Eine Art Mensch - Alauda Roth - E-Book

Eine Art Mensch E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

Sein Wunsch nach einem perfekten Menschen verleitet den genialen Forscher Erich Holm zu verbotenen genetischen Experimenten. Er ahnt nicht, dass er damit den Untergang der konzerngeführten Staatenbünde herbeiführt. Und gleichzeitig die Zukunft der Menschen rettet.

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Zum Buch

Obwohl er sich des Risikos bewusst ist, verleitet sein Wunsch nach einem verbesserten Menschen den ehrgeizigen Wissenschaftler Erich Holm zu verbotenen Experimenten. Als er den Nobelpreis für seine Forschungen auf dem Gebiet der Nervenzellenregeneration erhält, interessiert sich ein ehemaliger Studienkollege, den Erich fast vergessen hat, für die Hintergründe seiner Arbeit. Gleichzeitig findet eine Explorationssonde bei der Suche nach Rohstoffen auf dem Jupitermond Europa Artefakte einer außerirdischen Zivilisation.

Damit werden Ereignisse ausgelöst, die einen unerwarteten Einfluss auf die Zukunft der menschlichen Gesellschaft haben …

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition Andrann und bei BoD. Lebt mit Pferden und Katzen im südlichen Niederösterreich.

Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern

und Nächte werden nicht um solche groß.

Die Sich-Verlierenden läßt alles los

und sie sind preisgegeben von den Vätern

und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß.

Rilke

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Wunschkind

Produktionsfehler

Spiegelungen

Letzter Ausweg

Maias Tochter

Epilog

Prolog

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren [...], den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern [...] – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.

Charta der Vereinten Nationen

San Francisco, 26. Juni 1945

Das Jahr 1972 gilt als das Geburtsjahr der Gentechnik. Damals beschäftigten sich Herbert W. Boyer von der University of California in San Francisco und Stanley N. Cohen von der Stanford University im benachbarten Palo Alto mit der Möglichkeit, einzelne Abschnitte aus dem Erbgut von Bakterien auf andere Bakterien zu übertragen. Es gelang ihnen die DNA an bestimmten Stellen aufzuschneiden und Bruchstücke in das Erbgut anderer Organismen einzuschleusen und dort aktiv werden zu lassen. [...] Am 1. Oktober 1990 startete das Humane Genom Project. Seitdem koordiniert die 1989 gegründete internationale »Human Genom Organization« (HUGO) die Arbeit von zehntausend Forschern aus 40 Ländern. Die gesamte Erbinformation des Menschen, etwa 50000 Gene, sollen kartiert und sequenziert werden. [...] 1999 gaben die Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität in München die Geburt des Klonkalbes »Uschi« bekannt; es war das erste aus erwachsenen Körperzellen geklonte Kalb in Deutschland. [...] 2001 veröffentlichten die Forscher von HUGO einen Entwurf der fast vollständigen Sequenz des Humangenoms. [...] Cohens und Boyers Experiment markiert damit nicht nur einen wissenschaftlichen Meilenstein, sondern führt die Menschheit an einen Punkt, an dem sie ihre ethischen Grundpositionen im Licht heutiger und zukünftiger Möglichkeiten neu überdenken muss.

Rolf Andreas Zell

Brockhaus, Meilensteine der Menschheit

Der Computer ist das mächtigste Werkzeug, das sich der Mensch je geschaffen hat. Er stellt aber Ansprüche an den Menschen, deren Erfüllung Arbeit erfordert, beginnend mit Wissen und Intelligenz über Ausdauer und Disziplin bis zu entmutigendem Zeitaufwand [...] Verantwortung lässt sich nicht in der Programmiersprache ausdrücken. Dass der Computer den Menschen schlechthin ersetzen oder ablösen könnte, bleibt Fantasie.

Heinz Zemanek

Brockhaus, Meilensteine der Menschheit

[...] Die gesellschaftlich wichtigste Aufgabe einer gesunden Frau besteht darin, dass diese ihren Beitrag zur Bestandssicherung der Gattung durch biologische und soziale Mutterschaften leistet. Die staats- und gesellschaftserhaltende Aufgabe des »Mutterns« wird öffentlich durch intensive medizinische Betreuung, hohe Gebärprämien und Erziehungsgeld gefördert.

Heike Kahlert

Zukunftsbilder – Prognosen und Visionen

[...] Wenn uns Krieg aufgezwungen wird, werden wir für eine gerechte Sache mit gerechten Mitteln kämpfen – die Unschuldigen in jeder uns möglichen Weise verschonend. Und wenn uns der Krieg aufgezwungen wird, werden wir mit der vollen Macht des US-Militärs kämpfen – und wir werden uns durchsetzen.

George W. Bush, Amerikanischer Präsident

Rede zur Nation, 29. Jänner 2003

Wunschkind

Helena warf ein Glas nach ihm – es verfehlte ihn knapp, fiel dumpf auf den Boden, ohne zu zerbrechen.

»Mi ne plu parolos kun vi!«

Wenn sie sich aufregte, wechselte sie immer in die Universitätsweltsprache, ohne es zu merken. Erich wusste: das angedrohte Schweigen würde vielleicht länger dauern als nach ihrem letzten Streit, aber es würde nicht anhalten. Trotzdem sagte er beschwichtigend: »Warum willst du ihn unbedingt in der Wittgenstein-Schule einschreiben? Die Ausbildung durch die Konzernschule ist um nichts schlechter.«

»Weil er dort manchmal seine Klassenkameraden persönlich treffen kann.«

Helena verschränkte die Arme. Seufzend versuchte Erich einen Kompromiss: »Wenn er zehn ist, in Ordnung? Bitte lass mich arbeiten, ich muss das Interview durchgehen, die Redakteurin erwartet es noch heute. Es soll schon morgen ausgestrahlt werden.«

Sie straffte den Rücken und schritt aus seinem Arbeitszimmer, hielt, wie so oft, vor dem Kaminimitat inne und warf dem Gemälde darüber, das er kurz nach ihrer Heirat von ihr hatte anfertigen lassen, einen hasserfüllten Blick zu.

Er befahl dem Mediencenter die Nummer des Senders anzuwählen. Mit dem vertrauten Summsignal erstand in der Raummitte das Hologramm der Redakteurin.

- Guten Tag, Doktor Holm. Wir haben schon auf Ihren Anruf gewartet. Ich freue mich, dass Sie Zeit gefunden haben, uns ein paar Fragen zu beantworten. Wir haben Sie gut im Bild, bitte setzen Sie sich einfach an Ihren Schreibtisch oder in den Lehnstuhl. Ich schlage vor, wir arbeiten den gesamten Fragenkatalog durch. Im Anschluss bereiten wir das ganze Interview auf, ergänzen es mit der Biografie, die uns Ihre Frau bereits geschickt hat, und vor der Sendung erhalten Sie noch den Zusammenschnitt zur Ansicht. Sollten Sie mit Passagen nicht einverstanden sein, dann können wir bis zwanzig Minuten vor der Ausstrahlung noch Korrekturen vornehmen. In Ordnung?

Erich nickte, die Prozedur war ihm bekannt, aber er wollte die junge Frau nicht unterbrechen. Ihre Gestalt wirkte zerbrechlich, ein Effekt der Projektion.

- Fein. Dann fangen wir mit Ihrem Fachgebiet an. Bitte versuchen Sie, möglichst vereinfachte Darstellungen zu geben. Unser Sender will ein breites Zielpublikum ansprechen. Also … Sie sind der erste Europäer seit mehr als 50 Jahren, dem der Nobelpreis für Medizin verliehen wird. Was ist das Besondere an Ihrer Forschung?

- Das Institut, dessen Vorstand ich bin, arbeitet schon einige Jahrzehnte an der Stammzellenforschung. Wie bekannt, haben vor zehn Jahren mehrere Laboratorien in Kooperation einen grundlegenden Faktor bei der Organentwicklung entdeckt und aus Stammzellen die erste funktionsfähige Menschenleber gezüchtet. Unserem Institut ist es vor kurzem gelungen humane Nervenzellen zu regenerieren. Eine mögliche Anwendung wäre die Wiederherstellung zerstörter Nervenbahnen, beispielsweise bei Lähmungen. Auf Basis dieser Regenerationsfähigkeit können wir aber jetzt auch semiintelligente Mikroimplantate in Ganglien einbringen, der erste Schritt zu einer echten Mensch-Maschine-Vernetzung.

- Sie meinen damit, eine biologische Schnittstelle zwischen Menschen und der digitalen Welt?

- Ja.

- Welche weiterführenden Möglichkeiten sehen Sie darin?

- Unsere Vision ist, dass ein Mensch, wenn er sich in das globale Netz eingeloggt hat, über sein Gehirn alle Datennetze, Roboter und Maschinen steuern, mit anderen Menschen unmittelbar kommunizieren und Informationen direkt in seinen Gedächtnisspeicher einbringen kann. Damit würde ein Großteil der Peripheriegeräte, die immer eine zusätzliche Stufe, genauer gesagt eine Verkomplizierung darstellen, entfallen. Zum Beispiel bei ihren Abenteuershows: nicht nur die Bilder würden direkt vom Teilnehmer kommen, auch das Gefühl auf seiner Haut, wenn er durchs Unterholz kriecht, und vielleicht auch Körperreaktionen wie ein Schweißausbruch. Sollte er in einen Fluss springen, wäre das doch noch ein viel unmittelbarerer Eindruck für Ihre Zuseher, sie wären wirklich live dabei, nicht wahr?

- Ein anschaulicher Vergleich. Wie lange wird es dauern, bis Menschen diese Implantate tragen können?

- Ich bin vorsichtig mit solchen Prognosen. In der Vergangenheit wurde bereits bei geringen Erfolgen ein großer Umbruch angekündigt. Aber gerade in der Genetik mussten viele Rückschläge verkraftet werden. Manche Forscher ergehen sich in dauernden Hurra-Meldungen, aber der Natur lassen sich Geheimnisse weit weniger leicht entreißen, als es diese Kollegen uns gerne glauben machen wollen. Sie ahnen gar nicht, wie oft wir auf zufällige Entdeckungen angewiesen sind. Nach wie vor sind Klonierungen ein Glücksspiel, auch wenn die Erfolgsrate auf 2 Prozent gestiegen ist und Fehlbildungen schon frühzeitig durch DNA-Analyse ausgeschieden werden können. Homologer Gentausch ist immer noch ein Buch mit sieben Siegeln, von denen wir erst zwei geöffnet haben. Zum Glück hat die Biohybridtechnik viele Erwartungen erfüllen können, sonst hätten einige Forschungsstellen zusperren müssen. Auch unser Institut finanziert mit Entwicklungen für die Industrie gleichzeitig allgemeine Grundlagenforschung.

- Das Einbringen eines Bakteriengens zur Biolumineszenz der Haut in eine menschliche Keimzelle hat doch das globale Gesetz über ein Verbot der Kreuzung von menschlichen mit nichtmenschlichen Genen ausgelöst. Wie stehen Sie zu diesen Beschränkungen?

- Ein Grundlagenforscher muss jede Beschränkung natürlich kritisch sehen. Aber ich bin praktizierender Christ und verstehe die Bedenken der Öffentlichkeit. Trotz dieses durchaus begründeten Experiments, denn es hätte geholfen Tumorzellen der Haut rascher zu identifizieren, möchte ich anmerken, dass die Forschung auch 2087 noch genauso weit davon entfernt ist, Menschen mit Tieren zu kreuzen, wie vor neunzig Jahren, als zum ersten Mal das Thema Chimären durch die Medien gegeistert ist. Für so eine Kreuzung wäre der zuvor von mir erwähnte homologe Gentausch nötig, und zwar in großem Stil. Auch zu den enzymatischen Faktoren der Keimentwicklung ist noch immer zu wenig bekannt. Der Weg zur Erforschung der Lebensvorgänge wird in winzigen Schritten begangen. Wir sind wie Rötelmäuse, die den Himalaja zu überqueren versuchen.

Die zufallende Tür erschreckte ihn, sodass Erich das Mediencenter auf Wartestellung schaltete. Die Holografie der Redakteurin gefror.

»Morgen fahre ich in die Stadt«, sagte Helena trotzig. Er wusste: sie wartete auf seinen Einspruch, aber er begann in dem Buch zu blättern, das er zur Dekoration auf den Schreibtisch gelegt hatte. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Sie stützte sich auf den Schreibtisch, beugte sich zu ihm herunter und fragte: »Warum nennst du unser Kind nie beim Namen? Er heißt Daniel, erinnerst du dich? Daniel! Wir haben ihn nach deinem Großvater benannt.«

Wortlos blätterte er weiter in dem Buch, einer Abhandlung zur Interlinguistik. Das Abbild der Redakteurin flimmerte, während Helena vor ihm auf und ab ging. »Du nimmst monatlich Proben von Daniel. Warum? Er ist nie krank. Du hältst ihn mit dieser Einsiedelei hier von anderen Kindern fern. Warum? Irgendetwas ist nicht in Ordnung! Meinst du, ich merke nichts?«

»Das ist nur zu seinem Schutz. Der Konzern kann uns hier nur begrenzt Sicherheit bieten, das ist der Preis für das Landleben«, sagte er unbestimmt, merkte aber an ihrer Stimme: er konnte sie nicht beruhigen.

»Wäre es so schlimm, wenn du eingestehen müsstest, dass ein Genforscher ein genetisch beeinträchtigtes Kind hat? Keine Antwort? Na gut. Noch so ein Punkt, bei dem du mir immer ausweichst. Und überhaupt: die Villa mag dir ja etwas bedeuten, aber was brauchen wir einen Garten, wenn wir ihn nicht benützen dürfen? Wir können nicht einmal mehr in die Kirche im Dorf gehen, falls die Ruinen dort noch diesen Namen verdienen. Ich will fort von hier!«

So reizvoll dieser Flecken Südenglands einmal gewesen war, so sehr er sich schon als Student in Oxford dieses Haus gewünscht hatte, er wusste, dass Helena recht hatte, und auch der F&E Manager des Mandalakonzerns drängte ihn seit einigen Monaten dazu, auf das Gelände eines der Institutskomplexe zu übersiedeln. Er ertappte sich bei dem Gedanken: ohne den Jungen wäre es leichter. Noch immer schritt Helena im Zimmer umher und er bewunderte ihre elegante, stolze Haltung. Plötzlich blieb sie stehen und schlug auf die Schreibtischplatte, sodass die Buchseiten zitterten wie ein aufgescheuchter Schmetterling.

»Dieses Haus ist ein Gefängnis geworden! Ich möchte wieder unter Menschen. Unter echte Frauen und Männer. Ich will nicht nur mit Holografien umgehen. Nur in der VR arbeiten – dabei vertrocknen meine Ideen. Nur durch die VR einkaufen und essen gehen! So sehr das TM-Gitter auch Gefühle anregt, mein Herz weiß, dass die Umgebung nicht echt ist. Die Illusion klebt an mir wie ein bitterer Schatten. Ich will in wirklichen Gebäuden umhergehen, ich will wirkliche Meeresluft atmen, ich will wirklichen Sand unter meinen Füßen spüren. Hier herinnen zerstören wir uns!«

Sie wischte durch die Redakteurin und nahm ihre Wanderung wieder auf, redete mehr zu sich selbst als zu ihm. »Ich ertrage nicht mehr, wie du deine Schuhe millimetergenau hinstellst und jedes Bild gerade rückst, ich hasse deinen herablassenden Ton, mit dem du mich beruhigen willst, mich nervt dein ständiges Händewaschen – selbst nachdem du Daniel umarmt hast. Wenn er vom Spielen kommt, musst du deine Finger säubern. Von anderen Dingen will ich gar nicht reden.«

In ihrem Zorn war sie eine archaische Königin. Erich versuchte neutral zu klingen: »Bitte, Helena, ich verstehe dich nur zu gut. Ich habe schon mit Sir Alfons gesprochen – wir können nach Moskau oder Sydney übersiedeln. Ich lasse dir die Wahl.«

Mit noch immer zusammengezogenen Brauen blieb sie in der Redakteurin stehen. »Meinst du das wirklich ernst? Sydney! Dort wird nächstes Jahr das 300-jährige Bestehen gefeiert. Viele Aufträge auch für Architektinnen, ein wunderbares Museum für biomorphes Design und die Calatrava-Universität.« Ihre Gesichtszüge wurden sanft, passten nun wieder zu den blonden Locken. Wie jung sie noch aussieht, dachte Erich, und verbesserte sich gleich: sie ist jung, zumindest im Vergleich mit mir.

Er versuchte ein Lächeln. »Ja, ich meine das ernst. Morgen besprechen wir alles, in Ordnung? Könntest du mir bitte ein Paar schwarze Slipper, vielleicht ein Manolo-Modell, downloaden und in den Matrixdrucker laden. Ich möchte sie für die Standaufnahmen anziehen. Das Interview ist noch nicht fertig … «

Ein wenig ungehalten strich sich die Redakteurin das Haar glatt. Erich betrachtete ihre Erscheinung genauer. Seit dem Sommer färbten sich modebewusste Frauen bunte Wildtiermuster auf den Kopf, die türkisblauen Leopardenflecken machten aber aus ihrem rundlichen Gesicht eine Karikatur.

- Können wir weiterarbeiten? Gut. Zum nächsten Thema. Wie ist Ihre Ansicht zur Diskussion um die außerirdischen Funde auf Europa? Sind die Erbauer der Station humanoid?

- Ich bin kein Exobiologe.

- Es ist aber ein brandheißes Thema und unser Publikum würde sicher gerne Ihre Meinung dazu hören.

- Wie Sie wollen, aber ich möchte vorausschicken, dass es ausschließlich eine persönliche Aussage ist.

- Natürlich.

- Kennen Sie den Roman Solaris von Stanislaw Lem … ach … nur die Filme. Das ist schade, denn das Buch erzählt viel eindringlicher von der Unmöglichkeit der Kommunikation mit einem fremdartigen außerirdischen Wesen. Bis zum Schluss bleibt eigentlich unentschieden, ob die Bewohner der Station es überhaupt mit intelligentem Leben zu tun haben. Sie können das einfach nicht feststellen.

- Ich verstehe den Zusammenhang nicht …

- Na, dann einfacher. Der außerirdische Organismus in Solaris ist ein planetenbedeckender Ozean, eine Flüssigkeit, die reagiert und Formen produziert. Versuchen Sie sich nun vorzustellen, wie es ist, eine riesige Menge Flüssigkeit zu sein, ohne Augen, ohne Hände, ohne Nase – nur amorphe, bewegte Masse. Was empfinden Sie? Wie ist die Umgebung für Sie? Welche Nahrung mögen Sie?

- Das kann ich nicht.

- Und es wird wahrscheinlich auch niemand anders können! Unser Gehirn erfasst die Welt durch unsere Sinne, bewertet und kommentiert diese Eindrücke, wir nennen das denken und fühlen. Wir können vielleicht noch den Sinn eines Tieres, den wir Menschen nicht besitzen, messen, aber bei der Vorstellung eine Fledermaus zu sein und den Echolotsinn anzuwenden haben wir Schwierigkeiten, nicht wahr? Wie sollten wir also mit einer nichthumanoiden Lebensform eine Basis für Kommunikation finden? Die Mathematiker meinen, ihr Fachgebiet wäre ausreichend, aber mit Zahlen kann man wohl kaum zum Ausdruck bringen, wie eine Rose riecht. Meiner Ansicht nach, muss ein gewisser Konsens in den Sinneseindrücken vorhanden sein, damit ein sinnvoller Austausch stattfinden kann. Um also Ihre Frage zu beantworten: ich meine, dass die Erbauer der Geräte, die auf Europa gefunden wurden, homolog sein müssen, da die Artefakte Griffe aufweisen, Druckknöpfe, Scheiben zum Durchsehen, Stiegen, Türen, eine Art Sitzgelegenheit, falls alle Funktionalitäten richtig interpretiert wurden.

- Ja, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Manche Forscher meinen allerdings, dass die Chance, eine menschenähnliche Lebensform zu finden sehr gering ist.

- Als Genetiker würde ich einen außerirdischen DNA-Fund begeistert aufnehmen. Leider wurde an den Artefakten nichts dergleichen gefunden. Es gibt eine Theorie, falls ich mich richtig erinnere von Wickramasinghes und Hoyle, die erklärt, dass Leben im All nur einmal entstanden ist und dann wie ein Keim durch Kometen im Universum verteilt wurde. Damit wäre die Chance deutlich höher, nicht wahr?

- Wie auch immer. Welche Auswirkungen, denken Sie, haben diese Funde?

Ganz langsam wurde die Tür aufgeschoben und neugierige Augen aus einem kleinen Gesicht lugten durch den Spalt. Erich drückte hastig den Unterbrecher und winkte. Mit offenem Mund starrte die Redakteurin zu jener Wand, die mit dem Imitat eines der Teppiche la Dame à la Licorne behängt war. Vorsichtig umkreiste der Junge das Hologramm, setzte sich steif neben Erich auf einen Hocker und sagte leise: »Es ist vier Uhr.«

Erich lächelte und öffnete einen Rollschrank, indem er seine Fingerspitzen auf eine Scannerfläche legte.

»Schon in Ordnung, mein Junge. Streck den Arm aus.«

Aus dem oberen Fach zog er einen Mobilanalysator, tippte die gewünschten Biodaten in das Display, bevor er ihn um den Arm des Jungen legte. Unverwandt hafteten dessen Augen auf Helenas Gemälde, sein schmales Gesicht leuchtete. Auch nachdem die Blut- und Gewebeproben entnommen worden waren, verblieb der Junge in aufrechter Haltung, glich in seiner stillen Versenkung einer Figur aus den Ölbildern der italienischen Renaissancemaler. Während Erich den Analysator an das Mediacenter anschloss, fragte er: »Hat es weh getan?« Ohne seinen Blick von dem Gemälde zu lösen schüttelte der Junge den Kopf. »Nur gekribbelt.«

Seine Unempfindlichkeit gegen Schmerzen war eines der ersten Anzeichen für den Erfolg von Erichs Forschung gewesen. Zuerst hatte Erich eine Reizleitungsstörung befürchtet, doch alle Nervenleitwerte waren normal. Der Junge übertraf Erichs Erwartungen.

»Mamas Kette …«, flüsterte das Kind.

»Was ist damit?«, fragte Erich.

»Ich habe die Libelle kaputt gemacht.«

»Aber Junge, Mama trägt sie noch, ich habe sie zuerst gesehen.«

»Wir waren in der Kirche. Vom Dach ist Holz gerieselt. Da waren Vögel. Sie sind durch ein Loch davongeflogen. Wir haben uns umgedreht und hinter uns war der See. Er ist in die Kirche gekommen. Immer näher. Er hat nach Moor gerochen. Ich habe mich gefürchtet. Er war so dunkel. Wir sind auf die Kanzel geklettert. Mama hat mir das Mondmädchenlied gesungen. Die Säulen sind umgefallen. Der See war laut und der Himmel schwarz. Die Kanzel hat zu wackeln angefangen. Ich wollte Mama greifen und habe die Kette abgerissen. Die Libelle ist gefallen. Es hat geklirrt und gesprüht. Lauter blaue Splitter sind dagelegen. Da ist etwas herausgekrabbelt. Eine echte Libelle. Sie hat mit den Flügeln geflattert und zu uns gesagt: La libeloj flugas tres bone. Sie ist hinauf zu den Sternen. Dann war das kalte Wasser da.«

Seine Stimme flüsterte nur noch. Erich strich dem Jungen über die braunen Locken. »Das war ein Traum. Nur ein Traum. Such dir ein Buch vom Regal und dann geh in dein Zimmer.«

Auf Zehenspitzen reckte sich der Junge zum dritten Fach hinauf, fingerte nach den Nordischen Heldensagen und drückte den Band fest an sich, ohne Erich noch einmal anzusehen, während er hinausging.

Unmittelbar sprang das Hologramm aus seiner Erstarrung zu heftigen Gesten. Doch Erich filterte die blasse Gesichtsfarbe und den scharfen Tonfall der Redakteurin aus seiner Wahrnehmung.

- Herr Doktor Holm, wir …

- Wir sind bei der Frage nach den Auswirkungen stehen geblieben, ich weiß. Es fällt mir schwer, mir eine Meinung dazu zu bilden, denn mir sind zu wenige Umstände bekannt. Ist die aufgefundene Technik auswertbar? Wenn ja, vielleicht eine Revolution in der Raumfahrt, wenn nein, ein Museumsstück mehr. Gibt es organische Reste in den Funden? Wenn ja, vielleicht die Antwort auf ein paar grundlegende Fragen der Biologie, wenn nein, viele neue Fragen zu extraterrestrischem Leben.

- Können Sie denn nicht irgendwie konkreter werden?

- Oh ja, das kann ich. Die Wissenschaftler der Konzerne Global Energies und E-Space werden versuchen, soviel Profit wie möglich aus den Funden zu schlagen. Schließlich waren es ihre Explorationsroboter, die die Entdeckung gemacht haben. Sie werden auch schon Verhandlungen mit allen drei Militärbündnissen aufgenommen haben, ihr Nahverhältnis ist inzwischen hinreichend bekannt. Was wird noch geschehen? Die christlich-gemäßigten Kirchen werden die Funde verharmlosen, aber es werden dafür in Eurasien ein paar neue Sekten entstehen, die Heilslehren von einer überlegenen Rasse predigen. Die neokonservative Regierung der Vereinigten Amerikas hat ein neues Feindbild und kann ihrem Streit mit der Großchinesischen Föderation jetzt eine weitere Dimension hinzufügen. Die ökologischen Enklaven werden die Funde ignorieren, sie gehören für ihre Mitglieder nicht zu Mutter Erde. Die pazifischen Philosophen werden die nächsten zwanzig Jahre über den neuen Menschensinn diskutieren. Ach ja, und dann gibt es noch die vielen Bewohner der staatenfreien Gebiete, wie die Landstriche ohne Militärkontrolle so freundlich heißen. Sie reparieren und bewachen unsere Versorgungsnetze und werden von diesen Ereignissen gar nichts mitbekommen. Sie sind froh, wenn sie jeden Tag genug Essen bekommen. Für Politik, Konzernstrategien und Wissenschaft interessieren sie sich nicht. Viele von ihnen können nicht einmal lesen und schreiben. Wussten Sie eigentlich, dass sie ein gemeinsames Ideogrammsystem entwickelt haben? Fast so etwas wie eine Kreolschrift für Analphabeten. Aber was rede ich herablassend? Auch die Gesellschaft unserer Megapolen ist ja schon auf dem Weg zurück zur Bildsprache. Ihr Medium ist das beste Beispiel dafür, nicht wahr?

- Ich weiß nicht, ich habe noch ein Buch, aber … Entschuldigen Sie, Herr Doktor, dieses Mal muss ich unterbrechen, ein Signal höchster Priorität, ein Mitglied des Nordatlantischen Sicherheitsrates will Sie sprechen.

Das Hologramm, das anstelle des Abbilds der Redakteurin erschien, wirkte irgendwie bekannt. Halblaut verfluchte Erich sein schlechtes Namensgedächtnis. Während die Gestalt näher zoomte, erkannte er den Anrufer, doch die Uniform passte nicht in seine Erinnerung.

»Leslie! Welch unerwartete Begegnung, es muss Jahre her sein!«

»Um genau zu sein: sieben Jahre, alter Freund.«

Erich richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen ehemaligen Mitarbeiter, dessen Anruf keinesfalls ein Zufall war. Abgesehen von dem Umstand, dass sie nie Freunde gewesen waren, obwohl sie miteinander studiert hatten, verriet die graue Uniform mit der silbernen Kordel, dass Leslie inzwischen eine andere Karriere eingeschlagen hatte: er war Leiter der Inneren Sicherheit. Eine der mächtigsten Positionen im Eurasischen Völkerbund. In möglichst unverbindlichem Tonfall sagte Erich: »Du hast immer schon ein gutes Gedächtnis gehabt. Was kann ich für dich tun?«

»Ganz wie früher! Immer gleich zur Sache kommen!« Leslies Lächeln wirkte halbherzig. »Ich wollte dir nur zu deinem Erfolg gratulieren. Der eurasische Premierminister und der General Manager von Biomechanics sind diese Woche in London und würden dich und Helena gerne zu einem informellen Abendessen einladen. Passt es Dienstag um acht?«

Erich seufzte erleichtert. »Ich fühle mich geehrt! Bis wann muss ich zusagen? Ich möchte Lena zuerst noch fragen.«

»Gleich kommt eine Wähladresse auf dein Display, gib dort bis übermorgen Bescheid. Da ist aber noch etwas …«

Erich fixierte das Hologramm konnte aber keine Veränderung in der entspannten Haltung seines Gegenübers bemerken. Leslie winkte einen Soldaten näher, der ihm einen Decodierungschip reichte. Als er fortfuhr, fühlte Erich, wie seine Hände die Armlehnen so sehr umklammerten, dass es schmerzte.

»Alter Freund, du weißt doch: wir überprüfen alle Personen, die mit dem Premierminister zusammentreffen, aufs Genaueste. Dein File ist ungewöhnlich sauber. Keine Demonstrationen, keine Kontakte zu radikalen Sekten, durchgängiger Lebenslauf ohne weiße Flecken. Du lebst wirklich nur für deine Forschung. Aber Helena! Politisch ziemlich aktiv. Zumindest früher, bevor du sie geheiratet hast. Hättest besser auf dein Mädchen aufpassen sollen. Na ja, nichts davon so schlimm. Kein Anlass, ihr das Leben mit unnötigen Fragen zu beschweren, aber beim Essen sollte sie nicht mit provokanten Themen anfangen.«

Erleichtert öffnete Erich seine Finger und rieb die Hände aneinander. »Natürlich nicht. Wenn das alles ist …«

»Da wäre noch eine Kleinigkeit. Kennst du den Libelle-Code?«

Erich erinnerte sich wieder, warum sie nie Freunde geworden waren. Schon auf der Universität war Leslie ein Opportunist gewesen. Er kniff die Augen zusammen. »Sollte ich?«

Während er den Decodierungschip durch eine Lesevorrichtung zog, antwortete Leslie, jedes Wort deutlich betonend: »Aber sicher kennst du ihn. Du hast deine Forschungsergebnisse damit verschlüsselt. Sehr schlau, aber nicht schlau genug. Wir haben die Datenerkennungssoftware Aranea deutlich weiterentwickelt. Sie kann jetzt auch Libelle entschlüsseln. Nun rate mal, auf was ich dabei gestoßen bin.«

Schweißtropfen bildeten sich über Erichs Oberlippe, er verschränkte die Finger ineinander, um das Zittern zu verbergen. Auch wenn er wusste, welche Dateien er damals mit dem als unentschlüsselbar geltenden Code verborgen hatte, so war er sich nicht sicher, ob Leslie nur bluffte. Früher war das eine erfolgreiche Taktik von ihm gewesen, um mit möglichst wenig Aufwand die Klausuren zu bewältigen.

»Ich denke, du meinst die Ergebnisse meines Versuchs eines homologen Gentauschs zwischen Eidechsen und Primaten. Sie waren Basis meiner Dissertation. Warum besteht plötzlich Interesse daran?«, fragte er unverbindlich. Leslie lachte auf. »Du bist mir einer! Dich kann man nicht so leicht täuschen. Ja, ich meine deine Dissertation und ich meine auch die weiteren kleinen Versuche, die du dann so nebenbei gemacht hast. Du verstehst: Daniel.«

Noch immer war sich Erich nicht sicher, wie viel Leslie erfahren hatte. Libelle war auf einem Semiolendialekt aufgebaut und galt unter den weltbesten Kryptologen nach wie vor als Königin der Codes. »Sag einfach, worauf du hinauswillst. Dann wissen wir beide, wo wir stehen.«

Unvermutet glich Leslie einem der Granitköpfe in Helenas Gewächshaus. Seine Stimme wurde schneidend. »Wie du willst. Ich spreche von den Veränderungen, die du am Erbgut deines Sohnes vorgenommen hast. Der derzeitige Stand der Genetik ist eigentlich nicht soweit, aber du hast es irgendwie fertiggebracht, tierische Sequenzen in die DNA einer Keimzeile einzuschleusen. Und ich will wissen wie!«

»Es war Zufall.«

Leslies Augen bohrten sich in Erichs Denken und zerbrachen jeden Widerstand. »Mein alter Freund, sieh dich nur in deinem Arbeitszimmer um! Ich habe noch nie einen so peniblen Menschen gesehen wie dich. Na gut. Du weißt, dass ich weiß, dass dein Kind ein verbotenes Experiment ist. Du weißt, wie ich weiß, welche Strafe dafür verhängt wird. Aber du weißt, was ich nicht weiß, nämlich wie du das angestellt hast. Also, was machen wir jetzt?«

Im Stillen dankte Erich Libelle. Ein Stöhnen ließ ihn herumfahren. In der Tür stand Helena mit seinen neuen Schuhen. Sie starrte Leslie an, dann ihn, dann wieder Leslie. Das Hologramm verbeugte sich elegant. Obwohl er Grimm auf seinen Widersacher empfand, musste der Ästhet in Erich bewundern, wie gut Leslie die Uniform stand, sie gab ihm eine Größe, die sein Charakter nicht hatte.

Schwebend durchmaß Helena den Raum, breitete ein Tuch auf den Mahagonischreibtisch und stellte die Schuhe darauf ab. Gleich einer griechischen Furie blickte sie auf Erich herab und fragte: »Stimmt das? Ist unser Sohn kein Mensch?«

»Er ist es zu 99,4 Prozent«, wich Erich aus.

»Du nennst dich einen Christen! Weißt du überhaupt, was dieses Wort bedeutet? Hast du gar keine Ehrfurcht mehr vor der Schöpfung? Was hast du mit meinem Kind gemacht? Was ist er denn zu 0,6 Prozent?«

Nun war es soweit – er hatte sich gewünscht, ihr den Grund seiner Versuche unter anderen Umständen erklären zu können, aber gleichzeitig fühlte er sich erleichtert. Genauso als hätte sie den Brief einer geheimen Geliebten entdeckt und alle Lügen wären ausgestanden. Erich zuckte mit den Schultern. »Ein Axolotl, ein südamerikanischer Salamander.«

Helenas Augen weiteten sich, bis er meinte, den ganzen Raum darin zu sehen. »Pro kio vi faris tion?«, flüsterte sie. »Warum hast Du das getan?«

Erich schwieg. »Warum schon?«, erwiderte Leslie. »Er wollte beim Studium nur mit besten Beurteilungen die Semester beenden. Wurde jüngster Entwicklungsrat in der Forschungsgemeinschaft. Das größte Budget der Konzerngeschichte. Und so weiter. Versteh mich nicht falsch – es ist ihm nie um Reichtum gegangen.«

Unter Helenas brennendem Blick senkte Erich die Augen. Leslies Stimme klang heiter: »Meine lieben Freunde, jetzt macht nicht solche Gesichter. Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Wir machen das jetzt folgendermaßen: ihr wartet auf mich, ich komme zu euch – in knapp einer Stunde, dann besprechen wir alles in Ruhe. Diese holografische Übermittlung ist so unpersönlich. Helena, goldene Tochter des Mondes, bereite mir doch bitte eine Kanne mit grünem Tee und ein paar Sandwichs. Ich war schon lange nicht mehr in einer Landvilla zu Besuch, ich freue mich richtig auf einen gemütlichen Abend und eine gepflegte Unterhaltung. Und Erich … vergiss nicht das Sicherheitssystem über unser Kommen zu instruieren.«

Seine Abbildung wurde blasser, seine Uniform und sein Lächeln lösten sich auf. Das Arbeitszimmer erfüllte eine schwere Stille.

Ein Räuspern von der Redakteurin, Erich starrte auf das Buch, ohne die Sätze auf den chamoisfarbenen Seiten zu erfassen. Wieder ein Räuspern.

- Herr Doktor Holm, bitte, wir sind gleich fertig, wirklich …

Erich schlug das Buch zu, die Schreibtischplatte erzitterte und ein Sprung durchbrach die feine Maserung. Erschrocken wich die Redakteurin zurück, die hellgrauen Studiowände warfen eine wankende Silhouette in das Hologramm. In Socken begann Erich auf und ab zu gehen.

- Bitte, Herr Doktor, wir haben Sie nur teilweise im Bild, ich …

- Ich gebe Ihnen noch ein Abschlussstatement und machen Sie dann mit dem Ganzen, was Sie wollen.

- Ich verspreche, es dauert nur noch ein paar Minuten, Sie haben sicher wichtige Termine. Der Sicherheitsrat…

- Schon gut! Was wollen Sie noch wissen?

- Bitte machen Sie noch ein paar persönliche Aussagen, geben Sie Etwas über Ihr Privatleben preis, über Ihren Tagesablauf, welche Hobbys Sie haben, über Ihre Lebenspläne.

- Mein Privatleben? Das interessiert jemanden?

- Sie sind jetzt berühmt.

- Die Schattenseite der Ehrungen! Meine Forschungsergebnisse sind nicht genug, nicht wahr? Zu trocken, zu unverständlich. Oder? Ich weiß. Ich weiß. Ihr Magazin ist eine Illustrierte. Soll ich Ihnen etwas sagen: würde Bildung noch einen allgemeinen Wert haben, dann würde meine Arbeit reichen. Aber was verlangt unsere Gesellschaft? Abwechslung, Unterhaltung, Skandale, Gerüchte, Sensationen. Wissen Sie, dass es bald nur noch drei bestimmende Sprachen geben wird? Mandarin, Spanisch und Englisch. In Afrika werden sich die Menschen mit Suaheli behelfen, aber Afrika zählt nicht, es ist nur noch Schürfgebiet für Rohstoffe, von Konzernen aus der Erde gepresst, völlig gleichgültig, wie die Arbeiter reden, die dort wie Sklaven graben. Und wir Wissenschaftler wollen wieder ganz besonders sein und bedienen uns unserer eigenen Ausdrucksweise. Ja … ja … ich schweife ab. Sensationen wünschen Ihre Zuschauer? Mein Leben ist so trocken wie meine Forschung. Ich schlafe wenig, esse wenig, laufe jeden Tag in der VR durch einen Buchenwald, bete jeden Morgen und arbeite 15 Stunden täglich. Aber das wollen Sie sicher nicht hören. Meine Frau ist dreißig Jahre jünger als ich. Heutzutage ziemlich skandalös, oder nicht? Sie ist Architektin, spezialisiert auf biomorphes Design. Hochbegabt, wunderschön, manchmal traurig, immer mutig. Sie kennen sicher den Neuen Petersdom in Rom. Er wurde von Helena entworfen. Haben Sie diese lichte Wehmut in seinen Formen bemerkt? Nein, natürlich nicht … Unser erstes Kind, ein adoptiertes Mädchen, ist an einer seltenen Infektion gestorben. Es gibt Neider, die behaupten, ich hätte das Kind versehentlich mit einem Laborvirus infiziert. Sie werden davon nichts in meinen Unterlagen finden, es wurde nie eine Untersuchung durchgeführt. Das ist der Vorteil, wenn man ein Forscher ist und dem Konzern lukrative Patente verschafft. Viel Verdienst, unbegrenzter Datenzugang, beschützte Wohngegend. Was denken Sie, wie viele unabhängige Forschungsinstitute es gibt?

- Herr Doktor, bitte ich…

- Nicht ein einziges! Jeder Forscher muss inzwischen einen Sponsor haben, der Staatenbund hat kein Geld mehr. Und was heißt schon Staat? Gibt es so etwas überhaupt noch? Politik wird inzwischen von den globalen Konzernen gemacht. Gibt es noch Politiker, die nicht einen Gesellschaftervertrag haben? So sieht es aus – ein paar wenige, die agieren, viele andere, die mehr und mehr Zeit in der VR zubringen und Psychopillen einwerfen, und eine analphabetische Masse, die Kartoffeln anbaut und die Energienetzwerke repariert. Ein Bild … Ihre Zuseher wollen sicher einen bildhaften Vergleich … die Welt ein Meer voll mit Sklavenbooten, gesteuert von ein paar tyrannischen Kapitänen, angeheuert von mächtigen Reedern, die auf ihren Stadtinseln im Wohlstand schwimmen, umgeben von einer Großfamilie, die ihre Langeweile mit Lust betäubt und, wenn sie das nicht mehr schafft – sich umbringt. Glorious, bright future.

- Ich glaube, jetzt haben wir genug Material, ich will Sie nicht länger aufhalten. Danke für Ihre Zeit, Herr Doktor. Wir schließen unsere Sendung Persönlichkeiten im Brennpunkt gerne mit einem Zitat. Welches haben Sie für unser Publikum?

- Schönheit ist Wahrheit und die Wahrheit ist schön, soviel wisst ihr auf Erden, und das ist genug.

Versunken betrachtete Erich die Dame mit dem Einhorn, den Teppich a mon seul désir, der die Wand hinter seinen Schreibtisch zierte. Auch sie war immer meine Sehnsucht, dachte er und schaute zu dem Gemälde hinüber, das Helena in der gleichen Pose wie die mittelalterliche Dame zeigte: in ein purpurgoldenes Kleid gehüllt, ein Himmelszelt um die Schultern gelegt, stand sie in einem paradiesischen Obstgarten, umgeben von Frühlingsblumen und kleinen Tieren; sie beschenkte die Welt mit ihren Gaben, während der Löwe und das Einhorn ihr Banner mit den drei Monden im blauen Band hochhielten.

Vielleicht mag sie es deshalb nicht, kam es ihm in den Sinn, sie will keine Nachahmung sein. Der Gedanke ließ ihn erschauern und er wunderte sich, dass er ihn nicht schon früher gedacht hatte. Helenas feinfühliges Wesen kam ihm in dieser Stunde hellsichtig vor. »Sie hat mehr mit der Dame gemeinsam, als sie ahnt«, murmelte er. Behutsam strich er über die Seidenfäden, folgte den Konturen der feingliedrigen Hände. Der Raum um den Teppich war erfüllt von mildem Rosenduft. Die Zeit schien angehalten. Wie seltsam, wie ist das seltsam, dachte er. Der tiefe Gong der Eingangstür riss seine Finger von dem Webbildnis. Eilig tippte Erich einige Tasten seines Mediacenters, legte seinen Unterarm mit dem implantierten Transponderchip auf den Scanner und startete sein persönliches Notfallprogramm.

»Was für ein wunderbares Heim habt ihr euch geschaffen«, lobte Leslie und nippte an seinem Tee. »Wiener Porzellangeschirr, Vouittonstühle und diese Gemälde, fantastische Kopien! Du hast noch immer diesen Hang zu mittelalterlichen Geschichten, ein unverbesserlicher Verehrer der Romantik, mein alter Mentor.«

Stumm reichte Helena ihrem Gast noch ein Roastbeefsandwich. Leslie zwinkerte Erich zu: »Ŝi estas kaj bela kaj inteligenta.«

Während sich Leslie nach ihren Plänen für Sydney erkundigte, trat Helena ans Fenster und schob den Vorhang ein Stück zur Seite. »Warum sind Sie mit Ypsilons gekommen?« Ihr Ton glich ihrer kühlen Schönheit, nie hatte Erich sie mehr geliebt, auch wenn ihre Liebe vergangen war wie Schnee in der Märzsonne.

»Nur zu unserem Schutz, meine Schöne.« Leslie streckte sich auf dem Sofa aus. »Ich will nicht von einer marodierenden Bande gestört werden. Euer Haus liegt nicht gerade im besten Wohnbezirk. Aber jetzt seid ihr vernünftig geworden. Sydney ist herrlich, ihr werdet sehen, ich habe drei Jahre dort gearbeitet. Die Stadt ist nicht mehr so trocken wie früher, blühende Gärten und Parks, und die Wohnblöcke des äußeren Rings sind so geschickt angelegt, man vergisst fast, dass zwanzig Millionen dort hausen. Ihr werdet am Gelände von Mandala wohnen, nicht wahr? Mit Blick aufs Meer.«

Gerade als Erich antworten wollte, hüpfte der Junge ins Speisezimmer, Reste von Schokolade klebten an seinem Kinn. Lächelnd beugte sich Helena zu ihm hin und wischte mit einer Serviette das kleine Gesicht und die Hände ab. Er lief hinaus und kam wieder, mit einer Schüssel Erdbeeren, die er wie einen Schatz balancierte und nicht aus den Augen ließ. Vorsichtig stellte der Junge die Früchte vor Helena auf den Tisch. Sein kleines Gesicht strahlte. »Für dich, Mama. Die ersten sind reif.«

In diesem Moment erst bemerkte der Junge den ihm fremden Mann, starrte gebannt auf die silbernen Abzeichen an Leslies Uniform. Als er diese näher betrachten wollte, fasste Helena ihn an der Hand und zog ihn mit sich zum anderen Sofa. Die Schüssel mit den Erdbeeren stellte sie auf ihren Schoß.

»Ein wirklich hübscher Junge. Er ist klein für sein Alter, kommt das vom vielen Gemüse, das du ihm gibst? Das werden wir bald ändern.« Leslie zwinkerte Helena zu, die ihn mit gerunzelter Stirn anstarrte.

»Sie sollten langsam zum Grund Ihres Besuches kommen, falls es mich auch etwas angeht. Daniel muss bald schlafen gehen und ich lese ihm dann eine Geschichte vor,« sagte sie kühl. Für einen Augenblick verschwand der verbindliche Ausdruck auf Leslies Gesicht, dann lächelte er, stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Erich wollte protestieren, er wusste, dass Helena den Rauch nicht leiden konnte, aber er schwieg.

»Natürlich betrifft es dich auch«, erwiderte Leslie. »Du musst ein paar Sachen für Daniel packen. Ich bin gekommen, um ihn mitzunehmen. Mandala wird ihn adoptieren.«

»Nein!« Erich brauchte einige Sekunden, bis er begriff, dass der Schrei von ihm gekommen war. Unbeeindruckt rauchte Leslie weiter, stippte die Asche in die Teetasse.

»Mein alter Freund, ich verstehe deinen Unmut, aber es wird dem Jungen gut gehen. Wirklich. Er wird in einem schönen Haus aufwachsen. Aber du musst verstehen, dass wir ihn nahe an den Labors brauchen.«

»Aber wir können uns doch weiter um ihn kümmern«, keuchte Erich.

»Das wirst du nicht können, wenn du Professor an der Victoria Hochschule bist. Eine wirklich angenehme Position. Du kannst Mandala dankbar sein, denn sie verzichten auf eine Anzeige. Immerhin hast du jahrzehntelang ihre Forschungseinrichtung für private Zwecke verwendet. Es ist bereits alles geregelt. Daniel kommt nach Hongkong.«

Nachdem er die Zigarette in der Tasse ausgedämpft hatte, setzte sich Leslie neben Helena auf das geblümte Sofa. Sie zog den Jungen an sich und barg seinen Kopf an ihrem Körper. Der Erdbeergeruch verdrängte langsam den Zigarettendunst. Während Leslie sich vorbeugte, nahm er eine der Früchte aus der Schale und sagte kauend zu dem Jungen: »Wir werden uns prächtig verstehen, Kumpel, ich zeige dir jede Menge Zaubertricks.«

Helenas Antlitz war milchweiß und ihre Stimme zitterte: »Ich werde das nicht zulassen. Sie haben kein Recht dazu, gleich wie hoch Ihr militärischer Rang sein mag. Wir haben Freunde in der Geschäftsleitung von Mandala. Was sind Sie für ein Mensch, einer Mutter ihr einziges Kind zu nehmen?«

Noch immer lächelnd langte Leslie nach einer weiteren Erdbeere. »Alter Freund, du hättest ihrem Erbgut ruhig etwas mehr Sanftheit beimischen können. Aber was ich wirklich lustig finde, ist, dass eine genetisch modifizierte Kreatur in einem Glashaus biologische Erdbeeren züchtet. Also das erheitert mich ungemein!« Er schluckte die Frucht, etwas Saft rann aus seinem Mundwinkel.

Noch um einen Hauch blasser starrte Helena ihn an und rief: »Babilaĵo.«

»Ach, du hältst das für Unsinn? Ich stelle dir zwei Fragen: Warum wehrt sich dein Göttergatte nicht viel mehr? Warst du schon einmal krank?«

Die Schüssel mit den Erdbeeren fiel zu Boden und zersprang anklagend. Verwirrt starrten Helenas azurblaue Augen zuerst auf Leslie dann zu Erich hinüber. Noch immer hielt sie den Jungen umklammert, doch nun schien es, als stütze sie sich auf ihn. Leslie weidete sich an ihrer hilflosen Geste und fischte eine weitere Erdbeere vom Parkett. Plötzlich kam deren Geruch Erich aufdringlich vor und ein saurer Schwall drängte zu seiner Kehle hoch.

»Daniel, jetzt sieh dir deine Eltern an. Hast du schon einmal so fassungslose Menschen gesehen? Ach nein, wie denn auch.«