Sex, Drogen, Rock 'n' Roll und Jesus - Joachim Hammann - E-Book

Sex, Drogen, Rock 'n' Roll und Jesus E-Book

Joachim Hammann

4,7

Beschreibung

Unser Held, der junge Philipp Klausmann, will ein bisschen das Leben kennenlernen und er lernt gleich die ganze Welt kennen: Rockmusik, die ersten Mädchen, Schülerprotest, die erste Liebe, den ersten Sex, Studentenprost, den antiautoritärem Kampf, den Kampf gegen Alt-Nazis und Neonazismus und gegen die Notstandsgesetze, Philosophie, Psychologie und Soziologie, Marx, Adorno und Marcuse, Swinging London, die erste große Liebe, Amis raus aus Vietnam, Jimi Hendrix, The Grateful Dead, make love not war, Sex in allen Variationen, weg mit den Büstenhaltern, her mit der Pille, LSD, Grass und Haschisch, Meskalin und Opium, Drogenhändler und Drogenfahnder, die Flucht aufs Land, Kommune, Krishnamurti, Zen-Buddhismus, Bibellektüre, Meditation, Yoga - und dann den unaufhaltsamen Abstieg. Der Wahnsinns-Trip, den Philipp so naiv und unbekümmert um die Folgen begonnen hat, und der lange Zeit sehr lustig war, entbirgt irgendwann auch seine dunkle Seite: die schönsten Liebesbeziehungen gehen kaputt, es gibt Horror-Trips, die ersten Drogentoten, die ersten Selbstmorde, und es endet bei allen, auch bei Philipp, mit schlechtem Sex, Enttäuschung und Verzweiflung. Philipp muss unglaubliche Anstrengungen unternehmen, um wieder zur Normalwirklichkeit und zu sich selbst zurückzufinden. Sex, Drogen, Rock & Roll und Jesus ist nicht nur das Porträt einer Generation und ein Schlüsselroman über die Sixties, sondern auch ein Entwicklungs- oder Bildungsroman, der sich ganz bewusst in eine große deutsche Tradition stellt, und im Übrigen in einen Zusammenhang von jugendlichen Initiationsdramen gehört, von denen die besten in der damaligen Zeit entstanden sind: ... denn sie wissen nicht, was sie tun, Die Reifeprüfung, American Graffiti, Quadrophenia und Die letzte Vorstellung. Es geht um das zeitlose Thema des Reifens eines Jünglings zum Mann - das alles konkret und authentisch hineingestellt in die vielleicht aufregendste und hoffnungsvollste Epoche des vorigen Jahrhunderts.

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People try to put us d-down

Just because we get around

Things they do look awful c-c-cold

I hope I die before I get old

My generation

This is my generation, baby

Why don’t you all f-fade away

Don’t try to dig what we all s-s-say

I’m not trying to cause a big s-s-sensation

I'm just talkin’ ‘bout my g-g-generation

The Who: My Generation, 1965

I’m gonna wait till the midnight hour

That’s when my love begins to shine,

I’m gonna take you, girl, and hold you

And do all things I told you, in the midnight hour

höre ich. Wilson Pickett. Uh! Ah! Geil.

Lichter schießen aus schwarz lackierten Himmeln, warm ist es hier drin, zu warm, ich schaue auf die Uhr: kurz vor der midnight hour. Ich frage mich, ob ich noch bleiben soll, gute Frauen sind nämlich keine da. Mir ist so heiß, draußen Hochsommer, hier drinnen Hitzewelle, der Schweiß steht mir auf der Stirn, weicht meinen Hemdkragen auf. Mann, haben die keine Klimaanlage?

Ich stehe da, Glas in der Hand, Wodka Tonic, schaue ziemlich gelangweilt in der Gegend herum und lasse meinen Blick über das Tal schweifen, wie mein Lieblingsschriftsteller so schön gesagt hat (abwarten, folks, die Pointe kommt noch!). Zum Tanzen ist es mir zu heiß, ich dampfe, puh, in the midnight hour.

Ich denke mir, ich hau jetzt ab, das bringt nichts mehr. Ich stelle das Glas ab und drehe mich um, da sehe ich — sie.

Sie geht an mir vorbei, hat mich gar nicht wahrgenommen. Oder tut jedenfalls so, sie ist eine Frau, da kann man nie wissen. Ihr wiegender Gang, was für ein Gang! ist von einer selbstvergessenen, tierhaft-unbewussten Natürlichkeit, was mich sie richtig anstarren lässt. Sie hat die makellosesten wohlgeformtesten schlanksten und längsten Beine, die ich je gesehen habe. Den Minirock müssen sie ausdrücklich für sie erfunden haben, thank you, Mary Quant! um zu demonstrieren, wie überirdisch schön und mit welch magischer Kraft begabt Frauen sein können und wie unglaublich leicht es ihnen fällt, Männern den Verstand zu rauben oder sie auf gefährliche Reisen zu schicken, zu denen aufzubrechen sie selber, ohne die Anregung einer Frau, nie wagen würden.

Ich schaue ihr den ganzen Weg nach, die Beine, die Beine! wie sie zur Tanzfläche geht. Geht...? Es ist kein Gehen, es ist ein Gleiten.

Körper schwingen in dunkelblauen Sphären, illuminiert von langsamen elektrischen Explosionen. Synthetisches Wetterleuchten wellt träge durch den Raum. Der schwadige Rauch künstlichen Nebels schlingt sich wie Natterngezücht um Spinnenbeine und Satyrenfüße, verwandelt die Realität zur Unwirklichkeit und lässt die Geisterrunde des Feenreigens und Bockstanzes gänzlich zur mitternächtlichen Erscheinung werden.

Es ist noch immer unerträglich schwül. Dumpfer Donner grollt hinter fernen schwarzen Hügeln, dröhnt aus den dunklen Kavernen des Daseins. Sommergewitter. Gleich wird es blitzen. That‘s when my love begins to shine.

Als sie auf die Tanzfläche kommt, beginnt doch tatsächlich das Stroboskop zu flackern, BLITZ! und lässt ihre Bewegungen wie in Momentaufnahmen gefrieren. BLITZ! Was für eine Inszenierung! Hingerissen schaue ich, sehe die lebendige Statue einer Göttin in immer neuen Posen erstarren, BLITZ! einen Arm hochgerissen, den Kopf nach hinten geworfen, die Hüfte zur Seite gedrückt. BLITZ! den Po herausgestreckt, den Unterleib vorgeschoben, ein Bein angewinkelt, BLITZ! die langen blonden Haare geschwungen. Was für Augenblicke! BLITZ! Meinen Augen werden Momentaufnahmen aus dem unendlichen Zelluloid des Lebens vorgespielt. BLITZ! bin ich erstaunt, was es für vielschichtige, unerschöpfliche, immer wieder neue Manifestationen des Weiblichen gibt! Sie ist Jungfrau und Mutter; Hure und BLITZ! Heilige; Ischtar und BLITZ! Aphrodite; Maria und BLITZ! Magdalena; ist in jedem Augenblick dieselbe und immer BLITZ! eine andere, stets neugeboren.

Frauen!

Ich werde umgehauen, hingeworfen, niedergeworfen… Muss mich auflösen angesichts dieser Schönheit, wegen dieser Schönheit. Wegen dieser Hitze hier drin. Blond, mit langen Haaren, und mit Pony! — na, endlich mal eine! — schlank, nee, dünn, mit drei einfachen Worten: ganz mein Typ. In zweien: meine Traumfrau. In einem: WOW!

Die Stroboskopblitze hören, das war gerade der letzte Blitz, auf. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Gewitter hat auch Beethoven gehabt (zu anderen Zeiten).

Und endlich sehe ich die ganze Bewegung ihres Körpers in einem ununterbrochenen Fluss. Wenn mir eben schon warm war, dann heiß, so habe ich nun das Gefühl, zu kochen. Wäre doch schade, wenn ich jetzt schon verbrühte! In der Sonne meiner Jungmännerblüte! (Oder war das die Blüte meines Jünglingsschattens? Egal!) Mit einundzwanzig! Die Glorie des frühen Heldentods, was für ein Blödsinn! Nicht mit mir! Leben will ich, weiterleben.

Quatsch, weiterleben! Leben!

Das Leben beginnt ja gerade erst — im allerschlimmsten Fall, ohne SIE je kennen zu lernen. Einmal, wie alle anderen Menschen auch, die Chance gekriegt, ein paar Jährchen auf dieser Kugel zu tanzen, aber dann nichts draus gemacht. Ein völlig sinnloses und vertanes Dasein…

Ich versuche, ruhig zu werden und meine Körpertemperatur herunterzufahren, damit ich — nix Kochfleisch sein, nix Grillhähnchen, schnell den weiblichen Menschen(=Männer-)Fressern aus dem Suppentopf gesprungen — ein bisschen weiterleben kann.

Und so stehe ich da, mäßig paralysiert, mächtig fasziniert, Gefühle, Gedanken und Sinneswahrnehmungen mählich fokussiert, stehe da, und, Gott steh bei mir! kann nicht anders, muss diese Frau permanent ansehen und vom Scheitel bis zur Sohle mit den Augen abwandern.

Peinlich, peinlich, diese Aufdringlichkeit! Hoffentlich bemerkt sie die! Nein, doch nicht, sie scheint woanders hinzusehen. Oder…? Sie ist eine Frau, man kann nie wissen. Habe ich schon erwähnt.

Ihr Körper pulst rhythmisch, ihr Unterleib schlängelt geschmeidig, flutende Schwingungen bewegen ihre Hüften, Wellen durchlaufen ihren Körper, Strom und Fortgang, von oben nach unten, von der Quelle bis zum Meer, von der Wolke bis zum Regen, Blitz, Donner und erlösende Flut.

A propos Wasser: ich fühle, wie mir der Schweiß literweise den Rücken hinunterläuft — die Unterhose, das Sakko, die Jeans, das Hemd, heute, in dieser heißen Nacht, völlig überflüssige Kleidungsstücke! Aber völlig nackt, aber dafür simmernd im Kochtopf vor den gierig glänzenden Augen vernaschkatziger Kannibalinnen — das ist auch keine Alternative!

Sieh an, sieh an, meine Gefühle und Gedanken beginnen schon, in die unteren, die sogenannten niederen Sphären abzuschweifen, aber ehrlich, ich kann nicht anders, ich muss diese scharfe Frau weiter anglotzen und lasse meinen Schweif über das Tal blicken (kapiert? siehe oben!).

Ich überlege, ob sie dieselben pantherhaften Bewegungen auch im Bett haben wird, diesen runden Ablauf ohne störende Ecken, diese organische Geschmeidigkeit ohne hemmende Verklemmtheiten, diese tiefe Nachgiebigkeit ohne aufhaltende Barrieren, diese weiche Anschmiegsamkeit ohne…

I’m gonna take you girl and hold you, will ich und denke an, uh! Sex! Ah! in the midnight hour.

Ich erinnere mich noch ganz genau (ich denke, ihr spürt das, Leute!), wie ich Jana das erste Mal gesehen habe — wie sie da vor mir vorbeiging, sorry, glitt, im »Big Apple«, in jener heißen Julinacht.

Es muss ein Donnerstag Abend gewesen sein. Der Donnerstag war für Eingeweihte ein ganz besonderer Wochentag. Donnerstags ging »man« aus, die Kenner hieß das, wir, die Düsseldorfer. Am Wochenende, ab Freitag, kamen die Landeier und die Bauernlümmel in die Stadt.

Ich verknallte mich sofort in Jana. Ein besonderer Tag. Eine außergewöhnliche Nacht. Liebe auf den ersten Blitz. Danach war nichts mehr dasselbe.

An einem Sommermorgen ward ich jung;

Da fühlt‘ ich meines eignen Lebens Puls

Zum erstenmal – und wie die Liebe sich

In tiefere Entzückungen verlor,

Erwacht‘ ich immer mehr, und das Verlangen

Nach innigerer, gänzlicher Vermischung

Ward dringender mit jedem Augenblick.

Wollust ist meines Daseins Zeugungskraft…

Solche Sachen gibt’s: dass der Vorhang der Maja aufgemacht, nein, weggerissen wird, und man plötzlich auf der Bühne des Lebens, grell, wenn auch kurz, beleuchtet, das Geheimnis der Welt, die Wahrheit des Daseins, die Lösung des Rätsels der Existenz, unverstellt, unverschleiert, BLITZ! klar und deutlich sieht — wenn auch zu kurz, die Augenblicke in der Ewigkeit haben leider die unangenehme Begleiterscheinung nicht wirklich real zu sein — und sofort weiß, dass es das ist, worauf es im Leben ankommt. Und nur das.

Und dass das, was einem die Verbrecherbande erwachsener Arschlöcher, als da sind Eltern, Lehrer, Priester, Professoren, Philosophen, Politiker, Vorgesetzte und alle möglichen anderen, selbsternannten Autoritäten über das Leben und Gott vorlabern, völliger Mumpitz ist. Die haben keinen blassen Schimmer!

Herr, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Vor allem dann nicht, wenn sie einem Film über Jugendliche, die den ganzen Scheiß der Erwachsenenwelt nicht mehr ertragen können, den Titel ...denn sie wissen nicht, was sie tun gaben. (Der Originaltitel ist Rebel Without a Cause.) Dabei wissen die Jugendlichen ganz genau, was sie tun! Nur die erwachsenen Blödmänner und Blödfrauen wissen es nicht.

Herr, sei ihnen gnädig! Die armen Schweine haben »es« — »es« heißt: worauf es im Leben ankommt — vermutlich irgendwann vergessen.

Solche Sachen gibt’s — diese Spontanerkenntnisse, Be- und Erleuchtungen, dieses überraschende Zusammenprallen mit…? diese evokativen Berührungen… dieses erweckende Berührtwerden… dieses rührende Erwecktwerden… das Aufwachen aus dem Schlaf des Kindes…

Das wusste ich schon vor dieser Begegnung mit Jana.

Be-gegnung? Quatsch Begegnung! Berührung! Befreundung.

Das, also dies erleuchtende Moment, hatte ich nämlich schon einmal erfahren, und zwar an jenem Morgen im Mai, als ich meinen Klassenkameraden Nick — als wir beide wieder einmal die ersten beiden Stunden Sport schwänzten — bei Tchibo von den Rolling Stones und ihrer neuen Platte Satisfaction erzähle, die ich zwischen Aufstehen und Zur-Schule-Fahren auf BFN, dem britischen Soldatensender, gehört hatte, und in der eine unfassbare elektrische Energie losgelassen wurde, die mich aus den Latschen gehauen hat.

Ich werde halb verrückt vor Aufregung und Unfähigkeit, Nick, dem Sologitarristen unserer Schülerband The Rabbeats, klarzumachen, wie dieses Riff von Keith Richard geht, damit wir — ich bin Schlagzeuger, dann haben wir noch einen Rhythmusgitarristen und einen Bassisten — es bald nachspielen können: Dammdamm, da-da-daa! Da-damm-dammm. Damm-damm, da-da-daa! Da-damm-dammm…

Dieses Riff, das dann zum berühmtesten Riff der ganzen Rock-Geschichte werden sollte.

Das wussten wir damals natürlich noch nicht. Aber dass Satisfaction »es« war, dass die Stones »es« waren, das wusste ich schon, das war mir an diesem Morgen klar geworden, und das wurde, hoffentlich bald auch Nick klar.

Und dann, ein paar Jahre später, würden es alle kapieren… Na, ja, viele, sehr viele. Viele Millionen Jugendliche auf der ganzen Welt.

Und allerhöchstens drei bis fünf — hattet ihr was anderes erwartet? — Erwachsene.

Jana und die Rolling Stones in allen Ehren…

…aber wenn ich noch einmal darüber nachdenke, wo und wann es so richtig losging, das heißt, wo ich zum ersten Mal kapiert habe, worauf es im Leben ankam, wann ich mit, hm, dem, das, ihm, ihr…? in Berührung gekommen bin, — WANN MEIN LEBEN BEGANN — dann bin ich fast sicher, dass es in München begann. An einem Sonntag Nachmittag im Februar, am letzten Faschingswochenende.

In den schattigen Winkeln hockt noch die Kälte des Winters fest, aber wir haben schon das Ende der dunklen Jahreszeit und der Erstarrung erreicht. Wir stehen am Beginn des neuen Lebens. Es ist noch nicht zu sehen — vielleicht kann man im Kalender nachsehen, ob es schon so weit ist —, aber es ist bereits in der Luft, schon in den Gräsern, in den Pflanzen, in den Bäumen. Es liegt im schmutzigen Rinnstein — Monate alte, von der langen Nässe weich und grau und unkenntlich gemachte Papierfetzen tauchen wieder unter dem schmelzenden Schnee auf.

Es ist da, ist sowieso schon da, ist ja nie, auch in der längsten und dunkelsten Nacht nicht, verloren gegangen, kommt nur wieder.

Es ist Karneval, Fasching, wie das in München heißt, und das bedeutet, dass man, sozusagen bei allererster Gelegenheit, auch wenn es noch Winter ist, aber man weiß es ja besser, den Neubeginn des Lebens nach dem Tod des Winters feiert.

Man lebt, ist aber irgendwie »tot« gewesen, hat in einem psychischen, emotionalen und geistigen Winterschlaf gelegen und jetzt wird man wach, wird aus kalten, schwarzen Grabestiefen zurückgeholt, knospt und blüht und…

Ich bin vierundzwanzig Jahre alt und der Frühling kommt. Mit Jana habe ich wieder einmal Streit, und sie ist nicht dabei.

Der Münchner Königsplatz war damals ein großes, mit Steinplatten gepflastertes (heute begrastes) Viereck, das eine Zufahrt hat, hinaus und hinein, und das an den anderen drei Seiten von neoklassizistischen Gebäuden eingerahmt wird.

Bekannte Münchner Rock-Gruppen spielen an diesem Tag. Man hat Bühnen vor den drei Gebäuden aufgebaut. Auftreten soll auch die Gruppe Amon Düül.

Amon Düül — dieser wunderliche Name ist Programm. Alle Gruppen, die ähnlich sonderbare Namen haben, sind psychedelische Gruppen.

Mich wundert, dass viel mehr Zuhörer vor der Bühne der Amon Düül als vor den Bühnen der anderen Rock-Gruppen stehen. Und die Amon Düül spielen noch nicht einmal! Hier warten mehr Leute als bei den anderen Gruppen zuhören.

Die Düüls haben anscheinend Probleme untereinander oder sie lassen sich Zeit mit dem Aufbau. Ich spüre eine ungute Stimmung, da gibt es irgendwelche Missverständnisse, kreative Differenzen, störenden Streit. Statt dass wir uns gut fühlen, weswegen wir ja hergekommen sind, fühlen wir uns unwohl. Schlechte vibrations.

Wir warten, mein Internats- und Jugendfreund Alexander und ich, warten vor der leeren Bühne, wie viele andere auch, warten lieber ins unnennbare Leere hinein — wo sonst macht man neue Erfahrungen, Leute? —, warten auf eine neue Erfahrung, auf die Erfahrung von etwas Anderem. Und nicht auf die Wiederholung alter Erfahrungen.

Es liegt etwas in der Luft. Ich spüre das, Alexander fühlt es, die anderen müssen das auch merken. Etwas Vielversprechendes. Ungekanntes, Unbegreifliches, aber schon deutlich Gespürtes, ein unendlich Großes, überwältigend Starkes, sich Ereignendes, die strahlende Sonne seines Schattens bereits Vorauswerfendes.

Aber es kommt nicht.

Alexander und ich warten trotzdem. Zunehmend unruhiger. Wenn doch die Düüls endlich spielen würden! Aber sie spielen nicht, sie kommen auf die Bühne, diskutieren, streiten, gehen wieder runter.

Wir schlendern unentschlossen hinüber zu den anderen Gruppen, hören da ein bisschen zu. Aber wir sind gelangweilt und enttäuscht: Das ist nicht das, was wir hören wollen. Also gehen wir wieder zurück. Stehen wieder vor der Bühne der Düüls. Und warten. Die spielen noch immer nicht, kommen zwar wieder auf die Bühne, aber diskutieren, bauen um.

Der Himmel drückt grau, zeigt sich in der bekannt-unattraktiven Spätwinter-Farbe Blei. Kein Sonnenstrahl wärmt, kein lindes Lüftchen weht. Winterliche Frostigkeit kriecht in unsere Kleider, macht schon die Füße gefühllos, die Beine steif.

Der Königsplatz präsentiert sein schlecht gelauntes, wenig herrschaftliches Gesicht: Mauern, Wände, Platten, Dächer. Schnee und Eis. Alles ist Kühle, Erstarrung, Versteinerung. Keine Musik erklingt, keine Melodie wird gespielt, die diese Steine zum Tanzen bringt, die Herzen zum Klopfen, die Seele zum Himmelsflug. Es ist kein guter Tag. Wir sehen nur Hässlichkeit und Düsternis, spüren Kälte, fühlen Härte und Schwere, stoßen uns an Abwehr und Undurchdringlichkeit. Keine Tür geht auf in eine schönere Welt.

»Philipp! Lass uns abhauen«, höre ich Alexander sagen. Ich nicke nicht einmal Zustimmung. Wir drehen uns um und gehen sehr schnell weg.

Am Rande des Platzes treffen wir überraschend, völlig unerwartet, auf John (nicht englisch, sondern norddeutsch, hamburgerisch ausgesprochen: Joohn. Das kommt davon, wenn man aus der Ecke kommt!), einen gemeinsamen Internats-Freund.

»Hi, Burschen«, sagt er.

John strahlt von etwas unbestimmt Glühendem, das uns sofort anzieht. John ist lebendig, hat das, gibt uns das, was wir an diesem Tag von den Amon Düül erwartet, aber nicht bekommen haben.

Wir müssen ihn ganz komisch angesehen haben, denn jetzt lächelt John, wie man so sagt: unmerklich. Und wie man so sagt: wissend.

John hat die Antwort auf die große, so unbefriedigend offen gebliebene Frage des Tages. Und er gibt sie uns — nur auf unseren Blick hin, ohne dass wir ihn fragen müssen.

Er sagt nichts. Er ist die Antwort. Sein Glühen ist die Antwort. Seine Aura.

Auf einmal hat der grau-steinerne Platz Leben. Ein Lächeln. Eine Hoffnung. Etwas Gutes. Ein blaues Band. Eine linde Luft.

Da ist er endlich, der Frühlingsbote, in hellem Grün, auf strahlender Bahn: Luzifer John — der Lichtbringer, der Morgenstern, der Sohn der Aurora.

John trägt eine auberginefarbene Samthose, ein an der Brust offenes, mit Strass-Steinchen besticktes Schlabberhemd, darüber eine vielfarbige Seidenschlabberweste, leichte Mokassins an den Füßen…

Alexander und ich fragen uns: Friert der nicht? Anscheinend nicht, dem ist sogar warm... Warm? Bei dieser düsteren Kühle? Aber… Der muss doch frieren, wie wir! In welcher Welt lebt der denn, geht der jetzt? Auf dem indischen Subkontinent?

»John, hör mal, sag mal, was ist denn mit dir los?«

Das freundliche Begrüßungslächeln von eben wandelt sich zum verschmitzten Grienen des Buddhas, dem überlegenen, aber milde verständnisvollen Schmunzeln des Wissenden.

»Ich bin auf dem Trip.«

Ah. Umständliche Expositionen, weit hergeholte Erklärungen und ausufernde Rechtfertigungen sind Johns Sache nicht. Das ist meine Domäne, in der ich es zu allseits geduldeter, aber doch fragwürdiger Meisterschaft gebracht habe. John fällt gerne mit der Tür ins Haus und wirft einen um, wenn man gerade dahintergestanden und durch den Spion nach draußen ins Leben geguckt hat.

»Ich habe gestern Abend einen Trip eingeworfenen, eine eineinhalbfache Dosis. Ich bin die ganze letzte Nacht und den heutigen Tag auf Trip gewesen… Jetzt bin ich wieder ziemlich weit runter…«

Aber etwas brennt noch in ihm. Wir sehen es. Es glimmt.

Schimmert. Glüht. Leuchtet. John ist radioaktiv verseucht.

Alexander und ich schauen uns, schauen ihn erstaunt an.

»Äh, John, äh… Könnten wir, äh…?«

Wir sollten eigentlich vorsichtig sein, weil Trips, ohoh! davon lässt man besser die Finger — so haben uns jedenfalls die Erwachsenen gewarnt, die, wie inzwischen bekannt, wirklich keine Ahnung von gar nichts haben. Hinterher ist man auf nem Horrortrip, kommt nie wieder runter und macht Papi und Mami unglücklich, was man aber nicht mehr merkt. So weit ist es dann schon mit einem gekommen!

Wir sollen also vorsichtig sein. Sind wir aber nicht. Wir sind fasziniert. Verführt. Schon angesteckt.

»Einen Trip einwerfen? Natürlich könnt ihr das. Die Frage ist: Wollt ihr das?«

Wir nicken vorsichtig zustimmend, noch mit der sprichwörtlichen Angst vor der eigenen Courage.

»Jetzt?«

»Hm, äh, ja. Warum nicht?«

Alexander wendet sich mir zu: »Sollen wir?«

Ich, ganz heldenhafter Mut und desperadohafte Verwegenheit:

»Lass uns zu mir zu gehen!«

John: »Habt ihr denn Trips?«

»Öh…«

»Nö.«

»Ich glaub, ich hab noch n paar.«

John kramt in den weichen weiten Taschen seiner Hose. Wir sehen gespannt zu. Er ergreift etwas tief unten in der Hosentasche, zieht die geschlossene Hand heraus, macht sie auf.

Da liegen ein purpurfarbenes Tablettchen, zwei orangene Pillchen und ein Stück Löschpapierchen in seiner Hand.

»Ist genug da.«

Wir müssen niemanden auf dem Königsplatz nach Trips fragen, brauchen nirgendwo hinzugehen, um uns LSD zu besorgen. Wir können gleich loslegen.

»Und was ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Ja, hast du Lust mitzukommen…?«

»Hm.«

Kein Überlegen, kein Abwägen des Für und Wider, kein Blick in die Statistiken, kein vorheriges EKG und kein Durchrechnen der etwaigen Überlebenschancen bei vierzig Stunden Auf-dem-Trip-Sein.

Nur Tür ins Haus: »Ja.«

Und ich habe gerade noch von mir gedacht: verwegen, draufgängerisch, kühn, mit dem furchtlosen Blick aus stählernen Augen und der schwarzen, ungebändigt in die hohe, edle Stirn fallenden Locke eines Zorro.

Aber John? Gegen den gehalten bin ich…

Ein Blickaustausch, Kategorie: Maßlose Verwunderung. Siehe auch: Nicht ungelinde Verblüfftheit. Von Alexander und mir.

Mein Gott, wie kann der das bloß durchstehen? Wird er nicht zusammenbrechen? Einen Herzinfarkt kriegen? Einen Kreislaufkollaps? Einen Nervenzusammenbruch? Phimose der Ganglien?

Apoplexie der Synapsen?

LSD! Wahnsinn! Zwei Tage und eine Nacht auf Trip! Dieser John muss völlig verrückt sein, leichtsinnig, lebensmüde.

Aber John lächelt. Beruhigend. Alle Bedenken zerstreuend. Sicher. Gelassen. Voll innerer Ruhe. Gesammelt. Fest. Unerschütterlich. Geradezu überlegen, aber immer noch kameradschaftlichverschwörerisch.

Wir sind Freunde. Drei geistig-seelische Muskeltiere.

(D’Artagnan, das heißt: Mario, unser gemeinsamer Freund und der Vierte im John-Alexander-Philipp (das bin ich)-Bunde, tritt etwas später auf. Bitte noch etwas Geduld.)

Alexander und ich wissen, nun, ja, wir wollen nicht übertreiben, sagen wir: wir sind einigermaßen sicher, dass uns nichts passieren kann. Wir haben überhaupt keine Angst, nicht mal irgendeine Form von zitternder Aufregung vor dem großen Unbekannten.

Alexander, John und ich (und Mario) kennen uns seit vielen Jahren. Sagen wir: wir haben Vertrauen zueinander.

J‘attends une chose inconnue. Mallarmé. Nicht schlecht.

Wir gehen zu mir, wir sind bei mir, in meinem Ein-Zimmer-Appartement in der Klopstockstraße 1.

John gibt uns die zwei winzigen orangefarbenen Tabletten. Er erklärt uns, dass wir so ein Ding ganz einfach schlucken sollen und dass das Zeug nach über einer Stunde zu wirken beginne. Er werde ein Stückchen Löschpapier, da ist ein kleiner dunkler Fleck, ein Tropfen, drauf, in seinem Mund auflösen.

Gesagt, getan. Alexander und ich werfen die Trips ein. John zermümmelt das Löschpapier mit seinem überirdischen Speichel.

Lysergsäurediethylamid, kurz auch LSD, ist ein chemisch hergestelltes Derivat der Lysergsäure, die als Mutterkornalkaloid natürlich vorkommt. LSD ist eines der stärksten bekannten Halluzinogene. Es ruft schon in sehr geringen Dosen lang andauernde pseudohalluzinogene Wirkungen hervor. Pharmakologisch gehört LSD zur Gruppe der serotoninverwandten psychedelischen Substanzen. Im Jargon wird LSD auch Acid (englisch „Säure“) genannt. LSD verändert die Wahrnehmung so, dass sie dem Konsumenten als intensives Erleben erscheint, das Zeitempfinden verändert wird und Umgebungsereignisse deutlicher hervortreten. ... Eine euphorische Grundstimmung – ausgelöst beispielsweise durch eine als schön empfundene Landschaft und Musik – kann den ganzen Rausch über anhalten und den gesamten Verlauf der Erfahrung bestimmen. So können aber bestehende Ängste und Depressionen einen sogenannten „Horrortrip“ hervorrufen, der als äußerst unangenehm und als vom Konsumenten nicht mehr steuerbar empfunden wird.

Nach fast einer Stunde habe ich plötzlich einen Gedanken: Jimi Hendrix.

Ich kann diesen Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf kriegen. Jimi Hendrix.

Diese gleißenden Gitarrenklänge, diese verzerrten Töne, das Wah-wah und das Wabern, diese... eben dieses, dieses... dieses nicht Fassbare, nicht wirklich Begreifbare. Diese andere Musik. Das... das muss es sein... Diese Musik muss hochgradig, konzentriert psychedelisch sein! Psychedelisch!

Ich weiß auf einmal, BLITZ! was für eine Musik Jimi Hendrix macht.

Jimi Hendrix machte für mich bis zu diesem Augenblick Musik, die mir so gefiel wie vieles andere auch. Aber bis jetzt hatte ich diese Musik nie gehört. Nie wirklich gehört. Und wenn, dann nur mit den Ohren. Sie war unerhört geblieben.

Jetzt wird mir schlagartig klar: Purple haze is in my mind... Purple haze! Das ist doch der Name einer LSD-Sorte! Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen, wenn ich das Stück hörte? Ganz einfach: weil ich keine Ahnung hatte. Weil ich nicht wusste.

Und deswegen habe ich auch nie den Doppelsinn von Jimis Band-Namen »The Jimi Hendrix Experience« verstanden. Experience! Dabei ist das doch deutlich! Überdeutlich. Da hätte mir doch längst sternhagelklar werden müssen, um welche experience es sich handelt!

John hat schon die Sitzpolster des lila Sofas ausgebaut — das Mario mir (leihweise, für immer, also geschenkt, Prima Kumpel!) überlassen hat —, sie auf dem Boden verteilt und mit ein paar zusätzlichen Kissen eine bequeme Liegelandschaft für die kommende Reise vorbereitet.

Fachmann! Experience!

Alexander liegt faul und entspannt auf dem abgespeckten Sofa, lächelt, sagt nichts.

Nur ich…

Ich schrecke hoch. Jimi Hendrix!

»Du, John, ich glaube, ich muss jetzt unbedingt eine Jimi Hendrix-Platte hören.«

»Hast du keine?«

»Nö.«

Aufregung, fast Panik. Wir sind in München, nicht in New York, wo es Schallplattenläden gibt, hört man, die auch nachts und sonntags aufhaben.

»Jetzt noch?«

»Ja«, eine merkwürdig starrsinnige Entschlossenheit, überraschend gekoppelt mit Johns legendärer Tür-ins-Haus-Direktheit — erste Bewusstseinsänderungen? jetzt schon? —, »muss jetzt sein.«

Alexander und John schauen mich länger, prüfend, an.

Ich denke inzwischen nach: Wo kann ich jetzt bloß eine Jimi-Hendrix-Platte herbekommen?

JIMI HENDRIX

Ich bin mir sicher. Ganz sicher. Das muss jetzt sein. Egal, was

John sagt, denkt.

»Du, John, ich muss unbedingt ne Platte von Jimi Hendrix haben, das lässt mich nicht mehr los.«

John scheint kurz nachzudenken, dann nickt er: »Wenn du das jetzt wirklich so stark spürst, dann ist es echt, dann ist es richtig.

Dann vertraue deinen Gefühlen. Dann tu es. Do it! Tu es, Bursche!«

Ich tue es. Ich rufe bei Matthias an, lass lange klingeln, niemand meldet sich, ich versuche es noch mal, nichts, uh, die Zeit läuft, zwecklos, Birdie, Mist, bei Birdie ist besetzt, Gudo, bei Gudo auch, vielleicht telefoniert er mit Birdie. Ich versuche es noch einmal, frei! Ah! Endlich!

Gudo hat keine Jimi Hendrix-Platte, aber ich werde trotzdem fündig. Birdie hat, weiß er, eine Platte von Jimi Hendrix.

Electric Ladyland. Ob die gut sei?

Gut...? Passend! Perfekt!

Ich erkläre kurz, was los war: »Ich hab nen Trip eingeworfen, mit zwei Freunden, ich bin nicht mehr in der Lage, Auto zu fahren, ich kann mir die Platte nicht abholen.«

Mein Jimi-Hendrix-Gedanke muss intuitive Richtigkeit gehabt haben, Koinzidenzen umarmen mich, Synchronizitäten konstellieren sich: Gudo ist auf dem Weg zu Birdie, die beiden wollen zusammen ausgehen, er kann mir die Platte vorbeibringen. Kaum ein Umweg. Super! Für was hat man Freunde!

Eine Viertelstunde später stehen meine Freunde Birdie und Gudo in der Tür. Haben Electric Ladyland dabei.

Ich bin erleichtert. Die Nacht gehört uns. Es kann beginnen.

Das Cover von Electric Ladyland ist der helle Wahnsinn: darauf sind — nomen est omen — neunzehn nackte Frauen.

Sex, Drogen und Rock ‘n‘ Roll — so gehört sich das.

John und Alexander liegen schon beide auf dem Boden zwischen den Kissen und Polstern, nehmen Gudo und Birdie nicht mehr richtig war, sind schon in ihrem eigenen Ding.

Und ich spüre es auch — es beginnt zu wirken.

Birdie und Gudo stehen stumm auf der Schwelle, sehen uns befremdet an.

Ich bin nicht mehr Herr meiner Sinne, Reflexe, ich kann kaum Danke sagen, kann mit den beiden auf der Schwelle nicht mehr reden.

Ich lege mich zu Alexander und John auf den Boden. Wir drei gucken zu Gudo und Birdie hoch. Da ist kein Raum, keine Zeit mehr für Worte.

Gudo und Birdie begreifen das, werfen einen letzten Blick auf uns, verabschieden sich.

»Na, dann viel Spaß!«

»Danke.«

Gudo grinst aufmunternd, aber der liebe Birdie schaut ziemlich sorgenvoll.

Dann gehen sie und schließen die Tür hinter sich.

Und dann erfasst es mich, kommt näher, ist da. Macht mich innerlich warm und weit, ruhig und bereit.

Alexander und John kommen jetzt auch auf den Trip.

Ich frage: »Habt ihr was dagegen, wenn ich jetzt Electric Ladyland auflege?«

»Nee.«

»Natürlich nicht. Mach nur. Wenn du schon so scharf drauf warst.«

Ich gehe zum Plattenspieler, muss mich sehr konzentrieren, um den Tonarm noch richtig aufsetzen zu können, schaffe es gerade noch, will zurück auf den Boden zu den beiden anderen und mich zu ihnen legen — da donnern plötzlich zwei unweltliche Schläge aus den Lautsprecher-Boxen.

WAMMM!! WAMMMM!!

Was für eine power! Und dann brodelt es. Unirdisch, außerirdisch. Ich habe so etwas noch nie gehört. Jimi lässt es zischen, rauschen, gurgeln, gleißen, knattern, donnern, brummen, herumsausen, wirbeln, explodieren.

Ich habe es geahnt, gewusst!

Ich bin überglücklich. Ich strahle die anderen beiden an. Die gucken stumm zurück, aber ich verstehe deutlich, was sie mir gerade sagen: Du musst jetzt nichts erklären, Bursche, wir wissen ganz genau, was in dir vorgeht. Genau das erleben wir gerade auch.

Ein kurzes, warmes und freundliches Lächeln des allgemeinen Einverständnisses. Dann legen wir drei uns bequem hin und schließen die Augen...

TÜT TÜT! Abfahrt! Auf geht die Reise!

Jimis Klänge ziehen mich hoch. Er nimmt mich, greift mich, packt mich, wirbelt mich herum, reißt mich weg, überwältigt mich. Es ist stark, es ist gut.

Aber es ist auch stark und mächtig auf eine beängstigende, geradezu erschreckende Art. Gegen diese Kraft kann man sich nicht wehren. Das ist überwältigend, das kann mit mir machen, was es will…

Das ist zu viel… Ich spüre meine Wehrlosigkeit… Gleichzeitig weiß ich: Das ist jetzt nicht mehr zu stoppen, das ist erst dann zu

Ende, wenn es zu Ende ist. Morgen früh.

Ich ahne mit wachsender Unruhe, auf was ich mich eingelassen habe. Ich weiß, dass das jetzt mehrere Stunden dauern wird, unwiderruflich. Noch sieben, acht Stunden auf diesem unheimlichen Trip!

Ich erschrecke bei der Vorstellung, was in dieser Nacht alles passieren kann.

Ich frage mich ängstlich: Wer werde ich morgen sein? Werde ich morgen noch leben?

Ich warne jeden davor, LSD zu nehmen, wenn er nicht bereit ist, sich all seine Gewissheiten und Sicherheiten zerstören zu lassen, höre ich irgendwo in meinem Kopf einen besorgten Dr. Timothy Leary sagen.

Mir wird immer klammer zumute… Ich bekomme Angst, dass ich in dieser Nacht sterben kann.

Wie kann ich nur so einen brutal gefährlichen Unsinn machen, wie einen Trip zu nehmen?!? Habe ich nicht mehr alle Tassen im Schrank? Spiele ich leichtsinnig mit meinem Leben?

Entsetzt schlage ich die Augen auf: Da liegen John und Alexander. Und beide runzeln die Stirn! Beide haben genau die gleichen Gefühle wie ich!

Aber genau in diesem Augenblick kommt Jimis Stimme. Jimi weiß, wie es uns gerade geht. WEISS! Unfassbar! Jimi weiß genau, was wir jetzt brauchen. Er hat die experience!

Er weiß genau, was er zu tun hat. Er muss uns erst einmal beruhigen, uns die Angst nehmen. Und er tut es mit der sanftesten und liebsten und vertrauenserweckenden Stimme, die ich je gehört habe, einer Engelsstimme. Und er tut es mit den ungewöhnlichsten Worten, die je irgend jemand zu mir gesagt hat:

Have you ever been,

Have you ever been to electric ladyland?

The magic carpet waits, for you.

So don‘t you be late.

Was sagt mir Jimi da? Komm mit, halte meine Hand, vertraue mir, dir wird nichts passieren…?

Jimis Musik nimmt meine Seele, nimmt sie mit ins Electric Ladyland. Lässt mich die Erde verlassen, lässt mich ins All fliegen. Mein Geist schwillt an bis zur Größe des Kosmos, expandiert in die Unendlichkeit, kontrahiert sich ins unermesslich Kleine und explodiert dann wieder bis in die entferntesten Ecken des Alls hinein…

Jetzt erst verstehe ich, was Stanley Kubrick mir in seinem Film 2001 - Odyssee im Weltraum gezeigt hat. Auch das, genauso wie Purple Haze, hatte ich nicht wirklich begriffen, als ich den Film zum ersten Mal sah. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, um was es wirklich in diesem Film ging — was nämlich dem Astronauten widerfährt, als plötzlich das Weltall vor ihm auseinanderbricht und er in eine andere Dimension der Zeit und des Raums hineingerissen wird.

Dem passiert das gleiche wie uns hier. Das hier. Die Aufknackung des Geistes. Die schon berühmt-berüchtigte Bewusstseinserweiterung.

Das ist kein Begriff aus der Psychologie, der Philosophie oder der Pädagogik, so nach dem Motto: etwas umfassender gebildet werden, etwas dazu lernen, seinen Horizont erweitern.

Das ist ein starkes Gefühl, eine deutliche, aber nicht mit Worten fassbare, kaum mit Bildern darstellbare, aber anscheinend mit Musik (und im Film?) ausdrückbare Erfahrung. Experience. Die räumlich erlebte Erweiterung des Geistes (?), bis hinaus zu den unendlichen Grenzen des Alls.

Der englische Dichter William Blake hat gesagt, dass unsere fünf Sinne eingepfercht sind, er hat recht gehabt.

Jimi befreit sie. Das LSD befreit sie.

Ich bin nicht mehr hier in dieser Wohnung mit meinen Freunden. Ich werde von Jimis Gitarre weit weggetragen, wie von einer gewaltigen Energiewelle. Alles um mich herum wird aufgelöst, ist jetzt in mir, ist ein allumfassendes, unbegrenztes, dynamisches Energiefeld. Ich bin diese Energie. Jimi ist diese Energie.

Ich schwimme in einem kraftvollen, ständig wirbelnden Fluss, der alle Erscheinungen auflöst, ohne Stillstand, und sie nie gleichbleiben lässt. Ich erlebe die immerwährende Neuschöpfung. Die Welt wurde nicht einmal erschaffen, die Welt wird in jedem Augenblick neu erschaffen. Die Welt ist… ist Leben.

Mir fällt ein Satz ein: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Aber einmal. Einmal. Das reicht vermutlich. Dann ist man drin, weiß, wie sich das anfühlt und — will nie wieder hinaus…

Ich fühle mich, als sei ich zum ersten Mal ins Leben, ins love land, eingetaucht, wo das Leben pulsierende Energie, ständige, nie stillstehende Wandlung, ein bunter dreidimensionaler ewig dauernder nie begonnen habender nie endender immer interessanter unterhaltsamer Film ist…

Das Geheimnis des Lebens ist — das Leben.

Gott ist unendliche power, ist spielerisches Leben, ist ewige Lebendigkeit. Wer will ihn beschreiben, festschreiben, definieren, abgrenzen, sistieren? Sagen, wer oder was er sie es ist, wenn er sie es in jedem Augenblick ein anderer ist? Catch Me If You Can…

Aus ganz fernen Erinnerungen kommen auf einmal Teile aus einem Gedicht von Friedrich Hebbel zu mir:

Die Pforten entriegeln zum innersten Quell…

Ich bin‘s, der die Welle des Lebens bewegt...

Der ihre gewaltigste Strömung erregt,

Und dann, was sie innerlich eigen besitzt,

Enteilend, in‘s dürstende Weltall verspritzt…

Verspritzt?!? Ins Weltall?!?

Ich werde verzückt vor schwindelndem Glück und tanzender Energie. Ich habe einen ungeheuer lustvollen ganzkörperlichen kosmischen Energie-Orgasmus. Ich explodiere, berste brausend, zerspringe in Myriaden von Einzelteilen, Zellen, Atomen… Und die lösen sich jetzt auch noch auf und — zerfließen in nichts…

Oh, Mann! Hebbel weiß es. Muss es gewusst haben. Hebbel! Ausgerechnet! Nicht nur Jimi Hendrix und Stanley Kubrick! Nein, auch Friedrich Hebbel! Deutscher Dichter, 1813 bis 1863, von mir, bis heute, eher für eine Geistesgröße zweiter Ordnung gehalten.

Diese Worte aus Hebbels Gedicht, gerade mal erinnert, nie wirklich verstanden, diese Worte, wird mir jetzt klar, drücken es doch total aus!

Hebbel muss die Erfahrung also auch gemacht haben, sonst hätte er sie nicht so treffend beschreiben können! Experience!

Plötzlich stocke ich: Hebbel? Hebbel – ein Hippie? Die Pforten entriegeln...?!? Aber das ist, das sind doch wortwörtlich... The Doors... the doors of perception!

Friedrich Hebbel soll auf dem Trip gewesen sein? LSD genommen haben? Wann? Das kann doch nicht wahr sein! Aber wie kann er das alles gewusst haben…? Wie hatte er...? Woher...? Aber doch nicht zu der Zeit! In der Mitte des 18. Jahrhunderts! Da hat es doch noch gar kein LSD gegeben!

Eine Art Beklemmung lässt mich schrumpfen, ich spüre, wie ich die Stirn runzle, die Augenbrauen zusammenziehe. Eine graue, kalte Angst steigt hinten meine Wirbelsäule hoch...

Komme ich auf den Horror…?

Und auf einmal, einfach so, ist die Rettung da. Die Änderung. Das gedankliche Knäuel entrollt sich, der Knoten wird nicht zerschlagen, sondern löst sich von ganz allein auf, hat anscheinend genug von seinen anstrengenden Verrenkungen, seinen autoerotischen Verwickelungen…

Das freche Spiel des Lebens — das bei jedem Spiel frech und mutig bis an seine Grenzen geht… Sich zu verlieren droht… Sich verliert… Aber sich immer wieder einkriegt…

Meine Gedanken kommen wieder in einen freundlichen Fluss… werden zu Gefühlen…

Mir wird klar: denkerisch kann man das Leben nicht erfassen.

Wenn man es versucht, kann man nur wahnsinnig werden. Oder ein totaler Laberkopf. Wie die Philosophen und die Kirchenlehrer.

Man kann es nur spüren… irgendwie… erleben… erfahren… emotional erdulden… es mit der Seele (?) spüren…

Ich… Ich war blind gewesen. Taub. Lahm. Tot. Hatte nichts gewusst. Aber jetzt...

AAAAHHHHH!!!!

Ich explodiere ins Weltall hinein, löse mich auf in der allgegenwärtigen allumfassenden Energie. Ich bin mitten in dieser Energie, ich habe diese Energie, alle Dinge haben sie, alle Menschen, Alexander und John haben sie, Jimi hat sie, nein, sie ist Jimi, manifestiert sich in Jimi, sie ist in Alexander, in John, in mir, in allen Menschen, in allen Dingen, in allem, ist immer da, überall, ist hier und da, nein, nicht da, ist nämlich schon wieder weg, ist woanders, aber doch auch hier, nicht wirklich weg, noch immer da, ist und ist nicht, ist ungreifbar, unfassbar, unhaltbar; sie fließt, wohin sie will, fließt immer, hält nie an, kann nicht anhalten, diese wahnwitzige power ist ja das Leben selbst, das selbstverständlich, als Leben, ewig ist, oder unendlich, ohne Tod, oder nur dem Tod von Erscheinungen, von flüchtigen Emanationen von…? Von…? Egal!

Weiter geht’s! Neues Spiel, neues Glück! Gottes Rummelplatz. Der Jahrmarkt seiner Eitelkeiten… Immer wieder mitmachen, immer wieder dabei sein! Das Karussell dreht sich, die Geisterbahn nimmt einen mit, die Achterbahn reißt uns hoch, schleudert uns herum und lässt uns wieder abstürzen, die Raupe windet sich, wird ratternd rumpelnd schnell, ein Dach senkt sich herab, wir rattern durch sternloses Dunkel… Aber dort finden wir uns, umarmen uns, halten uns, küssen uns… Zu kurz, das Dach hebt sich, es wird hell, die Fahrt wird langsamer, ist schon vorbei… Neue Fahrt. Auf der Berg- und Talbahn… Hinauf, hinab, ins Dunkel und wieder hinaus… Ich steige hinunter, ich steige empor Nach eignem Behagen im wirbelnden Chor…

Alles drückt es aus, stellt es nach, paraphrasiert, imitiert, symbolisiert es; auch eine harmlose Dorfkirmes singt immer nur Sein Lob, Sein Lied, das einzige Lied... die unendliche Melodie…

Warum habe ich das alles nie gesehen? Es ist doch überall! In allem!

Es ist einfach: man muss das Leben nur leben. Und es nicht begreifen, nicht anhalten, nicht, wie Theodor W. Adorno gesagt hätte, sistieren wollen.

Ich fühle mich wieder kurzfristig unwohl… Also: nicht diesen Gedanken, diese Erkenntnis festhalten, weil sonst…

Was war mit den Leuten, die auf Horrortrips kamen? Konnten sie sich dem Leben nicht hingeben, konnten sie ihr Leben nicht hingeben…? Hielten sie an irgend etwas fest, an angeblichen Erkenntnissen, Sicherheiten? An den Illusionen, die das Ich schuf… Die Leute, die auf den Horror kommen — haben die Angst zu sterben? Ihr Ich sterben zu lassen?

Irgendwann, eine Stunde später? höre ich Jimi.

Hooray I awake from yesterday…

So my love Catherina and me

Decide to take our last walk through the noise to the sea

Not do die but to reborn

Away from lands so battered and torn

Forever, forever.

Ich verliere jeden Bezug zur guten alten Wirklichkeit. Wo bin ich? Bin ich noch immer nicht angekommen? Habe ich noch nicht alles erfahren?

Aber ich habe doch… habe gesehen, dass… Es war mir doch völlig klar geworden, dass…

Alles nur vorübergehend? Noch nicht die Wahrheit?

Wo will Jimi denn jetzt noch mit mir hin?

‚The machine that we built would never save us’

That‘s what they say.

(That‘s why they aren’t coming with us today.)

And they also said ‚It’s impossible

For a man to live and breathe under water forever‘.

Under water...? Bin ich mit Jimi ganz oben hoch im Weltraum gewesen, und geht es jetzt — hinunter in die Tiefsee?

So my darling and I make love in the sand

To salute the last moment ever on dry land…

Ich bin mit Jimi in die Himmel hochgestiegen, jetzt steige ich mit ihm hinab zum Grund des Ozeans.

Ich bin unten, tief unten in schillernd-schimmernd grün-blauen gold- und azurfarbenen Meerestiefen… Es wird still und weit… Hier ist es groß, mächtig und feierlich, unendlich groß... Ein anderer Äon beginnt, ein anderes All öffnet sich, so weit und blau wie das andere...

Ich bin ganz oben gewesen, jetzt bin ich ganz unten, ich bin in den Höhen gewesen, jetzt tummele ich mich mit Jimi in des Meeres Tiefen.

Jimi hat mich die ganze Welt erfahren lassen! Ich bin überwältigt, ich...

So down and down and down and down

And down and down we go.

Right this way, smiles a mermaid.

I can hear Atlantis full of cheer.

Und dann bin ich endlich in der Alten Sagenhaften Welt von Atlantis. Ich bin endlich auf dem verlorenen Kontinent angekommen.

Ich bin im größten und prachtvollsten und ältesten und weisesten und angetörntesten Reich, das es jemals auf Erden gab. Im Paradies. In Atlantis.

Tief unten im Ozean. Ich bin im Urmeer. Ich bin im Urelement. Ich bin am Uranfang der Schöpfung, alles ist aus dem Wasser entsprungen, aus des Ozeans blaudunklen Unendlichkeiten. Hier ist das Leben entstanden, hier kann man leben, atmen, für immer. Gar nicht unmöglich, tief unten im Wasser zu leben.

Im Gegenteil: das richtige, wahre, weil einzig glücklich machende Leben. Das Leben des Embryos im Fruchtwasser.

Ich bin in den Schoß der Großen Mutter zurückgekehrt. Endlich bin ich angekommen. Jimi hat mich dorthin zurückgeführt. Ich bin in Atlantis. Ich bin im Paradies. Ich bin wieder zuhause.

Atlantis full of cheer.

I can hear Atlantis full of cheer.

Sanfte rhythmische blaugrüne Wellen sonnengolden strahlenden himmlischen Glanzes überfluten mich.

Und auf einmal brechen Tränen unendlichen Glücks aus mir hervor. Tränen der Freude. Verknöcherungen, Erstarrungen, Verhärtungen, innere Erfrierungen — alles schmilzt weg… Ich bin tot gewesen, ich habe nie gelebt. O süßes Zerrinnen in heimlicher Lust… Alles wird von den Tränen aufgelöst… Ich war trockenes Land gewesen, Versandungen waren in mir gewesen… Weh dem der Wüsten birgt.

Ganz plötzlich sehe ich. Mich. Völlig objektiviert, mir gegenüber auf dem Sofa sitzen. So wie ich immer dasitze, ein Fachbuch in der Hand, Studium der Politologie und Philosophie.

Definitiv keine Halluzination. Ich liege hier auf meiner Bettcouch, bin in meinem Kopf, bin voller LSD, bin klar bei Verstand (hi, hi!), bin in mir — aber da gegenüber auf der anderen Seite auf dem lila Sofa, da bin ich auch, da sitze ich auch! Aber in dem da drüben bin ich nicht, der da bin ich nicht. Das ist ein Fremder, das ist eine kalte, tote Person. Der kann ich nicht sein.

In dem bin ich nicht mehr. Dem da auf dem Sofa mir gegenüber ist das Leben entzogen, der ist tot.

Die Seele hat den da drüben verlassen, die Seele ist jetzt in mir, das Leben ist jetzt in mir, die Energie ist jetzt in mir, die power ist jetzt in mir, das Denken ist jetzt in mir, die Erkenntnis ist jetzt in mir, das Wissen ist jetzt in mir, die Gefühle sind jetzt in mir, die Liebe ist jetzt in mir, alles ist jetzt in mir.

Dem da drüben ist alles entzogen worden, der da drüben lebt nicht mehr, der ist tot, der ist nur noch eine leblose Hülle.

Und mir wird schlagartig klar, dass mein altes Ich, mein altes Leben tot ist, dass ich heute Nacht gestorben bin. Dass ich so wie der da drüben, nicht mehr weiterleben kann. Nicht nach dieser Nacht.

Und es schon nicht mehr tue. Denn der da drüben ist definitiv tot. Ich, der hier auf dieser Seite, ich lebe.

Die Doppeltüren der großen Pforte sind weit aufgerissen worden, entriegelt, hat der gute alte Hebbel gesagt. Nun stehen sie offen, laden mich ein. Ich muss nur noch hindurchgehen. Ich werde das tun. (Habe ich es nicht schon getan? Bin ich nicht schon getan worden?) Da gibt es einen Weg in ein anderes Land und das andere Land beginnt hinter der Schwelle der doors of perception.

Da ist keine Überlegung, es gibt keine andere Wahl. Nie wieder würde ich so dasitzen, auf dem Sofa, so aussehen, Hemd, Pullover, Hose, Halbschuhe.

Ich werde ab morgen ein anderes Leben führen.

This is the first day of the rest of your life.

Wer hat das gesagt? Wann? Wer hat das gewusst? Wer weiß solche Sachen?

Wenn ich noch einmal überlege, wann alles angefangen hat, also, wann ich das erste Mal deutlich gespürt habe, was es ist, was Leben ist, was die Energie des Lebens ist, auf die es ankam, womit man in Berührung kommen musste, zu was man die Türen aufmachen musste, weil das Leben sonst tot war…

Wenn ich noch einmal überlege, wann ich fühlte, einfach so, völlig unerwartet, aber, oh! wie deutlich und gewaltig! dass ich lebte — dann, bin ich sicher, hat es schon vor vielen Jahren angefangen, recht früh…

…lange vor Jimi und Electric Ladyland, Jana und In the Midnight Hour, und ein gutes Stück vor Nick und Satisfaction.

Mein Leben hat angefangen, als ich elf Jahre alt war. Ich bin auf der Konfirmation von Harald, dem Sohn von Freunden meiner Eltern, der ein paar Jahre älter ist als ich. Es gibt das übliche Programm: Mittagessen, Kaffeetrinken, Beisammensitzen im Wohnzimmer der Erwachsenen.

Haralds Eltern haben zur Untermalung das Radio angemacht, und wir hören Tanzmusik, die typische Big Band-Musik der rundfunkeigenen Orchester jener Jahre.

Harald beschwert sich, langweilt sich und will deswegen lieber Platten auflegen, seine Platten, seine Musik.

»Das ist doch mein Tag, heute!«

Seine Eltern sind einverstanden.

Dann gibt es eine kurze geflüsterte, verschwörerische Aussprache. Harald sagt etwas ganz leise zu seiner Schwester Renate und beide schauen dann zu mir herüber. Sehr merkwürdig. Geht es etwa um mich?

»Die Musik da im Radio, gefällt die dir?«

Ich verneine unbestimmt.

»Was für eine Musik hörst du denn gerne?«

Ich kann das nicht beantworten, ich weiß es nicht.

Renate hält eine 45er-Schallplatte in der Hand, hält sie hoch.

»Und was hältst du hiervon?«

Ich gucke. Kenne ich nicht.

Ich bin zart, untergewichtig, schüchtern, ich bin elf Jahre alt. Ich fühle mich unbehaglich. Was hat man mit mir vor? Werde ich einer Art Prüfung unterzogen? Was will man von mir? Soll ich beurteilt werden? Was will man mit mir machen? Nicht gegen meinen bewussten Willen, aber doch gegen mein intuitives, ängstliches Widerstreben?

Plötzlich habe ich das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen — auf die allerunangenehmste Weise. Ich verstehe nicht, was Harald und Renate von mir wollen, was sie mir so Geheimnisvolles zeigen wollen.

Jetzt gucken auch meine Eltern und Haralds Eltern herüber.

Ich fühle mich unwohler und unwohler. Ich bekomme Angst. Warum dringen die so auf mich ein? Setzen mich so unter Druck, so fühlt sich das jedenfalls für mich an, dass ich mich nicht wehren kann vor dem, was jetzt unweigerlich auf mich zukommen wird. Ich werfe einen letzten, flehenden Blick in die Runde: Bitte. Tut mir nichts.

Ich denke, es ist das beste, wenn ich jetzt die Augen zumache. Ich tue es — und da…

Awopbopaloobop Alopbamboom!

So schreit es plötzlich aus der Musiktruhe. In gewaltiger Lautstärke. In der Form völlig unerwartet.

Es packt mich, haut mich um. Ich kann es nicht fassen, ich weiß nicht, was es ist, aber es reißt mich mit. Ich bin weg.

Es ist nicht nur die Lautstärke — da wird eine Energie produziert, die mich umbläst.

Ich will mich gegen diese Energie wehren, aber das ist völlig aussichtslos. Mir wird klar: Ich bin dem ausgeliefert, bis es zu Ende ist. Ich will das ablehnen, was mir da passiert — Gott, was sollen denn meine Eltern von mir denken? wenn sie mich gleich fragen und ich wahrheitsgemäß antworte, dass ich diesen wilden lauten Wahnsinn toll finde —, aber es gelingt mir nicht.

Ich bin weg, der Welt um mich herum abgestorben, ich bin ganz und gar von dieser Musik erfüllt.

Mir eröffnet sich eine neue Welt und — dann bin ich in dieser anderen Welt. Die habe ich nicht gekannt, habe noch nie etwas davon gehört. Das hat nichts mit dem zu tun, was ich bisher vom Leben kannte. Noch nie habe ich so etwas gefühlt. Mein ganzer Körper fühlt sich an wie unter Strom gesetzt, von den Fußsohlen bis hinauf zu den Haaren.

Als das Stück nach zwei Minuten zu Ende ist, komme ich aus der anderen Welt zurück. Ich bin wieder auf der Erde und schaue mich um. Alle gucken mich an.

Ich habe das Gefühl, Haralds Eltern und meine Eltern warten auf eine Reaktion.

»Na, wie hat dir das gefallen?«

Ich bin sprachlos. Völlig aus dem Konzept gebracht. Irgendwo in der Welt gibt es Löcher, Fenster, durch die man hindurchsehen kann in eine andere Welt.

Und in dieser anderen Welt, aus dieser anderen Welt, schreit jemand mit wahnwitziger Energie zu mir herüber: »Awopbopaloobop Alopbamboom!«

Was sind das für Worte? Was ist das für eine Sprache? Ist das die Sprache der anderen Welt? Sicher! Was ist das für eine Welt? Was ist mir da gerade passiert? Was habe ich gehört, erlebt?

»Hat dir das gefallen?«

Was für eine Frage! Muss ich noch antworten? Ich kann gar nicht antworten. Bin ich nicht Antwort genug? Ich bin doch völlig erschlagen! Sehe ich denn nicht entgeistert aus?

Habe ich nicht zwei Minuten lang fünf Zentimeter über dem Boden geschwebt? Hat das keiner gesehen? Hat keiner bemerkt, was heute mit mir passiert ist? Spürt keiner, dass ich verändert bin, dass ich etwas gehört habe? Erfahren habe?

»Rock ‘n‘ Roll war das Startzeichen der Revolution«, weiß Jerry Rubin.

Little Richards Tutti Frutti blieb für mich für viele Jahre das große Ereignis. Vergleichbares habe ich dann lange nicht mehr erlebt — nichts mehr, was mich mit solcher Gewalt packte, nichts mehr, was mir nur im Entferntesten das Gefühl gegeben hätte, in eine andere Welt hineinzusehen, die tausendmal schöner, kraftvoller, wahrer, echter und authentischer war, als der nichtssagende, langweilige, kaputte, schlecht erfundene und fiktive Quatsch, den uns die Erwachsenen als Realität andrehen wollten.

Das, was ich einmal erfahren hatte, bekam ich nicht mehr. Ich wusste nicht, ob es weg war, ob Little Richard und Elvis es irgendwie verloren hatten, ob sie bürgerlich geworden waren, ob sie den Rückweg in die Normalwelt von Geigen und Chören angetreten hatten…

Die alten Rocker wurden auf jeden Fall ruhiger und schmalziger. Richtiger:

wurden (von Erwachsenen) mundtot gemacht, zerstört, umgedreht, wieder auf das Falsche Verlogene verpflichtet, auf den Geschmack der Erwachsenen, der natürlich kein Geschmack war, sondern reine Scheiße.

Elvis sang Wooden Heart und It’s Now or Never. Also, das war ganz entschieden nicht mein Geschmack…

Echten, fetzigen Rock ‘n‘ Roll gab es nicht mehr und ich musste woanders nach der großen Erfahrung suchen.

Ich versuchte es mit Jazz-Musik.

Anfangen tat meine Hinwendung zum Jazz mit wertvollem Kulturgut wie Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein von Papa Bue‘s Viking Jazzband, ging dann weiter mit Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln geh‘n von der Old Merry Tale Jazzband und lief schließlich bis zu Stranger on the Shore von Mr. Acker Bilk and his Paramount Jazz Band.

Immerhin: mit diesem schamlos schmierigen Gesäusel im Hintergrund tanzte ich engumschlungen mit den ersten Mädchen, versuchte die ersten Küsse, aber eigentlich war es zum Kotzen (Stranger on the Shore, nicht die Küsse)…

Obwohl, wenn ich jetzt daran zurückdenke, Helga… das erste Mädchen, mit dem ich langsam und eng umarmt tanzte, ich war dreizehn, sie war auf jeden Fall älter, also, Helga wollte mich küssen, und ich… Iiiiihhhh! Ihr Atem stank nach Zigaretten.

Ich suchte weiter. Aber nix…Das konnte doch nicht schon alles gewesen sein! Es konnte doch nicht schon wieder alles weg sein!

Mein Leben konnte doch nicht schon zu Ende sein!

Die Scheiß Erwachsenen hatten anscheinend Angst vor dem, was wir, ihre Kinder! so freudig begrüßten und fröhlich erlebten, hatten irgendwie Angst davor, dass es ihnen an den Kragen ging, wenn das alles mal Allgemeingut werden sollte, was wir so liebten und trieben: Rock ‘n‘ Roll.

Sie versuchten mit allen erdenklichen Anstrengungen, Rock ‘n‘ Roll als Schund, Schmutz, Primitivität, Unkultur, Krach, Negermusik, Abschaum zu verleumden und in den Dreck zu ziehen. Später versuchten sie das mit Sex, und noch später mit Drogen — was alles Manifestationen des Lebens, der Lebensenergie waren. Sie versuchten, das alles vor uns — uns, die wir das Leben kennen lernen wollten — zu verstecken, um uns, Gipfel der Heuchelei! davor zu beschützen!

Mir fiel etwas Absurd-Lustiges, aber keineswegs Dummes ein: wenn die Erwachsenen immer so taten, als wenn sie uns arme, kleine, unwissende, naive, gefährdete Kinder und Jugendlichen vor dem Bösem im Leben im Leben beschützen mussten, dann war die Initiative ja eigentlich fürsorglich und löblich.

Aber wer in Wirklichkeit vor wem beschützt werden musste, um als Mensch nicht völlig zerstört zu werden oder irre zu gehen, war doch wohl klar!

Wir Jugendlichen vor den Erwachsenen, natürlich. Die waren unser schlimmster und verderblichster Einfluss!

Etwas Entscheidendes geschieht, als ich ins Internat, in das Institut auf dem Rosenberg, komme. Im gleichaltrigen Schweizer Remo finde ich einen Zimmerkameraden, der Klavierspielen kann und zuhause, in Basel, einen Bruder hat, der Schlagzeug trommelt. Remo scheint irgendwie brav und normal (wie ich), aber in ihm steckt eine gute Portion eines anderen Lebens: Seine ganze Liebe gehört dem Klavier, der Musik, dem Jazz. Das macht ihn locker, witzig, schelmisch, das macht ihn sympathisch, damit schafft er es, andere anzustecken. Mich zum Beispiel.

Im Hinterraum des Musikzimmers stehen ein Klavier und ein Schlagzeug. Zwar ist es altmodisch und armselig, aber ich beginne, von Remo animiert, darauf herum zu trommeln.

Plötzlich spüre ich etwas von musikalischer, von rhythmischer Energie in mir, eine Körperlichkeit und Lebendigkeit, die ich in der letzten Zeit vergeblich in der aktuellen Schlager-Musik gesucht habe.

Ich habe etwas gefunden. Ich habe etwas wiedergefunden.

Remo bringt mir die Grundbegriffe des Schlagzeugspielens bei und ich lerne, ihn zu begleiten. Am liebsten spielt Remo rhythmisch komplizierte Sachen von Dave Brubeck.

Ich trommle von morgens bis abends, in jeder freien Minute, und wenn es irgendwo doch noch eine Lücke gibt, dann fülle ich sie mit dem Anhören von Jazz-Platten auf. Während ich früher außer alten 78er-Schallplatten aus der Musiktruhe meiner Eltern nur die kleinen 45er gekannt habe, die ich mir von meinem Taschengeld leisten konnte, führt mich Remo jetzt in die große Welt der Langspielplatte ein. Und er hat davon schon eine imponierende Menge.

Jahre später lese ich Norman Mailer, seinen Essay Der weiße Neger von 1957: »In seiner Musik verlieh er [=der Neger] dem Charakter und der Art seiner Existenz Ausdruck, seinem Zorn und den unendlichen Variationen von Freude, Wollust, Sehnsucht, Groll, Verkrampfung, Not, Tollheit, wie auch der Verzweiflung in seinem Orgasmus. Denn Jazz ist Orgasmus, es ist die Musik des Orgasmus, des guten und des schlechten Orgasmus.«

Jazz gleich Sex. Mailer hat es kapiert.

Er bringt es voll und ganz auf den Punkt. Ich finde, der Ausdruck weißer Neger ist außerordentlich glücklich. Der Rock ‘n‘ Roll ist ja, ein bisschen auch der Jazz, die verehrungsvolle weiße Übernahme der schwarzen Blues-Musik.

Zur Zeit als Mailer seinen Essay, schreibt, hat Elvis schon die Blues-Songs der Südstaaten-Schwarzen ins »Weiße« übersetzt und damit das Land elektrisiert — die Jugendlichen enthusiasmiert und die Erwachsenen bis zur Paralyse schockiert. Mailer konnte natürlich nicht voraussehen, dass diese Musik zu einem gewaltigen, weltweiten Phänomen anwachsen würde: zehn Jahre später sollten die Rolling Stones, die Animals, Cream, die Spencer Davis Group, Led Zeppelin, The Doors und viele andere Bands genau dasselbe tun: authentischen schwarzen Blues spielen, ihn, leicht ins Weiße übersetzt, für die jugendlichen Weißen kommensurabel machen und denen eine wunderbare, ungekannte Welt eröffnen.

Der Rock ‘n‘ Roll — also, die weiß adaptierte schwarze Blues-Musik — gab der jungen weißen Bevölkerung der späten fünfziger und der gesamten sechziger Jahre etwas enorm Lebenswichtiges, was sie von ihren weißen, spießigen, verklemmten Eltern und ihren seelenlosen Erziehern nicht bekommen konnten: das feeling, die Seele, love, die Erfahrung dessen, was »Leben« ist, den Zugang zum Göttlichen…

…und — das regte die Erwachsenen am meisten auf, das erregte sie am meisten — den Unterleib. Sex.

Ich habe etwas wiedergefunden — aber noch nicht vollständig. Einmal nämlich nur erreicht der Jazz für mich die besondere Intensität, die mich an die Rock ‘n‘ Roll-Energie von Little Richard erinnert.

»Pfaff«, ein etwas älterer Schulkamerad aus dem Internat, ist seinem Alter entsprechend schon richtig drauf auf Existentialismus und Jazz und Moderne und besitzt eine Schallplatte mit Jazz und Lyrik: Gottfried Benn.

Ausgerechnet auf dieser Platte, bei dieser Collage von gesprochenem Text und Musik, gewinnt der Jazz in einigen Momenten eine Qualität (durch den Text?), die mich umhaut (der stets lässig-überlegen wirkende Pfaff ist dann genauso weg wie ich), und eine Intensität, die mich dann Monate lang nicht loslässt und schließlich dazu führt, dass ich fast alle Gedichte auf der Platte auswendig kann.

Von der Glocke, die ich im Deutschunterricht auswendig lernen soll, schaffe ich nur ein Bruchstück: Heil’ge Ordnung, segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche leicht und freudig bindet, die…

Die... Was? Hm...? Völlig egal. Wen interessiert schon der alte Scheiß?

Ich biete unserem Deutschlehrer stattdessen an, mehrere Gedichte von Gottfried Benn aufzusagen, um ihm zu zeigen, wie sehr sein Unterricht bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen ist und meine Liebe zur Literatur ins Leben gerufen hat.

Die Antwort lautet: »Nein. Die Glocke. Sonst gibt es eine Sechs.« Was bringen einem diese Lehrer-Idioten eigentlich bei? Sollten die bei uns nicht die Liebe zur Lyrik und zur Literatur wecken? Oder wenigstens anregen, ein Verständnis dafür zu entwickeln? Anscheinend nicht, die wollen nur, dass man die ältere Generation zu hassen beginnt.

Ich bekomme übrigens auch keine gute Note in Musik, nur eine Vier — noch so ein Idiot! —, obwohl ich der einzige in der Klasse bin, der Musik täglich praktiziert!

Nein, es geht nicht darum, die Musik zu lieben, es geht darum, irgendwelchen theoretischen Scheiß auswendig zu lernen und völlig unwichtige Sachkenntnis zu produzieren.

Immer nur die Erziehung des Kopfes. Das ist die ganze, erbärmliche Weisheit der Erwachsenen. Nie die Erziehung des Herzens, nie die der Seele (Religionsunterricht? pah!) und die des Unterleibs. (Leibesertüchtigung? ja, der Arme und der Beine.)

Mit Remo und den meisten meiner und seiner Klassenkameraden gehe ich in die Tanzstunde. Und während da der fröhliche, fetzige und freie Twist — eine kurzfristige schwarze Bluttransfusion für den dahinsiechenden Rock ‘n‘ Roll — schon deswegen schwer verpönt ist, weil er zu sehr an den guten alten beckenschlingernden, hüftkreisenden, unterleibbetonenden Rock ‘n‘ Roll erinnert, ist ein Modetanz namens Madison nicht nur erlaubt, sondern wird uns sogar, gell, wir sind modern? nahegelegt. Der Madison ist eine Art Formationstanz ohne Partner-Kontakt — etwas, das in den immer noch prüden frühen sechziger Jahren sehr gerne gesehen wird.

»Als unsere Gäste bitten wir Sie, von Twist und anderen unästhetischen Tanzformen abzusehen, da sie sich mit der Tradition der Bentele-Bälle nicht vereinbaren lassen«, heißt es in der Broschüre der Tanzschule.

Unästhetisch… Junge, Junge, noch ist nicht viel passiert — nur ein bisschen was, und jetzt ist es schon wieder ruhig geworden — , da haben diese Spießer schon keine vernünftigen Gegenargumente mehr.

Gott, was haben die Mucker damals gegen den Wiener Walzer gewütet! Oder den sexuell aufreizenden Tango! Tanz ist doch nie etwas anderes gewesen als die Sublimation von Ficken zu kinetischer Körperkunst! Alles schon vergessen?

Wenn jede Änderung welch sakrosankter Tradition auch immer unästhetisch gewesen wäre, lebten wir noch immer als Einzeller in der Urbrühe, hätten nie ein anderes Zellchen angebaggert und nie einen Tanzpartner gefunden. Nicht mal für Walzer oder Slow Fox.

Elvis the pelvis und Rock ‘n‘ Roll — das ist nicht wirklich vergeben und vergessen, das lebt noch, auch wenn ich das fast nicht mehr geglaubt habe.

Der gesamte Ausbruch und Aufbruch der Jugendkultur steckt den Erwachsenen anscheinend noch als Schock tief in den müden morschen Knochen.

Die sind froh um jede Hoffnung auf Rückkehr zur Anständigkeit und zu den damit verbundenen Konventionen und Ritualen wie anständige Kleidung und anständiger Haarschnitt, Disziplin und Gehorsam — zu einem Tanz wie dem Madison, einem sexfreien, einem Rock ‘n‘ Rollfreien Tanz.

Übrigens bekomme ich vom Twist eine volle Rock ‘n‘ Roll-Energie-Breitseite ab, und die Jazz-Welt aus Dave Brubeck und Art Blakey wird empfindlich getroffen und beginnt zu schwanken.

Remo und ich werden räumlich getrennt, ich werde auf ein Zimmer mit meinen Klassenkameraden Alexander und John gelegt. (Diese beiden Prachtexemplare habt ihr schon — in München auf dem Königsplatz, zehn Jahre später — kennengelernt).

Außerdem bekommen wir einen neuen Klassenkameraden, der ständig eine schwarze Lederjacke trägt und dessen blonde Haare ihm über die Ohren wachsen, sich hinten im Nacken kräuseln und vorne weit in die Stirn fallen und der seinen Spitznamen »Gammler« mitbringt.

Gammler spielt Klavier. Remo hätte das nicht Klavierspielen genannt. Gammler haut mit wuchtigen Griffen in die Tasten. Gammler ist groß und er hat riesige Hände mit langen Fingern, die er mühelos zu Oktaven spreizen kann. Gammler lässt mit seiner linken Hand den Boogie-Woogie rollen, dass die Wände wackeln.

Ich begleite ihn und dresche auf Trommel und Becken ein, als gäbe es einen Preis für schnellstmögliches Zerbrechen von Schlagzeugstöcken.

Während Remo und ich monatelang zwar hingebungsvoll und konzentriert, aber völlig allein und unbeobachtet über den schwierigen 5/4 Takt von Take Five und den 9/8 Takt von Blue Rondo à la Turk geseiltanzt hatten, haben Gammler und ich mit dem stampfenden und rollenden 8/8 Takt des Boogie-Woogie im Nu zwei Dutzend begeisterte Mitschüler und Mitschülerinnen aus ihren Zimmern gelockt, die sich nun im winzigen Musikraum übereinander stapeln.

Es ist natürlich so, wie es immer war: Die große Kunst ist für eine kleine Elite, im schlimmsten Fall nur für die Ausübenden, die Unterhaltung hingegen für die große Masse gemacht.

Das mag traurig sein, beklagenswert, aber eins sage ich euch, Leute: Es ist hinreißend, es ist umwerfend! Die niedere Kultur macht irren Spaß. Mir und den anderen.

Boogie-Woogie. Rock ’n’ Roll. Tutti Frutti. Twist.

Nach zwei Jahren Internat habe ich genug und, wie ich finde, die entscheidenden Lektionen gelernt — dank eines deutschspanischen Kobolds, der den stolzen Spitznamen »Culo« trägt (was auf Deutsch schlichtweg Arsch heiß).

Culo lehrt mich alle obszönen Worte auf Spanisch und er kann tausend unsäglich schweinische Witze (auf Deutsch) erzählen.

Ich denke, das kann mir später vielleicht einmal helfen — damit kann ich zum Beispiel nächtelang Männerrunden unterhalten. Oder Exekutionskommandos. Witzchen aus Tausendundeinen Internats-Nächten. So überlebt man.

Der Abschied fällt mir nicht leicht. Schwer ist es, Remo auf Wiedersehen zu sagen, noch schwerer, meinen Klassen- und Zimmerkameraden Alexander und John — sowie Mario. Die bleiben alle.