften jederzeit beantwortet werden. Deufika wartete immer ungeduldig auf das nächste Shuttle aus einer der beiden Kuppeln. Manchmal durfte sie den Meditierenden jene Bücher bringen, deren langatmige Abschrift sie ansonsten tagtäglich beschäftigte. Jedes Mal begutachtete sie die Besucher genau, achtete auf jedes Detail ihrer Bewegung, ihrer Kleidung, ihrer Aussprache. Fragen stellen durfte Deufika aber nicht, drauf achtete die Pförtnerin genau.

Als letzte verließ Deufika die Geburtskammer. Aus einer Tasche ihrer Latzhose holte sie eine süße Schnitte, die sie vom Frühstückstisch der Ältesten entwendet hatte und schlich in die menschenleere Ankunftshalle. Sehnsüchtig blickte sie die Magnetschiene entlang. Der silberne Strahl schien direkt in einen roten Einschnitt zu führen, der wie ein Höllentor am Horizont brannte. Ob der Erbauer diesen Effekt geplant hatte? Wie es wohl für die Menschen war aus dem ewigen Tag unter dem orangen Himmel in die ewige Dämmerung zu gleiten?

Einmal war Deufika unerlaubt auf den höchsten Berg hinter Temenos geklettert. Von dessen Gipfel aus war Eos, die Sonne des Trappist-1 Systems, als rote Scheibe zu sehen. Sie hatte gehofft, auch eine der Stadtkuppeln zu sehen, aber diese waren zu weit entfernt. Dafür hatte sie die Weite von Aurora in sich aufgesogen. Die unabwendbare Strafe dafür hatte Deufika mit heimlicher Freude ertragen. Und mit Stolz.

Sie seufzte und leckte ein paar Kuchenkrümel von ihrer Handfläche. Nach einem letzten Blick in die Ferne schlenderte sie in die Schreibkammer. Die handgeschriebenen Bücher waren ein beliebtes Souvenir bei den Besuchern, aber noch nie hatte sie einen der Trappisten darin lesen gesehen.

Schnurrend reihte sich die Gondel in den Strom der Hängekabinen. Adnan rutschte in seinem Sitz herum, fand keine entspannte Position. Er starrte auf den hellen Punkt, der sein Gefährt auf der digitalen Landkarte anzeigte, und wünschte sich eine Panne, aber die Seilbahn funktionierte wie immer problemlos. Schließlich wandte Adnan den Kopf zur Seite und zwang sich auf den Ausblick zu achten. Nur selten benützte er die Hochlinien, meistens ging er zu Fuß in die Universität und verließ kaum sein Wohnviertel.

Die Gondel schwebte über den Zentralpark. Die einheimischen Pflanzen erreichten in der Kuppelstadt die vielfache Höhe ihrer naturbelassenen Geschwister, denn der beständige Sturm in Auroras Atmosphäre ließ nur niederen Bewuchs zu. Die Blätter und Wedel glänzten in vielfältige Schattierungen von dunkelviolett bis schwarz. An einem Sukkulenten platzen gerade tiefrote Kapseln auf, entließen stachelige Bällchen, die herumhüpften wie ein Schwarm pickender Spatzen. Ein paar Spaziergänger flanierten über die rosa Kieswege, Menschen waren die einzige Fauna in der dunklen Flora. Auf Aurora existierten keinerlei endemische Tiere. Ein Grund warum der Erbauer diesen Planeten zur Ansiedlung gewählt hatte.

Gleich hinter dem Park erhob sich das Kommissionsgebäude. Vier lange Quader, die wie zufällig gefallen übereinandergestapelt waren. Scheinwerfer malten helle Muster auf die Außenhaut. Ein goldenes Mandala drehte sich als 3D-Projektion auf dem Platz vor dem Gebäude. Das Zeichen der Zentralregierung.

Die Gondel scherte automatisch aus und glitt zur Haltestelle hinunter, eine weiche Computerstimme verabschiedete ihn. Adnan ließ sich die Uhrzeit einblenden: 1395. Keine Zeit mehr sich hier umzusehen. Beim Aussteigen aktivierte er seine Dienstkennung und sofort war eine kleine Flugdrohne zur Stelle, die ihn in das richtige Amtsgebäude lotste. Aus dem rötlichen Licht von Eos trat er unvermittelt in weißes Licht. Kurz blinzelte Adnan, Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und seine Kontaktlinsen verdunkelten. Fast wäre er mit einem der Wachroboter zusammengestoßen, aber die Maschine wich behände aus. Die Drohne stoppte vor einer überdimensionalen schwarzen Tür mit einem silbernen Mandala in Augenhöhe. Adnan wartete. Türen dieser Art öffneten sich nie sofort. Nach ein paar Sekunden glitt eine schmale Fläche zur Seite und er konnte eintreten. Schlagartig beschleunigte sich sein Puls.

»Endlich«, begrüßte ihn der Keuschheits-Kommissar, ohne aufzustehen. Saeed deutete auf einen einzelnen Stuhl neben seinem Arbeitstisch. Abgesehen von diesen Möbelstücken, einem Dutzend Bildschirmen und einer verwickelten Skulptur war der große fensterlose Raum leer. Adnan straffte den Rücken und setzte sich kerzengerade hin.

»Sie haben einen Vortrag gestaltet. Die Emigration als psychologisches Problem im Kontext der historischen Wortverfügbarkeit. Eine interessante Abhandlung. Wenn man sich für das Thema erwärmen kann«, sagte Saeed streng. »Haben sie noch alle Details ihrer Recherche abrufbar?«

Adnan zog die Brauen hoch. »Die Arbeit ist zehn Zyklen alt.«

Saeed musterte ihn kühl. »Sie hat ihre derzeitige Stellung ermöglicht.«

»Natürlich weiß ich noch die Details«, sagte Adnan schnell. »Ich habe auch noch das Hintergrundmaterial gespeichert.«

»Gut, gut«, sagte Saeed, stand auf und begann mit wippenden Schritten auf und ab zu gehen. Adnan versuchte vergeblich die stählernen Federfüße zu ignorieren, die unter dem Uniformmantel hervorstaken. Abrupt stoppte der Kommissar, sein Zeigefinger malte in der Luft. Einer der Folienschirme änderte seine Position und ein Bild poppte auf.

»Sie wissen sicher, wer das ist …«

Adnan nickte. »Natürlich. Vivien von Galevic. Die Kanzlerin des Südens.«

»Und wenn man den Sozialzellen zuhört auch die neue Präsidentin.«

»Ich interessiere mich nicht für Politik«, sagte Adnan schwach.

Saeed kniff die Augen zusammen. »Sollten Sie aber, Adnan. Sollten Sie.« Er rieb sich die Stirn. »Albesch ist ein ruhiges Viertel. Sie haben sich ein bequemes Leben eingerichtet, nicht wahr?«

Jetzt kommt es, dachte Adnan und spürte Schweiß auf den Schläfen.

Suomi, Jahr der Graugans

Am Morgen hatte Habicht sie alarmiert. Kaj hatte sich sofort angezogen und war fortgegangen. Liissa hätte ihn begleitet, aber es war Sonntag. Und Sonntag kamen die Kinder. Manchmal vormittags, manchmal nach dem Essen.

Liissa lüftete das Schlaflager, hängte die Decken auf eine Stange vor dem Zelt. Nach einem raschen Frühstück schnitt sie Birkenzweige, band sie zu einem Bündel und fegte den gestampften Boden, betrachtetet zwischendurch den blauen Himmel und sog die süße Luft tief ein. Das milde Sommerwetter würde halten. Sie holte Wasser von einem nahen Bach und setzte einen Topf mit Kräutern und Honig aufs offene Feuer. Kaj hatte ihr angeboten einen Ofen zu mauern, aber Liissa hatte abgelehnt. Sie wollten nur den halben Sommer hier lagern.

In diesem Jahr würden sie den Vielfraß-Clan nur kurz besuchen. Im Westen wartete dringende Arbeit. Sie hatten wieder eine gefährliche Abraumhalde entdeckt.

Liissa rollte einen schlichten Teppich aus, hob den Topf vom Feuer, damit die Limonade auskühlte, stellte Tonbecher daneben. Geräusche aus dem Wald ließen Liissa innehalten. Sie lauschte. Der Wind in den Wipfeln der Laubbäume trug leise Stimmen vom Seeufer heran, ein hell zwitschernder Chor. Die Kinder kamen mit dem Kanu.

Kurze Zeit später saßen sechs kleine Menschen mit rosigen Wangen und aufgeregten Augen im Halbkreis vor Liissa. Atemlos sagte ein hochgewachsenes Mädchen, das die Sprecherin der Gruppe war: »Wir haben bei der Überfahrt beraten. Wir wollen das Märchen von der Sternschnuppe hören.«

Liissa schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, Aila. Ich will euch weiter von euren Vorfahren erzählen.«

Das blonde Mädchen schmollte ein wenig. Die anderen Kinder beobachteten sie. Liissa verschränkte die Arme und wartete. Schließlich seufzte das Mädchen und nickte. Liissa lächelte. »Also hört zu – als der Berg auf die Erde fiel, hätten die gelehrten Menschen das in eine Chronik eingetragen, sie hätten den Vorfall vielleicht einen schwarzen Schwan genannt. Aber als sich nach vielen, vielen Monaten der Staub gelegt und das Land wieder ruhig geworden war, gab es keine Lehrer mehr.«

Die Hand von Akia schoss hoch. »Wieso ein schwarzer Schwan?«

»Sei still«, zischte Nomo, ein Junge mit zerzaustem Haar und engstehenden Augen.

»Ist schon gut. Ihr dürft ruhig fragen«, sagte Liissa. »Im Sommer kommen doch Singschwäne zum Bildersee. Welche Farbe haben sie?«

»Weiß. Weiß. Weiß.« Alle Kinder riefen durcheinander.

Liissa lächelte. »Und was wäre, wenn einer angeflogen käme, der schwarz ist?«

»Es gibt keine schwarzen Schwäne«, antwortete Fyja mit Nachdruck. Sie war die Älteste der Truppe, abgesehen von Ukko. Die Eltern schickten ihn als Bewacher mit. Ein riesiger Bursche mit tellergroßen Händen und freundlich-leerem Mondgesicht. Er hockte immer abseits. Manchmal hörte er den Geschichten zu, manchmal nicht.

Liissa kramte in ihrer Tunika, holte die Fäden heraus und bewegte geschickt die Finger. Nach einigen komplizierten Schlingungen hielt sie den Kindern das Bild hin. Ein schwarzer Schwan im weißen Himmel. »Und doch hat es einmal welche gegeben. Auf einer Insel größer als die Fjorde, die Fjells und die Seenplatte zusammen. Weit im Süden. Auf der anderen Seite der Erdkugel. Man hat ihn Trauerschwan genannt.«

Mit offenem Mund starrte Fyja das Fadenbild an. Nomo nickte zufrieden.

»Eure Vorfahren haben die Erde so sehr verändert, dass viele Tiere ausgestorben sind. Aber wer weiß, vielleicht kommt auch der schwarze Schwan wieder zurück. So wie die Graugans im letzten Frühjahr.«

Aila klatschte Beifall und sagte: »Erzählst du uns jetzt von den Seelen in den Himmelslichtern?«

Fyja sagte: »Von der Mondfrau. Bitte, bitte. Und vom Eisenmann.«

Nomo sagte: »Sag doch: Warum kann man auf dem Sonnenwind segeln?«

Die Kinder redeten durcheinander.

Liissa hob die Hand. »Wo habt ihr das denn her?«

»Der Wolchw hat uns ein Lied gesungen.«

»Ah ja, Kaj …« Liissa seufzte. Sie versuchte den Kindern den Werdegang der Menschheit spielerisch zu vermitteln, aber sie waren mehr an Märchen interessiert als an Lehreinheiten. Und anstatt sie zu unterstützen befeuerte Kaj die Kinder mit drolligen Liedern und kryptischen Sprüchen, schenkte ihnen kleine bewegliche Spielzeuge und gab ihnen Medizin für den Chief des Clans mit. Inzwischen nannten der Nomadenstamm ihren Gefährten wolchw, den gütigen Zauberer. Ein gefährlicher Titel. Aber Liissa hatte vor langer Zeit aufgehört mit Kaj darüber zu diskutieren.

Die Dörfler drangen seit einer Generation immer weiter in den Norden vor. Und für die Dörfler waren magische Dinge verboten und die verfallenden magischen Zonen tabu. Nur wenige Gesetzlose betraten die verfluchten Orte. Die Nomaden waren toleranter, aber selbst bei ihnen wurde über die magische Zeit nur verhalten gesprochen.

Liissa dachte eine Weile nach. Viele Begriffe der magischen Welt waren den Kindern nicht mehr geläufig und sie musste aufpassen, welche Ausdrücke sie verwendete. »Nun gut, eine Geschichte«, sagte sie schließlich und wickelte ihr Fadenspiel zurecht, wob mit den Fingern ein neues Bild aus Schnüren und zeigte es den Kindern. Mit großen Augen betrachteten sie die Sternschnuppe. Dann erzählte Liissa ihnen von dem Mädchen, das mit der Seele reiste. Von der einsamen Tochter, die Kaj einst erlöste.

Aurora, Zyklus 305

»Was schätzen Sie ist das Verhältnis der Geschlechter? Nur ungefähr.« Saeed schaute beim Fenster hinaus, sein kantiges Gesicht wirkte im roten Tageslicht milder. Er schien an Adnans Antwort nicht wirklich interessiert zu sein.

Seltsame Frage, dachte Adnan, jeder wusste, dass es auf Aurora dreimal so viele Männer wie Frauen gab. »Drei zu Eins«, sagte er.

»Das sind die offiziellen Zahlen«, erwiderte Saeed und drehte sich um. »Wissen Sie auch warum?«

»Ich habe mich nie …«

»Sollten Sie aber«, unterbrach Saeed ihn. »Immerhin sind Sie Bürger erster Kategorie.«

»Nun, ich bin noch nicht …«

Der Keuschheits-Kommissar hob die Hand. »Was halten Sie von der gesellschaftlichen Lösung im Süden? Polygamie. Wären Sie gerne ein Nebenmann?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Saaeds Finger durch die Luft. Auf einem der Bildschirme startete die Aufzeichnung einer Rede: Die Kanzlerin stand auf einem Podest in einem Park, ähnlich jenem vor Saeeds Fenster, und sprach von Herausforderungen.

»Sehen Sie«, stieß Saeed hervor, »die Bienenkönigin und ihre Drohnen. Alle diese Männer hinter ihr sind mit ihr verheiratet. Was für eine Perversion. Aber – man verzeiht es ihr. Die Menschen lieben sie. Die Attraktiven gewinnen die Bewunderung der Gesellschaft.« Saaed schaltete den Ton aus. »Aber der Fortschritt – der Fortschritt kommt von den Stillen, denen im Hintergrund, den Denkern. Männern wie Sie und ich.«

Was will er bloß von mir, dachte Adnan, begann im Stuhl zu wippen.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wären Sie gerne wie er?« Saeed deutete auf einen elegant uniformierten Mann.

»Nein«, sagte Adnan vorsichtig. »Ich finde unser System passender. Weniger … äh … emotionale Verwicklungen. Bürger und Bürgerinnen erster Kategorie bekommen ideale Partner zugeteilt. Bürger zweiter Kategorie bleiben unverheiratet. Das hält die Gesellschaft stabil und gerecht.«

»Gut gelernt«, sagte Saeed. »Aber kommen wir zu meinem Anliegen. In Ihrem Vortrag analysieren Sie sehr gekonnt die Wortherkunft und den Sinnübertrag in eine fremdartige Lebenswelt. Sie haben dafür die Datenbank des Erbauers sehr gründlich durchforstet, nicht wahr?«

Adnan nickte.

»Man hat mir sogar versichert, niemand kennt sich in den Untiefen der Datensätze, in ihren Ordnungsprinzipien so gut aus wie Sie.« Der Keuschheits-Kommissar fixierte ihn.

Der Stuhl kam Adnan plötzlich äußerst unbequem vor. »Schon möglich«, antwortete er zögerlich, »die meisten anderen Forscher konzentrieren sich ausschließlich auf ihr Fachgebiet. Aber der Admin hat sicher den besten Überblick. Falls Sie etwas Bestimmtes suchen.«

»Ja, ich suche etwas Bestimmtes. Aber das kann mir der Admin nicht liefern. Das erfordert nämlich kreative Recherche, fachübergreifende Kompetenz. Gedankensprünge, wenn Sie so wollen.« Saeed lächelte kühl. »Das können nur Sie mir liefern.«

Ein Schauer durchfuhr Adnan, trotzdem lächelte er zurück. »Ganz zu Ihren Diensten, Saeed von Warnow«, sagte er. »Was soll ich für Sie finden?«

»ENODe. Ich will wissen, wo ENODe ist. Davon hängt unsere Zukunft ab.«

Sie dreht uns den Rücken zu, dachte Deufika, nur dieses eine Bild – und sie dreht uns den Rücken zu. Sie hockte sich hin und schlug die Beine übereinander, starrte auf das Wandbild, als könne das Starren das Geheimnis der Darstellung auflösen. Bald würde sie keine Novizin mehr sein und ihren Eid schwören; bald würde sie einem strikten Stundenplan und rigorosen Regeln folgen müssen. Das waren die letzten Tage, in denen sie Zeit stehlen konnte. Deufika verschränkte die Finger im Schoß. So viel sie auch die Bücher studiert hatte, keines erzählte weiter als bis zum Spiegel der Vollkommenheit. Wohin war die Mutter gegangen? Die Ältesten meinten in die Berge, zur Vereinigung mit Eos. Deufika hatte für ihre Suche alles aufs Spiel gesetzt, aber dort oben war nichts.

Sie studierte jeden Millimeter der Darstellung: der rosafarbene Ozean, der ein Kliff überspülte, der violette Himmel, in dem eine Supernova erglühte, die beiden riesigen Monde, die auf dem Meer zu schwimmen schienen. Und in der Mitte eine dunkle Silhouette mit weißen Haaren, mehr eine Idee als eine Person. Wohin sieht sie? Was sieht sie? Die Möglichkeiten hinter dem Horizont? Die Idee der Reise? Ja, das war eine gute Sinndeutung. Die Mutter steht für den Weg in andere Welten.

Für einen Moment fühlte Deufika Hoffnung. Ein sanfter Gong schallte durch alle Räume des Tempels, erinnerte sie an die straffe Struktur ihres Daseins. Sie ließ die Schultern hängen und schaute zu Boden. Gedanken krochen ihr durchs Gehirn: Ich bin nur eine Gefangene, ein Werkzeug, mein Leben eine Verschwendung; ich warte auf einen Tag, der nie kommen wird. Noch einmal der Gong. Deufika sprang auf und beeilte sich ins Athleticum, zur einzigen Unterrichtseinheit auf die sie sich freute: Kampftraining.

Die Stille beruhigte Adnan. Nach 1800 war die beste Zeit in der Universität. Die Studenten saßen in ihren Wohnkammern, die Reinigungsroboter luden an den Akkustationen, nur hier und da war ein Arbeitsraum sanft beleuchtet. Die durchsichtigen Wände der Gänge hatten sich verdunkelt, um einen Abend zu simulieren, den es auf Aurora nicht gab.

Schon in der ersten Generation hatten die Bewohner der beiden Kuppelstädte festgestellt, dass die Chronobiologie fix in den Genen der menschlichen Auswanderer fixiert war und der Stoffwechsel einen Tagesablauf benötigte. Der Planet Trappist-1g, dem sie den freundlichen Namen Aurora gegeben hatten, war aber in einer fixen Rotation an den Roten Zwerg gebunden, den er umkreiste. Eos schien immer an derselben Stelle vom Himmel. Nur wenn der Beobachter den Ort wechselte veränderte sich der Sonnenstand.

Adnan ging direkt in den Raum, den sie die Bibliothek nannten, obwohl er nur virtuelle Bücher und digitale Objekte enthielt. Er schob seinen Folienschirm in eine Halterung, setzte eine der Brillen auf und betrat die Welt des Archives. Alles Wissen des Erbauers stand ihm sofort zur Verfügung und Adnan begann nach dem Akronym ENODe zu suchen, grub Schicht um Schicht durch die Historie der Vorfahren. Schließlich ließ er sich alle Wortgruppen auflisten, deren Anfangsbuchstaben diese Kombination ergaben. Bei der Zahl Hunderttausend stoppte er die Sequenz und riss sich die Brille herunter.

Müde massierte Adnan sein Gesicht. Wo hatte Saeed diesen Begriff her? Sicher nicht aus den Datenbanken der Künstlichen Intelligenz der Kuppeln, dem Admin . Um dort etwas zu finden, hätte der Kommissar ihn nicht gebraucht. Wenn Saeed ihm wenigstens gesagt hätte nach welcher Art von Wissen er suchte.

Ein Blink zeigte eine Nachricht an. Sein Kollege Malte war von seiner Reise in den Süden zurück. Malte war ein Spezialist für Semantik. Vielleicht eine Möglichkeit, dachte Adnan und pingte ihn an, folgte der aufleuchtenden Markierungslinie in einen der Innenhöfe. Ein künstlicher Sternenhimmel wölbte sich über einer Wasserfläche auf der eine weiße Plattform mit Sitzbänken schwamm. Malte winkte ihm zu und Adnan balancierte über Trittsteine zu ihm. Ein süßer Duft erfüllte die Luft. Malte rauchte eine Rosenzigarette. Eine Weile wiegten sie schweigend im leisen Plätschern.

»Manchmal frage ich mich«, sagte Malte, »ob wir nicht ein riesiges Sozialexperiment sind. Manchmal schaue ich hoch und erwarte, dass da einer landet und uns auswertet.«

»War es so anders?«, fragte Adnan abwesend.

»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete Malte, schnippte seine Kippe in die Luft. Eine winzige Drohne schnappte den Rest der Zigarette und verschwand damit. »Alles war so bunt und so …« Er suchte ein Wort, seufzte und sagte schließlich: »Da könnte sich unser erster Kommissar ein paar gute Ideen abschauen.«

»Keine beliebte Meinung.«

»Ach was. Wo sonst kann man sagen, was man will, wenn nicht hier? Bei uns sind alle Positionen erlaubt. Hier ist sicherer Raum.«

»Wenn du es sagst – aber ich brauche etwas von dir, Malte. Hast du schon einmal eine Auflistung aller Akronyme benötigt? Für eine Wortstammanalyse?«

Malte schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe mich nur mit homophonen Abkürzungen beschäftigt. Wonach suchst du?«

»Ein Initialwort, aber ich habe keine Ahnung wofür es stehen könnte«, sagte Adnan. »Biologie, Technik, Kybernetik oder einfach ein Kochrezept.«

»Keine Chance, mein Freund. Du weißt selber wie viele Kombinationsmöglichkeiten es da gibt.«

Adnan nickte betrübt. Das würde Saeed nicht gefallen.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Saeed. »Aber man muss beim Naheliegendsten anfangen, nicht wahr?«

Adnan wusste, dass das eine rhetorische Frage war und blieb stumm. Er lehnte sich in seinem Arbeitsstuhl zurück, das Möbel passte sich automatisch an, um seinen Körper bequem zu stützen.

Kurz verschwand der Keuschheits-Kommissar vom Bildschirm, tauchte aber gleich wieder auf und hielt ein kleines Buch in seinen schmalen Fingern. Auf dem Umschlang prangte eine Sonnenscheibe, die sich in einem glatten Oval dämmrig spiegelte. »Haben Sie das schon einmal gesehen?«

Ein Buch, dachte Adnan, ein echtes Buch. Er hatte noch nie eines in der Hand gehabt. »Wo kommt das her?«

»Aus Temenos. Meine Frau war dort auf Einkehr. Keine Ahnung, warum sie das gebraucht hat. Ein Souvenir, hat sie gesagt, aber kaum zu Hause, ist es in einer Lade verschwunden. Dabei war es unverschämt teuer. Eine Monatsration.« Saeed schlug das Buch auf, strich durch die Seiten. »Wahrscheinlich hat es mich deshalb neugierig gemacht. Es ist tatsächlich handgeschrieben.« Er zeigte Adnan eine Doppelseite: Eine zierliche geschnörkelte Schrift, die mehr an ein Muster erinnerte, als an einen Text. »Der Admin hat es mir in Information übersetzt. Und dabei ist dieser Begriff aufgetaucht. ENODe.«

»In welchem Zusammenhang?«, fragte Adnan.

»Ich bin mir nicht sicher, aber soweit ich es verstehe – und falls die Übersetzung nicht völlig falsch ist – geht es um eine besonders leistungsfähige Datenverarbeitungstechnologie.«

Adnan runzelte die Stirn. »Die wir nicht haben?«

»Nicht auf diese Art. Höchste Komplexität mit größtmöglicher Energieeffizienz. Etwas, das wir dringend brauchen. Für unser Raumfahrtprogramm.«

»Und warum hat der Erbauer uns das vorenthalten? Wir haben doch alle Technologie und Ideologie bekommen, die wir zur Fortentwicklung brauchen.«

»Wenn ich das wüsste. Wenn ich das nur wüsste …« Saeed presste die Lippen zusammen. Ein unangenehmes Schweigen entstand.

»Wovon handelt das Buch?«

Saeed schnaubte. »Irgendein esoterischer Unsinn. Es heißt Legende vom vollkommenen Spiegel.«

»Und trotzdem …«

»Adnan von Albesch. Sie sind vom Lehrdienst ab sofort freigestellt. Reisen Sie nach Temenos und forschen Sie weiter nach«, sagte Saeed barsch.

Wie geschlagen zuckte Adnan zusammen. Der Konvent der Jungfern von Eos. Ein bizarrer Ort. Temenos lag in der Dämmerungszone, ein Dutzend fensterlose Kuben aus Betonschaum, gewärmt von einem Vulkangebiet. Der letzte Ort, an dem Adnan sein wollte. »Aber ich …«

»Das ist nicht verhandelbar.«

Adnan verzog das Gesicht, überlegte hektisch, welche Ausrede den Kommissar überzeugen könnte. Sie alle lebten ein glasklares Leben, eingebettet in die diskrete Versorgung durch den Admin. Wo ließ sich da ein Schlupfloch finden?

Saeed schien ihn zu durchschauen. »Sie begleiten mich morgen zu einer Senatssitzung«, sagte er. »Das wird sie motivieren.«

Adnan öffnete den Mund um zu protestieren, aber Saeed hob die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Sie sind nicht an Politik interessiert. Aber ob sie wollen oder nicht, die Politik ist jetzt an Ihnen interessiert.«

Erde, 2066 a.D.

Baaam. Eine Explosion erschütterte die Boxen, Cort konnte den Bass fühlen. »Nein«, schrie Skull und verschüttete sein Bier. »So eine Kacke.«

»Aufs falsche Team gesetzt?«

»Und sowas von«, sagte Skull. »Wenn der Leader nicht bald den Rang des Legendären Adlers erreicht ist es vorbei.«

»Hm.« Cort schaute selten ein Match der E-Sports Premier League, aber wenigstens war er mit der Counter Strike Oberfläche vertraut. Das Spiel war uralt, aber durch ständige Innovationen und neue Schauplätze immer noch ein Renner. »Die DreamGuardians werden abschmieren. Sorry, Amigo. Deren Glutwolf ist einfach zu langsam«, antwortete er auf gut Glück.

»Du sagst es, Captain. Na, mal sehen. Vielleicht kann er sich in der Werbepause was Speediges reinziehen.« Skull trank sein Bier aus und schaltete den Ton weg. »Auch noch eines?«

Cort schüttelte den Kopf. Schulterzuckend stand Skull auf und öffnete die Kühlbox. »Bist ein geschickter Pilot, was?«, sagte er.

»Geht so.« Cort setzte sich auf, ließ die Beine von der Bettkante baumeln.

»Tu nicht so. Die nehmen nur die Guten. L3X meine ich. Spezialflüge, stimmts? Für die Standardfälle haben sie Drohnen.« Skull lachte kehlig und riss die Bierdose auf.

»Darum geht es also?« Cort richtete sich auf. Im Stehen war er fast so groß wie Skull. Zumindest auf Augenhöhe. Aber bei weitem nicht so breit.

»Blitzgneißer. Du wirst uns Türen öffnen.«

»Was für Türen?«, fragte Cort alarmiert.

»Setz dich, Captain. Ich erzähle dir was«, sagte Skull sanft. Cort folgte und starrte den Vorarbeiter an, der genüsslich schlürfte, sich den Mund abwischte, dann an ihm vorbeischaute, während er sagte: »Nur noch fünfzehn Prozent der Beschäftigten arbeiten im Industriebereich, dreißig Prozent sind qualifizierte Dienstleister, der Rest sind Tagelöhner, Kleinbauern, Sozialbezieher. Mehr als die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als vierzig Yuan am Tag auskommen.«

Cort gähnte und blinzelte zum Mediencenter: noch immer lief Werbung.

»Die westliche Gesellschaft hat sich so sehr selbstverwirklicht und aufgesplittert, dass die Politik nicht mehr entscheidungsfähig ist. Sie bekommen keine Mehrheiten mehr zusammen. Und was ist das Ergebnis? Nur mehr eine Handvoll richtige Demokratien, mehrere eingefrorene Kriege, China prägt alle Gesellschaften von Peking bis Budapest.«

»Musst du mir nicht sagen«, murrte Cort. »Ich war beim europäischen Kontinentalkrieg live dabei.«

»Auf welcher Seite?«

»Rat einmal.«

»Na egal. Verloren haben am Ende alle«, murmelte Skull. Eine Weile starrte er nachdenklich zu Boden.

Cort drückte die Lautstärketaste. Ballern und Schreien lärmte los. Krieg im Computerspiel war sauber. Klare Regeln, klare Taktik, klare Fronten.

»Wir sind die unsichtbare Gesellschaft. Wir gehorchen anderen Gesetzen. Wir bauen eine neue Welt«, übertönte Skulls volle Stimme den Kampflärm.

»Weshalb du auch hier drinnen sitzt«, höhnte Cort.

»Genau wie du. Aber du wirst uns auch hier rausholen. Du hast die richtigen Scores.«

»Träum weiter«, sagte Cort, streckte sich im Bett aus und schloss die Augen. Sobald er ordentlich laufen konnte, würde er die Oberfläche suchen. Sein Notfallchip funkte automatisch.

Cort stieg von einem Bein aufs andere, dehnte den Brustkorb. Die Haut spannte, aber er spürte keinen Schmerz mehr. Vor der Glaswand des Kastens hob er das Hemd und betrachtete seinen Oberkörper. Auf der linken Seite breitete sich vernarbtes Gewebe wie ein Geschwür aus, die Brustwarze fehlte. Er schürzte die Lippen, drehte sich hin und her. »Was solls«, murmelte er, zog das Hemd herunter und schlenderte in den Nebenraum.

Ellie badete und Cort wollte sich umdrehen, aber Nuri sagte: »Komm nur her. Das macht ihr nichts.«

Das Mädchen saß in einer Kunststoffkiste im Wasser und spielte mit einer blinkenden Schwimmente, kicherte über die Farbwechsel.

Nuri arbeitete wie immer an seinem Computer. Cort setzte sich neben ihn. »Ist sie behindert?«, flüsterte er.

Nuri riss die Augen auf. »Wie kommst du darauf?«

»Ein Teenager, der sich wie ein Kleinkind benimmt?«

Nuri lächelte. »Ellie ist ein Kleinkind. Sie ist gerade einmal sechs Jahre alt. Die körperliche Entwicklung ist schneller, keine Ahnung warum.«

»Hat sie dieses Syndrom – du weißt – die alten Kinder?«

»Progerie? Nein. Sie entwickelt sich nur inhomogen. Das ist wohl der genetischen Melange geschuldet.«

»Dein Doc hatte nicht viel Mitgefühl.«

Nuri seufzte. »Das gibt keinen Score am Bürgerkonto. Solche Gefühle leisten sich nicht mehr viele.«

Ellie platschte mit der Hand aufs Wasser. »Dawid hat ihn geschimpft.«

»Wer ist Dawid?«, fragten Cort und Nuri gleichzeitig.

»Hendrik hat Dawid liebgehabt. Dawid hat Ellie gemocht. Hat Ellie die Kette geschenkt.« Sie deutete auf die Erkennungsmarke, die sie nie ablegte.

»Und wo ist Dawid?«, fragte Cort.

Ellie starrte konzentriert ins Wasser. »Wo so goldene Kuppeln sind.«

»Wer ist er? Wie heißt er mit dem Nachnamen?«, fragte Nuri aufgeregt.

Ellie zuckte mit den Schultern. »Baut so Dinger. Die bauen dann andere Dinge.«

»Roboter?«, sagte Nuri. »Oder 3D-Drucker?«

»Nee. Dinger eben. Die haben halt Formen und die machen so und so«, Ellies Hände fuhren herum, als würde sie eine Burg bauen, »und dann kommen Becher raus oder Hosen oder halt was immer du willst.«

Cort verstand nur Bahnhof. Nuri runzelte die Stirn, dann klopfte er auf den Tisch und sagte: »Modulare Mikrofabriken.« Er tippte eifrig herum, drehte dann den Bildschirm zu Ellie. »Ist das Dawid?«

Ellie strahlte und nickte.

Cort linste auf das Bild und den Text darunter. »Dawid Solva. Nie gehört.«

»Ein genialer Ingenieur«, erklärte Nuri. »Erfinder der Modularen Mikrofabrik. Einfachste Bauteile, die sich je nach Bedarf zu unterschiedlichsten Produktionseinheiten zusammensetzen. Bei genügend Ressourcen baut eine Einheit ein ganzes Industriegebiet. Dawid Solva hat sein Start-Up für Millionen an Raythorp verkauft.«

»Und was nützt uns das? Wird er Ellie holen und uns mitnehmen?«

»Kaum«, sagte Nuri, »Vor vier Monaten, da war der Anschlag auf Ryszard Bey, der ist doch der Boss von deinem Boss …«

Cort nickte.

»Dabei ist Dawid Solva getötet worden.«

»Dann hat die Kleine niemanden mehr.«

»Sie hat mich«, sagte Nuri mit Nachdruck. »Ich werde auf sie aufpassen.«

Cort lehnte sich zurück und dachte: Du kannst kaum auf dich selber aufpassen. Laut sagte er: »Was ist mit deinem Bein passiert?«

Nuri wurde blass, seine Augen irrten herum. »Ellie, raus aus dem Wasser, sonst bekommst du noch Schwimmhäute.«

Das Mädchen kicherte und stand auf. »Macht mir nix. Bin eh auch Krokodil.« Nuri warf ihr ein Handtuch zu.

Sie hat mehr mitbekommen, als Nuri glaubt, dachte Cort, und sie ist klüger, als Skull glaubt. »Und was bist du noch?«

Während sie sich abtrocknete, dacht Ellie nach. »Ein Strahlungswolf, eine Uraltfrau, eine nackte Maus, und so kleine Kugeln, die alles innen drin richten können.«

»Aha.«

Sie schlüpfte in ihren orangen Overall, schüttelte den Kopf, bis die Haare abstanden. »Geh was schauen.« Sie hockte sich vor das Mediencenter und tippte auf der Fernbedienung, bis sie einen Animationsfilm fand. Kurz darauf sprangen Einhörner über den Bildschirm.

»Leise, Ellie«, ermahnte Nuri.

»Was will Skull von euch beiden? Nur als Krankenpfleger wird er euch nicht hergeschafft haben.«

»Ich kenne mich ganz gut mit Computern aus. Und Ellie ist – eben Ellie.«

»Und verdammt stark.«

»Sie ist nicht angriffslustig«, stieß Nuri heraus.

Oha, dachte Cort, der Tonfall bedeutet aber das Gegenteil. »Ganz gut ist wahrscheinlich tiefgestapelt«, sagte er. »Skull macht auf Kumpel. Aber er ist nicht blöd, denke ich.«

Nuri senkte den Blick und schwieg.

»Also«, sagte Cort, »er hat einen kleinen Hulk und einen Computer-Nerd. Aber wenn er glaubt, er hat einen Piloten, wird er sich täuschen.«

»Skull wird dir keine Wahl lassen«, sagte Nuri.

»Ach was. Ich brauche nur eine Stelle mit besserem Empfang als hier unten. Dann ist alles geritzt.«

Nuri zuckte mit den Schultern und raunte: »Dieses Geschoss verlässt du nur mit uns oder gar nicht mehr.«

Suomi, Jahr der Graugans

»Für euren angakok«, sagte Liissa. »Ein Geschenk von Kaj.« Sie überreichte Ukko eine Rolle, der sie zögernd annahm, an ihr vorbeischaute.

Aila drängte sich dazwischen. »Darf ich das ansehen?«

»Natürlich«, sagte Liissa. »Das ist nichts Geheimnisvolles. Und auch nichts Magisches.«

Ukko rollte das Stück Tierhaut auf und zeigte es den Kindern. Eine Weile studierten sie die Zeichnung darauf mit fragendem Blick, dann rief Fyja: »Eine Landkarte. Das ist eine Landkarte.«

»Genau«, sagte Liissa. »Eure Wanderroute. Dort oben ist das Eismeer. Da in der Mitte ist euer Sommerlager. Und das am Rand euer Winterlager. Die roten Flächen dürft ihr nicht betreten. Dort haben wir gefährliche Dinge entdeckt. Dinge, die euch krankmachen.«

»Das wird Chief Härkä sehr brauchbar finden«, sagte Aila altklug. »Hab Dank, nebhdansa.« Sie klatsche in die Hände und scheuchte alle in Richtung des Kanus. Mit Abstand trottete Ukko hinter den Kindern her, trug die Karte wie einen Schatz.

Kaum waren die Kinder verschwunden, knackten Zweige unter harten Schritten. Liissa blieb stehen wo sie war, hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne und fragte: »Wird es Probleme geben?«

»Das lässt sich noch nicht sagen. Es ist noch zu weit entfernt. Ein Objekt mit exzentrischer Flugbahn.«

Liissa blinzelte und beobachtete Kaj, der über die Lichtung gekommen war und sich vor das Zelt hockte. Wie immer schien er heiter gestimmt zu sein. In der langen Zeit, die sie bereits miteinander verbrachten, hatte er kaum eine andere Regung gezeigt. Sie wusste, dass er sich bemühte, aber manchmal ermüdeten seine Entwicklungsversuche sie unendlich. Anfangs hatte sie seine Experimente noch mit Enthusiasmus unterstützt, aber irgendwann hatte sie das Interesse verloren. Gab es überhaupt einen Ausweg aus diesen eingefahrenen Bahnen? Kaj schien daran zu glauben.

Wie immer verstand er ihre Stimmung sofort und redete nicht weiter. Er zog eine Schreibtafel aus seiner Umhängetasche und begann eine Skizze.

Manchmal wäre es Liissa lieber gewesen, er würde mit ihr streiten. Seine Anpassung an ihre Launen ließ sie mit einem Gefühl von Schuld zurück.

Seufzend drehte sie sich um, schritt zu ihm und beugte sich über seine Schulter. Ihre Haare streiften seine Wange und er lächelte.

Sie betrachtete die Skizze: Ein aufrechter Zylinder mit gebogenen Seitenteilen. »Was entwirfst du?«

»Eine Savojus-Turbine«, sagte er. »Eine ganz einfache Konstruktion, mit der wir in jedem Wasserlauf unauffällig Strom gewinnen können. Das kann ich mit den vorhandenen Materialien bauen und das Gerät ärgert weder Fische noch Wasserpflanzen.«

»Und die Leitung?«

»Die ist fast unsichtbar«, beruhigte Kaj.

»Du musst das trotzdem gut tarnen.«

»Meinst du, wir sollten unseren Nachbarn solche Dinge beibringen?«

Heftig schüttelte Liissa den Kopf. »Auf keinen Fall. Wir sind nur Beobachter.«

Kaj drehte den Kopf und schaute sie mit seinen babyblauen Augen an. »Warum hast du dich dann mit ihnen angefreundet?«

Sie ignorierte die Frage. »Lass ihnen ihre Angelegenheiten, wir haben unsere.« Sie trat einen Schritt zurück.

Er setzte ein paar Striche und fragte beiläufig: »Und warum erzählst du den Kindern Geschichten und versuchst ihnen etwas beizubringen?«

Liissa schwieg. Wie sollte sie ihm erklären, dass seine Gesellschaft manchmal einfach nicht reichte? Er kannte solche Gefühle nicht. Sie streckte sich, streifte ihre Schuhe ab und sog die Luft ein. Der Sommer schmeckte verführerisch.

Kaj klappte die Schreibtafel zu. »Gehst du jagen?«

Liissa nickte, zog die Oberlippe hoch, strich mit der Zungenspitze über ihre Zähne. Sie hatte Appetit auf frisches Fleisch.

Aurora, Zyklus 305

Ein angespanntes Flüstern erfüllte den Raum. Neunzehn Männer und drei Frauen saßen aufrecht an dem Uförmigen Tisch: rechts vom Präsidenten die Vertreter des Nordens, links jene des Südens, angeführt von Vivien von Galevic.

Adnan studierte die Gesichtszüge der Kanzlerin: weit auseinanderstehende braune Augen, geschickt mit Kajal vergrößert, in einem schmalen Gesicht mit gemeißelten Wangen umrahmt von sorgfältig frisierten dunklen Locken. Im Gegensatz zu den funktionalen Anzügen der anderen Politiker trug sie ein grellbunt gemustertes Kleid und auffälligen Ohrschmuck, der bei jeder Kopfdrehung klimperte. Alles an Vivien von Galevic drückte Selbstsicherheit aus. Als ihr Blick auf Saeed fiel, zogen sich ihre Mundwinkel fast unmerklich nach unten.

Saeed schickte Adnan zu einem Sitzplatz an der rückseitigen Wand und setzte sich ans Kopfende, direkt neben Präsident Hamilkar von Ghanni, der Adnan an einen Buddha erinnerte.

Jedes Wohnviertel stellte einen Abgeordneten und an diesem Tag waren alle Gemeinschaftsvertreter anwesend. Der Präsident lächelte wie tiefgekühlt, fixierte die runde Kameradrohne, die in der Mitte schwebte. Die Sitzung wurde vom Admin live in beide Kuppelstädte übertragen.