Shop Girls - Zerbrechliches Glück - Rosie Clarke - E-Book

Shop Girls - Zerbrechliches Glück E-Book

Rosie Clarke

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Beschreibung

Vier starke junge Frauen stellen sich den Herausforderungen ihrer Zeit - ein Appell für die Frauenfreundschaft

London 1914. Zwei Jahre ist es her, dass mit Harpers ein neues, glanzvolles Kaufhaus in der berühmten Londoner Oxford Street eröffnet wurde, und Eigentümer Ben plant, das Geschäft zu erweitern. Das Leben läuft gut für ihn und seine Frau Sally, und sie freuen sich auf ihr erstes Kind. Sallys Freundinnen Beth, Ruth und Maggie haben ebenfalls ihren Platz im Leben gefunden. Doch ist ihr Glück bisweilen getrübt: durch einen unerfüllten Kinderwunsch, einen unentschiedenen Verehrer, eine intrigante Kollegin. Noch herrscht in den Straßen Englands Frieden. Dann aber ziehen am Horizont dunkle Wolken über Europa auf. Krieg droht. Werden die Shop Girls auch diese schwierigen Zeiten meistern?


Band 3 der Reihe um die SHOP GIRLS


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CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40

 

Vier starke junge Frauen stellen sich den Herausforderungen ihrer Zeit – ein Appell für die Frauenfreundschaft London 1914. Zwei Jahre ist es her, dass mit Harpers ein neues, glanzvolles Kaufhaus in der berühmten Londoner Oxford Street eröffnet wurde, und Eigentümer Ben plant, das Geschäft zu erweitern. Das Leben läuft gut für ihn und seine Frau Sally, und sie freuen sich auf ihr erstes Kind. Sallys Freundinnen Beth, Ruth und Maggie haben ebenfalls ihren Platz im Leben gefunden. Doch ist ihr Glück bisweilen getrübt: durch einen unerfüllten Kinderwunsch, einen unentschiedenen Verehrer, eine intrigante Kollegin. Noch herrscht in den Straßen Englands Frieden. Dann aber ziehen am Horizont dunkle Wolken über Europa auf. Krieg droht. Werden die Shop Girls auch diese schwierigen Zeiten meistern? Band 3 der Reihe um die SHOP GIRLS

 

Rosie Clarke schreibt schon seit vielen Jahren. Sie lebt im englischen Cambridgeshire, ist glücklich verheiratet und genießt ihr Leben mit ihrem Ehemann. Sie liebt es, unter der spanischen Sonne spazieren zu gehen und in ihrem Lieblingsrestaurant in Marbella einzukehren. Ihre wahre Passion aber ist das Schreiben.

Roman

Aus dem Englischenvon Ulrike Moreno

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Deutsche Erstausgabe

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Rosie Clarke

Titel der englischen Originalausgabe:

»Rainy Days for the Harper Girls«

Originalverlag: Boldwood Books Ltd.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: © phokin | iStock/Getty Images Plus; Beboy |

Adobestock Images; PsychoBeard | iStock/Getty Images Plus; rimglow |

iStock/Getty Images Plus; blackdovfx | iStock/Getty Images Plus;

tachinskamarina | Adobestock Images; auryndrikson | Adobestock Images;

© Colin Thomas Photography Ltd

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4212-2

luebbe.de

lesejury.de

 

Waren tatsächlich schon fast zwei Jahre vergangen, seit das Kaufhaus Harpers auf der Oxford Street eröffnet hatte? Ben blinzelte verschlafen und betrachtete die Frau, die er liebte. Sie erhob sich gerade anmutig aus der sitzenden Position, die sie auf dem Boden eingenommen hatte. Sally hatte mit einer neuartigen Gymnastik begonnen, die sich Yoga nannte, um mehr Gelassenheit zu erlangen und etwas für ihre eigene Gesundheit und die ihres noch ungeborenen Kindes zu tun, das sie in den ersten Juniwochen dieses Jahres erwartete. Ben, den Sallys Asanas anfangs noch amüsiert hatten, liebte es inzwischen, ihr bei den Atem- und anderen Übungen zuzusehen, die sie sich zu einer eigenen Reihenfolge zusammengestellt hatte. Sie war so schön, seine Sally, und jede ihrer Bewegungen so anmutig und elegant, wenn sie die Positionen ausführte, die sie sich aus einem Buch aus der Bücherei selbst beigebracht hatte. Seine wunderbare Sally, die Frau, von der er nie geglaubt hatte, dass sie einmal die seine werden könnte, und die heute sein ganzer Lebensinhalt war.

Im vergangenen September hatten sie geheiratet, und nun war es Anfang März 1914, und sie waren schon seit fast sechs Monaten Mann und Frau. Schon bald nach der Hochzeit war Sally schwanger geworden und blühte von Tag zu Tag mehr auf. Ben wusste, wie glücklich er sich schätzen konnte, sie an seiner Seite zu haben, und obwohl ihn der Gedanke, Vater zu werden, auch ein wenig beängstigte, freute er sich doch darauf. Denn so würde er eines Tages einen Sohn oder eine Tochter haben, einen Nachkommen, dem er das Kaufhaus hinterlassen konnte. Ben war von dem Wunsch beseelt, Harpers zu einem Imperium zu machen, zum prächtigsten Kaufhaus an Londons wunderbarer Oxford Street. Tatsächlich verlief sein Leben im Moment so gut, dass es ihn schon fast beängstigte, weil er nicht glauben konnte, dass dieses Glück von Dauer sein würde.

Sally hatte ihn drei Wochen zuvor daran erinnert, dass in diesem Monat der zweite Jahrestag der Geschäftseröffnung bevorstand. Es war keineswegs so, dass Ben dieses wichtige Ereignis vergessen hätte, aber da er wusste, dass auch sie zu diesem Anlass schon viele Pläne im Kopf hatte, wollte er es ihr überlassen, das Thema anzusprechen. Sie und Marco, ihr brillanter und künstlerisch sehr begabter Schaufensterdekorateur, hatten die Gestaltung der Fenster im Geheimen schon wochenlang geplant.

Ben runzelte ein wenig die Stirn bei dem Gedanken, dass er sich nicht sicher war, ob sein kreativer Freund den Verlust seines jungen Geliebten und Lebensgefährten Julien schon so weit überwunden hatte, dass er dieser anspruchsvollen Aufgabe gerecht werden konnte. Die Beziehung der beiden Männer war so eng und tiefgehend gewesen. Juliens Tod war eine echte Tragödie. Umso mehr, als Juliens eigener Vater die Schuld daran trug, denn in seinem Hochmut und Stolz hatte er nicht begreifen können, dass sein Sohn nun einmal anders war – und mehr als das war es ja auch nicht, dachte Ben. Juliens Vater waren seine verstaubten Moralvorstellungen und die Furcht vor einem Skandal wichtiger gewesen als die Liebe zu seinem Sohn, und inzwischen bereute er es auch bitterlich, obschon er in seiner Verbohrtheit noch immer Marco die Schuld daran zuschrieb. Ben hätte den Mann am liebsten einmal kräftig durchgeschüttelt, um ihn zur Vernunft zu bringen und ihm seinen halsstarrigen Stolz auszutreiben, doch das war aufgrund des Ansehens der Familie natürlich unmöglich. Denn wenn Juliens Vater sich die Wahrheit wirklich eingestünde, würde er auch die Verantwortung für den Tod seines Sohnes übernehmen müssen.

Aber warum hatten seine Vorurteile ihn dazu gebracht, so weit zu gehen, das Leben seines Sohnes und damit auch das von Marco zu zerstören? Ben grübelte lange über diese Frage nach. Die Menschen hatten ja schließlich auch nicht alle das gleiche Aussehen – warum also sollten sie alle gleich empfinden, wenn es darum ging, in wen sie sich verliebten? Auch Standpunkte und Moralvorstellungen änderten sich, und viele Leute würden eine solche Liebe heute gar nicht mehr verteufeln.

Ben verstand zwar auch nicht völlig, warum Marco sich in einen jungen Mann anstatt in ein Mädchen verliebt hatte, aber er wusste, dass die Liebe der beiden aufrichtig gewesen war – so aufrichtig und real wie die seine zu Sally. Seine geliebte Frau zu verlieren würde ihn in tiefste Verzweiflung stürzen und eine schreckliche Leere in ihm hinterlassen, und daher verstand er gut, welch furchtbare Qualen Marco nach Juliens Tod durchleben musste. Und er wusste auch, dass Marco sich selbst die Schuld daran gab, auch wenn es nicht so war, denn das hatte ein ganz anderer Mann zu verantworten. Ben schätzte Marco sowohl beruflich als auch menschlich, und er hatte sein Bestes getan, um seinem Freund nach der Tragödie auf jede nur erdenkliche Weise beizustehen. Inzwischen lebte Marco sein Leben in einer Art stiller Würde weiter und hielt seine tiefe Trauer so gut wie möglich vor der Welt verborgen, auch wenn sie ihm noch deutlich anzusehen war, wenn man ihm in die Augen schaute.

Sally war inzwischen vor das Bett getreten und blickte zu ihm herab. Ihr dunkles, gewelltes Haar fiel ihr auf die Schultern. Es war etwas länger als normalerweise, und das Morgenlicht unterstrich die Rottöne darin. Bens Blick verweilte auch auf der Wölbung ihres Bauchs, und eine Welle der Liebe und des Stolzes durchströmte ihn. Es war sein Kind, das sie unter ihrem Herzen trug – ein Junge, sagte Sally, obwohl sie das gar nicht wissen konnte. Doch in Bens Augen hatte Sally fast immer recht. Auch ihre Ratschläge bezüglich des Kaufhauses waren meist gut, und sie irrte sich in dieser Hinsicht fast nie. Ihre eigenen Abteilungen waren die erfolgreichsten, aber auch im übrigen Kaufhaus liefen die Geschäfte gut. So gut, dass Ben in letzter Zeit begonnen hatte, sich mit seinen eigenen Plänen zu befassen, die er seiner Frau jedoch noch nicht verraten hatte. Es sollte eine Überraschung sein, und er wollte sich erst sicher sein, dass sie auch gelingen konnten.

Als er gehört hatte, dass das Tabakgeschäft neben Harpers verkauft werden sollte, hatte er die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich die Immobilie anzusehen. Das Gebäude war zwar nicht allzu groß, aber es wurde recht günstig angeboten, sodass er es sich würde leisten können, den ehemaligen Tabakladen mit der Wohnung darüber zu erwerben. Den gewonnenen Platz konnte er dann nutzen, um Harpers Angebote zu erweitern. Sally war der Meinung, dass die Schuh- und Dessous-Abteilung vergrößert werden musste, und Ben selbst wollte darüber hinaus noch eine Spielzeugabteilung, eine Konditorei und ein Blumengeschäft einrichten. Er hatte auch schon mit der Stadtverwaltung über den von ihm geplanten Verwendungszweck der Wohnung über dem Tabakgeschäft gesprochen, in der er die Konditorei und das Blumengeschäft unterbringen wollte. Der Spielzeugladen würde dann im ursprünglichen Geschäftslokal darunter entstehen, sobald es so diskret wie möglich zum Kaufhaus hin geöffnet und mit ihm verbunden worden war. Nach Abschluss aller Bauarbeiten könnte Sally dann die mittlere Etage für ihre Zwecke nutzen.

Ben wusste, dass sie es kaum noch erwarten konnte, ihre Kosmetikabteilung zu erweitern und einige der fabelhaften Parfums, Cremes und anderen Toilettenartikel, die gerade der letzte Schrei in New York waren, von dort nach London zu importieren.

Wird sie sich wohl über meine Überraschung freuen oder sich eher darüber ärgern, nicht schon früher in die Pläne eingeweiht worden zu sein?, fragte Ben sich ein wenig schuldbewusst, weil er sein Vorhaben bisher noch mit keinem Wort erwähnt hatte. Unwillkürlich streckte er seine Hand nach ihr aus, die sie liebevoll ergriff. Dann setzte sie sich zu ihm auf das Bett, beugte sich vor und küsste ihn.

Sie duftete angenehm nach einem zarten, blumigen Eau de Toilette, das sie ebenfalls in ihrer neuen Parfümerie anbieten wollte. Es war ein Produkt der Firma Yardley aus der Bond Street, also ein englisches, gut eingeführtes Produkt. Sally hatte die gesamte Produktpalette dieser Firma getestet und für gut befunden, bevor sie eine Bestellung für Harpers aufgab: Seifen, Talkumpuder, Badesalze und ein leichtes Eau de Cologne.

Da auch Ben die Marke gut gefiel, hatte er Sally dazu ermutigt, das gesamte Sortiment zu bestellen. Er war sich zwar nicht sicher, wie gut es sich verkaufen würde, aber er hatte immerhin schon die hübsche, geschmackvolle Auslage im Parterre gesehen, die auch einige spezielle Cremes von Elizabeth Arden enthielt, die seine Schwester Jenni aus Amerika geschickt hatte.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Sally ihn plötzlich, und erst jetzt bemerkte er, wie aufmerksam sie ihn betrachtete, und auch der Anflug von Schalk in ihrem Gesicht blieb ihm nicht verborgen. »Du verheimlichst mir doch etwas – ich weiß, dass du das tust! Hat es etwas mit Harpers’ Jahrestag zu tun?«

»In gewisser Weise schon«, erwiderte er und lächelte sie an. »Du liest in meinem Gesicht wie in einem Buch, nicht wahr?«

»Nein, aber ich weiß, wann du mir etwas sagen willst und es nicht kannst.«

Ben lachte, bevor er sie zu einem langen, liebevollen Kuss zu sich herabzog. »Wir haben vor zwei Jahren im März 1912 eröffnet. Und heute werde ich den Kaufvertrag für die Räumlichkeiten neben Harpers unterschreiben, sodass wir über zweitausend Quadratmeter zusätzliche Verkaufsfläche dazugewinnen werden.« Ein gewisser Triumph lag in seiner Stimme, jetzt, da er sein Geheimnis endlich preisgeben konnte.

»Du hast es geschafft!«, rief Sally und warf sich mit einem Freudenschrei auf ihn, um ihn zu umarmen und zu küssen. »Ich war mir sicher, dass du dich bereits darum bemühst, aber du hast deine Pläne ja nicht mal Mr. Marco oder Mr. Stockbridge anvertraut.«

»Weil ich dich überraschen wollte«, antwortete er, während er sich grinsend aufsetzte und seine langen, kräftigen und braun gebrannten Beine aus dem Bett schwang. Im Stehen überragte er seine Frau um Kopf und Schultern, dieser starke, selbstbewusste, energiegeladene Mann. »Ich weiß ja, dass du die Wäsche- und Schuhabteilung vergrößern möchtest. Im ersten Stock des Gebäudes möchte ich gerne eine Konditorei und einen Blumenladen und im Erdgeschoss ein Spielwarengeschäft eröffnen. So kannst du den ganzen mittleren Teil nach deinen eigenen Vorstellungen nutzen.«

Sally nickte. »Wunderbar! Einen Blumenladen und eine Konditorei halte ich für eine gute Idee, und das mit der Spielzeugabteilung wusste ich ja – aber ich finde, dass sie im oberen Stockwerk viel besser aufgehoben wäre.«

Ben zog die Augenbrauen hoch, widersprach ihr aber nicht, sondern wartete auf die Erklärung, die nun zweifelsohne folgen würde.

»Weil ich denke, dass Mütter und Väter sich nicht scheuen werden, für die Geschenke ihrer Kinder den Weg nach oben auf sich zu nehmen, aber Blumen und Süßigkeiten sind oft spontane Käufe, die müheloser zu tätigen sein sollten.« Sie schaute ihn versonnen an. »Natürlich werden wir sowohl Schweizer als auch belgische Schokolade und Pralinen anbieten, aber ich denke, wir sollten auch versuchen, eine andere, näher gelegene Bezugsquelle zu finden – also einen hiesigen Hersteller, der etwas anderes, aber ebenso Besonderes verkauft, dafür jedoch vielleicht mehr Ausstellungsfläche braucht und sehr erfreut über eine umfangreiche Bestellung von Harpers wäre.«

»Und da hast du bestimmt auch schon eine Idee?«

Sally nickte mit funkelnden Augen. »Das wäre durchaus möglich.«

»Was täte ich nur ohne dich?«, sagte Ben und nickte. »Wie immer hast du natürlich recht, Sally. Ich hatte nur an die Kinder gedacht, die meistens so schnell wie möglich in den Spielzeugladen wollen – aber du bist eben die Vernünftigere von uns beiden, Schatz. Eltern, die es sich leisten können, werden eine Stange Geld für ihre Kinder ausgeben, und mit dem Aufzug in den oberen Stock hinaufzufahren ist nun wirklich keine Anstrengung.«

Sally nickte und rieb sich ihren schon sichtlich gerundeten Bauch. »Du würdest auch alles für deine Kinder tun«, sagte sie liebevoll. »Süßigkeiten kauft man oft für einen geliebten Menschen, doch manchmal auch einfach nur, weil man sich selber etwas Leckeres gönnen will. Aber niemand wird sich die Mühe machen, dafür den Lift nach oben zu nehmen, selbst wenn unsere Süßigkeiten köstlich sein werden – denn du willst doch sicher auch, dass wir etwas ganz Besonderes anbieten?«

»Und ob!«, stimmte Ben ihr schmunzelnd zu. »Belgisches Konfekt, handgefertigt und hübsch verpackt in Geschenkkartons oder eleganten Dosen. Nur so sollte man die feinsten Pralinen verkaufen, finde ich – oder bist du anderer Meinung? Und dazu werden wir auch wundervolle Schokoladenkuchen und locker-leichte Baisers anbieten – und natürlich auch einige der Lieblingssüßigkeiten von Kindern, Karamellbonbons, Toffee-Riegel und Fruchtbonbons, in großen Gläsern, aus denen sie sich dann eine Tüte zusammenstellen können.«

»Ja, das alles klingt ganz wunderbar«, stimmte Sally ihm zu. »Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke. Ich bin so froh, dass es dir gelungen ist, uns den zusätzlichen Platz zu sichern, Ben.«

Er schaute ihr nach, als sie aufstand, um den seidenen Morgenmantel abzulegen, den sie bei ihren Übungen getragen hatte, und ihn durch zarte Dessous und ein elegantes schwarzes Kleid mit weißem Spitzenkragen und einer locker sitzenden Jacke zu ersetzen, die ihren Babybauch diskret verbarg.

»Hast du heute vor zu arbeiten?«, fragte Ben. »Ich dachte, wir könnten zur Feier des Tages in ein schickes Restaurant gehen?«

»Ja, kein Problem«, stimmte Sally zu. »Ich habe heute Morgen nur zwei frühe Termine und dann für den Rest des Tages nichts anderes mehr vor. Wir könnten dieses neue Restaurant ausprobieren, das Mick eröffnet hat.« Sie warf Ben über die Schulter einen Blick zu und lächelte. »Du hast doch wohl nicht vergessen, dass er uns eine Einladung zur Eröffnung geschickt hat? Ich glaube, ich hatte sie auf deinen Schreibtisch gelegt, Schatz.«

»Ja, natürlich habe ich sie gesehen«, sagte Ben mit einem nachsichtigen Lächeln. Früher war er eifersüchtig auf ihren irischen Freund Michael O’Sullivan gewesen, doch heute musste er nicht mehr davon überzeugt werden, dass Sally ihn und niemand anderen liebte. »Wenn du willst, können wir gerne dorthin gehen.«

»Es war nur ein Vorschlag«, sagte sie mit einem schelmischen Funkeln in den Augen. »Willst du jetzt den ganzen Tag dort stehen bleiben und mich beobachten?«

»Ich erfreue mich nur an der schönen Aussicht«, scherzte er. »Mein Termin mit dem Anwalt ist heute Morgen um elf. Wir könnten uns also gegen halb eins treffen, und dann sagst du mir, wohin wir gehen.«

»Vielleicht sollte ich vorsichtshalber einen Tisch reservieren? Micks Restaurants sind ja meist sehr gut besetzt.«

Ben nickte und machte sich auf den Weg ins Bad, während seine Frau sich weiter anzog. Aus Mick war inzwischen ein richtiger Geschäftsmann geworden, der mittlerweile eine fünfzigprozentige Beteiligung an drei Restaurants besaß, die alle in diversen Zeitungen und Zeitschriften als gute Speiserestaurants mit vernünftigen Preisen beschrieben wurden, und gerade war er dabei, ein viertes zu eröffnen. Mick war ganz offensichtlich entschlossen, auf seine Weise erfolgreich zu werden. Er hatte ihnen zu Weihnachten Blumen und Pralinen geschickt, und Ben hatte ihn zu der Veranstaltung eingeladen, die für den zweiten Jahrestag von Harpers geplant war. Sie waren beide Geschäftsleute, und daher konnte es nicht schaden, in Kontakt zu bleiben. Im Geschäftsleben war es immer besser, sich Freunde als Feinde zu machen. Sally hatte Ben auch erzählt, wie Mick ihr beigestanden hatte, als ihre Freundin Sylvia in Schwierigkeiten gewesen war. Und auch wenn Bens Eifersucht nicht ganz verschwunden war, hatte das sie immerhin ein wenig gedämpft.

Jetzt wählte er ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte aus, die zu seinem marineblauen Nadelstreifenanzug passten, strich sich das dunkle Haar zurück, richtete seine Krawatte und steckte dann seine Brieftasche und seine Schlüssel ein. In Wahrheit hatte er nämlich nicht nur einen Termin an diesem Morgen – aber von dem zweiten hatte er seiner Frau noch nichts erzählen wollen.

***

Sally sprach nacheinander mit den beiden Vertretern, mit denen sie ein Treffen vereinbart hatte. Beide waren pünktlich, und sie erteilte auch jedem von ihnen einen großen Auftrag über Lederhandtaschen und ein Sortiment an Seidenschals.

Nachdem die Herren gegangen waren, stellte sie mit einem Blick auf die Uhr fest, dass ihr noch eine Stunde Zeit blieb, bevor Ben sie abholen würde. Und so beschloss sie, eine Runde durch die verschiedenen Abteilungen zu machen, angefangen bei der Herrenmode über die Damenmode bis hin zu ihren Lieblingsstücken: Hüten, Taschen, Handschuhen, Schals und Schmuck.

Doch dann kam ihr ganz unwillkürlich der Gedanke, dass sie zwar immer geglaubt hatte, ihr Lieblingsbereich wäre die Mode, dass sie aber inzwischen, seit sie Einkäuferin bei Harpers war, ihre Liebe zu hochwertigem Schmuck und qualitativ sehr guten Damenhandtaschen entdeckt hatte. Genau damit hatte sie auch ihre Karriere bei Harpers begonnen, und ihre Freundinnen arbeiteten nach wie vor in diesen Abteilungen – zumindest Beth und Maggie waren noch dort.

Rachel war inzwischen zur Etagenaufsicht befördert worden. In dieser Funktion besuchte sie regelmäßig alle Etagen des Kaufhauses und kümmerte sich darum, dass sich alles an seinem Platz befand und genügend Aufmerksamkeit bekam. Auch wenn irgendeine Angestellte oder ein Angestellter Probleme hatte, konnten sie sich an Rachel wenden, die sich dann entweder selbst damit befasste oder es Mr. Stockbridge, dem Geschäftsführer des Ladens, vortrug. Allerdings wandte Rachel sich auch oft mit Kleinigkeiten direkt an Sally, weil sie wusste, dass ihre Freundin sie schnell und ohne viel Aufhebens lösen würde.

»Der arme Mr. Stockbridge scheint so viel mit dem Werbeetat, Personalanfragen und Bestandslisten zu tun zu haben, dass er vermutlich eine eigene Sekretärin bräuchte«, hatte Rachel Sally einmal anvertraut. »Denn neben Ihrer und Mr. Harpers Arbeit erledigt Miss Summers ja auch noch die seine.«

Sally, der Rachels diskreter Hinweis nicht entgangen war, hatte also mit einigen Bewerberinnen gesprochen und sich für eine junge Frau entschieden, die künftig ihr zur Seite stehen sollte. Darüber hinaus hatte sie Miss Summers zur Assistentin von Mr. Stockbridge befördert, was ihr ein dankbares Lächeln von allen Seiten eingebracht hatte.

Sally war insgeheim der Meinung, dass Ben die Leitung des Kaufhauses viel zu schnell hatte übernehmen müssen, noch bevor er eigentlich so weit gewesen war. Denn sein Onkel Gerald war einige Wochen vor der Eröffnung von Harpers verstorben, und Ben und seine Schwester hatten jeweils einen Teil des Geschäfts geerbt, waren dann aber in eine finanzielle Krise geraten. Es war Ben überlassen worden, die Einrichtung des Kaufhauses so gut er konnte zu vollenden, was dazu geführt haben mochte, dass an einigen Ecken und Enden gespart worden war und auch die personelle Ausstattung dabei zu kurz gekommen war. Und dann, bevor Ben die Dinge in Schwung bringen konnte, hatte sich eine Tragödie ereignet, derentwegen er nach Amerika hatte zurückkehren müssen. Seine erste Frau war nach langer Krankheit in einem privaten Krankenhaus verstorben, was letzten Endes eine Erlösung für sie gewesen war. Dass er sämtliche Kosten für den Krankenhausaufenthalt und die exzellente Pflege übernommen hatte, hatte niemand wissen dürfen.

Während seiner Abwesenheit hatten Sally, Mr. Stockbridge, Mr. Marco und die verschiedenen Abteilungsleiter es irgendwie geschafft, das Kaufhaus über Wasser zu halten und sogar einen kleinen Gewinn zu erzielen. Bens Schwester Jenni hatte mit ihrer Erfahrung und vielen ermutigenden Worten zu diesem Erfolg beigetragen, aber es war eine schwierige Zeit gewesen, die leicht zum Bankrott des Kaufhauses hätte führen können.

Nachdem er seine Angelegenheiten in New York geregelt hatte, war Ben nach London zurückgekehrt, und seine Anwesenheit hatte viel bewegt, nicht nur was Sally anging – die von seinen leidenschaftlichen Annäherungsversuchen völlig aus der Fassung gebracht worden war –, sondern auch in Bezug auf das Geschäft.

Seither waren mehr Mädchen eingestellt worden, und auch Fred Burrows bei der Warenannahme und -verteilung hatte jetzt zwei jüngere Assistenten, die unter seiner Anleitung in den Räumen im Keller arbeiteten. Stanley Kirk war in den Dreißigern, stark und energisch und konnte die schwersten Kisten mit Leichtigkeit bewegen, während der viel jüngere Luke Redding zwar erst sechzehn, aber durchaus lernbereit, wenn auch ein bisschen vorlaut war. Doch selbst so gab es Momente, in denen sie sich abhetzen mussten, um mit der Anlieferung des Nachschubs für alle Abteilungen hinterherzukommen. Der liebe Himmel wusste, wie Fred all das vorher allein geschafft hatte! Wenn Bens neue Abteilungen funktionieren sollten, brauchte Harpers noch weiteres Personal, nicht nur unten im Lager bei der Warenannahme, sondern auch auf den Etagen.

Aber die Lohnkosten waren schon jetzt enorm – und für Beleuchtung, Heizung, Lager, Versicherung und Steuern musste ein kleines Vermögen aufgebracht werden, um die Solvenz des Ladens nicht zu gefährden. Sally wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnten, keine Miete zahlen zu müssen, weil das Gebäude ihnen gehörte – aber vielleicht würde Ben doch einen Kredit aufnehmen müssen, um den neu erworbenen Raum zu finanzieren?

Sie verdrängte diese kurze Sorge schnell. Die Finanzen waren Bens Ressort. Sally erkundigte sich nicht danach und mischte sich auch nicht ein. Und obwohl sie glaubte, dass er nicht allzu viel Geld zur Verfügung hatte, war er immer großzügig zu ihr, kaufte ihr kleine Geschenke und führte sie zum Essen aus. Bis jetzt hatten sie noch keinen der Auslandsurlaube unternommen, die Ben ihr versprochen hatte, was jedoch daran lag, dass sie sehr beschäftigt waren und zudem ihr erstes Kind erwarteten. Abgesehen von einer leichten Übelkeit in den ersten Wochen hatte sie sich erstaunlich gut gehalten, aber der Arzt hatte ihr dennoch geraten, keine langen Auto- oder Zugfahrten zu unternehmen. Sie war jetzt im sechsten Monat schwanger und erwartete die Geburt für Ende Mai oder Anfang Juni.

»Ihre Knöchel sind ein wenig angeschwollen«, hatte der Arzt ihr bei ihrem letzten Besuch in seiner Praxis mitgeteilt. »Das ist jedoch kein Grund zur Sorge – und es ist ohnehin viel besser, aktiv zu bleiben, als sich nur zu schonen. Gehen Sie also spazieren, anstatt Ihr Leben am Schreibtisch zu verbringen, Mrs. Harper.«

»Ja, das werde ich tun«, hatte Sally versprochen und war in die Bücherei gegangen, um sich das Buch über die Yoga-Übungen zu holen, die sie jetzt regelmäßig jeden Morgen nach dem Aufstehen machte. Sie halfen ihr nicht nur, ihre Rückenschmerzen zu lindern, sondern machten sie auch ruhiger, und die Schwellungen an ihren Knöcheln hatten sich nicht weiter verschlimmert.

Als sie an diesem Morgen die Hutabteilung betrat, sah sie, dass jemand die neuen Modelle, die sie für Frühling und Sommer eingekauft hatte, sehr geschmackvoll ausgestellt hatte: Rosa- und Blautöne und dazu ein tiefes Kastanienbraun. »Das haben Sie großartig gemacht«, lobte sie die junge Frau, die gerade einen weiteren Hutständer zurechtstellte. »Ich glaube, der kastanienbraune Strohhut kostet fünfunddreißig Schilling, nicht – was ziemlich teuer ist, wie ich sehr wohl weiß, aber er ist ja auch etwas ganz Besonderes, und es ist gut, dass Sie ihn so hervorgehoben haben.«

»Ja, er ist wunderbar, Mrs. Harper«, stimmte Janice Browning ihr mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen zu. »Genau das Richtige, wenn man ihn sich leisten kann und zu einer Gartenparty oder Hochzeit geht.«

»Guten Morgen, Mrs. Harper«, sagte Beth Burrows, die jetzt auf sie zukam. »Freut mich, Sie zu sehen – Sie sehen richtig gut aus!«

»Und so fühle ich mich auch«, antwortete Sally. »Ich glaube, es sind die Yoga-Übungen.« Sie betrachtete ihre Freundin besorgt, denn Beth hatte im Jahr zuvor kurz vor Weihnachten ihr erstes Kind verloren, was sie zutiefst erschüttert hatte.

Sally dagegen schätzte sich sehr glücklich, dass es ihr so gut ging. Manchmal musste sie sich sogar in den Arm kneifen, um sicherzugehen, dass dies alles nicht nur ein Traum war. Sie, ein Mädchen aus dem Waisenhaus, das als Säugling von seiner Mutter im Stich gelassen worden und seit seinem sechzehnten Lebensjahr gezwungen gewesen war, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, war heute glücklich mit einem Mann verheiratet, den sie liebte und von dem sie nun ihr erstes Kind erwartete. War es überhaupt möglich, so glücklich zu sein, wie sie es gerade war?

»Wie geht es Ihnen, meine Liebe?« Wie immer siezten Sally und Beth sich bei der Arbeit, so wie es bei Harpers vorgeschriebenen war, obwohl sie die besten Freundinnen waren.

»Schon viel besser«, antwortete Beth mit einem Lächeln. »Nein, ganz ehrlich, Mrs. Harper, ich habe meine Enttäuschung langsam überwunden.«

Trotz Beths Beteuerungen spürte Sally jedoch, dass ihre Freundin das Geschehene verharmloste. Sie war von dem Heiratsschwindler, der ihre Tante erst zu seiner Frau gemacht und sie schließlich ermordet hatte, angegriffen und misshandelt worden, was dazu geführt hatte, dass sie ihr Kind verloren hatte. Sally hatte in der Zeitung gelesen, dass der Prozess gegen Gerald Makepeace, der in einem Fall wegen Mordes, in drei Fällen wegen Unterschlagung und in einem weiteren Fall wegen schwerer Körperverletzung angeklagt worden war, schon bald beginnen würde. Aller Voraussicht nach würde er dafür gehängt werden, und wenn je ein Schurke einen solchen Tod verdient hatte, dann mit Sicherheit dieser betrügerische Mann, der Beths Tante nur wegen ihrer Lebensversicherung und ihren Aktien geheiratet hatte. Glücklicherweise hatte ihre Tante sie bereits heimlich ihrer Nichte hinterlassen. Beth hatte mit keinem Erbe gerechnet, und so war sie verblüfft gewesen, welchen Wert die Aktien inzwischen hatten. Dank dieses Erbes hatte Beths Ehemann Jack eine Mehrheitsbeteiligung an einem Hotel erwerben können, so wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Das Hotel lief sehr gut und entwickelte sich zu einem profitablen Unternehmen.

Sally fragte sich, wie sich die Nachricht von Geralds Prozess auf Beth auswirken mochte. Erfüllte es sie mit Genugtuung, dass dieser Schuft für seine Verbrechen bezahlen würde, oder war sie immer noch viel zu aufgebracht darüber? Hatte sie die Zeitungsberichte in ihrem Zustand überhaupt lesen wollen?

Da sie jedoch offenbar kein Bedürfnis hatte, darüber zu sprechen, lächelte Sally sie an und fragte: »Was ist mit dem Hotel? Läuft es schon zu Jacks Zufriedenheit?«

»Oh ja, ich glaube schon«, antwortete Beth und sah dann eine Kundin auf ihre Theke zukommen. »Entschuldigen Sie, Mrs. Harper«, sagte sie schnell, »aber jetzt sollte ich besser diese Dame dort bedienen. Ich weiß, weswegen sie gekommen ist.«

Sally nickte, ging und sah aus einiger Entfernung zu, wie Beth der Dame ein schönes silberne Medaillon mit passender Kette und eine Ledertasche zeigte.

Seit Weihnachten hatte Sally, wo sie nur konnte, noch zusätzliche Ware eingekauft, einiges davon war saisonabhängig, sodass sie keine zusätzlichen Bestände anlegen konnte, weil die Mode sich ständig änderte. Doch wo immer sie konnte, hatte sie mehr eingekauft, als normalerweise benötigt wurde, damit die verschiedenen Abteilungen, für die sie einkaufte, ihre Abwesenheit nach der Geburt ihres Kindes ohne Schaden überstehen würden.

Sie ging auch zu dem Verkaufstresen mit den Schals hinüber und sprach mit der Verkäuferin, die einem Herrn gerade ein Paar rote Lederhandschuhe einpackte, während Maggie Gibbs einer jungen Frau einen hübschen Seidenschal in Rosa und Blau vorlegte. Marion Kaye, die Juniorverkäuferin, errötete, sichtlich überwältigt, von der Frau des Chefs bemerkt zu werden, bediente dann aber ohne Zögern weiter.

Sally sprach mit dem gesamten Personal, bevor sie weiterging und mit dem Lift ins Erdgeschoss fuhr. Die Anzahl Kundinnen und Kunden, die sie sah, während sie von einer Auslage zur nächsten ging und sich die Lagerbestände notierte, vermittelte ihr das Gefühl, dass alles zur Zufriedenheit lief. Die exquisiten französischen Glasvasen, die Jenni Harper geschickt hatte, verkauften sich nicht besonders gut. Sally hatte sie gleich für zu teuer gehalten, doch als sie nun mit dem Lift ins Obergeschoss zurückfuhr, kam ihr eine Idee, von der sie Ben heute beim Mittagessen erzählen würde.

Beim Aussteigen aus dem Aufzug erfasste sie ein leichter Schwindel, sodass sie die Hände haltsuchend zur Wand ausstrecken musste. Da ihr auch ein bisschen übel wurde, blieb sie einen Moment stehen, um sich wieder zu beruhigen.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Mrs. Harper?« Ruth Canning, die junge Frau, die Sally als ihre persönliche Sekretärin eingestellt hatte, musterte sie besorgt, als sie ihr Büro betrat. »Darf ich Ihnen einen Schluck Wasser bringen – oder eine Kanne Tee?«

Sally richtete sich auf. Sie würde sich doch nicht von solch einem lächerlichen kleinen Schwindelanfall beeindrucken lassen! »Eine Tasse Tee hätte ich gern, wenn Sie Zeit dafür haben«, sagte sie mit einem Blick auf den Stapel Papiere in Ruths Hand. »Ist das die Bestandsliste, die ich in der Herrenabteilung angefordert hatte?«

»Ja, Mrs. Harper«, sagte Ruth. »Ich wollte gerade eine der Zahlen mit Mr. Simpson überprüfen. Sie erschien mir irgendwie nicht ganz richtig.«

»Ich kümmere mich darum«, versprach Sally und nahm die Papiere an sich. Ruth war eine ausgezeichnete Assistentin, und wenn sie sagte, dass sie einen Fehler entdeckt hatte, gab es ihn auch. Doch jeder Hinweis auf einen Fehler musste von ihr selbst, Ben oder Mr. Stockbridge weitergeleitet werden. Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie der Leiter der Herrenabteilung reagieren würde, wenn ihre Sekretärin ihm einen Fehler vorhielt. Ruth war aufmerksam und intelligent, aber sie neigte auch dazu, sich allzu schnell einzumischen.

»Ja, Mrs. Harper. Ich dachte nur, er würde den Fehler vielleicht lieber selbst korrigieren, bevor Sie davon erfahren.«

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Sally, »aber so geht das nicht, Miss Canning. Diese Dinge müssen Sie schon meinem Ermessen überlassen.« Es war nur ein milder, von einem Lächeln begleiteter Tadel, aber es war definitiv ein Tadel. Die Angestellten hatte eine ganz eigene Hierarchie, und jeder Verstoß gegen die Etikette wurde auch von den Vorgesetzten missbilligt. Sally wusste jedoch, dass sie nicht viel anders gehandelt hatte, als sie noch nicht die Frau des Geschäftsinhabers gewesen war. Daher wollte sie Ruth nicht für etwas tadeln, das aus guter Absicht geschehen war. »Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben. Ihre scharfen Augen sind mir eine große Hilfe.« Ruth strahlte vor Vergnügen, und Sally dachte wieder einmal, dass ein Lob viel sinnvoller war als harte Worte und Kritik. »Und jetzt freue ich mich auf nichts so sehr wie auf diese Tasse Tee.«

In ihrem bequemen Bürostuhl bemerkte Sally, dass der kurze Moment des Schwindels wieder vorbei war, genauso wie schon zweimal zuvor. Es war alles in Ordnung mit ihr. Diese Dinge gehörten wohl dazu, wenn man ein Baby erwartete, aber wenn sie es Ben erzählte, würde er sie in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft in Watte packen, und das war das Allerletzte, was sie wollte!

 

Marion Kaye verließ das Kaufhaus um die gleiche Zeit wie Miss Gibbs, die eine sehr freundliche junge Frau war und ihr außerhalb der Arbeitszeiten sogar schon einmal das Du angeboten hatte. Aber als die Jüngere der beiden hielt Marion das für unpassend, obwohl Maggie Gibbs es durchaus ernst gemeint zu haben schien.

»Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«, fragte sie Marion nun lächelnd. »Ich werde zu meinem Erste-Hilfe-Kurs gehen und dachte, Sie würden vielleicht gerne mitkommen? Es ist für eine gute Sache.«

Marion blickte sie unsicher an. »Ich weiß nicht recht. Was kostet der Kurs denn? Da ich meiner Mutter bis auf einen Schilling mein ganzes Gehalt abgebe, könnte ich nämlich höchstens ein paar Pennys bezahlen.«

»Der Kurs ist ganz umsonst«, erwiderte Maggie mit einem warmherzigen Blick. »Wenn Sie etwas essen wollen, müssen Sie es natürlich bezahlen, aber der Unterricht an sich ist gratis, weil die Organisatoren der Meinung sind, dass wir Frauen wissen sollten, wie man jemanden richtig verbindet, und auch noch viele andere nützliche Dinge für einen eventuellen Kriegsfall lernen sollten.«

»Das klingt interessant, und ich würde liebend gerne mitkommen«, antwortete Marion mit einem Anflug von Sehnsucht in der Stimme. Sie liebte ihre Arbeit bei Harpers und das Zusammensein mit den anderen Mädchen, und sie wäre auch liebend gern einmal abends mit Freundinnen ausgegangen, aber ihre Mutter brauchte ihre Hilfe. »Diese Woche schaffe ich es nicht, aber ich werde mit meiner Mutter sprechen. Vielleicht lässt sie mich ja nächstes Mal mitgehen.«

»Sagen Sie ihr, dass es dort sehr schicklich und angemessen zugeht«, riet Maggie ihr. »Wir werden von ausgebildeten Krankenschwestern unterrichtet, und einmal im Monat hält ein angesehener Arzt dort Vorträge. Ich würde natürlich auch dafür sorgen, dass Sie danach den richtigen Bus nach Hause nehmen.«

»Vielen Dank, Miss Gibbs«, sagte Marion errötend. »Sie sind so nett zu mir.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Sie mich außerhalb der Arbeitszeiten ruhig duzen können«, unterbrach Maggie sie und drückte beruhigend Marions Arm. »Ich weiß, wie es ist, wenn man abends heimgehen muss, weil man dort gebraucht wird. Mein Vater war monatelang krank, bevor er starb, und ich musste meiner Mutter helfen, ihn zu pflegen.« Sie seufzte. »Er fehlt mir immer noch.«

»Vermissen Sie auch Ihre Mama?«, wagte Marion zu fragen.

»Manchmal, aber nicht so sehr wie Papa.« Maggies Lächeln wurde unsicher. »Er hat mich sehr geliebt und war furchtbar enttäuscht, als sein Unfall es mir unmöglich machte zu studieren, um Lehrerin zu werden – aber ich arbeite auch sehr gern bei Harpers.«

»Sie teilen sich eine Wohnung mit Mrs. Craven und Miss Minnie von der Änderungsschneiderei, nicht wahr?« Marion errötete. »Entschuldigen Sie, aber sie hat selbst gesagt, ich solle sie so nennen.«

»Ja, das weiß ich«, erwiderte Maggie beruhigend. »Miss Lumley hasst ihren Familiennamen und bat darum, sich stattdessen Miss Minnie nennen zu dürfen, und so tun wir alle das auch schon jahrelang. Ihre Schwester Mildred war Miss Lumley, und ich glaube, Minnie trauert immer noch um sie. Deshalb wird sie von uns allen nur Miss Minnie genannt.« Maggie lächelte. »Sie brauchte sich nicht einmal richtig um ihre Stelle zu bewerben. Rachel sprach mit Mrs. Harper, die Minnie daraufhin zum Kaffee einlud, sich ihre Arbeit ansah und ihr prompt die Stelle gab. Minnie ist eine wunderbare Schneiderin.«

»Ja, das weiß ich. Ich hätte zu gern etwas von ihr zum Anziehen, aber ihre Modelle sind so teuer.«

»Das sind sie«, stimmte Maggie ihr seufzend zu. »Aber wirklich ausgesprochen schön.«

»Ich gehe jetzt besser«, sagte Marion bedauernd, »sonst verpasse ich den Bus, und Ma würde sich Sorgen machen, wenn ich zu spät käme.« Sie wäre liebend gerne noch geblieben, um mit Maggie zu plaudern, doch dann würde sie zu spät nach Hause kommen, wo alle schon auf ihr Abendbrot warteten.

Und so beeilte sie sich, ihre Haltestelle zu erreichen, und stieg in den Bus, der gerade ankam. Drinnen kletterte sie die kleine Wendeltreppe zur zweiten Ebene hinauf, die zwar von mehreren Fahrgästen besetzt, aber nicht so überfüllt war wie die untere. Manche Leute saßen nicht gern im Freien, besonders nicht bei kaltem oder feuchtem Wetter. Heute Abend war es zwar kühl, aber trocken, und Marion liebte es, den Fahrtwind in ihrem Gesicht zu spüren. Außerdem hatte sie ihren schlichten grauen Filzhut auf ihrem kurzen dunklen Haar gut festgesteckt. Ihre Schwester Kathy hatte es ihr auf ihre Bitte hin geschnitten, weil es ihr lang zu viel Arbeit machte. Kurz geschnitten umschmeichelte es Marions Nacken und ihr Gesicht, während es lang so kraus gewesen war, dass sie es immer hochstecken und mit Haarnadeln hatte befestigen müssen, die jedoch nie an ihrem Platz geblieben waren. Und da sie keine Zeit damit vergeuden konnte, es ständig neu aufzustecken, hatte sie Kathy gebeten, es einfach abzuschneiden. Das Ergebnis hatte ihr ein paar Tränen in die Augen getrieben, aber den Mädchen bei der Arbeit gefiel ihre neue Frisur, und sogar Mrs. Burrows hatte gesagt, sie stünde ihr. Auf jeden Fall gewann sie dadurch morgens zwanzig Minuten oder mehr, sodass sie alles Nötige erledigen konnte und trotzdem noch pünktlich zur Arbeit kam.

Rush Terrace, wo Marion mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren jüngeren Brüdern lebte, bestand aus einer Reihe hoher, schmaler Häuser mit länglichen Gärten, die ein wahres Glück für ihre Bewohner waren, weil sie dort Gemüse anbauen und sogar Hühner halten konnten. Marion wusste, dass es einige Straßen weiter ähnliche Reihenhäuser gab, die jedoch so dicht an dicht standen, dass sie nur über einen winzigen Hof verfügten. Zu ihrem eigenen Zuhause gehörte jedoch ein richtiger Garten, den ihre Brüder pflegten und bebauten, sodass sie zu den Erntezeiten immer genug Gemüse hatten. Diese beiden jüngeren Brüder und zwei jüngere Schwestern lebten noch zu Hause, während ihr älterer Bruder Dan schon vor über drei Jahren ausgezogen war, nachdem er eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vater darüber gehabt hatte, wie er ihre Mutter behandelte.

Ihr Vater arbeitete als Seemann auf den Schiffen und war daher nur selten zu Hause, worüber jedoch alle froh waren, obwohl sie so immer zu wenig Geld hatten. Dan hatte sich damals mit seinem Vater einen regelrechten Kampf geliefert und eine schmerzhafte Verletzung dabei erlitten, aber er war dennoch auf der Stelle ausgezogen. Er hatte Angst gehabt, ansonsten womöglich etwas zu tun, was er später bereut hätte. Im vergangenen Jahr war eine Lauch- und Kartoffelsuppe das Einzige gewesen, was sie zum Abendessen gehabt hatten, doch nun, da Marion Geld verdiente, ging es ihnen finanziell ein wenig besser.

Als Marion die Hintertür öffnete und die Küche betrat, sank ihr das Herz. Ihre Mutter hatte offenbar wieder einmal einen schlechten Tag gehabt. An den besseren Tagen bemühte sie sich zumindest, ein bisschen Ordnung zu schaffen, Wäsche zu waschen oder zu bügeln oder wenigstens das Abendbrot vorzubereiten. Doch wie es schien, hatte sie heute überhaupt nichts getan.

»Wo ist Ma?«, fragte Marion ihre Schwester Kathy, die zwar noch zur Schule ging, in den Stunden vor und nach dem Unterricht jedoch im Haushalt half, so gut sie konnte. Marion sah, dass sie den Jüngeren ein bisschen Brot und Schmalz zu ihrem Tee gegeben hatte. »Ich dachte, wir hätten ein paar Würstchen?«

»Ma hat sie leider auf dem Tisch vergessen, als sie rausging, um ein Handtuch aufzuhängen«, sagte Kathy. »Und obwohl die Tür wirklich nur einen Moment lang offen stand, hat der Nachbarshund sie alle geklaut.«

»Dieser verdammte Köter!«, bemerkte ihr jüngerer Bruder und wischte sich mit dem Ärmel über seine verschleimte Nase. »Ich hab Kohldampf, Marion, und du weißt, dass ich kein Schmalz mag!«

»Ich auch nicht«, pflichtete ihm die fünfjährige Milly bei.

»Trotzdem werdet ihr euch verdammt noch mal damit begnügen müssen«, sagte Robbie mit einem bösen Blick zu niemand Bestimmten. »Ich habe meinen letzten Schilling für die Würstchen ausgegeben und mich darauf gefreut, zum Abendbrot wenigstens eins davon zu etwas Kartoffelbrei zu essen!«

»Das ist kein Problem, ich habe in der Mittagspause eine Dose Corned Beef gekauft«, warf Marion ein, die Streit aufkommen spürte. Das Dosenfleisch war eigentlich für den nächsten Tag bestimmt gewesen, doch da würde sie nun etwas anderes finden müssen, falls sie aus der Kleingeldbörse ihrer Mutter genug dafür zusammenkratzen konnte. »Kathy, du hilfst mir bei den Kartoffeln, und Robbie, du und Dickon könnt schon mal das Corned Beef aufschneiden – aber schön dünn und ohne etwas davon zu stibitzen, weil es sonst nicht für alle reichen wird.«

»Na prima, ich liebe Corned Beef!« Marions älterer Bruder lächelte sie an. Robbie war ein guter Junge, der mit seiner Arbeit im Holzlager unten am Hafen wöchentlich schon neuneinhalb Schilling und sechs Pence verdiente, was eine ausgezeichnete Bezahlung für einen noch nicht ganz sechzehnjährigen Jungen war. Außerdem gab er jeden Penny davon für Lebensmittel für seine Familie aus, sodass Marion nur noch alles andere finanzieren musste, was der geringe Lohn ihres Vaters nicht hergab. Mr. Kaye gab seiner Frau zum Unterhalt der Familie ein Drittel von dem, was er während seiner Abwesenheit verdient hatte, den Rest gab er für Alkohol und leichte Mädchen aus. Zumindest hatte Marions Mutter das ihrer ältesten Tochter erzählt.

»Dieser Teufel hat meine Gesundheit und mein Leben ruiniert«, hatte sie vor zwei Jahren der damals erst fünfzehnjährigen Marion anvertraut, als sie sich so krank gefühlt hatte, dass sie meinte, sterben zu müssen. »Ich nütze euch Kindern nichts mehr, deshalb wirst du nun meinen Platz einnehmen müssen, Kind – aber lass bloß nicht diesen Teufel an dich heran, oder du wirst genauso enden wie ich!«

Trotz ihres jungen Alters hatte Marion niemand erst erklären müssen, was ihre Mutter meinte. In einem Haus mit solch dünnen Wänden wie den ihren, durch die jedes Geräusch hindurchdrang, hatte sie schon oft genug die flehentlichen Bitten ihrer Mutter gehört, sie in Ruhe zu lassen, wenn ihr Vater daheim war.

»Was für ein kaltes Weib du bist, Kathleen«, hatte Bill Kaye seiner Frau vorgeworfen. »Ich weiß nicht, warum ich dich geheiratet habe – aber es war wohl dein rotes Haar, das mich getäuscht hat. Ich dachte, du hättest ein ebenso feuriges Temperament, aber in Wahrheit bist du nur ein Jammerlappen und weiter nichts. Wenn du deine ehelichen Pflichten nicht erfüllen willst, kannst du es mir auch nicht verübeln, wenn ich mir mein Vergnügen woanders suche.«

Damals hatte Bill Kaye noch als Schiffszimmermann an den Docks gearbeitet, aber nicht lange danach auf einem Handelsschiff angeheuert, das verschiedene Häfen in Europa und England anlief. Diese Arbeit hielt ihn nun weitgehend fern von seinem Zuhause und seinem Ehebett – aber wenn er heimkam, schlug er seine Frau, wann immer ihm danach war, und sogar seine Kinder hielten sich fern von ihm oder bekamen seine Faust zu spüren, falls sie ihm in die Quere kamen.

Marions ältester Bruder Dan war schon mit knapp sechzehn Jahren zur Handelsmarine gegangen, wo er angenommen worden war, weil er bezüglich seines Alters gelogen hatte und auch älter wirkte, als er war. Seither war er nur zweimal wieder daheim gewesen und hatte seiner Familie beide Male nicht nur Geschenke mitgebracht, sondern Marion obendrein auch zehn Pfund in die Hand gedrückt.

»Da du die einzig Vernünftige in dieser Familie bist, sorg du für sie, Marion, und ich werde dich finanziell unterstützen, so gut ich kann«, hatte er ihr gesagt.

»Du bist ein guter Bruder, Dan«, hatte Marion gerührt erwidert. Sie hätte ihn auch liebend gern umarmt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Dan keine körperlichen Berührungen ertrug.

Damals war sie sich nicht sicher gewesen, warum das so war, sie hatte es darauf geschoben, dass ihr Vater einmal einen Hafenarbeiter angegriffen und ihn mit seinen Fäusten so heftig bearbeitet hatte, dass der Mann ohnmächtig zusammengebrochen war. Erst nachdem Dan schon nicht mehr zu Hause lebte, hatte Marions Mutter Andeutungen darüber gemacht, dass er als zehnjähriger Junge von einem der Hafenarbeiter auf schändlichste Weise körperlich missbraucht worden war.

Er sei weinend heimgekommen, sagte sie, und kurz darauf sei sein Vater in wilder Wut davongestürmt, um den Mann, der sich an seinem Jungen vergangen hatte, zu bestrafen. Bill Kaye war daraufhin verhaftet worden. Aber nachdem die Polizei ermittelt hatte, was Bills Opfer seinem kleinen Jungen angetan hatte, war er mit einer Verwarnung wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Einer der Beamten meinte sogar, er könne es Bill nicht verdenken, denn auch er hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Dan hatte gesagt, es sei das erste Mal gewesen, dass sein Vater etwas für ihn getan habe. Doch dann hatte er gleich hinzugefügt, dass ihn das noch lange nicht zu einem guten Vater mache. Als Kind hatte Marion dies alles nicht verstanden, aber heute empfand sie großes Mitgefühl mit ihrem Bruder, der solch schlimme Schmerzen und Erniedrigungen hatte erleiden müssen.

»Ich wünschte, du kämst wieder nach Hause, Dan«, hatte sie gesagt, als er ihr den Anteil von seinem Verdienst in die Hand gedrückt hatte. »Es wäre alles einfacher, wenn du hier bei uns wärst.«

»Oh nein, Marion, denn dann würde ich Pa den Schädel einschlagen oder es wenigstens versuchen«, hatte Dan in hartem, unnachgiebigem Ton erwidert. »Ich ertrage es nicht, wie er mit Ma umgeht, Marion, und es macht mich rasend, dass sie sich von ihm wie Dreck behandeln lässt!«

»Ja, aber wenn sie sich ihm widersetzt, verprügelt er sie«, sagte Marion und sah einen Nerv an Dans Schläfe zucken. »Ihr bleibt ja auch gar nichts anderes übrig, denn wenn er sie verlassen würde, könnte sie uns nicht mehr ernähren. Außerdem hätten wir dann kein Dach mehr über dem Kopf und müssten entweder ins Armenhaus der Heilsarmee ziehen oder auf der Straße leben!«

Bill Kaye war nun mal das Oberhaupt seiner Familie, und seine Ehefrau besaß kaum Rechte. Wenn sie ihn verlassen würde, bekäme sie keinen Penny mehr von ihm, nicht einmal für die Kinder. Und so hatte sie gar keine andere Wahl, als zu bleiben und seine Misshandlungen zu ertragen. Keines der anderen Kinder war stark genug, um ihm die Stirn zu bieten, obwohl auch Marion schon versucht hatte, ihn zur Vernunft zu bringen, wenn er einmal nüchtern war. Sie alle wussten, dass sie sich von ihm fernhalten mussten, wenn er getrunken hatte, weil es ihn dann nicht einmal kümmerte, wen er gerade schlug. Manchmal wünschte Marion, er würde nie wieder heimkommen, denn die paar Pfund, die er nach Hause brachte, waren den Ärger und Kummer, den er seiner Familie zufügte, nicht wert.

»Ich werde jedenfalls nicht heiraten, solange ich einer Frau kein anständiges Zuhause bieten und genügend Geld zur Verfügung habe, um sie und die Kinder anständig zu ernähren und zu kleiden«, hatte Dan geschworen, während sein Blick über die zerbröckelnden feuchten Wände und den schmutzigen grob gefliesten Boden glitt, der nie richtig sauber wurde, selbst wenn Marion ihn schrubbte, bis ihre Hände wund waren.

Aus dem einzigen Wasserhahn im Haus über dem flachen Waschbecken kam nur kaltes Wasser, das zum Waschen und Putzen im Heizungskeller in einem Kupferkessel erhitzt werden musste. Das machte die Arbeit natürlich doppelt schwer für ihre Mutter, deren Gesundheitszustand sich seit der Geburt ihres letzten Kindes, das tot zur Welt gekommen war, zunehmend verschlechterte.

Marion kochte etwas Kohl mit Kartoffeln, zerstampfte dann alles mit etwas Margarine, Salz und Pfeffer und reichte zuerst ihren Geschwistern ihre Teller, bevor sie sich vor ihre eigene Portion setzte.

»War irgendjemand oben und hat nach Ma gesehen?«, fragte sie beim Essen.

»Ich war vorhin bei ihr, aber sie hat mich wieder weggeschickt«, berichtete Robbie. »Ich habe sie gefragt, ob sie nicht wenigstens eine Tasse Tee und ein Stück Brot dazu wolle, aber sie sagte, sie sei nicht hungrig und ich solle sie in Ruhe lassen.«

»Dann gehe ich gleich zu ihr«, sagte Marion und sah Dickon an. »Du kannst Kathy beim Abwasch helfen – und du, Robby, bring doch bitte etwas Holz und Kohle herein, ja? Ich muss noch Wäsche waschen und danach den Küchenboden schrubben – falls ich das überhaupt noch schaffe, bevor ich zur Arbeit muss.«

»Ich hab schon Feuer unter dem Kessel gemacht«, sagte Robbie. »Ich wusste ja, dass du die Wäsche waschen würdest, da Ma es nicht getan hat.«

Marion beendete ihre Mahlzeit, stand auf und trug ihren Teller zu der kleinen Spüle. In ihrem Haus wurde nie etwas verschwendet, die Teller waren immer alle gründlich abgeräumt, und ihr war durchaus bewusst, dass die Jungen noch mehr zu essen hätten brauchen können. Sie konnte ihnen jedoch höchstens noch etwas Brot mit Marmelade anbieten, obwohl Robbie sich vermutlich selbst bedienen würde, falls er noch hungrig war. Und solange er ihr ein Stück Brot für ihr Mittagessen am nächsten Tag übrigließ, machte es ihr auch nichts aus. Sie alle wussten, wie kostbar Essen war. Man verschwendete es nicht und aß nur seinen eigenen Anteil, weil sonst ein anderer hungern musste.

Marion überließ ihren Geschwistern den Abwasch und ging hinauf zu ihrer Mutter. Im Schlafzimmer schlug ihr der säuerliche Geruch von Erbrochenem entgegen, und ihr Magen verkrampfte sich, aber sie riss sich zusammen. Es war nicht die Schuld ihrer Mutter, dass sie so krank war. Sie konnte auch nicht sagen, dass die Schuld bei ihrem Vater lag, obwohl sechs Kinder wohl für jede Frau ein bisschen viel waren, und sie wusste, dass ihre Mutter außerdem noch mindestens drei Fehlgeburten gehabt hatte. Diese Anfälle von Übelkeit und Schmerzen hatten allerdings erst nach der letzten Totgeburt begonnen, und Marion fragte sich, ob irgendetwas in ihr vielleicht nicht richtig verheilt sein könnte. Aber Ma wollte keinen Arzt holen lassen, und die Wahrheit war, dass es ihnen auch schwergefallen wäre, ihn zu bezahlen.

»Bist du das, Marion?«, fragte ihre Mutter mit schwacher Stimme. »Das mit den Würstchen tut mir leid. Ich war nur kurz draußen, und da die Tür nicht richtig schloss …

»Es ist der Riegel«, sagte Marion. Wäre ihr Vater hier, könnte er ihn problemlos reparieren. Aber er würde sich sowieso nicht die Mühe machen, wenn seine Frau nicht darauf bestand, was bloß einen weiteren Streit bedeutet hätte.

»Du solltest jemanden kommen lassen«, sagte ihre Mutter leise. »Die Würstchen kosten mehr als ein neues Schloss.«

»Nicht, wenn Papa das Schloss selbst auswechselt«, erwiderte Marion, die manchmal dachte, ihre Mutter hätte keine Ahnung, wie teuer heutzutage alles war. »Es machen zu lassen würde mindestens zweieinhalb Schilling kosten, schätze ich.«

»Nicht, wenn du Mr. Jackson fragst«, beharrte Mrs. Kaye. »Sag ihm, was sein Hund getan hat, dann macht er es vielleicht sogar umsonst.«

»Wenn Dan hier wäre, würde er es machen, und er würde sich von den Nachbarn die Würstchen bezahlen lassen«, sagte Marion. »Trotzdem werde ich rübergehen und mit ihm reden, falls mir noch Zeit dafür bleibt. Schließlich muss ich noch die Wäsche waschen und den Boden schrubben.«

»Weich die Wäsche einfach nur ein, dann werde ich morgen früh versuchen, sie auszuspülen«, schlug ihre Mutter vor.

»Mal sehen«, antwortete Marion. Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Möchtest du etwas essen, Ma – oder eine Tasse Tee?«

»Danke, aber Kathy hat mir schon etwas zu trinken gebracht. Mehr will ich nicht – mach du mit deiner eigenen Arbeit weiter, Schatz.«

Marion seufzte, als sie die Treppe hinunterging. Wenn sie die Wäsche über Nacht einweichte, würde sie am nächsten Tag noch in der Lauge liegen, wenn sie heimkam. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, sie nur kurz einzuweichen und derweil nebenan vorbeizuschauen, um zu sehen, was Mr. Jackson zu sagen hatte. Sie hoffte nur, dass der Hund sich ausnahmsweise einmal ruhig verhielt. Sonst sprang er ständig alle Leute an, und Marion hatte Angst, gebissen zu werden.

Und so ging sie zur Hintertür der Nachbarin hinüber und versuchte, einem an den Ständer der Wäscheleine gelehnten Fahrrad auszuweichen, das aber trotzdem umfiel und die hölzerne Stütze mit sich riss. Und als genügte das noch nicht, stolperte sie auch noch über drei Paar Arbeitsstiefel, die alle so aussahen, als müssten sie dringend einmal ordentlich gereinigt werden. Ihre Nachbarin Mrs. Jackson hatte einen Ehemann und drei große, starke Söhne, die im Baugewerbe arbeiteten, vier Töchter, von denen zwei in einer Wäscherei beschäftigt waren, eine verheiratet war und die vierte – der ganze Stolz ihrer Mutter – eine Ausbildung zur Krankenschwester machte.

Es war Paula Jackson, oder vielmehr Schwester Jackson, die ihr die Tür öffnete, und Marion atmete erleichtert auf. Paula war immer freundlich und blieb oft stehen, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln, wenn sie sich im Laden an der Ecke trafen.

»Hallo, Marion! Schön, dich zu sehen – kommst du rein?«, begrüßte Paula sie. »Falls du an unseren Monstern hier vorbeikommst.« Sie rief ihren Brüdern zu, Marion Platz zu machen, aber alle grinsten nur. »Was kann ich für dich tun? Mama sagte, deine Mutter hätte nicht gut ausgesehen, als sie ihr im Hof begegnete. Sie haben sich dort eine Weile über diese Suffragette Mary Richardson unterhalten, die ein Gemälde in der National Gallery beschädigt hat, soweit ich weiß.«

Ma hatte also gelogen, als sie behauptete, nur kurz draußen gewesen zu sein. Marion holte tief Luft. »Es tut mir leid, dich damit zu belästigen, Paula, aber meinst du, dein Vater könnte vielleicht das Schloss an unserer Hintertür in Ordnung bringen? Mama hat die Tür heute Morgen offen gelassen, und euer Hund kam herein und hat uns die Würstchen geklaut, die wir zum Abendbrot essen wollten.«

»Aha! Dann wird der Strolch sie wohl daher gehabt haben«, sagte Mrs. Jackson, die hinter ihrer Tochter erschienen war. »Ich habe gesehen, wie er sich darüber hergemacht hat, aber es war schon zu spät, um noch etwas zu retten.« Sie lächelte Marion an. »Ich hätte ihm ja eins mit dem Stock drübergezogen, aber dann hätten diese dummen Bengel hier losgeschrien, so als wollte ich ihn gleich umbringen.«

Sie blickte kopfschüttelnd zu ihren Söhnen hinüber, die gerade ihr Abendessen aus Lammragout und Kartoffelbrei verspeisten. »Aber ich werde dafür sorgen, dass mein Mann heute Abend zu euch rübergeht und das Schloss in Ordnung bringt.«

»Danke, Mrs. Jackson«, erwiderte Marion und errötete, als Reggie Jackson plötzlich hinter seiner Mutter erschien. Er war ein großer, breitschultriger junger Mann mit fast schwarzem Haar und blauen Augen, der sie alle überragte.

»Ich erledige das jetzt gleich, Ma«, sagte er und grinste Marion an. »Der Halunke ist schließlich mein Hund, und deshalb ist es natürlich auch meine Schuld. In ein paar Minuten bin ich da, Miss Kaye.«

Marion murmelte etwas und ergriff die Flucht. Wenn ihr etwas noch mehr Angst machte als der Hund der Jacksons, dann war es Reggie. Angesichts der Belustigung in seinen Augen hätte sie sich am liebsten irgendwo versteckt.

Ma sagte oft, Reggie Jackson sähe viel zu gut aus und sei eine Gefahr für alle anständigen Mädchen. Wenn sie nicht aufpassten, könnten sie sich mit ihm eine Menge Ärger einhandeln, während er sich einfach in irgendein fernes Land absetzen würde, ohne sich um irgendetwas zu scheren.

Aber Ma neigte nun mal zu solch düsteren Prophezeiungen. Immer wieder warnte sie ihre Töchter, sich vor Männern in Acht zu nehmen, und nur Milly war noch zu jung, um zu verstehen, was sie meinte. Marion und Kathy dagegen wussten es sehr gut, obwohl Kathy erst kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag stand. Sie wussten, was ihre Mutter ihnen damit sagen wollte und hatten sich ihre Warnung zu Herzen genommen, weil keine von ihnen so enden wollte wie sie.

»Mr. Jackson wird gleich kommen«, murmelte Marion, als sie die Küche betrat. Schnell füllte sie den Korb mit noch mehr schmutziger Wäsche und brachte alles in die Waschküche hinunter, wo sie sie in das heiße Wasser im Kupferkessel warf und dann damit begann, die bereits eingeweichte Wäsche durchzuspülen. In diesem Moment hörte sie die Stimmen in der Küche. Die Jungen lachten und plauderten mit Reggie. Sie mochten ihn, und manchmal spielte er sogar mit ihnen auf der Straße Fußball, was ihr Vater nie getan hatte.

Marion zögerte ihre Rückkehr in die Küche hinaus, bis ihre guten Manieren ihr keine andere Wahl mehr ließen. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ihrem Nachbarn eine Tasse Tee und natürlich auch Bezahlung anzubieten.

Das Schloss an der Tür war repariert, und Kathy hatte den Tee schon aufgebrüht, als Marion zurückkam. Ihre Schwester lächelte und genoss Reggies Gesellschaft ganz offensichtlich ebenso sehr wie ihre Brüder.

»Vielen herzlichen Dank, Mr. Jackson«, sagte Marion. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Gar nichts, Miss Kaye«, antwortete er mit einem Grinsen, bei dem ihr Magen sich zusammenzog. Er hatte kein Recht, so gut auszusehen und dazu auch noch so nett zu sein! Ein anständiges Mädchen tat wirklich besser daran, vor ihm auf der Hut zu sein. »Alle kleinen Arbeiten, die bei Ihnen erledigt werden müssen, sind für Sie und Ihre Familie umsonst – und ich schulde Ihnen ja auch noch die Würstchen.«

»Nein, nein, das ist schon in Ordnung; dafür haben Sie ja das Schloss repariert«, sagte Marion.

»Die Würstchen hatte ich gekauft«, ließ Robbie sich vernehmen. »Sie haben mich einen Schilling gekostet.«

Reggie grinste und sah Marion an. »Ich wage es nicht, dir den Schilling zu geben, Robbie – aber ich nehme dich gern am Samstag zum Fußball mit, wenn du möchtest.«

»Oh ja – danke, Reggie!« Robbie lachte ihn begeistert an. »Es ist mir egal, ob dein Hund meine Würstchen gefressen hat, wenn ich mit dir zum Fußball gehen darf.«

»Da hast du recht«, sagte Reggie. »Sollen wir den Kleinen auch mitnehmen?«, fragte er mit einem Blick zu Dickon. Robbie runzelte zunächst die Stirn, doch dann lenkte er ein.

»Klar, warum nicht? Von mir aus kann er mitkommen.«

Marion ging zur Tür und sah sich das nagelneue Schloss an. Es musste ihn viel mehr gekostet haben als die Würstchen. »Das hätten Sie nicht tun müssen«, flüsterte sie. »Aber trotzdem vielen Dank.«

»Gern geschehen, Miss Kaye«, sagte er lächelnd und mit einem Funkeln in den Augen, das ihr Herz für einen Moment zum Rasen brachte. »Ich bin Ihnen jederzeit zu Diensten, Miss Marion.« Sein Augenzwinkern erschreckte sie, und unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. »Mein Hund mag Sie – und wenn er Sie okay findet, müssen Sie es auch sein.«

Was für eine Frechheit! Sie schnappte nach Luft, als er ging, blieb dann aber dennoch stehen, um ihm nachzusehen, obwohl sie es nicht wollte. Am Tor vor seinem Haus drehte Reggie sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu, bevor er zur Hintertür ging.

Marion kehrte zu ihrer Arbeit zurück. Sie wollte alle Wäsche gewaschen und zum Trocknen in der Spülküche aufgehängt haben, bevor sie zu Bett ging – und es sah nicht so aus, als ob ihr dann noch Zeit bleiben würde, den Boden zu putzen.

 

Wirst du heute Abend wieder länger arbeiten?«, fragte Beth Burrows ihren Ehemann Jack, als sie an diesem Märzmorgen nach ihrem warmen Mantel griff und ihn überzog. Der Wind war noch immer frostig kalt, obwohl Mr. Marco die Schaufenster von Harpers bereits mit Frühlingskleidern, Osterglocken und Osterhasen dekoriert hatte. Sie waren ein farbenfroher Anblick und hatten auch schon Kundinnen angelockt, die nach den neuesten Sommerhüten Ausschau hielten. Aber Beth war noch nicht bereit, ihren kuschelig warmen Wintermantel abzulegen.

»Ich denke schon«, antwortete Jack, bevor er ihr sichtlich abgelenkt einen Kuss gab. Als Miteigentümer und Manager eines Hotels machte er so gut wie immer Überstunden, um das Haus rentabel zu machen, und Beth wusste, dass die Dinge dort auch wirklich sehr viel besser liefen, seit er die Arbeitsabläufe verändert und die Innenausstattung verbessert hatte.

Das Hotel warf jetzt schon einen angemessenen Gewinn ab, wenn auch noch nicht genug, um jemanden reich zu machen. Beth fragte sich manchmal, ob Jack womöglich zu früh eingestiegen war, aber er schien zufrieden zu sein mit dem, was er bisher erreicht hatte, und deshalb sagte sie nicht viel dazu, obwohl sie die langen Arbeitszeiten ihres Ehemanns bedauerte. »Warte nicht mit dem Abendbrot auf mich, Schatz. Ich kann ja im Hotel etwas essen.«

»Ja, ja, ich weiß.« Beth unterdrückte ein Seufzen, weil sie sich die Sache mit dem Hotel eigentlich ganz anders vorgestellt hatte. Jack hatte davon gesprochen, ein Hotel zu leiten, in dem sie beide leben und es auch gemeinsam führen konnten. Doch stattdessen verbrachte Beth die meisten Abende bei Jacks Vater Fred Burrows, bei dem sie zurzeit noch wohnten, und sah ihren Mann am Wochenende nur für ein paar Stunden. »Vielleicht gehe ich ja mit Rachel Craven zu einem ihrer Treffen.«

»Du meinst, zu diesen Frauenrechtlerinnen, nicht?« Jack sah sie stirnrunzelnd an. »Du weißt, dass ich dir nie etwas verbieten würde, Beth – aber all diese Protestmärsche und Forderungen nach gleichen Rechten für euch Frauen … Ich glaube nicht, dass es dazu jemals kommen wird. Es wäre also klüger, dich von diesen Dingen fernzuhalten. Ich will nicht, dass du verhaftet wirst oder gar im Gefängnis landest.«

Streitlustig und ein wenig verärgert ging Beth auf ihn zu. Er hatte schon vor ihrer Hochzeit gewusst, dass sie ein Mitglied der Bewegung war, und deswegen konnte sie ihm diese Bemerkung nicht durchgehen lassen. Andere Ehemänner mochten ihren Frauen die Mitgliedschaft oder auch nur Teilnahme an den Treffen vielleicht verbieten, aber Jack müsste es besser wissen und ihre Ansichten respektieren. »Würdest du mich verstoßen, wenn das geschähe?«