Codename Valkyrjar - Alauda Roth - E-Book

Codename Valkyrjar E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

Der Dritte Weltkrieg findet im Internet statt, er fordert kaum Opfer, fegt aber die Nationalstaaten von der Landkarte und bringt einen globalen Führer an die Macht, dessen religiöser Meritokratie die Menschen in den Megastädten willig huldigen. Ein paar tausend Emigranten haben sich an die eisfreien Ränder der Westantarktis geflüchtet und für unabhängig erklärt. Niemand weiß, wie lange der digitale Diktator die Abtrünnigen dulden wird. Marineleutnant Ryan Frey und Ex-CIA-Agentin Ragna Norderstedt müssen dringend ihre Spionin Hilda in eine Satellitenbodenstation in Sydney einschleusen, um die letzte Exklave zu beschützen.

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Seitenzahl: 289

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Zum Buch

Der Dritte Weltkrieg findet im Internet statt, er fordert kaum Opfer, fegt aber die Nationalstaaten von der Landkarte und bringt einen globalen Führer an die Macht, dessen religiöser Meritokratie die Menschen in den Megastädten willig huldigen.

Ein paar tausend Emigranten – Wissenschaftler, Militärs und Freidenker – haben sich an die eisfreien Ränder der Westantarktis geflüchtet und für unabhängig erklärt. Niemand weiß, wie lange der digitale Diktator die Abtrünnigen dulden wird.

Marineleutnant Ryan Frey und Ex-CIA-Agentin Ragna Norderstedt müssen schnellstmöglich ihrer Spionin Hilda einen Zugang zur Satellitenbodenstation in Sydney verschaffen, um die letzte Exklave zu beschützen.

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

Freiheit ist nicht Freiheit zu tun, was man will, sie ist die Verantwortung, das zu tun, was man tun muss.

Yehudi Menuhin

Inhaltsverzeichnis

Christchurch, 22. Oktober 2084

Ross Island, 26. Oktober 2084

März 2041

Mai 2041

Juni 2041

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

Juli 2041

August 2041

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

September 2041

November 2041

Dezember 2041

Jänner 2042

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

Februar 2042

Ende Februar 2042

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

März 2042

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

Juli 2042

August 2042

September 2042

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

September 2042

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

Ushuaia, Dezember 2044

Himinbjörg, 26. Oktober 2084

Christchurch, 22. Oktober 2084

Der Dritte Weltkrieg begann am 01. Jänner 2041 mit einer Mail und war in Lichtgeschwindigkeit vorbei. Er war ein Gewinnspiel. Menschen sind Spieler. Zeig ihnen einen roten Knopf mit »nicht drücken« …

Ob es ein User an einem Ein-Dollar-Computer-für-die-Welt war, der den Anhang geöffnet und weitergeleitet hat, oder ein Onlinejunkie im Reihenhaus eines Vororts – am Ende hat das keine Rolle gespielt. Einer hat gedrückt. Oder eine.

Eine Kaskade entstand und ein paar Minuten später haben die Industrienationen in ihrer bisherigen Form nicht mehr existiert. Kurz darauf ging die restliche Welt unter. Die wenigen Landstriche ohne Internetverbindung bekamen erst ein paar Tage später mit, dass die Machtverhältnisse andere waren. Aber den Bewohnern dieser entlegenen Dörfer war egal, ob sie diesem oder jenem Herrn dienten.

BUDDHA hatte die Macht ergriffen. Eine allsehende Präsenz, darauf fokussiert, das Beste für die Menschheit zu tun. Und das Beste war Hörigkeit. Es begann ein Regime des Lächelns.

Nur ein Ort leistete Widerstand. Nein, nicht ein gallisches Dorf. Sondern ein Dorf am Ende der Welt: MacTown.

Paul seufzt und schiebt den Text rauf und runter. »Etwas dick aufgetragen, oder?«

»Geht schon«, sagt die Redakteurin. »Ist ja nur für eine Einweihung zur Jahrestags-Feier. Da darf es schon ein wenig klassisch sein.«

»Kommt Präsident Frey?«

»Der zukünftige Präsident Frey – die Angelobung ist erst in zwei Wochen. Ja, er kommt. Übrigens: Hast du schon deinen historischen Rückblick für den Festakt entworfen?«

»In Grundzügen. Aber der Text kommt blutleer daher. Wenn du weißt, was ich meine.«

Sie runzelte die Stirn. »Du hast dich darum gerissen, etwas über die Widerstandsbewegung zu schreiben. Wir haben das für die Sondernummer zur Angelobung schon eingeplant, da musst du jetzt durch.«

»Ich will auch keinen Rückzieher machen. Mir liegt daran. Aber alles, was ich bisher habe, wirkt so glatt. Nein, glatt ist das falsche Wort.« Er dachte nach.

»Konstruiert?«, versucht es die Redakteurin.

»Auch nur fast. Alles ist so …« Paul trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. »So ohne Brüche, ohne Differenzen. Als wären sich alle immer einig gewesen. Ein gerader Weg ohne Verirrungen. Das kommt mir seltsam vor.«

»Geschichtsschreibung ist ein Rückblick, da ist immer alles schlüssig zusammengestellt, du wirst in den offiziellen Dokumenten nichts anders finden. Warst du schon einmal bei einem, der länger auf Ross Island in der Administration gearbeitet hat?«

Paul winkt ab. »Bei einem Techniker, aber der hatte nur langweilige Aufzählungen zu bieten.«

Die Redakteurin dachte nach. »Wie ist es mit den Eltern von Edward Frey? Die wohnen auf Ross Island. Halten sich ziemlich von allem fern. Admiral Ryan Frey und seine Frau Ella. Sie war übrigens meine Lehrerin in der Grundschule, bevor wir von McMurdo weggezogen sind. Sie konnte ganz tolle Geschichten erzählen. Mit den beiden solltest du sprechen. Obwohl – Ella Frey ist erst 2045 nach Antarktika gekommen.«

»Hm. Er ist ein Kriegsheld, nicht wahr?«

»Als Krieg würde ich die paar Scharmützel nicht bezeichnen. Aber Admiral Frey ist eine Legende unter den Seeleuten. Er hat lange die Marineakademie in Dunedin geleitet und das Segelschulschiff AS Guardian kommandiert. Nach 150 Jahren war er der erste Kapitän, der Kap Hoorn nur mit dem Wind umschifft hat. Keiner kennt den Südlichen Ozean besser als er. Vielleicht weiß er eine fetzige Anekdote aus den Tagen der Militärregierung, mit der sich dein Essay aufwerten lässt.«

Paul reibt sich das Kinn. »Wie alt sind die beiden? Mitte siebzig, oder? Zahlt sich das aus? Ist doch ein ziemlich weiter Flug.« Er springt auf und trommelt vor der Redakteurin auf den Schreibtisch. »Bin im Archiv. Muss zuerst mein Geschichtswissen aufpolieren.«

Die New Press hatte 2044 das Archiv der The Press übernommen, das noch immer im alten Redaktionsgebäude untergebracht war. Paul fährt mit dem Fahrrad in die Gloucester Street. In der Frühlingsluft treiben Blütenblätter vorbei und er kauft sich am Hagley Park bei einem Straßenhändler ein Eis. Auf einer Parkbank in der Sonne sitzend, beobachtet er die Menschen. Nur vereinzelt telefoniert ein Passant mit einem mobilen, netzwerkfähigen Gerät. Die Verwendung ist auf Regierung, Militär, Einsatzkräfte und medizinisches Personal beschränkt. Wie rückständig wir doch sind, denkt er. Und das selbstgewählt, wie bei den Amish in den früheren Vereinigten Staaten.

Vor einem Monat hatte Paul ein lange erwartetes Visum für ein Wochenende in Sydney erhalten, um eine Opernaufführung zu besuchen. Gleichzeitig konnte er seine Neugier auf eine der Megastädte des Nordens befriedigen. Kurz nach der Ankunft hatte er ständig geglaubt, dass die Leute ihn ansprechen. Bei ihnen konnte man die Kommunikationstechnik nicht einmal mehr erkennen. Ohne die kybernetische Führerin wäre er an diesem Ort der dauerhaften Vernetzung völlig verloren gewesen. Er war sich wie ein Alien vorgekommen. Die reizende Roboterdame war ihm anfangs ein wenig seltsam erschienen, aber dann das ganze Wochenende hinweg eine amüsante Begleiterin gewesen. Wieder zu Hause, hatte er zum ersten Mal schmerzhaft wahrgenommen, wie altmodisch seine Heimat war.

Beim Eingang zum alten Redaktionsgebäude winkt Paul dem Portier zu und radelt in den Hof. Die Brandschutztür zu den Räumen ist unversperrt, beim letzten Erdbeben in Christchurch hat sich der Rahmen verzogen und sie schließt nicht mehr ganz. Bisher haben sie noch keine Reparatur angefordert. Das Archiv ist öffentlicher Raum und wie eine Bibliothek geführt. Zwei Mitarbeiter achten auf die Ordner und Mikrofilme, teilen die Schreibtische zu und ermahnen Säumige, alles wieder ordentlich einzuräumen.

Paul zieht sein Tablet aus seiner Umhängetasche, legt es auf eine Filzunterlage und schließt es an. Mit einem Seidentuch reinigt er die Oberfläche, fährt das Betriebssystem hoch. Das Gerät war ein Geschenk zum Studienabschluss. Seine ganze Familie hatte zusammengelegt. Er hat die Aufführung von Madame Butterfly darauf festgehalten. Aufgrund von Quarantänebestimmungen durfte kein netzwerkfähiges Gerät über die Grenze gebracht werden, aber Paul hatte sein Tablet mit dem Journalistengepäck hinaus und wieder nach Christchurch zurück geschmuggelt. Er wollte einfach auf sein Zweitgehirn nicht mehr verzichten.

Trotz der früheren multimedialen Präsenz hatte die The Press – im Gegensatz zu anderen Medienunternehmen – bis zuletzt ihre Artikel ausgedruckt und physisch gelagert. Paul hebt ein paar Aktenordner vom Regal. Hätten sie das nicht gemacht, wären alle historischen Unterlagen vor 2041 verloren gewesen. Im Jänner 2042 hatte die Südinsel von Neuseeland alle Internetverbindungen gekappt und die meisten privaten Computer im Land wurden zur Bauteileverwertung für kommunale Steuerungssysteme beschlagnahmt.

Paul blättert durch die Ordner 2030 bis 2040: Der Fokus der Berichterstattung lag auf den wachsenden Spannungen zwischen den Anrainerstaaten der Arktis, die über die Grenzziehung der Fördergebiete stritten. Zum Vorteil der südpolaren Gebiete. Der Antarktisvertrag wurde einstimmig verlängert, auch weil eine Rohstoffgewinnung durch die zunehmenden Stürme auf 50° südliche Breite immer schwieriger wurde. Die meisten Staaten hatten ihre antarktischen Forschungsstationen aufgegeben, um die Gelder der Prospektion im Nordpolarmeer zufließen zu lassen. Die Vertragsunterzeichnung war das letzte Zusammentreffen der Staatengemeinschaft, danach war die UNO aufgelöst worden.

Im Juli 2040 war die Pandemie ausgebrochen, die einer halben Milliarde Menschen das Leben gekostet hatte. Im Jahr darauf wurde Pjöngjang durch Kobaltbomben aus Russland vernichtet und auf hunderte Jahre verstrahlt, nachdem ein verirrter Marschflugkörper aus Nordkorea die Stadt Wladiwostok getroffen hatte. China hatte nicht eingegriffen, sich aber im Anschluss die gesamte koreanische Halbinsel einverleibt. Auch das war ohne Sanktionen geblieben; die USA waren gerade innenpolitisch damit beschäftigt sich in Ost- und Weststaaten zu trennen und Alaska war aus dem Staatenbund ausgetreten, um sich Kanada anzuschließen.

Er sucht aber einen anderen Vorfall. Den Keim, der es möglich gemacht hatte, dass sich in McMurdo und Montalva der Widerstand formieren hatte können. Begonnen hatte es im argentinisch-chilenischen Grenzkonflikt, dem der zweite Falklandkrieg folgte. Der Fund einer ergiebigen Goldader am Cerro El Toro, die sowohl Chile als auch Argentinien für sich beanspruchte, hatte zu einem Einmarsch argentinischer Truppen in Chile geführt. Großbritannien kam seinem chilenischen Bündnispartner zu Hilfe; Brasilien mischte sich auf Seiten Argentiniens ein; Peru und Bolivien besetzten den Norden Chiles. Am Ende des Konflikts waren die Grenzen neu gezogen: Chile existierte nicht mehr. Dafür bildete jetzt der äußerste Süden Amerikas den Staat Patagonien mit der Hauptstadt Comodoro Rivadavia, in den ein Großteil der chilenischen Bevölkerung flüchtete.

Paul schließt den letzten Ordner aus 2040. Im nächsten findet er eine Grafik über die Routen der Klima-Flüchtlinge und die eisernen Vorhänge, die der Neue Norden aufgezogen hatte.

Die Archivarin, eine junge Frau mit rotbraunem Pferdeschwanz, schaut um die Ecke. »Kaffee?«

Paul schaut auf. »Haben Sie welchen? Wirklich?«

Sie nickt und winkt ihn verschwörerisch mit sich. Paul nimmt seinen Computer und folgt ihr in eine kleine Küche. Der Duft des frischgebrühten Kaffees lässt ihn schwindeln.

»Kleines Geschenk von einem Verehrer«, sagt sie. »Aber ohne einen Plausch schmeckt er nur halb so gut.«

Die Archivarin schenkt ihm eine Espressotasse ein, sie stoßen an und nippen. »Suchen Sie etwas Spezielles?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich verschaffe mir gerade einen historischen Überblick. Gibt es nicht mehr zu den Jahren zwischen 2041 und 2044 als die paar Mappen? Besonders über Antarktika? Ich dachte, es wurde jede Besprechung der Militärregierung dokumentiert?«

»Nicht bei uns. Vielleicht ist noch etwas bei der Administration in McMurdo?« Sie überlegt. »Aber eigentlich ist alles aus Asgard nach Christchurch geschafft worden. Das Taylor Valley wurde geräumt, nur die Richtantennen sind geblieben.«

Er spitzt die Lippen. »McMurdo? Wen kann ich dort kontaktieren?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen, da müssen Sie ins Ministerium.« Sie trinkt ihren Kaffee mit genussvoll geschlossenen Augen zu Ende.

Paul kehrt zu seinem Leseplatz zurück, säubert noch einmal die Oberfläche seines Tablets und blättert weiter durch die Ausdrucke, Notizen und Fotos. Ein Blatt weckt sein Interesse, er fotografiert es ab: Der Funkspruch vom 02. Jänner 2041, der damals die Kapitäne einiger Schiffe im Südpolarmeer dazu gebracht hatte den Befehlen ihrer Kommandozentralen zu misstrauen und die Antarktis anzulaufen: »Mayday Mayday Mayday – this is National Science Foundation, Polar Station McMurdo McMurdo McMurdo. Position Ross Island. Folgen Sie keiner Anweisung von Sendern mit Standpunkt nördlich von 60° südlicher Breite. Globale Machtübernahme durch nicht identifizierte Gruppe befürchtet. Trennen Sie alle Satelliten- und Internetverbindungen und nehmen Sie Kurs auf Marinestützpunkt Montalva auf King George Island. Over.«

Kein Vermerk weist darauf hin, wer diesen Funkspruch abgesetzt oder veranlasst hat, aber Paul nimmt an, dass einem IT-Spezialisten etwas im Datenverkehr aufgefallen sein musste. McMurdo konnte damals relativ rasch reagieren, da sie zwar über Satellit an das weltweite Netz angebunden, aber in ihrer lokalen Verwaltung autonom gewesen waren. Nach dem Ausdruck mit diesem Funkspruch sind nur noch fragmentarische Unterlagen abgelegt und die Dokumentation geht erst nach der September-Offensive 2042 weiter. Viele von Pauls Fragen bleiben unbeantwortet. Was war genau in diesen zwanzig Monaten des antarktischen Widerstandes passiert? Ein Gefühl der Dringlichkeit baut sich in ihm auf, dessen Ursache er nicht ergründen kann. Er weiß nur, dass das ungemein wichtig ist. Wen soll er als nächstes befragen? Eine Idee setzt sich in ihm fest. Paul packt rasch zusammen und eilt dem Ausgang zu.

»Mister Norton, sind Sie noch da?« Die Stimme der Archivarin hält ihn zurück.

»Bereits auf dem Sprung.«

»Warten Sie. Ich habe da etwas. Ein Blatt aus einem verwitterten Karton, mit der Aufschrift Asgard … Alles andere daraus wurde vernichtet, aber die eine Seite hat man übersehen.« Sie legt sie ihm hin. »Können Sie als Andenken behalten, ist nichts besonders.« Sie gibt ihm eine Klarsichthülle.

Paul überfliegt die Liste, eine Aufstellung von Ausrüstungsgegenständen, und sie kommt ihm ganz und gar besonders vor. Vor allem die Unterschrift elektrisiert ihn: Ryan Frey.

In der neuen Redaktion angekommen, bucht er sofort einen Platz am wöchentlichen Flug nach Ross Island und fragt bei der Administration von McMurdo nach einem Besuchstermin bei Admiral Frey. Die Ablehnung kommt prompt und bestärkt Paul in seinem Vorhaben. Er muss unbedingt nach Himinbjörg, zur Himmelsburg.

Ross Island, 26. Oktober 2084

Holpernd setzt die alte Lockheed LC-130 J auf dem Phoenix Flugfeld auf. Fast meint Paul, das Eis unter sich knirschen zu hören. Er hält sich an den Seitenstreben seines Sitzes fest. Immer wieder sagt er sich, dass das Ross Schelfeis tragfähig genug ist. Die Maschine stoppt und er seufzt. Die Sonne blendet ihn, als er die Gangway betritt, und der Wind reißt ihm fast seine Reisetasche aus der Hand. Ächzend öffnet sich am Heck des Flugzeuges die Laderampe und Arbeiter fahren Container heraus. Ein blaues Raupenfahrzeug steht neben der Lockheed, um Passagiere aufzunehmen.

Während er auf den Transfer wartet, betrachtet Paul die weiße Landschaft. Vom Meer ist hier nichts zu sehen, rundum erstreckt sich nur windgefurchte Eisfläche. Vor dem Bus kann er in der Ferne die Berggipfel von Ross Island erkennen: Mount Terror, der niedrigere Mount Terra Nova und Mount Erebus, an dessen langgestrecktem, südlichem Ausläufer die Stadt McMurdo liegt.

Oder wie die Einheimischen sagen – MacTown.

Stockend setzt sich der Raupenbus in Bewegung, Paul stößt sich das Knie. Der Fahrer schnauzt ein paar Sätze ins Mikro, die Paul nicht versteht. Er schließt die Augen und denkt mit Sehnsucht an den Gleitflug nach Sydney. An die sanft wiegenden, autonomen Solarkapseln, die alle Reisenden einzeln am Flughafen aufnehmen und automatisch gesteuert an jeden gewünschten Ort in der Stadt absetzen. Auf dem Weg dorthin mit der Noosphäre der Stadt verbinden, die alle nötigen Informationen personalisiert bereitstellt.

Langsam ruckeln sie über das Schelfeis, erklimmen eine felsige Anhöhe und die Stadt taucht auf. Noch immer leben knapp dreitausend Menschen in McMurdo und auch wenn einige Bauten inzwischen aus verputztem und bunt angestrichenem Isolierbeton bestehen, wirkt die Siedlung im grellen Sonnenlicht provisorisch. Ein Haufen Blöcke und Zylinder, in Jahrzehnten wahllos hingeworfen. Ungeordnet wie in einem Kinderspielzimmer, nur dass hier zuerst wissenschaftliches Personal und Militärs hatten spielen dürfen. Heute leben Familien hier, es gibt einen Kindergarten und eine Schule mit allen Schulstufen. Was treibt Menschen bloß dazu im ewigen Wind und endlosem Eis zu leben? Ohne es zu müssen.

Das Raupenfahrzeug hält. Paul steigt als Letzter aus und sieht sich suchend um. Eine Hand tippt ihn an, der Fahrer zeigt auf ein grüngestrichenes Gebäude ein paar Meter die schneematschige Straße hinunter. Paul dankt und marschiert zur Administration. Längst sollte sie Stadtverwaltung heißen und der gewählte Volksvertreter Bürgermeister. Aber die Bevölkerung hat beschlossen, die Bezeichnungen aus jener Zeit beizubehalten, als McMurdo noch eine US-amerikanische Polarstation der National Science Foundation war und vom Pentagon verwaltet wurde. Unerwartet schnell bekommt Paul seine Bestätigung für die Weiterreise, ein Ticket für das Helikoptertaxi und einen Fahrer, der ihm zum Heliport bringt.

Im Gegensatz dazu war der Beginn seiner Reise holprig gewesen. Mehrere Anläufe und die persönliche Fürsprache von Kapitän Inga Frey waren nötig, damit Paul eine Einladung nach Himinbjörg bekam.

Er kannte die ältere Schwester des neuen Präsidenten von einem Interview, das er vor zwei Jahren anlässlich der Schiffstaufe der Fregatte AS Albatros gemacht hatte, einem der neuen Patrouille-Segler. Seitdem führte er Ingas Nummer unter seinen nützlichen Kontakten.

Am Ende ihres Telefonates sagte sie noch: »Das wird nicht so einfach sein, Paul. Mein Vater ist ganz schön eigenwillig und meine Mutter nicht minder. Sie sind ziemliche Eigenbrötler. Wir nennen ihn heimlich Last Sea Lord.«

Der Skidoo-Fahrer bringt ihn zum Heliport und Paul steigt sofort in die kompakte Flugmaschine mit der großen Glaskuppel, steckt die Hände unter die Achseln. Trotz des Sonnenscheins ist ihm kalt.

Der Pilot schaltet die Standheizung höher, dreht sich um und sagt: »Noch ein paar Minuten, Sir, wir nehmen auch gleich Vorräte mit.«

Während ein Mann in Overall den Frachtraum belädt, öffnet Paul ein Bild auf seinem Tablet und zoomt hinein. Es zeigt den Befehlsstab kurz bevor die Schiffe in das entscheidende Gefecht ausgelaufen waren: Im Vordergrund Luftwaffengeneral Victor Haldan, ein korpulenter Mann, der ihn an den früheren US-Präsidenten Donald Trump erinnert, ohne dessen ewig schmollenden Ausdruck; rechts von ihm ein hochgewachsener Mann in Marineuniform, mit auffälliger Hakennase, zerfurchten Gesichtszügen und sanften Augen, die Bildunterschrift weist ihn als Admiral Edward Byrne aus; links von Haldan ein kleinerer Mann mit dichten, schwarzen Locken, einer violetten Narbe über der Wange, die ihm ein kriminelles Aussehen verleiht, und der Einzige, der breit grinst. Paul hat ihn einmal kennengelernt: Greg Yetman, ein Astrophysiker und bis zu seiner Pensionierung der Administrator von McMurdo. Hinter dem Triumvirat der damaligen Militärregierung reihen sich weitere Leute, Frauen und Männer des Beratergremiums. Paul sucht ein bestimmtes Gesicht, identifiziert es anhand der Bildbeschreibung, zoomt weiter hinein. Ernst starrt Ryan Frey in die Kamera: einen halben Kopf größer als Admiral Byrne, stahlgraue Augen unter markanten Augenbrauen und ein energisches Kinn. Die Haarfarbe lässt sich unter der Uniformmütze nicht erkennen. Neben seiner Schulter ein Kopf mit rotblonder Strubbelfrisur und gewitzten Augen. Eine mollige Frau, die Paul nur zu gut kennt, da sie die Rektorin seiner Universität gewesen war – Doktor Inga Helskjør.

Trotz der Windböen bringt der Pilot den Helikopter ruhig in die Höhe und steuert die linke Flanke des Vulkans an. Zwanzig Minuten später geht das Helitaxi tiefer und Paul sieht am Sockel des rauchenden Mount Erebus zu ersten Mal in natura Himinbjörg. Dramatischer geht es kaum mehr, denkt er. Feuer und Eis. Was für ein abgefahrener Wohnort.

Das mehrstöckige Haus, das ein ganzes Dorf enthält, war einmal ein Kreuzfahrtschiff. Überraschend wenig musste umgebaut werden, um eine dauerhafte Siedlung darin unterzubringen. Der frühere Name ist verwittert, aber Paul kann ihn noch am Heck entziffern: EUROPA, Nassau.

Der Pilot landet neben der mit Stahltrossen fixierten Falltreppe und Paul klettert heraus. Eine vermummte Frau, mit einem dick verpackten Kleinkind an der Hand, wartet bereits und besteigt das Helikoptertaxi, nachdem Paul im Freien ist.

Der elegante weiße Bug von Himingbjörg zeigt nach Norden. Als hätte das Schiff gerade auf Cape Evans angelegt und die Touristen strömten gleich heraus, um das Kapitän Scott-Museum zu besuchen, bevor man sie nach Cape Royds zur Kolonie der Adeline-Pinguinen schippern würde. In Wirklichkeit war der Rumpf im Felsboden der Insel verankert worden.

Neben der Luke in der Schiffswand wartet ein uniformierter Wachposten und hält ihn auf. »Sicherheitskontrolle, Mister Norton. Bitte kommen Sie mit.«

»Ich bin angemeldet. Bei den Freys«, protestiert Paul.

»Natürlich, Sir, hierher kommt man nur mit Anmeldung. Aber trotzdem wird jeder Besucher kontrolliert.«

Eine Frau mit Bürstenhaarschnitt, gleichfalls in Uniform, schickt ihn in einen Körperscanner und räumt seine Tasche aus. Entsetzen packt ihn, als sie seinen Computer in eine Metallkiste legt und auch das Medienarmband, mit dem er das Gespräch hatte diskret aufnehmen wollen.

»Keine Elektronik, Sir«, sagt der Uniformierte.

Er kann sich nicht verkneifen zu sagen: »Befürchten die beiden Herrschaften etwa ein Attentat?«

Die Frau zieht eine Grimasse und der Wachposten erwidert: »Wir haben hier auch ein sehr exklusives Hotel, das bestimmte Leute aus Nordantarktika als Rückzugsort betrachten. Ein paar Mal haben schon Klatschreporter versucht sich einzuschleichen. Sie verstehen?«

Paul gibt seinen Widerstand auf, Promis haben den längeren Atem. Die Soldatin versperrt die Kiste, stellt sie in ein Regal hinter sich und gibt Paul wortlos die Schlüsselkarte. Der Uniformierte drückt ihm grinsend einen Block und einen Stift in die Hand, weist ihm den Weg.

Am Vordeck angekommen, nimmt Paul den Aufzug zum Loft, das einmal die Brücke des Schiffes gewesen ist, und in dem jetzt Admiral Frey und seine Frau residieren. Bevor er zur Wohnungstür geht, schaut er sich noch einmal um. Wie muss es hier oben sein, wenn die Winterstürme um den Stahlkoloss toben, fragt er sich.

Paul klopft an die Eingangstür und sofort wird ihm aufgemacht. Er hatte eine Haushaltshilfe erwartet, aber der Admiral öffnet ihm persönlich. Niemand sonst ist in dem großen Raum mit der weißen Holzdecke zu sehen und Paul betritt den seltsam leeren Wohnraum.

Ryan Frey hat die aufrechte Haltung und den wachen Blick, die viele Männer auszeichnet, die ein Leben lang im Dienst der Marine gestanden haben. Er begrüßt Paul mit einem festen Händedruck und führt ihn zu einem wuchtigen dunkelgrünen Ledersofa. An einem Ende liegt ein sorgfältig gefaltetes Plaid. Das Sofa steht mitten im Raum, gegenüber einer dem Schiffbau geschuldeten schräggestellten Fensterfront, die das ganze vordere Halbrund einnimmt. Die Blickrichtung ist so geschickt gewählt, dass der Eindruck entsteht, auf ein Triptychon zu schauen: rechts der Vulkankegel des Mount Erebus, in der Mitte die blauweißen Eisschollen der Polynya des McMurdo Sound, im linken Teil die Bergkette der Asgard Range. Surrend kommt ein Couchtisch von nebenan, mit Teekanne, Tassen, einem Tablett voller Sandwiches und einem aufgeschnittenen Marmorkuchen. Erst jetzt bemerkt Paul die schlanke Frau, die dem Admiral in seiner aufrechten Haltung gleicht.

»Meine Frau Ella«, stellt Admiral Frey sie vor. Eine hellbraun getönte Brille mit Goldrand ziert ihr schmales Gesicht und ihr weißes Haar ist zu einer komplizierten Frisur aufgesteckt. Sie legt die Fernsteuerung des Robotertisches auf eine Anrichte neben der Küchentür, zieht ihre dunkelrote Stola zurecht und nickt Paul kurz zu. Dann setzt sie sich an den Esstisch in der Ecke und schiebt einen Korb mit Strickzeug zu sich her. Wie in einem Heimatfilm, denkt Paul und sieht sich weiter um.

Auf einem Wandbrett über der Anrichte steht ein zerlesenes Buch, ausgestellt wie ein Kunstwerk. Ein schmales Schriftwerk mit blauem Leineneinband, darauf der mattgoldene Aufdruck eines Zweimasters mit gerafften Segeln – Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Ein Buch aus einer ganz anderen Zeit.

Paul schmunzelt über diese Marotte. Während der Admiral ihnen einschenkt, holt sich Paul einen Stuhl vom Esstisch, setzt sich auf die andere Seite des Tisches, dessen Oberfläche eine Blumenwiese abbildet.

Picknick, wie nett, denkt Paul, und hier soll ich eine gute Erklärung bekommen? Schon bereut er, die anstrengende Reise auf sich genommen zu haben.

Er betrachtet ein bronzefarbenes Astrolabium, das an einer Kordel an der Wand gegenüber hängt. Admiral Frey folgt seinem Blick und sagt: »Ein letztes Andenken vom Antarctic Ship Edinburgh, es hat mich mein ganzes Seefahrerleben begleitet.«

»Sie waren schon Offizier auf der Fregatte, als sie noch ein britisches Kriegsschiff war, nicht wahr? Wie hatte es das Schiff nach Montalva verschlagen?«

»Global Combat Ship, um genau zu sein. Wir waren auf Patrouille und haben die HMS Protector begleitet. Der Eisbrecher hatte gerade Wissenschaftler von der Halley-Station abgeholt, als wir einen seltsamen Funkspruch der Admiralität erhalten haben. Kapitän Craig und Kapitän Pickard entschieden sich, diesem nicht zu folgen. Kurz darauf kam schon die Warnung aus McMurdo. Wir sind in Montalva eingelaufen und haben versucht herauszufinden, warum die Welt verrückt geworden war.«

»Was war Ihr erster Eindruck?«

»Mein persönlicher?«

»Ja.«

»Ich habe nicht darüber nachgedacht. Kapitän Craig hat befohlen und wir sind ihm gefolgt. Er war ein guter Kommandant, gerecht und erfahren. Wir hätten nie seinem Befehl widersprochen.«

»Aber sie müssen doch einmal nachgefragt haben?«

»Das war nicht nötig. Sofort nach unserem Einlaufen in Montalva haben sich alle Angehörige der Royal Navy in der Versammlungshalle eingefunden und Vize-Admiral Byrne hat uns informiert. Besser gesagt, die Nachrichten weitergegeben, die er aus McMurdo und Punta Arenas hatte. Zum Rest der Welt bestand kein Kontakt mehr. Außer der Edinburgh und der Protector waren noch das Global Combat Ship Plymouth und das Atom-U-Boot Achilles am Stützpunkt eingelaufen. Gefolgt von der Princess of the Sea, einem Kreuzfahrtschiff, und der Vostok, einem Eisbrecher, der illegal auf Fischfang im Südlichen Ozean war.« Nachdenklich blickt Admiral Frey beim Panoramafenster hinaus, seine Gedanken scheinen abzuschweifen, hin zu den längst recycelten Schiffen.

Paul kennt das von seinem Großvater, wenn der von früheren Zeiten erzählt, und räuspert sich, um den alten Seemann wieder in die Spur zu bringen. »Eines konnte ich in keiner Aufzeichnung finden: Wann wurde der Entschluss gefasst, sich dem gesamten Norden entgegen zu stellen?«

»Entschluss?« Admiral Frey runzelt die Stirn. »Nein, Entschluss gab es keinen. Zumindest nicht so, wie Sie sich das vielleicht vorstellen, mit Diskussionen und Meetings.«

»Wie hat es dann angefangen? Die Idee vom Widerstand? Von einer antarktischen Gemeinschaft?«

»Eines Morgens wurden wir durch Rufen und Schreien geweckt. In zehn Minuten waren alle auf den Beinen, starrten einen blauweißen Punkt im Meer an, der sich näherte. Die Jerrys fielen auf die Knie und weinten, wir jubelten und die Iwans begannen zu singen. Die Patagonier wussten nicht so recht, welche Verrücktheit uns Europäer plötzlich befallen hat. Und dann war sie da und ankerte neben unseren Schiffen. Die alte Dame der Polarforschung hatte Kapstadt fluchtartig verlassen und auch den Weg nach Montalva gefunden. Seitdem ist sie das sentimentale Symbol unser aller Hoffnung.«

»Die Polarstern«, flüstert Paul.

Der Admiral nickt. »An Bord Norweger, Briten, Deutsche, Japaner, Franzosen, Dänen und Amerikaner. Die Polarstern war dann noch Jahrzehnte im Einsatz und niemand hätte sich je getraut sie zu verschrotten. So ist sie ein schwimmendes Denkmal in Dunedin geworden.« Er beugt sich vor, nimmt seine Tasse und trinkt einen Schluck Tee. »Fragen Sie mich nicht warum – vielleicht, weil dieses Schiff der Inbegriff für Zusammenarbeit war, unabhängig von Staaten und Ideologien – aber von diesem Morgen an wusste jeder von uns, dass wir gemeinsam versuchen würden hier auf Dauer zu überleben. In dieser Eiswüste, in der Leben gegen jede Wahrscheinlichkeit existiert.«

Plötzlich erkennt Paul, warum ihm dieser Raum so seltsam vorkommt: Keine einzige Pflanze ziert die Wohnung. Bei einem früheren Besuch auf Ross Island hatte er in jedem Büro und jedem Haus eine Batterie von Zier- und Gemüsepflanzen gesehen, manchmal auch kleine Obstbäume und Orchideen. Das Ehepaar Frey scheint nichts dafür übrig zu haben. Wie hält man diese Kargheit bloß aus, denkt Paul. Das Gespräch ist ins Stocken geraten und er weiß nicht so recht, wie er sein eigentliches Anliegen vorbringen soll. Die Frage, die ihn seit Tagen immer wieder beschäftigt.

Admiral Frey scheint ihn zu durchschauen, auch wenn dessen unbewegte Miene fast nicht zu lesen ist. »Warum sind Sie denn zu uns gekommen? Was wollen Sie wirklich wissen?«

»Äh … alles scheint so glatt und dann gibt es da einen auffälligen Bruch in der Geschichtsschreibung. Von einem Tag zum nächsten plötzlich diese Meinungsänderung bei allen Beteiligten. Wie ist es dazu gekommen? Zu dieser Kooperation mit … mit …Meister Buddha.«

Der Admiral zieht die Brauen minimal hoch und Paul beeilt sich zu sagen: »Ich weiß nicht, wie man ihn richtig anspricht. In Sydney haben sie ihn so genannt.«

»Sie waren im Norden?«

»Nur drei Tage und zwei Nächte. Sonst wüsste ich es vielleicht besser. Gemessen an der Modernität dort ist Christchurch ziemlich zurückgeblieben. Ich bin eben ein Landei.« Dann fällt sein Blick auf die Isolation rund um das Stadtschiff und er verstummt. Was fasle ich da nur für einen Schwachsinn, denkt Paul, und wechselt lieber das Thema. »Was ist Valkyrjar?«

Dieses Mal zieht der Admiral deutlich die Brauen hoch und mustert ihn eingehend. »Wo haben Sie diesen Ausdruck her?«

»Aus dem Archiv. Ein einzelnes Blatt, aus einem Ordner mit Materialanforderungen.«

»Was stand dort genau?«

»Eine Ausrüstungsliste, die mir seltsam vorgekommen ist. Und darunter: Code Valkyrjar. Von Ihnen genehmigt.«

Ryan Frey neigt den Kopf und putzt ein paar unsichtbare Krümel von seiner dunkelblauen Hose. »Wenn ich Ihnen von Valkyrjar erzähle, junger Mann, muss ich Sie danach erschießen.«

Paul zuckt zusammen. Ella Frey legt ihr Strickzeug weg und kommt zu ihnen herüber. Sie setzt sich auf die Sofalehne, legt ihrem Mann die Hand auf die Schulter und sagt: »Erzähl es ihm ruhig, mein Lieber. Es ist so lange her. Die meisten sind tot und vergessen. Und er wird nichts davon veröffentlichen.«

Paul hat sich wieder gefasst. »Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Madame Frey. Die New Press lässt sich nicht zensieren.«

Ihre Mundwinkel ziehen sich leicht nach unten. »Das müssen Sie auch nicht.«

Sie geht zu ihrer Strickerei zurück, wickelt den Faden um ihren Finger. Paul nimmt den Stift und malt Kringel auf den Schreibblock. »Also, was ist Valkyrjar?«

»Nicht was, sondern wer«, sagt Admiral Frey. »Valkyrjar ist der Codename für eine Gruppe, die in Buddhas Kern eingedrungen ist.«

Paul lässt den Stift fallen.

März 2041

Das Schott fiel zu und der Luftdruck wehte die Spielkarten davon. Ein rothaariger Hüne schleuderte sein Blatt auf den Tisch. »Scheiße, Alter. Ich glaub du brauchst ein paar …« Der Mann, den Ryan wegen seiner Statur sofort Thor nannte, warf ihm einen bösen Blick zu, sah die Uniform unter der Parka und verstummte.

Es roch nach Alkohol und Hanf. Ryan fragte sich, woher der verwahrloste Trupp beides hatte. An einem Ort, an dem selbst ein Laib frisches Brot ein Glücksfall war. Seine Augen hatten sich an die schwache Innenbeleuchtung im Container gewöhnt und er erkannte hinter der Pokerrunde einen weiteren Tisch, an dem eine Frau saß. Die Füße weit von sich gestreckt, sah sie den Spielern mit halbgeschlossenen Augen zu. Als er sich näherte, schlug sie die Beine übereinander, die Jeans rutschte ein Stück hoch und gab silberbeschlagene Cowboystiefel frei. Dazu trug sie ein schwarzes Sakko. Ryan blieb vor ihr stehen und nahm die Uniformmütze ab. »Commander Norderstedt?«

Sie nickte und eine blonde Strähne löste sich aus der Aufsteckfrisur.

»Kapitänleutnant Ryan Frey von der Edinburgh. Ich wurde Ihnen als Verbindungsoffizier zugeteilt.«

Sie lachte leise. »Nicht so förmlich, Limey. Wir sind hier alle casual. Mein Name ist Ragna.« Sie winkte ihn näher. »Und warum meint der alte Hal, dass du zu uns passen könntest?«

»Sie haben General Haldan nach jemanden mit Erfahrung im Gerätetauchen gefragt, Commander. Mein Profil hat gepasst.«

Ragna holte eine unbeschriftete Flasche aus einem Karton hinter sich und schenkte zwei Gläser ein. »Zieh dir den Stock aus dem Arsch. Taucherfahrung also? Schnorcheln in der Karibik?«

Die Männer am Nebentisch kicherten.

»SBS. M-Squadron«, antwortete Ryan.

»Uh. Special Boat Service. Antiterroreinheit.« Ragna drehte sich zu ihren Leuten hin. »Seid nicht frech, Jungs, der Limey kann zuschlagen.« Ihre rauchig geschminkten Augen blitzten. »Jetzt setz dich endlich, Ryan. Stoßen wir auf eine gute Zusammenarbeit an.«

Er zog einen Stuhl heran, hängte die Parka über die Lehne. »Ich trinke keinen Alkohol.«

»Wir sind gerade nicht im Dienst …«

»Auch privat nicht.«

Sie zog einen Schmollmund. »Jetzt wird es schwierig.«

Ein drahtiger Mann, den Ryan wegen der Narben im Gesicht Machete nannte, stellte ihm eine Limonade hin.

»Siehst du? Das nenne ich eine Mannschaft«, Ragna grinste, »ich brauch gar nichts sagen, die wissen von selbst, wann sie zu spuren haben.«

Sie stieß mit ihrem Glas gegen die Flasche, trank aus und schenkte sich nach. »Also, was habt ihr Navy-Leute die letzten Wochen so getrieben?«

Ryan runzelte die Stirn, jeder wusste von den Evakuierungsmaßnahmen. Ragna schien seine Frage zu ahnen und sagte: »Ich war einige Wochen in Patagonien unterwegs.«

Ryan antwortete: »Menschen und Material von allen zugänglichen Forschungsstationen holen. Wir können alles und jeden an Ressourcen brauchen. Es wird nicht so bald Nachschub von außen geben.«

»Du bist also zwei Monate herumgeschippert. Keine Kampfeinsätze?«

»Nun, Eisbären gibt es hier bekannterweise nicht und die Wissenschaftler sind freiwillig mitgekommen.«

Ragna stützte das Kinn auf ihre Hand und musterte ihn. »Die Reflexe solltest du noch draufhaben und du siehst trainiert aus. Na gut – willkommen im Team.«

»Wir unterstehen General Haldan?«, wollte Ryan wissen.

Sie nickte und beugte sich vor, gewährte ihm einen Blick in den Ausschnitt ihrer Bluse. »Bleiben alle Forscher hier. Wie viel ist ihnen bekannt?«

»Ähnlich wie bei den Schiffsmannschaften und den Touristen. Ein paar haben kleine Kinder, die wollten zurück und wir haben sie nach Tasmanien gebracht. Die Behörden in Hobart schleusen sie weiter. Aber die meisten haben beschlossen zu bleiben und abzuwarten, nachdem wir ihnen die Analyse von Doktor Yetmans Team vorgelegt haben. Wobei – am Ende hat sie wahrscheinlich Syawal überzeugt.«

»Wer ist Syawal?«

»Ein Programmierer aus der Aktivisten-Gruppe, die aus EVOKE den Buddha-Algorithmus entwickelt haben. Kurz vor der Freisetzung hat Syawal nicht mehr mitmachen wollen und sich abgesetzt.«

»In die Antarktis?«

»Die Mondflüge waren ausgebucht.«

»War das gerade ein Versuch witzig zu sein?«

Ryan zog eine Braue hoch. »Seine Worte, nicht meine.«

»Somit haben wir noch Glück gehabt, den Typen hier zu haben. Und er hat Glück, dass wir ihn brauchen.«

»Ich glaube, für ihn war das Projekt anfangs ein positiver Beitrag zur Gesellschaft. Ein Werkzeug, um Wege zu finden, die akuten Klimaprobleme zu lösen. Mit dem umfassenden Datensatz hätte das eigentlich gut funktionieren müssen. Mit EVOKE waren weltweit in Online-Spielen tausende Lösungsansätze gesammelt worden.«

Ragna lehnte sich zurück und wippte mit der Stiefelspitze. »Was ist dann schiefgelaufen?«

»Buddha ist ein komplexer Deep-Learning-Algorithmus und hat anscheinend in Kürze gelernt, wo das eigentliche Problem dieser Welt liegt: In der menschlichen Natur.«

»Oder das spiegelt die Philosophie seiner Erschaffer wieder«, warf Ragna ein.

»Schon möglich, am Ende aber egal. Buddhas Auftrag ist, das Beste für die Gesellschaft zu tun und dabei die Umweltressourcen zu schonen. Das hat es unverzüglich gemacht und den Menschen die Befehlsgewalt entzogen. Und wären die Probleme nicht so vielschichtig, hätte es auch Antarktika gleich okkupiert und wir hätten keine Zeit gehabt uns abzunabeln.«

»Warum interessiert es sich überhaupt für uns paar Ausreißer?«

»Seiner Ideologie nach haben wir hier nichts verloren. Die Antarktis gehört der ganzen Welt und wir haben sie unrechtmäßig besetzt. Buddha hat in den Ballungszentren mit der Umgestaltung der Gesellschaft begonnen. Syawal meint, dass wir noch eine Gnadenfrist bekommen.«

Ragna nickte. »Dann werden wir einmal in die Hände spucken und uns vorbereiten. Übrigens: Wie schätzt du den Kommandanten von Montalva ein? Vize-Admiral Byrne?«

»Er hat noch nie die Segel dem Wind überlassen«, antwortete Ryan.

»Wie bitte?«

»Er überlässt nichts dem Zufall. Ein guter Militärstratege, als Mensch eher zurückhaltend.« Er trank den Rest der Limonade aus. »Ich bin direkt vom Schiff gekommen und muss mich noch um ein Quartier kümmern.«

Sie nickte und zupfte an seinem Ärmel. »Morgen um neun Einsatzbesprechung. Und dann bitte keine Uniform. Besorg dir einen Kampfanzug oder einfach Jeans, Pulli und Funktionsjacke. Waffen bekommst du von uns.«

Ryan stand auf, um zu gehen.

»Ach – und noch was …«