Shop Girls - Aufbruch in ein neues Leben - Rosie Clarke - E-Book

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Rosie Clarke

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Beschreibung

Vier starke junge Frauen in aufregenden Zeiten - ein Roman über große Hoffnungen, erste Schritte in die Emanzipation und die Kraft der Freundschaft


London, 1911. Das neue Warenhaus auf der Oxford Street sucht neue Mitarbeiterinnen. Was für eine Chance für zahlreiche junge Frauen aus der Arbeiterschicht, ins Berufsleben zu starten! Auch Sally, Beth, Margaret und Rachel wünschen sich nichts sehnlicher, als für "Harpers Emporium" zu arbeiten. Zu ihrem Glück werden sie eingestellt und finden sich sogar in derselben Abteilung wieder. Zwischen feinen Hüten, edlen Handschuhen und Schmuck freunden sie sich an und unterstützen einander bei Problemen mit schwierigen Kundinnen. Doch das sind längst nicht die einzigen Herausforderungen, denen sie sich in ihrem neuen Leben stellen müssen ...


Willkommen bei Harpers! Treten Sie ein, und staunen Sie!

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Seitenzahl: 548

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CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37

 

Vier starke junge Frauen in aufregenden Zeiten – ein Roman über große Hoffnungen, erste Schritte in die Emanzipation und die Kraft der Freundschaft London, 1911. Das neue Warenhaus auf der Oxford Street sucht neue Mitarbeiterinnen. Was für eine Chance für zahlreiche junge Frauen aus der Arbeiterschicht, ins Berufsleben zu starten! Auch Sally, Beth, Margaret und Rachel wünschen sich nichts sehnlicher, als für »Harpers Emporium« zu arbeiten. Zu ihrem Glück werden sie eingestellt und finden sich sogar in derselben Abteilung wieder. Zwischen feinen Hüten, edlen Handschuhen und Schmuck freunden sie sich an und unterstützen einander bei Problemen mit schwierigen Kundinnen. Doch das sind längst nicht die einzigen Herausforderungen, denen sie sich in ihrem neuen Leben stellen müssen … Willkommen bei Harpers! Treten Sie ein, und staunen Sie!

 

Rosie Clarke schreibt schon seit vielen Jahren. Sie lebt im englischen Cambridgeshire, ist glücklich verheiratet und genießt ihr Leben mit ihrem Ehemann. Sie liebt es, unter der spanischen Sonne spazieren zu gehen und in ihrem Lieblingsrestaurant in Marbella einzukehren. Ihre wahre Passion aber ist das Schreiben.

Roman

Aus dem Englischenvon Ulrike Moreno

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Deutsche Erstausgabe

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Rosie Clarke

Titel der englischen Originalausgabe: »The Shop Girls of Harper’s«

Originalverlag: Boldwood Books Ltd.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Kölnn

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Einband-/Umschlagmotive: © Colin Thomas, London; © phokin – iStock / Getty Images Plus; ovfx / iStock / Getty Images Plus; kraphix / iStock / Getty Images Plus; © AKG-Images / ALFRED MESSEL

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7517-2072-4

luebbe.de

lesejury.de

 

Beth holte tief Luft, bevor sie an jenem sonnigen, aber kalten Morgen im März 1912 am Wohnzimmer ihrer Tante vorbeischlich. Doch noch bevor sie die Hintertür erreicht hatte, erklang deren mürrische Stimme und rief sie zurück. Beth seufzte und ging ins Wohnzimmer, wo Tante Helen an ihrer Nähmaschine saß und das schwarze Metallpedal in einem gleichmäßigen Rhythmus mit ihrem linken Fuß betätigte.

»Lass mich deine Schuhe ansehen, bevor du gehst«, befahl ihre Tante, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Beth schluckte ihren Ärger herunter, doch ihre blaugrünen Augen glühten vor unterdrückter Wut. Sie war eine erwachsene Frau, kein dummes kleines Kind, und würde ja wohl kaum mit schmutzigen Schuhen zu einem derart wichtigen Termin gehen. Selbstverständlich trug sie heute ihre eleganten Schuhe! Sie wurden mit zwei Knöpfen an der Seite geschlossen und waren aus schwarzem Leder, das so sehr glänzte, dass sie sich darin hätte spiegeln können.

»Ich habe gestern Abend eine Ewigkeit damit verbracht, sie blank zu putzen«, sagte Beth und stellte sich so hin, dass ihre Tante sie in ihrem hübschen, knöchellangen grauen Rock, der weißen Bluse und der taillierten Jacke sehen konnte, die etwas dunkler war als der Rock. Ihr dichtes blondes Haar war adrett am Hinterkopf aufgesteckt, und darüber trug sie einen Hut aus schwarzem Samt, der ihr Gesicht beschattete und ihr Haar verbarg. Passend zu ihren auf Hochglanz polierten Schuhen trug sie schwarze Lederhandschuhe. Die Farben schmeichelten ihrem blassen Teint zwar nicht, aber Beth trauerte immer noch um ihre Mutter, die keine vier Monate zuvor gestorben war. Außerdem würde ohnehin von ihr erwartet werden, dass sie Grau, Schwarz oder vielleicht sogar eine Art Uniform zur Arbeit trug.

»Du siehst abgespannt aus, Kind«, bemerkte Tante Helen stirnrunzelnd. »Aber daran lässt sich ja nichts ändern, stimmt’s? Aber da du sowieso nur als kleine Verkäuferin arbeiten wirst, dürfte das auch nicht so wichtig sein, nehme ich an.« Sie nahm ihre Näharbeit von der Maschine und schnitt mit einer raffinierten kleinen, versilberten Schere den Faden ab. »Und komm sofort nach deinem Vorstellungsgespräch nach Hause«, ermahnte sie Beth mit einem strengen Blick über die Brille hinweg, die sie zum Nähen trug.

»Ja, Tante«, antwortete Beth sofort, obwohl sich in ihr wieder Ärger regte.

Sie war zweiundzwanzig, und es war das erste Mal, dass sie sich um eine Anstellung bemühen musste. Jessie Grey, Beths Mutter, war fast während der gesamten letzten zehn Jahre, seit ihr Mann an einem schlimmen Fieber gestorben war, krank und gebrechlich gewesen. Mr. Grey war ein brillanter Arzt gewesen, was ihnen einen sehr bequemen Lebensstil ermöglicht hatte, doch nach seinem Tod war das Geld knapper geworden. Und als dann auch noch Jessie Greys ererbtes Einkommen mit ihr dahinging, war Beth nur sehr wenig geblieben. Die wenigen Besitztümer ihrer Mutter hatten verkauft werden müssen, um ihre Schulden zu begleichen. Und so war Beth gezwungen gewesen, das Angebot ihrer Tante anzunehmen, sie bei sich wohnen zu lassen. Sie kannten sich nur von ihren seltenen Besuchen im Laufe der Jahre, aber dennoch spürte sie so etwas wie Groll bei ihrer Tante, ohne zu wissen, woher er rührte. Sie konnte sich nur vorstellen, dass Tante Helen sich darüber ärgerte, dass es in Jessies Leben zumindest eine Zeitlang Liebe und Glück gegeben hatte, während sie selbst ihr Leben lang unverheiratet geblieben war.

»Aber warum hat sie mir nie gesagt, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben?«, hatte Beth ihre Tante gefragt, als der Notar sie über die erschreckenden Neuigkeiten informiert hatte. Das ihrer Mutter zustehende Erbe war verbraucht, und für Beth war kein Penny übrig geblieben. »Dann hätte ich mir vielleicht schon vorher Arbeit suchen können.«

»Jess war schon immer eine kleine Närrin«, hatte Tante Helen scharf entgegnet. »Bei ihrem Aussehen und ihrer Herkunft hätte sie jeden Mann heiraten können, aber sie musste sich ja für einen Arzt entscheiden, der sein Leben den Armen gewidmet hat und ihr folglich kaum mehr als ein paar Pfund hinterließ. Deine Mutter lebte von dem Geld, das unser Vater ihr vermacht hatte, und hat nie auch nur einen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Du kannst bei mir wohnen, aber du musst dir Arbeit suchen, weil ich dich nicht auch noch ernähren und kleiden kann.«

»Ich werde gern arbeiten, Tante«, hatte Beth stolz erwidert, doch bedauerlicherweise bisher noch keine passende Stelle gefunden. Sie war wohlerzogen und kam aus einer achtbaren Familie, was wiederum bedeutete, dass sie unmöglich in einer Gaststätte oder einer Fabrik arbeiten konnte. Tante Helen war der Meinung, sie sollte sich eine Anstellung als Gesellschafterin bei einer älteren Dame suchen, doch obwohl Beth sich auf zwei solcher Stellungen beworben hatte, war sie bedauerlicherweise nicht unter den vielen Bewerberinnen ausgewählt worden.

»Also ich weiß wirklich nicht, warum sie dich nicht genommen haben«, hatte ihre Tante gebrummt, als sie von Beths Misserfolg erfuhr. »Nachdem du jahrelang deine kränkliche Mutter gepflegt hast, müsstest du ja wohl in der Lage sein, dich einer alten Dame anzunehmen, sollte man meinen.«

»Lady Vera sagte, sie wolle jemanden mit Erfahrung, und Mrs. Thompson meinte, ich sei zu anziehend, sie habe Söhne …«

»Pah!«, hatte Tante Helen empört erwidert, weil all das so offensichtlich unfair war. »Aber arbeiten musst du, Beth – wir werden uns diesen Freitag die Anzeigen in der Zeitung ansehen und schauen, was so angeboten wird.«

Die große Stellenanzeige des neuen Warenhauses »auf der falschen Seite der Oxford Street« – wie Tante Helen es formulierte – nahm eine halbe Seite in der Lokalzeitung ein. Es wurde Personal für alle möglichen Positionen gesucht, darunter Putzfrauen, Büroangestellte, Verkaufs- und Aufsichtspersonal, und sogar die Stelle eines Abteilungsleiters war zu besetzen. Des Weiteren stand in der Annonce, dass mit Harpers ein prestigeträchtiges, vierstöckiges Warenhaus entstehen würde, das über Aufzüge, ein Café im obersten Stockwerk und Waren verfügen würde, die mit den besten Kaufhäusern in London konkurrieren könnten.

»Hier steht, dass es eine Einweisung geben wird«, hatte Beth laut vorgelesen. »Alle Interessenten sind herzlich eingeladen, eine Bewerbung für ein Vorstellungsgespräch zu schreiben …«

»Verkäuferin!« Ihre Tante hatte missbilligend den Mund verzogen. »Ich muss zugeben, dass ich nie damit gerechnet hätte, dass meine Nichte einmal als kleine Verkäuferin in einem gewöhnlichen Geschäft arbeiten würde.«

»Ich glaube nicht, dass Harpers ein gewöhnliches Geschäft sein wird«, erwiderte Beth darauf. »Es soll ein sehr angesehenes, renommiertes Kaufhaus werden, heißt es hier.«

»Deine Großmutter wäre vor Scham gestorben«, erklärte ihre Tante voller Theatralik. »Sie war die Tochter eines Gentlemans. Dein Urgroßvater war Sir James Mynott, was du nie vergessen solltest, auch wenn Großmutter ihre Familie durch die Heirat mit einem Geschäftsmann schwer enttäuschte.« An dieser Stelle stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Wenn deine Mutter ein bisschen was für dich beiseitegelegt hätte, würde dir vielleicht die Demütigung erspart bleiben, arbeiten zu müssen – aber sie hat ja nie auch nur ein Gramm Verstand besessen.«

»Mama war krank«, hatte Beth ihre Mutter verteidigt. »Sie litt unter schrecklichen Migräneanfällen, und ich nehme an, dass ihr alles über den Kopf gewachsen ist nach Papas Tod.«

Dieses Gespräch hatte vor über einer Woche stattgefunden. Danach hatte Beth auf die Anzeige geantwortet und auch prompt einen Vorstellungstermin erhalten.

Diese Gespräche fanden heute Morgen in einem kleinen Hotel in unmittelbarer Nähe der Berwick Street statt, die ihrerseits von der Oxford Street abging. Normalerweise wurde das Malmsey Hotel von Handelsvertretern und anderen Geschäftsleuten frequentiert, die sich ein paar Tage in London aufhielten, bevor sie weiterreisten. Allerdings hatte das Hotel einen großen Konferenzraum aufzuweisen. Als Beth dort eintraf, hieß man sie auf einem der harten Holzstühle in dem Raum Platz zu nehmen, der durch allerlei Trennwände aufgeteilt war, um ein bisschen Privatsphäre zu gewährleisten.

Auf der Kante ihres unbequemen Sitzes hockend, blickte Beth sich nervös um, weil fast alle anderen Plätze besetzt waren. Es waren so viele Mädchen, Männer und ältere Frauen erschienen, dass ihre Hoffnung sank. Bei so vielen Bewerberinnen und Bewerbern war es nicht gerade sehr wahrscheinlich, dass ein Mädchen ohne Erfahrung hier eine Anstellung erhalten würde.

»Bin ich zu spät?«, fragte eine muntere Stimme. Ein sehr hübsches Mädchen mit rötlich braunem Haar, einem roten Filzhut und rot gesprenkeltem Tweedmantel setzte sich neben sie. Beth bemerkte, dass sie ein dezentes Lippenrot trug und bis zum Nacken reichendes, natürlich gewelltes Haar hatte, das in Ponyfransen ihre Stirn bedeckte. »Ich bin Sally Ross«, stellte sie sich vor und reichte Beth die Hand. »Ich hab schon mal bei Selfridges und Woolworth und so gearbeitet – und du?«

»Ich heiße Beth Grey und bewerbe mich zum ersten Mal auf eine Anstellung in einem Kaufhaus«, erwiderte Beth, freundlich, denn irgendwie nahm ihr Sallys Lächeln ein wenig die Nervosität. »Als mein Vater starb, erkrankte meine Mutter, und ich habe sie gepflegt, bis auch sie vor ein paar Monaten von uns ging – und seitdem habe ich nichts anderes mehr getan, als meiner Tante im Haushalt zu helfen.«

»Was für ’n verdammtes Pech«, sagte Sally mitfühlend und drückte Beth die Hand. »Ich habe meinen Dad oder meine Ma nicht mal gekannt, sondern in einem Waisenhaus gelebt, bis ich sechzehn war und sie mich rausgeworfen haben. In den letzten zweieinhalb Jahren hab ich in einem Wohnheim für junge Mädchen gelebt und mich ganz allein durchschlagen müssen …«

»Das ist ja noch viel schlimmer!«, entgegnete Beth entsetzt. »Ich musste zu meiner Tante ziehen, nachdem meine Mutter gestorben war. Aber da sie in Holborn wohnt, wird es wenigstens keine allzu weite Busfahrt für mich sein, falls ich hier eine Stelle bekomme …« Sie hielt inne und seufzte bei der Erinnerung daran, wie viel glücklicher sie in dem kleinen Haus ihres Vaters in Clerkenwell gewesen war, obwohl sie ihre Mutter dort jahrelang gepflegt und ihr plötzlicher Herzanfall Beth zutiefst erschüttert hatte.

Sally grinste, als ihr Name aufgerufen wurde. »Das bist du!«, sagte Beth zu ihr.

»Ja, dann hab ich’s wohl gerade noch geschafft«, rief Sally erfreut und sprang auf, um einer hageren, mürrisch wirkenden und ganz in Schwarz gekleideten Frau zu einer der Trennwände zu folgen. Als sie dahinter verschwanden, sah Beth zwei Stühle weiter ein etwa sechzehnjähriges Mädchen sitzen, das sie fragend anschaute.

»Ich warte jetzt schon ewig hier«, sagte das Mädchen mit einem nervösen Blick zu den Trennwänden. »Und sie haben mich immer noch nicht aufgerufen …«

»Ist es auch deine erste Stelle?«

»Ja. Ich heiße übrigens Margaret Gibbs, werde aber von allen Maggie genannt«, sagte das junge Mädchen. »Mein Vater wollte, dass ich weiter zur Schule gehe, um Lehrerin zu werden, aber …« Sie holte tief Luft, was fast ein bisschen wie ein Schluchzen klang. »Er hatte vor einem Monat einen Arbeitsunfall und ist jetzt praktisch ans Bett gefesselt. Der Arzt meinte, er würde vielleicht nie wieder gehen können, und ohne Papas Lohn wird Mum nicht zurechtkommen.«

»Oh, das tut mir aber leid! Ich weiß, wie es ist, jemanden leiden zu sehen …«

»Es ist schrecklich …« Maggie warf schon wieder einen nervösen Blick zu den Trennwänden hinüber. »Ich hoffe, dass sie etwas für mich haben. Ist mir egal, was oder wo …«

»Ja, so geht es mir auch. All das ist sehr aufregend, was? In den Zeitungen steht, dass der neue Besitzer ein sehr reicher, gutaussehender Amerikaner sein soll. Ich war übrigens schon oben, um mir den Laden anzusehen. Du auch?«

Maggie nickte. Ihr dunkelbraunes Haar war glatt aus dem Gesicht gekämmt und zu einem ordentlichen Knoten aufgesteckt, aber die Strähnchen, die sich daraus lösten, kräuselten sich in ihrem Nacken und um ihr hübsches Gesicht.

»Es sind zwar noch Jalousien vor allen Fenstern, sodass man nicht hineinschauen kann, aber ich glaube, dass der Laden sehr schön sein wird – fast so beeindruckend wie Selfridges oder Harrods, wenn auch nicht so groß wie Harrods …«

Das neue Kaufhaus lag am anderen Ende der Oxford Street gegenüber Selfridges und nicht weit entfernt vom Soho Square, was ein Grund für Tante Helen gewesen war, die Nase zu rümpfen und Beth zu ermahnen, sich niemals in diese »anrüchige Gegend« zu begeben, wie sie sie nannte, da sich dort Frauen von zweifelhaftem Ruf herumtrieben. Am Ende schien sie jedoch beschlossen zu haben, darüber hinwegzusehen, da Beth ohnehin nie einen Fuß in dieses Viertel setzen müsste. Jedenfalls nicht, solange sie ihr Lunchpaket im Personalraum aß und gleich nach Feierabend den Bus nach Hause nahm.

»Wie aufregend das alles ist!«, sagte Maggie, die immer nervöser zu werden schien, weil ihr klar wurde, wie groß und bedeutend das Kaufhaus sein würde. »Und wie viele Leute hier sind! Wahrscheinlich viel mehr, als gebraucht werden … weswegen ich froh sein kann, wenn ich überhaupt etwas bekomme! Auch wenn ich natürlich schrecklich gern mit Bekleidung oder Hüten arbeiten würde …«

»Ach, ich bin mir sicher, dass sie auch Nachwuchskräfte einstellen werden«, beruhigte Beth sie. »Außerdem hast du eine schöne Stimme und gute Manieren, was sicher ein großer Vorteil bei einem Unternehmen wie Harpers ist. Ich denke, es ist alles eine Frage der Höflichkeit und des Respekts den Kunden gegenüber. Ich zum Beispiel hasse es, wenn Verkäuferinnen mir nicht von der Seite weichen und mich bei meinen Entscheidungen zu beeinflussen versuchen.«

»Oh ja, das kann ich auch nicht leiden.«

»Miss Margaret Gibbs bitte.« Ein Mann mit glatt zurückgekämmtem, an den Schläfen schon leicht ergrautem Haar rief Maggie auf, die sich mit einem etwas ängstlichen Blick zu Beth erhob, ihren engen, knöchellangen Rock glattstrich und dem Mann hinter eine der Trennwände folgte.

Beth spielte nervös mit ihren Handschuhen. Maggie würde gern mit Bekleidung oder Hüten arbeiten, während sie selbst nur irgendeine Stelle brauchte. Ihr Mund war wie ausgedörrt, und ihr Magen kribbelte vor Nervosität, weil sie wusste, wie verärgert Tante Helen sein würde, falls sie wieder einmal scheiterte.

Hinter einer der Trennwände sah sie Sally Ross hervortreten, die über das ganze Gesicht strahlte und ihr im Vorbeigehen zuflüsterte: »Ich bin dabei – viel Glück!«

Beth nickte nur, weil ihr Mund zu trocken war, um zu antworten. Stattdessen beobachtete sie angespannt, wie einige Männer hinter der Trennwand am anderen Ende des Raums verschwanden und zwei ältere Frauen zurückkamen, eine von ihnen diejenige, die so streng gewirkt hatte und ganz in Schwarz gekleidet gewesen war. Sie rief sofort ihren Namen auf.

Beth erhob sich und folgte ihr hinter die mittlere Trennwand. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie überlegte, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte. Die Frau setzte sich an einen Schreibtisch, doch da es keine zweite Sitzgelegenheit gab, blieb Beth vor ihr stehen.

»Sie sind Miss Beth Grey?« Der Blick der Frau glitt so intensiv und prüfend über sie hinweg, als suchte sie nach einem Anlass zur Kritik.

»Ja, Madam.« Beths Stimme krächzte vor Nervosität.

»Ich bin Miss Glynis Hart und werde die Kontrolleurin des Damenbekleidungsbereichs und des Erdgeschosses sein«, sagte die Frau. »Es ist eine verantwortungsvolle Stellung, und deshalb wurde ich gebeten, bei der Auswahl unseres Personals zu helfen. Wir suchen junge Damen für eine von mehreren Abteilungen.« Sie blickte auf den Brief in ihrer Hand. »Wie ich sehe, besitzen Sie keinerlei Erfahrung als Verkäuferin. Wie kamen Sie also darauf, dass Sie gern bei uns arbeiten würden, Miss Grey?«

»Weil ich eine Stelle finden muss, Miss Hart, und ich dachte, dass dies ein guter Arbeitsplatz wäre.«

»Was zweifellos auch hundert andere Mädchen dachten«, gab Miss Hart in beißend scharfem Ton zurück. »Ihnen ist schon klar, dass dies hier ein sehr angesehenes Kaufhaus ist? Und wir natürlich von unseren Mädchen erwarten, dass sie klug und fleißig sind und Harpers Ehre machen? Hier zu arbeiten ist ein Privileg, und das sollte jeder jungen Frau, die wir beschäftigen, bewusst sein. Also nennen Sie mir einen Grund, warum wir Sie einem Dutzend anderer Bewerberinnen vorziehen sollten.«

»Es gibt keinen solchen Grund, nehme ich an«, erwiderte Beth ehrlich. »Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich sehr dankbar wäre und fleißig für das Unternehmen arbeiten würde. Außerdem glaube ich, dass ich schnell und akkurat im Rechnen bin – und Geduld besitze …«

»Aha. Verstehe.« Miss Harts Augen wurden schmal. »Das an sich wird schon dringend nötig sein beim Bedienen unserer Kundinnen, von denen einige ziemlich schwierig sein könnten. Denn eins dürfen Sie nie vergessen: Die Kundin hat immer recht, soweit es Sie angeht! Und falls die Beschwerde einer Kundin Ihre Befugnisse überschreiten sollte, wird diese an Ihre direkte Vorgesetzte, die Abteilungsleiterin, weitergegeben und dann an die Etagenaufsicht, wobei es sich um meine Person handeln wird, und schließlich an den Geschäftsführer, falls die Beschwerde bedeutsam genug sein sollte.« Sie musterte Beth von oben bis unten und nickte wieder. »Nun, Sie haben eine gepflegte Ausdrucksweise, ein adrettes Aussehen und wirken anständig und aufrichtig. Erfahrung ist nicht unbedingt vonnöten, da die neuen Mitarbeiterinnen hier eine kurze Einführung erhalten werden. Ich werde Sie also auf meine Liste möglicher Kandidatinnen setzen, und Mr. Stockbridge, unser Geschäftsführer, wird dann die endgültige Entscheidung fällen.«

»Oh … vielen Dank«, sagte Beth ein bisschen entmutigt und wandte sich zum Gehen.

»In zwei Tagen werden Sie eine schriftliche Benachrichtigung erhalten, Miss Grey – und falls Sie angenommen werden, melden Sie sich am Tag darauf hier, um an der Einweisung teilzunehmen. Alle, die das Glück haben, einen Arbeitsplatz bei Harpers zu erhalten, werden an dieser dreitägigen Einarbeitung teilnehmen und den darauffolgenden Tag damit verbringen, die Waren für unsere Eröffnung herzurichten …«

»Ja, danke, das habe ich verstanden«, erwiderte Beth und fasste wieder ein bisschen Mut. »Aber was wäre meine Aufgabe hier, falls ich angenommen werden sollte – und was würde ich verdienen?«

»Das entscheide nicht ich«, antwortete Miss Hart. »Ich bin nur hier, um die Bewerberinnen zu befragen und Einzelheiten über die mir geeignet erscheinenden an die Geschäftsführung weiterzugeben. Alles andere können Sie unserem Brief an Sie entnehmen. Und nun wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag.«

»Und ich Ihnen, Miss Hart«, sagte Beth und wandte sich zum Gehen. Als sie sich umdrehte, stieß sie fast mit Maggie zusammen, die hinter einer weiter entfernten Trennwand hervorgetreten war. Sie lächelte und sah sehr zufrieden mit sich aus.

»Hallo noch mal!«, sagte sie freudig erregt. »Ich habe eine Stelle als Verkaufsassistentin erhalten. Und ich werde Hüte verkaufen – oder zumindest Mrs. Craven dabei unterstützen. Abgesehen davon muss ich dafür sorgen, dass immer alles ordentlich und aufgeräumt ist. Und zu Anfang werden sie mir sechs Schilling in der Woche zahlen.«

»Du Glückspilz«, sagte Beth und fragte sich, warum nicht auch sie sofort ausgewählt worden war. Es war beunruhigend, dass sowohl Maggie als auch Sally auf Anhieb angenommen worden waren … Aber vielleicht hatten sie ja mit einem ranghöheren Angestellten als Miss Hart gesprochen? »Ich stehe auf einer Liste und muss noch abwarten, ob sie mich nehmen.«

»Dann wünsche ich dir viel Glück«, sagte Maggie mit einem herzlichen Lächeln. »Und ich hoffe, du bekommst die Stelle.«

Beth nickte, während ihr Blick zu einer Frau in einem eleganten schwarzen Kostüm glitt, die hinter einer der Trennwände hervortrat. Der gutaussehende Mann mit dem angegrauten Haar lächelte sie an und unterhielt sich angeregt mit ihr, was sie zu freuen schien. Was diese Frau von all den anderen unterschied, waren der rote, mit einem großzügigen Schleier versehene Filzhut auf ihrem honigblonden Haar und die glänzenden schwarzen Lackpumps mit den großen Schnallen vorn. Sie sah aus, als käme sie aus einer bessergestellten Familie, und der Blick des Mannes folgte ihr, als sie den Besprechungsraum verließ. Er war ganz offensichtlich fasziniert von ihr, und Beth fragte sich für einen Moment, wer diese Frau sein mochte, als sie in die kühle, feuchte Morgenluft hinaustrat, ihren Bus zur Ecke High Holborn bestieg und von dort beklommen heimging.

Sie seufzte, als es auch noch zu nieseln begann, während sie an den ortsansässigen Geschäften vorbeiging. Vor Mr. Rushdens Metzgerei hatte sich eine regelrechte Warteschlange gebildet. Andy, der Verkäufer, nahm etwas aus dem Schaufenster und winkte ihr zu, was Beth heiß erröten ließ. Er sprach jedes Mal mit ihr und hörte nicht auf, sie anzulächeln, wenn sie ihren wöchentlichen Einkauf machte, der hauptsächlich aus Schmor- oder Suppenfleisch, Speck, Schinken und entweder einem Hühnchen oder ein paar Koteletts für das Wochenende bestand. Wenn sein Chef nicht hinsah, gab er ihr gutes Fleisch für wenig Geld, sodass Tante Helen meistens sie einkaufen schickte.

Beth erwiderte Andys Lächeln, aber nicht sein Winken, weil das nicht damenhaft wäre, wie ihre Tante sagen würde. Denn immerhin stamme ihre Großmutter aus dem niederen Adel und wohlhabenden Bürgertum, wie Beth schon oft genug zu hören bekommen hatte … Sie hatte einen Herrenausstatter geheiratet, der viele Jahre lang sehr erfolgreich gewesen war, bis er schließlich erkrankte und sein Geschäft nicht mehr erfolgreich war. Er hatte seinen beiden Töchtern ein kleines Erbe hinterlassen, das durch eine Treuhandschaft auf Lebenszeit abgesichert war, aber bedauerlicherweise mit ihnen erlosch. Tante Helen dagegen hatte nie geheiratet und ihr kleines Einkommen mit Näharbeiten aufgebessert, indem sie für höhergestellte Damen schneiderte. Beth wusste nicht, warum ihre Tante nicht geheiratet hatte, glaubte aber, dass es an der Einstellung ihres Großvaters gelegen haben könnte, der vielleicht von seiner älteren Tochter erwartet hatte, dass sie daheimblieb und sich um ihn kümmerte. Das würde immerhin erklären, warum sie ihrer Schwester ihre Heirat so verübelt hatte. Sie war streng, ja, manchmal sogar richtig kalt, aber sie hatte immerhin dafür gesorgt, dass Jessie anständig beerdigt wurde und ihre Nichte ein Zuhause hatte. Beth hatte gehofft, sie könnten Freundinnen werden, doch ihre Tante war eine Frau, der man nur sehr schwer näherkommen konnte. Trotzdem war sie ihr natürlich dankbar und wollte arbeiten, um wenigstens selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können.

Tante Helen war eine hervorragende Schneiderin, die ihre Kundinnen zum Maßnehmen und Anprobieren sogar zu Hause aufsuchte. Sie schien sehr viele Leute zu kennen, aber Beth vermutete, dass sie dennoch einsam war, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Hätte Beth ein Talent für Handarbeit gezeigt, hätte ihre Tante sie vielleicht als Gehilfin akzeptiert, aber Beths Stiche waren nicht akkurat genug, und die beiden Male, als sie an der Nähmaschine gearbeitet hatte, war der Faden am Ende so vollkommen verheddert gewesen, dass ihr verboten worden war, die Maschine je wieder anzufassen!

Ein Junge verkaufte Zeitschriften vor dem Laden seines Arbeitgebers, der wie immer nach Tabak und aus irgendeinem Grund sehr stark nach Pfefferminze roch, als Beth dort vorbeikam.

Der Junge schrie den Passanten Nachrichten zu, um sie zum Kauf einer Zeitung zu bewegen. »Laut Umfragen sterben jede Woche zwei Prozent der Bevölkerung aufgrund von Kälte«, verkündete der Junge. »Kaufen Sie eine Zeitung, und lesen Sie mehr darüber, Miss! Sie kostet doch bloß einen Penny. Und lesen Sie auch etwas über diese Frauen, die Piccadilly zertrümmert haben …«

Er bezog sich auf die Suffragetten, die Anfang des Monats mit Hämmern und Steinen bewaffnet im Londoner West End randaliert und in dem Geschäftsviertel jede Menge Schaufenster eingeschlagen hatten.

Beth nahm eine Zwei-Penny-Münze aus ihrem Portemonnaie und wartete auf ihr Wechselgeld. Sie leistete sich nicht oft die Tageszeitung, doch falls ihre Bewerbung bei Harpers ihr keine Stelle einbrachte, würde sie sich vielleicht um andere bewerben müssen.

Aus der offen stehenden Tür des Fischgeschäfts drang ein penetranter Geruch, als Beth mit ihrer Zeitung daran vorbeiging. Im Schaufenster befand sich eine große Auswahl an frischem Fisch, einschließlich Schollen, Dorsche, Seehechte und Bücklinge, die alle auf einem Bett aus zerstoßenem Eis hübsch angerichtet waren. Auf einem Emailletablett lagen zwei große rote Hummer, von denen Beth annahm, dass sie sehr kostspielig sein mussten. Sie hatte Hummer noch nie probiert, obwohl ihr Vater mit ihr und ihrer Mutter einmal zu einem Tagesausflug nach Southampton gefahren war, um sie zu einem nachmittäglichen Imbiss aus frisch zubereiteten Schalentieren einzuladen. Damals war sie noch klein und er noch stark, gesund und liebevoll gewesen.

Eine Welle der Trauer durchflutete Beth bei der Erinnerung daran. Sie hatte ihren Vater und ihre Mutter sehr geliebt – auch wenn ihre Mutter mit fortschreitender Krankheit immer egoistischer geworden war und Beths gesamte Zeit und Energie für sich beansprucht hatte. Tante Helen hätte ihre Schwester ins Krankenhaus verbannt, aber Beth behielt ihre Mutter zu Hause und störte sich nicht an ihren Eskapaden. Auch heute wünschte sie sich noch von ganzem Herzen, sie könnte ihre Eltern wiederhaben, aber natürlich war ihr klar, dass die Vergangenheit vergangen war und sie ihr Leben weiterführen musste.

Nach ein paar Minuten Fußweg von ihrer Bushaltestelle an der High Holborn aus erreichte Beth das kleine Reihenhaus ihrer Tante an der Broughton Street. Es hätte einen neuen Anstrich an Fenstern und Türen gebrauchen können, doch dafür war die steinerne weiße Eingangsstufe blitzblank geschrubbt von Minnie, die dreimal in der Woche für zwei Stunden kam, um die schwereren Arbeiten zu erledigen, selbst die Spitzengardinen waren blendend weiß. Beth fand, dass das Haus zwar solide, aber trostlos war und ihr nie ein wahres Zuhause sein könnte, auch wenn Tante Helen sie oft genug daran erinnerte, dass sie ohne ihre Hilfe jetzt vielleicht irgendwo in einem Zimmer hausen würde, das nach Kohl und Feuchtigkeit roch. Es war kleiner als das Haus im East End, in dem ihr Vater seine Praxis gehabt hatte, aber das Wohnviertel war definitiv besser.

Nach einem tiefen Atemzug betrat Beth die Diele, in der es angenehm nach Lavendelwachs roch, aber ihr Puls beschleunigte sich, als sie Tante Helens infernalisch laute Nähmaschine hörte. Würde dieses Haus je ein Zuhause für sie werden, oder würde sie dort immer nur auf Zehenspitzen herumtippeln wie eine Fremde?

 

Maggie betrat ihr Elternhaus, ein Reiheneckhaus in der Jameson Street unweit der Cheapside, durch die Hintertür. Die Jameson war eine schmale Straße mit Wohnhäusern zu beiden Seiten, an denen der Anstrich abblätterte, einem Laden an der Ecke und Kindern, die sich mit Hüpfspielen auf den Gehwegen vergnügten. Trotz des heruntergekommenen Zustands vieler Häuser waren die Gardinen an allen Fenstern makellos, und auch hier wurden die weißen Eingangsstufen jeden Morgen gründlich geschrubbt.

Da Maggie kein Geräusch aus der Küche hörte, vermutete sie, dass ihre Mutter entweder zum Markt oder zu dem Laden an der Ecke gegangen war. Bei dem Gedanken wurde Maggie gleich leichter ums Herz, da Mama die Angewohnheit hatte, sich lautstark darüber zu beklagen, wie viel sie doch zu tun hatte und wie schwer es doch sei zurechtzukommen, seit Papa bettlägerig war. Maggie hatte immer Angst, dass ihr Vater all diese Dinge mitbekommen würde und verletzt wäre. Sie war sein einziges Kind und wusste, dass sie ihm ebenso viel bedeutete wie er ihr, und wann immer sie diesen schmerzerfüllten Ausdruck in seinen Augen sah, traf es sie wie ein Messerstich ins Herz.

Der Unfall, der während seiner Arbeit als Vorarbeiter bei Dorkings, einer Importfirma von Getreide und anderen Nahrungsmitteln an den East India Docks, geschehen war, hatte ihn schlagartig von einem glücklichen, fröhlichen Mann zu einem Invaliden gemacht. An einem Kran mit einer Transportkiste war ein Kabel gerissen, und die herabstürzende Kiste hatte Papa trotz einer Warnung, die ihm das Leben rettete, so hart hinten im Nacken gestreift, dass er seiner schweren Rückgratverletzung wegen wohl kaum je wieder arbeitsfähig sein würde. Als Vorarbeiter hatte er gut verdient, und da er ein sparsamer Mensch war, hatte er gehofft, seiner Tochter eine gute Zukunft sichern zu können, doch der Unfall hatte ihm die Kraft in seinen Beinen genommen und Maggie alles, was er ihr versprochen hatte. Das Einzige, was sie jedoch wirklich wollte, war, dass er weiterlebte und seine Schmerzen nachließen.

Sie lief nach oben und betrat leise das Zimmer ihres Vaters, um ihn nicht zu wecken, falls er schlief. Aber er wandte sich ihr zu und lächelte sie an.

»Da bist du ja wieder, Schatz. Ich glaube, deine Mutter ist einkaufen gegangen …«

»Ja, das denke ich auch. Ich hatte ihr gesagt, ich würde das nach meiner Rückkehr übernehmen, aber sie behauptet ja immer, die besten Schnäppchen macht sie.«

»Und so ist’s wahrscheinlich auch«, stimmte Papa zu und griff nach Maggies Hand, als sie sich zu ihm auf den Bettrand setzte. Seine Beine konnte er nicht mehr richtig bewegen, wohl aber seine Hände und Arme, und so schloss er seine Finger jetzt liebevoll um ihre. »Wir müssen sparsam sein, bis meine Entschädigung oder Rente bewilligt ist …«

»Haben sie dir schon gesagt, wie viel es sein wird?«, fragte Maggie. Da die Ursache des schrecklichen Unfalls ein Maschinenschaden an den Docks gewesen war, hatte sich der Firmeninhaber zu einer Entschädigung bereiterklärt, aber Maggies Mutter meinte, es würde kaum mehr als ein Bruchteil dessen sein, was ihr Vater vorher verdient hatte.

Er lächelte liebevoll. »Noch nicht, mein Schatz. Es könnte ein Pauschalbetrag sein oder eine Rente von ein paar Schilling in der Woche. Wir werden abwarten müssen, bis wir etwas hören.«

»Ich habe eine Stelle bei Harpers!«, berichtete Maggie freudig. »Ich beginne nächste Woche, aber vorher müssen wir noch an einer Schulung teilnehmen. Im Moment werde ich sechs Schilling die Woche verdienen, doch nach der Einarbeitungszeit in drei Monaten werde ich das Doppelte verdienen.«

»Ich wollte doch, dass du auf der Schule bleibst und dann studierst«, entgegnete ihr Vater stirnrunzelnd. »Du hättest Lehrerin oder sogar Ärztin werden können, Maggie. Nicht nur der Verdienst wäre besser, es wäre auch ein befriedigenderes Leben für ein intelligentes Mädchen.«

»Ich bin nicht klug genug, um Ärztin zu werden«, sagte sie und drückte ihm sanft die Hand. »Vielleicht hätte ich Lehrerin werden können, wenn ich aufs College gegangen wäre, wie wir beide gehofft hatten.«

Sie sah, wie er schmerzlich das Gesicht verzog. »Es tut mir so leid, Schatz, dass ich dich enttäuscht habe. Ich weiß, wie viel dir das bedeutet hat.«

»Ach was, Papa«, widersprach Maggie, obwohl es wirklich verdammt schwer gewesen war, ihre Träume aufzugeben. Sie schenkte ihrem Vater ein Lächeln und senkte den Kopf, um seine Hand zu küssen und sie an ihre Wange zu drücken. Sie wusste, wie groß seine Liebe zu ihr war, und erwiderte sie von ganzem Herzen. »Mein Lohn wird ein bisschen helfen, obwohl ich weiß, dass es nicht viel ist – aber es waren so viele Bewerberinnen dort, dass ich befürchtete, nicht einmal eine Stelle zu bekommen.«

»Sie wissen eben, was gut ist, wenn sie es sehen!«, sagte er mit einem liebevollen Lächeln. »Könntest du mir ein Glas kühles Wasser geben, Liebes? Es wird nach einer Weile warm …«

»Aber natürlich, Papa!« Maggie nahm sein Glas und den Wasserkrug und brachte beide hinunter in die Küche. Sie musste das Wasser zuerst ein paar Minuten laufen lassen, bis es kühler wurde, und spülte auch das Glas und den Krug, bevor sie beide auf das Tablett für ihren Vater stellte. Als sie gerade wieder gehen wollte, öffnete sich die Tür, und ihre Mutter kam mit einem Binsenkorb am Arm herein.

Joan Gibbs war eine kleine, schlanke Frau mit hellen Augen, dunklem, zu einem Dutt zurückgekämmtem Haar und einer guten Figur. Sie hatte noch immer ein attraktives Äußeres, und man hätte sie sogar als hübsch bezeichnen können, wenn sie öfter mal gelächelt hätte. Sie hatte zwei Kinder geboren, zuerst Maggie und später noch einen Sohn, der jedoch ein paar Tage nach der Geburt gestorben war. Danach hatten die Ärzte Joan verboten, noch mehr Kinder zu bekommen, weswegen sie fast ständig eine Duldermiene zur Schau trug. Außerdem hatte sie bis zu dem Unfall ihres Mannes eine Teilzeitstelle in einem nahen Damenbekleidungsgeschäft gehabt und ärgerte sich nun darüber, dass sie etwas hatte aufgeben müssen, was ihr Spaß machte, um sich um ihren pflegebedürftigen Ehemann zu kümmern. Joan Gibbs war noch nie eine besonders fürsorgliche Frau gewesen, und der Unfall ihres Mannes schien die Dinge nur noch schlimmer gemacht zu haben …

»Wie bist du zurechtgekommen?«, wollte sie von Maggie wissen. »Ich hoffe, du hast weder deine Zeit noch meine Bemühungen, deine beste weiße Bluse zu bügeln, verschwendet?«

»Ich habe eine Stelle«, berichtete Maggie, als sie das Tablett nahm. »Alles andere erzähle ich dir später, wenn ich Papa das Wasser hinaufgebracht habe. Aber sie zahlen mir sechs Schilling in der Woche …«

»Mit meiner Teilzeitstelle habe ich mehr als das verdient.« Ihre Mutter runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich mache uns gleich eine Kanne Tee – aber bring zuerst das Wasser hinauf. Ich war heute Morgen schon oft genug dort oben …«

Maggie ging schnell hinaus. Sie wusste, dass Papas Unfall ihnen das Leben erschwert hatte, und leistete gerne ihren Beitrag mit dem ständigen Treppauf, Treppab. Es machte ihr ebenso wenig aus wie alles andere, was sie für ihn tat. Aber da ihre Mutter es für ungehörig hielt, dass eine Tochter ihren Vater wusch, durfte sie ihm nur das Gesicht und die Hände waschen und ansonsten bloß ihrer Mutter zur Hand gehen. Doch wann immer sie konnte, schüttelte sie seine Kissen auf, las ihm aus ihren gemeinsamen Lieblingsbüchern vor und tat auch sonst alles, wovon sie glaubte, es könnte ihm die Situation erleichtern.

Maggie runzelte die Stirn, als ihr bewusst wurde, dass ihre Mutter noch viel mehr zu tun haben würde, wenn sie zu arbeiten begann. Natürlich würde sie dafür sorgen, dass Papa alles hatte, was er brauchte, bevor sie morgens ging und wenn sie abends heimkam, aber tagsüber würde der Großteil der Arbeit auf ihrer Mutter lasten. Angesichts dieser grundlegenden Veränderung ihrer Lebensumstände erschien Maggie der versprochene Verdienst von sechs Schilling plötzlich sehr gering. Und sie wusste schon jetzt, dass Mama nur spöttisch dazu bemerken würde, dieses bisschen Geld würde Maggies Arbeit zu Hause kaum aufwiegen. Und das, obwohl sie selbst sie dazu gedrängt hatte, die Schule abzubrechen und sich um die Stelle zu bewerben. Im Übrigen war es sehr unwahrscheinlich, dass sie mehr verdienen würde, solange sie nicht mehr Erfahrung gesammelt hatte. Sie war sehr überrascht gewesen, die Stelle sofort bekommen zu haben, während anderen Bewerberinnen gesagt worden war, man werde sie erst in ein paar Tagen benachrichtigen. Mr. Stockbridge war bei ihrem Vorstellungsgespräch sehr freundlich, ja fast schon väterlich zu ihr gewesen und hatte gesagt, sie sei genau das, was sie bei Harpers suchten.

»Mädchen mit guter Erziehung und angenehmer Ausdrucksweise sind genau das, was wir brauchen«, hatte er lächelnd hinzugefügt.

Doch dann vergaß sie all das und schaute zu, wie zufrieden ihr Vater an seinem kalten Wasser nippte.

»Das ist besser, Schatz«, sagte er. »Mein Mund ist die meiste Zeit sehr trocken, aber ich mag den Geschmack von warmem Wasser nicht.«

»Möchtest du, dass ich dir eine Flasche helles Bier bringe?«

Sie sah das Zögern in seinem Gesicht, denn er hatte immer gern etwas getrunken, wenn er abends von der Arbeit heimkam. »Das wäre Verschwendung, Liebes«, erwiderte er dann. »Ich weiß, wie schwer deine Mutter zu kämpfen hat, um finanziell über die Runden zu kommen, und wie froh sie war, ihr eigenes Geld zu verdienen, um sich kaufen zu können, was sie wollte. Wir werden abwarten müssen, was die Firma mir zahlt, bevor wir uns Luxusartikel leisten können …«

Maggie nickte, weil sie seine Bedenken verstand. »Mama kocht gerade eine Kanne Tee – möchtest du auch welchen?«

»Ja, sehr gern.« Er nickte ihr zu, und sie sah, wie er vor Schmerz zusammenzuckte. »Gibst du mir bitte einen Löffel von meiner Medizin, Maggie?«

»Ist der Schmerz wieder so schlimm?«

Da er nur das Gesicht verzog, holte sie schnell das kleine braune Fläschchen, das auf der Kommode stand, gab ein paar Tropfen daraus auf einen Teelöffel und vermischte sie mit einem Glas Wasser. Ihr Vater nahm das Glas und trank es fast begierig aus, bevor er sich aufatmend im Bett zurücklehnte.

»Geh und sprich mit deiner Mutter. Erzähl ihr deine Neuigkeiten«, sagte er und schloss die Augen.

Maggie kamen die Tränen, als sie die Treppe hinunterging. Sie wusste, dass er schier unerträgliche Schmerzen hatte und die Medizin ihm eine Zeitlang Linderung verschaffte. Und da er nun schlafen würde, hatte es auch keinen Sinn, ihm eine Tasse Tee zu bringen, bis er später wieder erwachte. Sie würde den Tee mit ihrer Mutter trinken und ihr dabei von ihrem Vorstellungsgespräch erzählen …

***

Beths Brief kam zwei Tage später mit der zweiten Post. Sie backte gerade Brot, als sie den Briefschlitz zufallen hörte, und rannte in die Diele, um den Umschlag aufzuheben, aufzureißen und gespannt zu lesen. Freudige Erregung erfasste sie, als sie sah, dass ihr die Stelle als zweite Verkäuferin in der Abteilung für Damenhüte, Handschuhe und Schals angeboten worden war. Sie würde unter Mrs. Rachel Craven arbeiten, die ihre direkte Vorgesetzte sein würde. Ihr Lohn betrug anfangs fünfzehn Schilling in der Woche und würde nach sechsmonatiger Arbeit in der Firma auf eine Guinee erhöht werden. Beth las den Brief mit gemischten Gefühlen, da sie gehofft hatte, etwas mehr zu verdienen, aber vielleicht hatte sie ja Glück gehabt, die Stelle überhaupt zu bekommen.

Beim Lesen der zweiten Seite sah Beth, dass sie schon am nächsten Morgen zu ihrer Einarbeitung zu erscheinen hatte. Dazu würde sie schwarze Pumps, Seidenstrümpfe und entweder ein schwarzes oder graues Kleid tragen müssen, hieß es in dem Brief. Zur Eröffnung des Kaufhauses würde ihr ein schwarzes Kleid zur Verfügung gestellt werden, doch danach würde sie ihre Arbeitskleidung selber kaufen müssen.

Zumindest werde ich so eine kostenlose Uniform haben, dachte sie, ansonsten hätte sie das schwarze Kleid tragen müssen, das Tante Helen ihr genäht hatte, als ihre Mutter starb. Falls es geeignet war, könnte sie es vielleicht als Reservekleid benutzen, obwohl es natürlich auch möglich war, dass alle Verkäuferinnen im gleichen Stil gekleidet sein mussten. Und eine zweite Uniform würde teuer werden. Außerdem konnte sie sich bei ihrer Tante sicher sein, dass sie ihr einen Beitrag zu Unterkunft und Verpflegung abverlangen würde, sobald sie ihr eigenes Geld verdiente.

Tante Helen nahm den Brief, den Beth ihr hinhielt, und nickte. »Wie ich mir schon dachte«, sagte sie. »Wärst du von Lady Vera eingestellt worden, hättest du zweiundfünfzig Pfund im Jahr und freien Unterhalt bekommen. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich der Meinung war, dass der Posten einer Gesellschafterin viel besser für dich wäre?«

»In sechs Monaten werde ich mehr verdienen, Tante.«

»Offensichtlich«, stimmte ihre Tante zu. »Deshalb werde ich jetzt zunächst einmal sieben Schilling und sechs Pence nehmen und später zehn, sobald du mehr verdienst.«

»Ja, Tante«, sagte Beth und spürte, wie ihre Freude schon wieder verflog. So bliebe ihr gerade genug, um den Bus zur Arbeit zu bezahlen und sich etwas zum Mittagessen zu kaufen, was sie schätzungsweise sechs Pence pro Tag kosten würde. In dem Brief hatte etwas von einem Mitarbeiterrabatt gestanden, also konnte sie sich vielleicht gerade noch eine Tasse Tee leisten und ab und zu ihre Schuhe ausbessern lassen, besonders wenn sie an schönen Tagen zu Fuß zur Arbeit ging. Für Extras wie neue Kleidung blieb da wenig übrig, selbst mit dem scheinbar großzügigen Personalrabatt.

»Du hast ein anständiges schwarzes Kleid«, erklärte ihre Tante. »Wenn das akzeptabel ist, brauchst du dir kein neues zu kaufen, doch falls es ein bestimmter Stil sein muss, kann ich es dir wahrscheinlich für die Hälfte des Preises nachschneidern.«

»Ja, das weiß ich – danke«, sagte Beth und zögerte. »Ich bin gewiss nicht undankbar und weiß durchaus zu schätzen, was du für mich tust und getan hast, Tante.«

»Jessie war eine Närrin, aber ich kenne meine Pflichten«, erwiderte Tante Helen in etwas sanfterem Ton. »Meine Schwester hatte gehofft, du würdest einmal reich heiraten, aber so war es dann ja leider nicht.«

»Ich konnte sie doch nicht alleinlassen.« Beth wandte das Gesicht ab, weil sie zu stolz war, um sich vor ihrer Tante anmerken zu lassen, dass auch sie sich einmal Hoffnungen gemacht hatte, geliebt zu werden. Aber dann hatte sie den Mann verloren, den sie einmal für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte, und heute rechnete sie nicht mehr damit, noch einmal eine Chance zu bekommen. Ihr Schmerz war furchtbar gewesen, hatte mit der Zeit aber nachgelassen, auch wenn er immer noch gelegentlich zurückkam, um sie wieder heimzusuchen. »Ich habe Mama eben geliebt.«

»Du warst ihr jedenfalls eine sehr loyale Tochter.« Tante Helens Mundwinkel verzogen sich zu einem etwas schiefen Lächeln. »Aber nun hast du die erste Sprosse der Leiter des Erfolgs erklommen, Beth. Also gib dir Mühe, denn wer weiß, was noch alles passieren kann. Solltest du zur Abteilungsleiterin oder gar zur Etagenaufsicht befördert werden, würdest du einiges mehr verdienen – womöglich sogar fünfunddreißig Schilling oder mehr.«

»Ich bin jedenfalls fest entschlossen, hart zu arbeiten und etwas aus meinem Leben zu machen.« Beth verkniff sich einen Seufzer, denn in ihrem Herzen flammte Empörung auf, die sie jedoch schnell wieder unterdrückte. Sie gab sich wirklich alle Mühe, sich dankbar zu erweisen, indem sie ihrer Tante bei der Hausarbeit und beim Backen half, worauf sie sich sehr gut verstand. Selbst Tante Helen fand ihre süßen Brötchen ausgezeichnet und ihren Schokoladenkuchen, den es allerdings nur zu besonderen Gelegenheiten gab, köstlich. Für den Moment musste sie sich eben mit dem abfinden, was sie hatte, und dankbar dafür sein. »Ich werde mein Bestes geben, Tante.«

»Ja, ich weiß, dass du das tun wirst.« Ein seltenes Lächeln glitt über Tante Helens Lippen. »Ich bin fast fertig mit meinem Auftrag und werde heute Nachmittag mit einem neuen beginnen. Bitte koch uns doch eine Kanne Tee, und dann werden wir eins deiner leckeren Käsebrötchen mit einem Teller Suppe zu Mittag essen.«

Beth nickte und überließ ihre Tante wieder der Näharbeit. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie sich eine eigene Wohnung suchen, aber es würde mit Sicherheit noch Jahre dauern, bis sie sich die leisten konnte.

Trotzdem war Beth durchaus bewusst, dass sie mehr Glück hatte als viele andere junge Frauen in ihrer Lage. Hätte ihre Tante sie nicht bei sich aufgenommen, befände sie sich jetzt womöglich in einer prekären Lage, und vielleicht verstand sie teilweise sogar das Gefühl der Einsamkeit und den Groll ihrer Tante, weil auch sie auf ein eigenes Leben verzichtet hatte, um sich um einen kranken Elternteil zu kümmern. Beth wünschte nur, ihre Tante wäre ein bisschen zufriedener mit ihren Bemühungen, ihr möglichst alles recht zu machen.

Seufzend kehrte sie in die Küche zurück und beendete ihre Backarbeit. Sobald sie bei Harpers anfangen würde, musste sie wohl entweder abends oder schon sehr frühmorgens backen. Ihr Leben würde anstrengender sein als je zuvor, aber zumindest würde sie bei der Arbeit Menschen kennenlernen und vielleicht sogar Freunde finden …

 

Beth kam etwas zu früh zu ihrem Termin am nächsten Morgen und traf auf eine ganze Schlange junger Frauen vor dem Kaufhaus, an dessen Fenstern nach wie vor die Jalousien herabgelassen waren. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich eine kleine Gruppe von Zuschauern versammelt, die alle offensichtlich sehr interessiert an den Vorgängen bei Harpers waren. Beth sah sogar einige Kameras, die offensichtlich den Zeitungsreportern in der schnell anwachsenden Menge gehörten. Da der Eröffnungstag jedoch nicht heute, sondern erst am kommenden Dienstag war, verstand Beth nicht, was sie hier zu sehen oder zu hören hofften. Irgendeinen Klatsch, den sie als Schlagzeile bringen konnten – oder waren sie womöglich sogar hierher eingeladen worden?

Von den männlichen Angestellten waren erst einige wenige erschienen, doch als Beth unter den Mädchen zwei Gesichter sah, die sie erkannte, winkte sie sie lächelnd zu sich herüber.

»Ist das nicht Vordrängeln?«, fragte Maggie mit einem nervösen Blick zu der hinter Beth stehenden Frau. »Ich dachte, wir würden nicht vor nächster Woche anfangen, aber in dem Brief stand, wir sollten schon heute, an einem Freitag, kommen?«

»Das ist wegen der Einarbeitung – und die liebe Beth hier hat uns Plätze freigehalten, was?« Sallys waschechter Londoner Dialekt sorgte für das eine oder andere Stirnrunzeln, das sie aber ignorierte, als sie entschieden neben Maggie trat und sie am Arm an ihre Seite zog. »Ich hoffe nur, dass wir alle in derselben Abteilung arbeiten werden.« Beth fiel plötzlich auf, dass Sally zwischen ihrem Cockney-Dialekt und dem wesentlich kultivierteren Akzent wechselte, den sie wohl auch benutzen würde, wenn sie Kundinnen bediente.

»Ich soll in der Abteilung mit den Damenhüten und anderen Accessoires arbeiten«, berichtete Beth lächelnd.

»Ich auch!«, sagte Maggie und sah sehr erfreut darüber aus.

»Ich glaub, da schicken sie mich auch hin.« Sally verzog das Gesicht. »Dabei wollte ich eigentlich zur Damenkleidung, denn damit kenn ich mich am besten aus. Aber es hört sich so an, als würden wir zusammenarbeiten, was ja auch was ist.«

Dann öffnete sich die Eingangstür, und Beth, Maggie und Sally waren unter den Ersten, die eingelassen wurden. Die Frau, die das Bewerbungsgespräch mit Beth geführt hatte, hielt ein Klemmbrett in der Hand und zeigte den Neulingen den Weg zu ihren Abteilungen. Beth blieb jedoch kaum Zeit, die rundum luxuriöse Innenausstattung zu bewundern – die mit grauem Marmor gefliesten Böden, das schimmernde helle Holz und die funkelnden Kronleuchter an den Decken verschwammen vor ihren Augen, als die Etagenaufsicht zu ihnen sprach. Vor lauter Aufregung und Nervosität bekam sie zudem auch noch einen trockenen Mund und feuchte Hände.

»Ah ja, Miss Ross, Miss Grey und …« Sie unterbrach sich und schaute Maggie stirnrunzelnd über ihre Goldrandbrille an.

»Maggie Gibbs«, sagte das Mädchen schüchtern.

»Ach richtig, unsere Jüngste. Sie werden sich jetzt alle drei im ersten Stock melden. Den Aufzug dürfen Sie übrigens benutzen, falls Sie wissen, wie man ihn bedient. Wenn nicht, nehmen Sie die Treppe.«

»Ich kann damit umgehen«, erklärte Sally selbstbewusst und ging den anderen beiden voran in die kleine Kabine, wo sie zuerst die äußeren und dann die inneren Türen schloss und schließlich auf die Knöpfe an der Wand daneben drückte. »Wir hatten die Dinger auch bei Selfridges … und ich nehme an, dass es auch einen Aufzugführer geben wird, wenn der Laden erst mal öffnet.«

»Du hast bei Selfridges gearbeitet?«, fragte Maggie sie beeindruckt. »Warum bist du dann nicht dortgeblieben?«

»Weil der Abteilungsleiter seine Pfoten nicht bei sich behalten konnte«, erwiderte Sally grinsend. »Er hat mich jedes Mal begrabscht, wenn ich an ihm vorbeiging, und irgendwann hat’s mir gereicht. Hier werden wir wenigstens eine Frau als Vorgesetzte haben.«

»Das ja – auch wenn Miss Hart ein bisschen was von einem Drachen hat, nicht wahr?«, warf Maggie kleinlaut ein.

»Ich hab schon Schlimmere erlebt«, erklärte Sally grimmig. »Halt dich an mich, Maggie, dann werd ich dir alles zeigen.«

Der Aufzug hatte inzwischen den ersten Stock erreicht, wo Sally den Drahtkäfig und die Schiebetüren wieder öffnete und sie in einen großen Bereich mit teilweise noch verpackten Glastheken, Hutständern und vielen großen Kartons hinaustraten.

Während die Mädchen noch zögerten, trat eine Frau von etwa Anfang dreißig aus einem Raum, der, wie sie später erfuhren, das Warenlager war. Sie schaute sie direkt an und kam dann lächelnd und mit ausgestreckter Hand zu ihnen hinüber.

»Sie müssen meine zukünftigen Verkäuferinnen sein«, sagte sie. »Ich bin Rachel Craven und habe einige Erfahrung in der Branche, da ich eine Zeitlang einen Kurzwarenladen geführt habe. Während der Arbeitszeiten werden Sie mich mit Mrs. Craven ansprechen, aber ich hoffe, dass wir uns gut verstehen und vielleicht sogar Freundinnen werden.« Mit glänzenden Augen betrachtete sie die drei. »Sie, Miss Sally Ross, werden als leitende Verkäuferin für mich arbeiten«, sagte sie und wandte sie sich dabei auf Anhieb an die richtige Person. »Ich habe gehört, warum Sie bei Selfridges gekündigt haben – und falls Sie in Zukunft ähnlichen Ärger haben sollten, kommen Sie zuerst zu mir, dann werde ich die Sache klären.«

Sally nickte. »Danke.«

»Und bevor wir weitergehen, sollte ich Ihnen wohl kurz erzählen, was ich über das Kaufhaus weiß. Wie Sie wissen, befinden wir uns hier im ersten Stock, und gleich neben uns liegen die Damenkonfektions- und Dessousabteilungen. Der Herrenkonfektionsbereich, der in Bereiche für Anzüge, Mäntel, Hüte, Handschuhe und Unterwäsche aufgeteilt ist, befindet sich in der Etage über uns, und gleich daneben ist die Schuhabteilung. Die Damenschuhe befinden sich ebenfalls auf dieser Etage, was ich übrigens für einen Fehler halte, und auch die Kinderkleidung ist dort oben. In der dritten Etage gibt es ein Restaurant, in dem sowohl Kunden als auch Mitarbeiter kleine Snacks wie eine Tasse Tee, Gebäck oder Knabberzeug bekommen können, und dort oben ist auch der Belegschaftsraum mit eigenen Toiletten, in den Sie sich zurückziehen können, wenn Sie sich unwohl fühlen. In der vierten Etage befinden sich die Büros von Mr. Stockbridge und Mr. Marco, so wie die der Buchhaltung und die Kasse, zu der wir unsere Rechnungen und das Bargeld hinaufschicken. Und dann ist da natürlich noch der Keller …«

»Der wozu benutzt wird?«, fragte Maggie.

»Im Keller befindet sich der Tätigkeitsbereich unseres Hausmeisters, der unsere Waren heraufbringt und uns alle in Schwung hält …«

»Hier gibt es nur einen Hausmeister?«, warf Sally Ross ein. »Bei Selfridges hatten wir gleich mehrere.«

»Nun, ich nehme an, dass wir für den Moment auch so zurechtkommen werden.« Mrs. Craven richtete ihren Blick auf Beth. »Und Sie müssen Miss Beth Grey sein, unsere zweite Mitarbeiterin, die die Verkaufstheke mit den Handschuhen, Tüchern und Schals übernehmen wird, während Sie, Miss Gibbs, zunächst einmal meine Assistentin sein werden. Das bedeutet für Sie, aufzuräumen, nachdem ich eine Kundin bedient habe, und mir zu holen, was ich brauche. Darüber hinaus wird es auch Ihre Aufgabe sein, hier morgens abzustauben und Schonbezüge zu entfernen. Miss Ross wird Lederhandtaschen und Modeschmuck verkaufen – die übrigens auf zwei Theken verteilt sind –, und ich selbst bin für die Hüte zuständig. Wenn die eine oder andere von Ihnen sehr beschäftigt ist, kann ich ihr Miss Gibbs zur Unterstützung schicken. Ich werde Sie natürlich alle im Umgang mit den Waren unterweisen und Ihnen zeigen, wie man mit den Kundinnen spricht, ihr Geld entgegennimmt und es mithilfe unserer genialen Maschine zum Wechseln ins Büro hinaufschickt. Falls ich Zeit dazu habe, werde ich anfangs noch die Einnahmen und das Wechselgeld überwachen, aber es kann auch Momente geben, in denen ich nicht dazu komme und Sie es allein machen müssen.«

»Ja, Mrs. Craven«, sagten alle, und sie lächelte.

»Abgesehen davon bin ich mir sicher, dass ich keine von Ihnen an eine angemessene Körperpflege erinnern muss. Wir verlangen hier kurze, saubere Fingernägel, und Sie werden weder Make-up noch Parfüm bei der Arbeit tragen. Und natürlich muss auch Ihr Haar immer adrett frisiert und sauber sein.« Ihr Blick glitt über die Mädchen. »Doch soweit ich sehe, gibt es hier nichts zu beanstanden. Als Erste, denke ich, wird Miss Ross jetzt die Rolle einer Kundin übernehmen, und Sie, Miss Grey, werden sie bedienen. Mit Handschuhen wohlgemerkt, und Sie, Miss Gibbs, werden zuschauen.« Ihre braunen Augen richteten sich auf Sally, und Beth fiel das schelmische Funkeln darin auf. »Ich möchte, dass Sie sich so schwierig wie nur möglich geben, Miss Ross, damit unsere Damen hier verstehen, wie viel Geduld es braucht, um in einer Abteilung wie dieser hier Verkäuferin zu sein.«

»Wo soll ich mich hinstellen?«, fragte Beth und wurde angewiesen, ihren Platz hinter einem der Verkaufstische einzunehmen, die mit mehreren abgestuften Holzschubladen versehen war. Der größte Teil des braunen Packpapiers war von dieser Verkaufstheke schon entfernt worden, und den Rest schnitt Mrs. Craven mit einer kleinen, silbernen Schere weg, die an einem Schlüsselbund an ihrer Taille hing.

»Und nun, Miss Ross, wenden Sie sich an die Verkäuferin und sagen ihr, dass Sie passende Handschuhe zu einem Paar Schuhe für eine Hochzeit brauchen.«

Beth nahm ihren Platz ein, und Sally trat zu ihr heran. Mit nachdenklicher Miene betrachtete sie die noch imaginäre Auslage in der Theke und strich sich dann in einer gezierten Geste über das Haar. »Ich brauche ein Paar hellgraue Handschuhe, Miss«, sagte sie mit einer Stimme, die Beth geradezu schockierte, weil sie so distinguiert und völlig anders klang als Sallys normale Stimme. »Größe fünfeinhalb bitte …«

»Ja, Madam«, antwortete Beth. »Wir haben sie in Seide und in Leder. Würden Sie gern beides sehen wollen?«

»Ach, ich weiß nicht recht«, antwortete Sally naserümpfend. »Ich will kein billiges Leder – und Seide verschmutzt ja so leicht. Haben Sie denn nichts anderes?«

»Die Wollhandschuhe sind mehr etwas für den Winter«, improvisierte Beth. »Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass unsere Lederhandschuhe sehr schön weich und hervorragend verarbeitet sind …« Sie öffnete eine imaginäre Schublade hinter sich und tat so, als entnähme sie ihr einige Paar Handschuhe, die sie nacheinander auf den Tresen legte.

Sally gab vor, eines davon in die Hand zu nehmen und es prüfend zu betrachten, schüttelte dann aber den Kopf und griff nach dem nächsten Paar. Nachdem sie jedoch mit den Fingern darübergestrichen und die Handschuhe einen Moment bewundert hatte, seufzte sie.

»Das Leder ist gut, aber sie sind zu dunkel. Ich brauche etwas Helleres … Was ist mit diesen dort? Die würde ich gerne anprobieren«, sagte sie und zeigte auf eine andere Schublade im Ladentisch.

Beth öffnete auch diese Schublade und gab vor, noch mehr Handschuhe herauszunehmen. Sally tat so, als ob sie jedes Paar noch einmal in die Hand nähme und es mit anderen vergliche, aber dann schüttelte sie erneut den Kopf.

»Diese sind zu schlicht. Haben Sie keine mit einem Schleifchen oder einem kleinen, etwas ausgefallenen Verschluss? Sie sind schließlich für einen besonderen Anlass …«

»Da muss ich nachfragen, gnädige Frau«, sagte Beth und wandte sich an Maggie. »Miss Gibbs, würden Sie bitte Mrs. Craven fragen, ob sie kurz herüberkommen könnte? Und falls sie zu beschäftigt ist, fragen Sie sie, ob wir vielleicht noch mehr graue Handschuhe haben, die sich nicht in der Auslage befinden.«

»Ausgezeichnet!«, warf Mrs. Craven lobend ein. »Das ist immer eine gute Masche, wenn die Kundin zu schwierig ist. Allerdings haben Sie auch einen Fehler gemacht, den alle Verkäuferinnen zu Anfang machen«, sagte sie und wandte sich Sally mit einem Lachen in den Augen zu. »Kann Miss Ross Ihnen vielleicht sagen, was ich meine?«

»Du solltest nicht zu viele Artikel auf einmal herausholen«, antwortete Sally prompt. »Wenn eine Kundin behauptet, ihr gefiele etwas nicht, und andere Teile sehen will, legst du die, die sie abgelehnt hat, in deine persönliche Schublade ganz oben. Dann kannst du sie später wieder ordnen, wenn du mit dem Bedienen fertig bist. Denn falls die Kundin unehrlich ist – und das sind manchmal sogar die Reichen und Schönen –, könntest du Dinge wie Handschuhe, Schals oder Modeschmuck im Nu verlieren …«

»Sehen Sie, deshalb habe ich Ihnen die Verantwortung für diese Abteilung wie auch für die Handtaschen übertragen, Miss Ross«, sagte Mrs. Craven anerkennend. »Die Lederhandtaschen sind die teuersten Artikel, die wir in unserer Abteilung führen, und auch einige der Schmuckstücke sind zu gut, um als bloßer Modeschmuck eingestuft zu werden. Es handelt sich hierbei um handgefertigte silberne Einzelstücke aus Amerika, die übrigens nachts in dem Tresor in meinem Büro eingeschlossen werden müssen.«

»Oh, das wusste ich nicht.« Sally strahlte plötzlich wieder. »Ich arbeite sehr gern mit schönen, ausgefallenen Dingen. Wann kommt die Ware denn?«

»Nicht vor nächster Woche«, sagte Mrs. Craven. »Der heutige Tag wird dem Erlernen des richtigen Bedienens unserer Kundinnen gewidmet sein. Darüber hinaus werde ich Sie über die Lage der verschiedenen Abteilungen und auch über die Regeln unseres Unternehmens informieren, die ziemlich streng sind. Beispielsweise ist es unseren Mitarbeitern nicht erlaubt, irgendwo anders als in dem Restaurant oder dem Belegschaftsraum im dritten Stock zu essen oder zu trinken.« Sie machte eine kleine Pause. »Da ich es jedoch für ziemlich teuer halte, im Restaurant zu essen, würde ich Ihnen raten, Sandwiches mitzubringen und sie während der Mittagspause im Belegschaftsraum zu essen. Aber ich kann Ihnen auch empfehlen, ein preiswertes Lokal zu suchen, wo Sie mittags einen Teller heiße Suppe essen können, falls Ihnen das lieber ist. Ihre Teepause werden Sie im Aufenthaltsraum verbringen, morgens und nachmittags haben Sie hierfür jeweils eine Viertelstunde Zeit. Sie werden sich untereinander mit den Pausen abwechseln, und wer zu spät zurückkommt, wird mit einem Penny pro Minute bestraft. Das Gleiche gilt übrigens für das Zuspätkommen am Vormittag. Wir arbeiten bis fünf Uhr dreißig, aber wir machen nicht eher Feierabend, bis der letzte Kunde die Abteilung verlassen hat, auch wenn das einige Minuten später sein sollte.«

»Müssen wir alle die gleichen Kleider tragen?«, fragte Beth. »Und dürfen wir sie selbst nähen, oder müssen wir sie hier im Laden kaufen?«

»Sie bekommen alle ein Kleid, und jedes weitere, das Sie kaufen oder selbst anfertigen, muss im selben Stil gefertigt sein. Meines hat einen etwas anderen Stil, aber Sie drei tragen alle das gleiche. Es hat einen weißen Spitzenkragen, den man wechseln kann, sodass man das Kleid nicht andauernd waschen muss, und wenn Sie einen guten Stoff wählen, müsste es genügen, es mit einer Bürste oder einem Schwamm zu reinigen.«

Beth nickte erleichtert, denn so würde sie den Stoff auf dem Markt kaufen können und ihre Tante bitten, ihr das Kleid zu nähen.

»Und was für Regeln gibt es sonst noch?«, wollte Sally wissen.

»Zunächst einmal wird von Ihnen erwartet, dass Sie morgens um Viertel vor acht hier sind. Als Erstes wird der Geschäftsführer dann eine kurze Ansprache halten, um uns über alle wichtigen Ereignisse zu informieren, und danach sprechen wir ein Gebet. Denken Sie daran, dass es nicht gern gesehen wird, wenn jemand bei der Lagebesprechung fehlt! Danach räumen wir auf und bereiten die Abteilung für die Kundinnen vor.« Sie legte ein Blatt Papier auf den Tresen. »Prägen Sie sich diese Liste hier genau ein.«

Sally nickte. »Wie ich sehe, gibt es ein spezielles Flaschenzugsystem, um das Geld zur Kasse hinaufzuschicken. Muss ich Sie trotzdem von jeder Zahlung in Kenntnis setzen, Mrs. Craven?«

»Sofern ich nicht gerade zu beschäftigt bin, würde ich Ihnen in Ihrem eigenen Interesse dazu raten. Sie könnten aber auch Miss Grey oder Miss Gibbs darum bitten, falls das einfacher ist.« Die Abteilungsleiterin sah Beth und Maggie an. »Der Grund, warum ich Ihnen empfehle, die Zahlung der Kundin von jemand anderem überprüfen zu lassen, ist, dass die Kundin später behaupten könnte, sie habe Ihnen mehr Geld gegeben, als der Wahrheit entspricht – was zwar nur selten vorkommt, aber dann doch ziemlich unangenehm ist. Wir müssten es dann mit dem Büro abklären, was zu einem weiteren Problem führen könnte, falls die Mitarbeiter dort gerade zu beschäftigt sind. Deshalb halte ich es für das Beste, den Wert der erhaltenen Banknote oder Banknoten auf der Rechnung zu vermerken und ihn der Kundin gegenüber noch einmal zu wiederholen, bevor Sie das Geld in die Kapsel stecken und hinaufschicken.«

Beth und Mary nickten. Sie wären nie auf die Idee gekommen, dass eine ihrer Kundinnen behaupten könnte, sie habe ihnen mehr Geld gegeben, als sie es in Wahrheit getan hatten. Es gab tatsächlich noch sehr viel zu lernen.

»So viele Regeln!«, flüsterte Maggie der neben ihr stehenden Sally zu. »Ich habe jetzt schon Angst, dagegen zu verstoßen, ohne es zu merken.«

»Da ihr nicht raucht, braucht ihr euch um diese Regel schon mal keine Sorgen zu machen«, warf Sally mit einem Blick auf Mrs. Cravens Liste ein.

»Ich bin froh, dass wir es nicht dürfen, weil ich es nicht mag«, erwiderte Maggie leise.

»Wie ich sehe, gibt es noch weitere Regeln?«, bemerkte Sally.